Wicked Rain von Flordelis (Silent Hill: Downpour x Deadly Premonition) ================================================================================ Kapitel 10: Wie schnell denn noch, Lady? ---------------------------------------- Zwei Wochen vergingen, in denen Murphy in einen angenehmen Alltag verfiel. Hauptsächlich arbeitete er im Hotel – wofür Polly ihm inzwischen sogar ein kleines Taschengeld zahlte –, erledigte aber auch allerlei Besorgungen, die anfielen, wie etwa Medikamente aus der Apotheke (inzwischen arbeiteten freundliche Leute dort, die ihn nicht zum Mittelpunkt ihrer Gerüchteküche machen wollten, aber der ungeklärte Fall hing wie eine dunkle Wolke über ihnen allen) oder Lebensmittel aus der Milk Barn. Besonders über letzteres freute er sich immer, da es im Regelfall auch bedeutete, Valeria zu sehen. Er versuchte sogar bereits, seine Einkaufsfahrten mit ihren Schichten zu koordinieren; weil er dabei aber nicht zu offensichtlich sein und sie danach fragen wollte, gelang ihm das nicht sonderlich gut, doch es genügte, um manchmal mit ihr plaudern zu können (inzwischen wusste er schon, dass sie auf dem College in einem Kunstkurs gewesen und in den Lehrer desselben verknallt gewesen war, und sie am liebsten mit Acrylfarben arbeitete). Anhand des Blicks, den Lilly Ingram ihm beim Betreten des Ladens schenkte, konnte er schon immer sehen, ob er hoffen durfte oder wieder einmal zur falschen Zeit gekommen war. An diesem Tag war es wieder einmal soweit gewesen, dass er Valeria verpasst hatte, deswegen war Murphy nicht in bester Laune, als er die Einkäufe im Lincoln verstaute. Durch den mit schwarzen Wolken verhangenen Himmel war es dunkler als es um die Mittagszeit eigentlich sein dürfte. Der Wetterbericht hatte ihn bereits davor gewarnt, dass es an diesem Tag noch regnen würde. Wann immer er nach oben blickte, fühlte er sich erneut an Silent Hill erinnert, an die Gewitter und die darauf wütend kreischenden Monster, deren Aggressionen ungezügelter geworden waren. Erst das Brummen des Motors verdrängte seine finsteren Gedanken, so dass er sich wieder auf die Straße konzentrieren konnte. Er genoss, dass es kaum Verkehr in Greenvale gab, und die wenigen anderen Autos waren oft mit Fahrern besetzt, die einen kannten und grüßten, sobald man aneinander vorüberfuhr. Es war großartig, in dieser Stadt zu leben. Als Murphy in die Straße am Elektrizitätswerk einbog, bemerkte er eine unbekannte Person auf dem Bürgersteig. Es war eine ältere Frau, die an und für sich gut gekleidet war, in ihrem Rock und der Strickjacke, auch ihr kurzes blondes Haar wirkte gepflegt. Die einzigen Dinge, die ungewöhnlich waren, stachen ihm dafür besonders ins Auge: Sie trug nur einen Schuh und sie hielt einen Kochtopf in den Händen. Noch immer drohte der baldige Regen, der diese Frau böse überraschen könnte, deswegen hielt er den Wagen neben ihr. Er stieg aus und lehnte sich über das Dach in ihre Richtung. „Entschuldigung?“ Die Frau wandte sich ihm zu, ihr fahriger Blick wirkte abwesend, verwirrt. „Kann ich Sie vielleicht an Ihr Ziel bringen, bevor es zu regnen beginnt?“ Dabei deutete er nach oben, aber sie folgte seinem Fingerzeig nicht. Er erwartete, dass sie ihn nach seinem Namen fragen oder ihn darauf hinweisen würde, dass sie nicht mit Fremden fuhr, aber stattdessen erwiderte sie etwas Unerwartetes: „Der Topf wird kalt! Fahren Sie mich sofort nach Hause!“ Die Worte hingen noch in der Luft, da öffnete sie bereits die Tür auf ihrer Seite und ließ sich auf den Beifahrersitz sinken. Murphy blinzelte irritiert – derartige Sätze waren ihm noch nie untergekommen –, setzte sich dann aber ebenfalls wieder ins Auto. In knappen Worten erklärte die Frau ihm, in welcher Straße sie wohnte. Murphy rief sich die Karte, die ihm nun wesentlich vertrauter war, ins Gedächtnis und erkannte, dass sie glücklicherweise nicht so weit weg wohnte. Er startete den Motor, freute sich auf die entspannte Fahrt und das Gespräch mit einer Einwohnerin – als diese plötzlich einen erschrockenen Ruf ausstieß: „Los, fahren Sie! Der Topf wird doch kalt!“ Statt etwas zu erwidern – er wusste ohnehin nicht, was in einer solchen Situation angemessen wäre –, drückte Murphy tatsächlich auf das Gaspedal. Der Lincoln raste los, flog geradewegs über die Straße. Es fiel ihm schwer, diese geballte Kraft überhaupt noch unter Kontrolle zu halten. Statt an der aufkommenden Kreuzung vor dem See zu halten, schickte er ein Stoßgebet an den Himmel, dass kein anderes Auto unterwegs wäre, dann vollführte er eine scharfe Linkskurve. Die Reifen quietschten, verloren für einen kurzen Moment die Bodenhaftung. Ohne das Tempo herunterzunehmen, fuhr er weiter. Doch seiner Begleitung schien es nicht schnell genug zu sein: „Warum müssen Sie so vorsichtig fahren?!“ Murphy warf ihr einen raschen Blick zu. Sie tippelte nervös mit den Füßen, der Deckel klapperte dabei auf dem Topf. Sie meinte es wirklich ernst. Aber was konnte so Wichtiges im Inneren sein? Dem Himmel sei Dank blieb die Straße leer, denn je länger er so fahren musste, desto müder wurden seine Arme. Immer öfter brach der Wagen kurzzeitig nach links aus. „Er verliert immer mehr seiner Wärme“, klagte seine Begleiterin. „Fahren Sie doch schneller!“ Wie schnell denn noch, Lady? Da er die kleine Siedlung, in der sie lebte, näherkommen sah, drückte er nicht weiter aufs Gas, sondern bremste ein wenig. Sehr zum Unwillen der eigenartigen Dame neben sich: „Wir haben nicht mehr viel Zeit!“ „Wir sind ja gleich da“, erwiderte er ihr. „Keine Sorge, wir schaffen das.“ Sie reagierte nicht auf seine Worte, sondern starrte immer geradeaus, durch die Windschutzscheibe. Ihr Oberkörper war ein wenig vornübergeneigt, als könnte sie die Fahrt damit beschleunigen. Er bog nach links ab, als die Einfahrt kam, glücklicherweise wieder ohne jemanden zu treffen. Die Siedlung bestand aus mehreren zweistöckigen Häusern, allesamt gleich aussehend, die oval angeordnet waren. Zwischen den einzelnen Grundstücken gab es mehrere Büsche und Bäume, so dass es fast so wirkte als wären sie mitten im Wald. Es war eine angenehme Gegend, in der sich bestimmt gut Kinder aufziehen ließen. Es versetzte Murphy einen schmerzhaften Stich in der Brust, da er unwillkürlich an Charlie zurückdenken musste. Er stoppte den Wagen vor der Einfahrt, die ihm seine Begleitung wies. Schon bei einem flüchtigen Blick entdeckte er einen einzelnen braunen Schuh, der dort lag, er passte zu dem, den die Frau trug. Warum sie diesen verloren hatte, konnte er allerdings nicht ergründen. Er stand auf, ging um den Wagen – so schnell es ihm möglich war – und öffnete die Beifahrertür. Seine Begleiterin meckerte leise, als sie ausstieg und zur Haustür lief. Dort hielt sie wieder inne, drehte sich zu ihm um und atmete auf. „Wir haben es geschafft, er ist noch warm. Danke.“ Murphy stemmte seine Hände in die Hüften. „Was ist denn in dem Topf, dass er nicht kalt werden darf?“ Und warum ging sie damit dann überhaupt spazieren? Im Allgemeinen pflegte Murphy jedenfalls, seine Kochutensilien zu Hause zu lassen. In seinem ganzen Leben war er nie zuvor jemandem begegnet, der es anders handhabte. Sie sah darauf hinunter, neigte den Kopf. „Das ist ein Geheimnis zwischen dem Topf und mir. Sie müssen ihn erst verstehen lernen, dann erfahren Sie es von ihm selbst.“ Murphy betrachtete das einfache Metall, in dem er sich undeutlich und verzerrt spiegelte. Aber für ihn war es einfach nur ein Küchengerät, etwas, das man benutzte, um Mahlzeiten herzustellen, mehr nicht. Dennoch interessierte ihn brennend, was sich im Inneren befand. Vielleicht nur eine Mahlzeit? Möglicherweise ein Fisch? Ein menschliches Herz? Die Möglichkeiten waren endlos, er musste es wissen! „Wie kann ich ihn verstehen lernen?“ Ihr Gesicht erhellte sich augenblicklich. „Sie müssen mehr Zeit mit ihm verbringen.“ Sollte das eine Einladung sein? Wollte sie, dass er mit ins Haus kam? Dafür hätte er trotz aller Neugierde keine Zeit, deswegen legte er sich bereits eine Ausrede zurecht, um sich zu entschuldigen – doch sie hatte das gar nicht im Sinn: „Sie werden uns noch oft herumfahren müssen.“ Noch mehr solcher halsbrecherischer Fahrten? Murphy war sich nicht sicher, ob er das überleben könnte. Aber die Neugierde hatte ihn gepackt und wollte nicht mehr loslassen. „Sollen wir dafür Termine ausmachen?“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Sie werden uns finden, wenn der Topf denkt, dass die Zeit richtig ist.“ Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. „Er weiß alles.“ Ein eiskalter Schauer lief über Murphys Rücken. Falls irgendetwas in diesem Topf war, das wirklich alles mögliche wusste, wäre sein friedliches Leben hier in Gefahr. Wusste diese Frau dann auch, wer er war? Was er angestellt hatte? Sie machte nicht den Eindruck, aber darauf konnte er sich nicht verlassen. Nein, ich darf mich nicht verrückt machen lassen. Selbst nach allem, was er erlebt hatte, durfte er sich nicht einreden, dass – ausgerechnet – ein Topf allwissend wäre und wusste, was bei ihm bislang geschehen war. Schließlich gab es auch die Möglichkeit, dass überhaupt nichts darin und die Frau nur ein wenig verrückt war. Er deutete locker auf den Topf. „Ist das wahr?“ Sie nickte. „Ich bin auf unser nächstes Treffen gespannt.“ Statt weiterer Worte verschwand sie schließlich im Haus. Murphy starrte auf die einfache Holztür, wunderte sich, ob diese Begegnung gerade wirklich geschehen war. „Was leben nur für Leute in dieser Stadt?“, murmelte er. Sie waren alle eigenartig, aber auch irgendwie liebenswert. Selbst diese verrückte Begegnung erfüllte ihn nur mit einer kindlichen Neugier, die gestillt werden wollte. Er müsste aber auch unbedingt herausfinden, ob die anderen wussten, wer diese Frau war und ob sie sich immer so verhielt. Da er die Antwort nicht in dieser Einfahrt finden könnte, wandte er sich wieder dem Auto zu. Vorsichtshalber ging er einmal um den Wagen herum. Nichts fehlte oder war beschädigt. Zumindest hatte die Fahrt also nicht negativ geendet. Wie hätte er das sonst Polly erklären sollen? Die ersten Tropfen fielen bereits, deswegen stieg er ins Auto. Kaum saß er drinnen, verstärkte sich der Regen, klatschte hämmernd auf Dach und Windschutzscheibe, ließ seinen Blick nach draußen verschwimmen. Er atmete durch. Alles war gut, er war nicht mehr in Silent Hill, keine Monster würden ihn angreifen, er war in Sicherheit. Ich habe hier schon öfter Regen erlebt, ich schaffe das. Sich selbst gut zuzusprechen, half vielleicht, dabei flüsterte ihm sein Unterbewusstsein aber auch zu, dass er das erste Mal seit Silent Hill bei solchem Wetter im Freien war und man ja nie wissen konnte. Murphy drehte den Schlüssel. Der Wagen sprang sofort an, ein weiteres Zeichen, dass er sich keine Sorgen machen musste. Die Scheibenwischer klärten seine Sicht wieder. Aber das Gefühl, verfolgt zu werden, den Drang, über die Schulter zu blicken, konnte er nicht einfach so ablegen, nicht einmal, als er wieder auf die Hauptstraße zurückkehrte. Sie führte am See entlang, der sich bis zum Hotel erstreckte. An sonnigen Tagen war es ein wunderschöner, aber auch blendender Anblick. Doch bei Regen war es nur noch eine stahlgraue Platte, deren gleichmäßige Oberfläche von unzähligen Tropfen zersplittert wurde. Es war auf seine eigene Art und Weise reichlich … deprimierend. Am See gab es einen Parkplatz, der für Reisende als Ort zum Rasten gedacht war. Murphy war inzwischen so oft daran vorbeigefahren, dass er nur einen flüchtigen Blick dafür übrig hatte – jedenfalls bis er die große schwarze Gestalt entdeckte. Alles in seinem Inneren gefror sofort, er erwartete regelrecht Blitz und Donner, gefolgt von dem Schreien unzähliger Monster. Obwohl beides ausblieb, ließ das Frieren in seinem Inneren nicht nach. Er musste sichergehen. Also bog er auf den Parkplatz ein, achtete nicht darauf, wie er das Auto stehenließ, und stieg aus. Seine Kleidung sog sich sofort mit Wasser voll. Er ließ den Blick über die Umgebung schweifen, aber nichts war zu sehen. Keine übergroße Gestalt in einem schwarzen Mantel, keine mit einer Atemmaske, keine mit einem Hammer. Er war allein. Dennoch schlug sein Herz schneller als es sollte. Er hörte seinen eigenen Puls in den Ohren, er übertönte sogar den Regen, so sehr raste dieser. Etwas stimmte nicht – und es war nicht nur die Erinnerung an den Bogeyman. Zuvor hatte er sich davor gefürchtet, diesen hier zu treffen, aber nun wünschte er sich das schon fast. Er wollte ihn noch einmal bekämpfen, ihn niederwerfen und ihm mit seinem eigenen Hammer den Schädel einschlagen. Nein, das genügt nicht. Er wollte jeden einzelnen Knochen im Leib dieses Monsters zerschmettern, ihn treffen, bis nichts mehr von ihm übrig war und sogar der Hammerkopf zerbröselte. Dann wollte er weitermachen, die kümmerlichen Überreste mit seinen eigenen Händen vergraben, erst aufhören wenn seine Finger bluteten und er nichts mehr in ihnen spürte. Ein schmerzhaftes Pochen direkt hinter seinem rechten Auge riss ihn aus dieser Trance. Leise grummelnd griff er sich an die Stirn. „Was war das?“ Noch immer verspürte er ein tiefsitzendes Verlangen danach, dieses Monster auseinanderzureißen und es endgültig zu brechen und aus seinen Gedanken zu verbannen. Wann immer er versuchte, diese Vorstellung von sich zu schieben, schien sie nur näher zu kommen und sich gewaltvoll an ihn zu heften. Es war derart stark, dass ihm davon übel wurde. Er legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund leicht, um den Regen willkommen zu heißen. Dass er inzwischen vollkommen durchnässt war, störte ihn nicht. Er war gerade in Sicherheit, das war alles, was zählte – und dieses Gefühl wollte er gemeinsam mit dem Regen in sein Inneres sickern lassen, um das gewalttätige Verlangen wieder zu vergessen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)