Wicked Rain von Flordelis (Silent Hill: Downpour x Deadly Premonition) ================================================================================ Kapitel 8: Du solltest noch etwas von mir wissen (Teil 2) --------------------------------------------------------- Murphy saß auf einer der Bänke der Aussichtsplattform. Der Wind trug etwas von der Gischt des Wasserfalls zu ihm herüber, so dass sein Haar sich inzwischen leicht feucht anfühlte. Aber er störte sich nicht daran. Es war kein Vergleich zu den plötzlichen Regenfällen in Silent Hill. Valeria saß neben ihm. In kleinen Schlücken trank sie eine Dose Soda leer. Sie hatte ihm noch keine erkennbare Reaktion auf sein Geständnis gegeben und sich lediglich etwas aus dem Automaten zu trinken geholt, ehe sie ihn gebeten hatte, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Trotz seiner eigenen Skepsis und seines Misstrauens, hatte er ihr wirklich alles erzählt, angefangen mit Charlies Tod, bis zu dem Busunfall, durch den er entkommen war. Alle Erlebnisse in Silent Hill verschwieg er aber. Manchmal konnte er selbst noch nicht glauben, dass es mehr als nur ein Albtraum gewesen war. Es genügte für Valeria aber, wenn er mit dem Busunfall endete, und damit, dass Cunningham ihn gehen gelassen hatte. Auch wenn er damit die Erklärung schuldig geblieben war, wie sie von seiner Unschuld überzeugt worden war. Nachdem er geendet hatte, herrschte Schweigen zwischen ihnen. Lediglich der rauschende Wasserfall bot ihnen eine gewisse Geräuschkulisse. Quälend viele Sekunden verstrichen, in denen sie nichts sagte, deswegen wollte er bereits ansetzen, ihr vorzuschlagen, sie wieder nach Hause zu bringen, doch da stieß sie schließlich einen anerkennenden Pfiff aus. „Du hast ganz schön viel mitgemacht, was?“ „Das kann man wohl sagen.“ „Ich glaube aber nicht, dass du ein schlechter Kerl bist. Ich war lang genug mit einem solchen verheiratet, da erkenne ich diese Leute inzwischen besser.“ Murphy hoffte, dass sie damit wirklich recht hatte. Er wollte ja ein guter Kerl sein, wirklich. „Laut deiner Geschichte verbindest du ziemlich viel mit dem Namen Charlie.“ Sie vermied es offensichtlich, genauer darauf einzugehen. Er erinnerte sich, wie traurig sie bei der Erzählung über Charlies Tod ausgesehen hatte, wie fassungslos. Deswegen war er sogar so weit gegangen, ihr von dem zu erzählen, was er Napier unter der Dusche angetan hatte. Ihre einzige Reaktion darauf war die Andeutung eines Nickens gewesen, das diese Selbstjustiz guthieß. Es war eigenartig erleichternd, von ihr in diesem Aspekt freigesprochen zu werden. „Sollte ich dich dann ab sofort lieber Murphy nennen?“ „Das ist mir egal.“ Er hätte seinen Namen bevorzugt, aber gleichzeitig befürchtete er, dass ihn das irgendwann verraten könnte. Sie musste es nur einmal in der Nähe der falschen Person sagen und alles wäre vorbei. Valeria schien das ebenfalls bewusst zu sein, denn sie schwieg wieder nachdenklich. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Dose. Ein Tropfen Kondenswasser floss dabei auf ihre Hand. Ohne sich wirklich daran zu stören, wischte sie sich die Flüssigkeit an ihrer Jeans ab. „Ich werde dich Murph nennen, wenn wir unter uns sind. Wenn das jemand hört, behaupte ich einfach, du erinnerst mich an meinen Onkel Murph.“ „Hast du denn einen?“ „Nö.“ Sie lachte. „Aber das muss ja niemand wissen.“ Als sie die Dose schüttelte, erkannte Murphy, dass diese leer war. Vielleicht hätte er sich auch etwas zu trinken holen sollen, aber nun war ihm nicht danach, dafür noch einmal nach unten zu gehen. Valeria versenkte ihre Dose mit einem gezielten Wurf im Mülleimer, was sie mit einem triumphierenden Lächeln zelebrierte. „Hast du jetzt eigentlich vor, in Greenvale zu bleiben?“ Er hob die Schultern. „Offiziell gelte ich als tot, also wird mich niemand suchen. Aber ich weiß nicht, ob es sicher ist, mich irgendwo niederzulassen. Besonders falls ich irgendwann einen richtigen Job benötige, dann brauche ich eine Sozialversicherungsnummer und einen Ausweis. Im Moment habe ich nichts davon.“ Valeria klopfte ihm auf die Schulter. „Das lässt sich alles finden. Greenvale mag in vielen Dingen altmodisch sein, aber die Einwohner sind auch großartig in den unterschiedlichsten Dingen.“ „Du meinst, irgendeiner hier kann mir gefälschte Papiere verschaffen?“ „Davon gehe ich aus. Ich muss noch herausfinden, wer das kann, aber das wird schon funktionieren. Schließlich lebe ich schon eine Weile hier, die Leute vertrauen mir.“ Wenn sie so redete, klang es wie eine gute Idee, ihr vertraut zu haben. Er hoffte, es stellte sich nie als Fehler heraus. „Du nimmst das alles ziemlich gut auf. Andere wären von einer solchen Geschichte geschockt.“ „Wie gesagt, ich glaube nicht, dass du ein schlechter Kerl bist. Und wenn ich ein Kind hätte und jemand würde dem etwas antun …“ Sie schnaubte. „Ich würde ihn töten. Du erscheinst mir wie ein Heiliger, weil du das nicht getan hast.“ Aber er hatte auch nicht verhindert, dass jemand anderes das für ihn übernahm. Nur dadurch war es zu dem tragischen Zwischenfall mit Frank gekommen. Oder wäre Sewell an jenem Tag einfach mit einem anderen Gefangenen in die Duschen hinuntergegangen? Valeria warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Deine Geschichte war so interessant, dass die Zeit geradezu verflogen ist. Wenn wir noch essen gehen wollen, sollten wir dann aber mal los.“ Gemeinsam – und zumindest Murphy fühlte sich erleichtert – kehrten sie zum Auto zurück. Der Parkplatz war immer noch vollkommen leer, abgesehen von ihnen. Auf der kurvigen Straße nach unten fiel Valeria noch eine Frage ein: „Fehlt dir Carol eigentlich?“ Das war knifflig. Er hatte sich das noch nie gefragt, seit er aus Silent Hill geflohen war. Wann hatte er zuletzt an sie gedacht, ohne nicht gleichzeitig an Charlie zu denken? „Mir fehlt die Vergangenheit“, antwortete er. „Als alles noch gut war. Aber sie selbst … nein, ich kann nicht sagen, dass sie allein mir fehlt.“ Sicher war sie bereits davon unterrichtet worden, dass er gestorben war. Ob sie das überhaupt kümmerte? Laut ihrem letzten Brief, der ganz zu Beginn seiner Haftstrafe gekommen war, hatte sie ohnehin schon lange beschlossen, dass er tot für sie war. Nun konnte sie wenigstens wirklich weiterleben, ohne an ihn denken zu müssen. Sie durchfuhren das Tor des Forest Parks. Diesmal stand jemand vor der Blockhütte; ein alter Mann, der alles verkörperte, was man von einem Forsthüter erwartete: groß gewachsen, kräftiger Körperbau, weißes kurz geschnittenes Haar, einen gepflegten grauen Bart, er trug ein kariertes Hemd und eine Latzhose aus Jeansstoff. Valeria winkte ihm zu, was er erwiderte. Da keiner der beiden Murphy bedeutete, anzuhalten, fuhr er einfach weiter, wenn auch langsam. „Das ist der Forsthüter?“ „Genau.“ Valeria hatte noch über die Schulter nach dem Mann gesehen, setzte sich nun aber wieder richtig hin. „Jim Green, Lillys Vater. Ich glaube, du würdest ihn mögen. Er ist zwar sehr schweigsam, aber auch sehr nett.“ „Klingt beides nach guten Eigenschaften.“ Valeria nickte, dann wies sie ihn an, wieder in die Nähe der Apotheke zu fahren. „Das A&G Diner ist direkt an der Hauptstraße, dort bekommen wir richtig leckeres Essen.“ Murphy rief sich die Karte wieder in Erinnerung, tatsächlich glaubte er, von diesem Ort gelesen zu haben. „Wäre es dann nicht besser, vor dem Friedhof abzubiegen und durch den Tunnel zu fahren? Das spart uns Zeit.“ „Wenn du nichts gegen Geister hast.“ Selbst nach Silent Hill glaubte er noch nicht an solche, deswegen runzelte er die Stirn. „Geister?“ Sie seufzte theatralisch. „Keith hat mir davon erzählt. In Cope's Tunnel soll eine Frau überfahren worden sein, und seitdem spukt es dort.“ An der Kreuzung angekommen wählte er den rechten Weg, statt den linken. „Dann werden wir mal sehen, ob an den Gerüchten etwas dran ist.“ Valeria lachte nur leise. Nach wenigen hundert Metern tauchten sie bereits in die Dunkelheit des Tunnels ein. Nur wenige gelbe Lichter verhinderten, dass man gar nichts mehr sah, aber das diente wohl nur dafür, dass jemand, der unvermutet in den Tunnel geriet, nicht gegen die unzähligen Kisten, Tonnen und Absperrungen raste. Es sah so aus, als hätte man Arbeiten begonnen, aber dann waren alle Arbeiter geflohen, zu ängstlich, um sogar ihr Werkzeug zu holen. „Und? Siehst du schon einen Geist, Val?“ Tatsächlich versuchte sie, in alle möglichen Richtungen gleichzeitig zu sehen, indem sie immer wieder den Kopf wandte. „Bislang noch nicht. Aber na ja, was erwarte ich auch von einer Geschichte, die Keith in seiner Freizeit erzählt?“ Für nur den Bruchteil einer Sekunde glaubte Murphy, im Rückspiegel das Boston-Smile-Grinsen eines Screamers zu sehen. Es verschwand allerdings wieder, bevor er Valeria darauf ansprechen konnte. Das liegt nur am Schlafmangel, sagte er sich. Das gibt sich wieder. Für den Rest der Strecke, die sie in der fast vollkommenen Dunkelheit verbrachten, geschah nichts mehr, was Murphy wieder mit Erleichterung durchflutete. Kaum ließen sie den Tunnel hinter sich, sank Valeria wieder entspannt in ihren Sitz zurück. „Trotzdem irgendwie schade. Ich hätte nichts gegen eine Geistersichtung.“ Er erwiderte nichts darauf und konzentrierte sich stattdessen auf die Straße, da ihm dieser Streckenabschnitt unbekannt war. Zu einem großen Teil führte sie an Gleisen vorbei, aber es war kein Zug zu sehen. Er war aber auch noch nicht oft genug in der Stadt gewesen, um bewerten zu können, ob der Zugverkehr hier aktiv war – und er wollte Valeria nicht auch noch so etwas fragen. An einer Kreuzung stoppte er den Wagen für einen Moment. Links führte die Straße zurück in die Stadt, rechts führte sie kurvig wieder sanft einen Hügel hinauf. „Wo geht es da hin?“ Derart auswendig hatte er sich die Karte bislang nicht eingeprägt. Valeria sah nach rechts und betrachtete die blühenden Kirschbäume, von denen die Straße gesäumt wurde. „Da ist das Community Center, das Mercury Theater. Dort versammeln sich die Stadtbewohner, wenn etwas Besonderes ansteht. Aber ich war noch nie da. Zu meinen Zeiten war bislang noch keine Versammlung notwendig.“ Hoffentlich blieb es nur bei dem einen Mord, dann musste eine solche auch nie einberufen werden. Murphy führte den Wagen nach links, und folgte seiner Erinnerung, um bis zum Parkplatz des Diners zu kommen. Dort ausgestiegen bemerkte er sofort den angenehmen Geruch, der aus dem Inneren des Gebäudes strömte und Hunger in ihm weckte. „Nick ist ein echt guter Koch“, versicherte Valeria ihm, während sie auf den Eingang zugingen. „Ich lade dich ein, weil du mich auf die Spritzfahrt mitgenommen hast. Also such dir aus, was du willst.“ Das Innere erinnerte Murphy an jedes andere Diner, das er je besucht hatte. Es gab einen u-förmigen Tresen, an dem Barhocker standen, ansonsten aber auch Tische mit gemütlichen Sitzbänken. Weiter hinten gab es ein Fenster, durch das man in die Küche sehen konnte. Der Boden sah aus wie ein Schachbrettmuster und war genau wie der Tresen auf Hochglanz poliert worden, jemand machte sich eindeutig viel Mühe damit. Das Diner war gut besucht, aber dennoch waren die Stimmen vergleichsweise ruhig, genau wie die sanfte Musik im Hintergrund. Sie setzten sich gegenüber an einen der noch freien Tische, fast sofort stand eine Bedienung neben ihnen. Sie trug eine übliche Uniform – ein hellblaues knielanges Kleid mit einer weißen Schürze und außerdem einen mit Rüschen besetzten Reif, um das braune, langsam grau werdende Haar zu bändigen –, was Murphy für einen Moment denken ließ, er sei im Diner einer Kette gelandet, aber sie wirkte noch nicht so alt und verbittert wie andere Bedienungen. Die Frau lächelte freundlich, was die leichten Ansätze von Falten an ihren Mundwinkeln betonte, und händigte ihnen die Speisekarten aus. „Herzlich Willkommen im A&G Diner. Mein Name ist Bonnie, ich bin heute eure Bedienung. Hi, Val.“ „Hi, Bonnie.“ Valeria erwiderte ihr Lächeln herzlich. „Ist Olivia heute nicht hier?“ „Sie ist hinten und kümmert sich gerade um die Bestellungen. Also werden du und dein Freund heute mit mir vorlieb nehmen müssen.“ Bonnie sah Murphy an. „Wir kennen uns noch nicht. Sind Sie schon lange in Greenvale?“ Er tauschte einen kurzen Blick mit Valeria, aber sie lächelte einfach nur. Er interpretierte das als Versicherung, dass er sich vor dieser Frau nicht in Acht nehmen müsste. „Ich bin erst seit ein paar Tagen hier. Charles Coleridge.“ „Bonnie Bergen, freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Charles.“ Sie griff in eine Tasche ihrer Schürze und zog einen kleinen Schreibblock und einen Kugelschreiber heraus. „Also, was wollt ihr beide haben? Ich kann wieder einmal alles empfehlen.“ Valeria bestellte einen Kaffee für sie beide und außerdem ein Eiersalatsandwich, Murphy entschied sich – angesichts der ausgiebigen Mahlzeiten bei Polly – für ein Truthahnsandwich. Bonnie notierte sich das, dann nahm sie ihnen die Karten wieder ab, versprach, bald zurückzukommen und huschte davon, um die Bestellungen weiterzugeben. „Du wirst den Kaffee lieben. Bonnie kocht den besten der ganzen Stadt.“ „Ich bin da nicht sonderlich anspruchsvoll.“ Alles war besser als die wässrige braune Brühe, die man im Gefängnis bekam. „Aber Pollys Kaffee ist ernsthafte Konkurrenz.“ Auf seinem Weg nach Greenvale hatte er manchmal in Dinern Kaffee getrunken, aber meist war er auch nur geringfügig besser gewesen als jener im Gefängnis. Deswegen schraubte er seine Hoffnungen lieber nicht zu hoch. „Von hier aus kann ich dann nachher laufen“, sagte Valeria. „Ich wohne nur die Straße runter, also kannst du dann ins Hotel zurück. Morgen muss ich leider wieder früh arbeiten, sonst hätte ich vorgeschlagen, dass wir noch eine Bar besuchen.“ Es war bedauerlich, sich nach diesem Nachmittag wieder von ihr trennen zu müssen, besonders nachdem sie nun die Wahrheit kannte und ihn immer noch normal behandelte. Aber die Aussicht, dass sie an einem anderen Tag wieder gemeinsam etwas unternehmen könnten, war tröstlich. „Was für eine Bar hast du im Kopf?“ „Richard besitzt eine großartige Sportsbar. Da sollten wir unbedingt mal hingehen, Dart spielen, Pool … ah, du weißt ja bestimmt, wie es so in Sportsbars abgeht.“ Wie lange war sein letzter Besuch in einer solchen her? Viel zu lange. Heute kannte ihn keiner der Männer mehr, mit denen er damals dort gewesen war. Aber er erinnerte sich nicht einmal an ihre Namen, also war es kein großer Verlust. „ Du solltest noch etwas von mir wissen“, kündigte Murphy mit ernster Stimme an. Valeria sog hörbar die Luft ein, nicht weniger ernst war ihr Blick, mit dem sie ihn ansah und auf seine weitere Beichte wartete. Da tat es ihm fast schon leid, deswegen löste sich seine Mimik in ein Schmunzeln auf. „Ich bin ein höllisch guter Poolspieler.“ Für einen schrecklich langen Augenblick, sah es aus als könne Valeria seine Worte nicht verarbeiten – doch dann prustete sie plötzlich und begann zu lachen. „Oh Mann. Ich dachte schon, du willst mir erzählen, dass du eigentlich doch ein Massenmörder bist oder sowas.“ Derart entspannt gefiel sie ihm schon wesentlich besser. Sie schüttelte mit dem Kopf, als sie sich wieder beruhigt hatte. „Wir werden ja sehen, wer von uns der bessere Spieler ist.“ Bonnie kehrte zurück und stellte den Kaffee und die Teller vor ihnen ab. Valeria bezahlte direkt die Rechnung, so dass die freundliche Bedienung sofort wieder davontänzeln konnte. Murphy nahm einen Schluck des Kaffees und war überrascht. Er war aromatisch, kräftig, mit einem angenehmen Nachgeschmack „Der ist wirklich richtig lecker. Das erwartet man in einem Diner gar nicht mehr.“ Obwohl das Lob nicht ihr galt, schien Valeria davon sehr angetan. „Ich sagte es ja. Ich kannte in meinem Leben noch keinen so guten Kaffee wie den von Bonnie. Kein Wunder, dass sie hier arbeitet. Das wäre sonst echt eine Verschwendung gewesen.“ Mit einem glücklichen Blick auf ihrem Gesicht, trank sie ihren Kaffee und nahm immer wieder einen Bissen ihres Sandwiches. Murphy machte es ihr nach, ohne den glücklichen Blick. Aber er musste dennoch zugeben, dass er sich gerade gut fühlte. In diesem Moment konnte er sich erst recht vorstellen, noch mehr Zeit in dieser Stadt zu verbringen. Viel mehr. Doch auch dieser schöne Augenblick fand ein rasches Ende, als er plötzlich auf das Gespräch am Nebentisch aufmerksam wurde: „Du bist doch Zandras Nachbarin. Hast du irgendetwas gesehen?“ Also machte es inzwischen die Runde, dass sie tot war, es war wirklich eine kleine Stadt. Zum Glück hatte er es Valeria bereits erzählt, so konnte sie nicht mehr überrascht sein. Stattdessen runzelte sie die Stirn und schwieg, um ebenfalls zuzuhören. Das Gespräch fand hinter ihm statt, deswegen wagte er nicht, sich umzudrehen, aber er spitzte weiterhin die Ohren. Die Nachbarin zögerte nicht lange, ehe sie antwortete: „Ich habe sie gesehen, als die Polizisten die Untersuchung durchgeführt haben.“ „Hast du einen guten Blick bekommen?“, fragte eine dritte Stimme. „Für einen kurzen Moment, ja. Es war wirklich nur ganz kurz. Es sah aus als hätte ihr jemand den Kopf eingeschlagen. Aber so brutal … ich kann nicht glauben, dass ein Mensch das getan hat.“ „Menschen sind ganz üble Gestalten“, sagte eine ihrer Begleiterinnen. „Ich traue ihnen alles zu.“ „Letzte Nacht hat es geregnet“, meldete sich die dritte Frau noch einmal zu Wort. „Vielleicht war es ja der Regenmantelmörder?“ Murphy sah Valeria fragend an, aber sie hob nur die Schultern. Natürlich, sie kannte sich damit genausowenig aus wie er. Der Regenmantelmörder war vor einem Jahr umhergegangen, sie war noch nicht so lange hier. Da hörte er aber bereits die erste Frau protestieren: „Er kann es nicht gewesen sein. Hast du schon vergessen? Er hat andere Methoden verwendet, richtig ausgeklügelte.“ Also vielleicht doch jemand, der es satt hatte, dass sie alles weitererzählte? Schließlich konnte man einem Menschen mit allen möglichen Dingen den Kopf einschlagen – wenn er den anderen Insassen im Gefängnis glauben durfte. Aber es war offenbar nicht so einfach, die Tatwaffe danach verschwinden zu lassen, weswegen die meisten von ihnen überhaupt im Gefängnis gesessen hatten. Aber das bedeutete auch, dass man den Täter in diesem Fall schnell fassen könnte, er musste sich also keine Sorgen machen. „Da war nur eine Sache, die ungewöhnlich war“, merkte die Nachbarin an. „Zandras Wohnung ist komplett mit Teppich ausgelegt. Und der war vollkommen durchnässt.“ Schlagartig blieb Murphy die Luft weg. Er erinnerte sich wieder an das Gefängnis, das Wasser auf dem Boden – und der Moment im Waisenhaus, als der Bogeyman den Jungen getötet hatte. Nein, das kann nicht sein. Es gibt bestimmt eine andere Erklärung. Es muss einfach so sein. „Wollte sie nachts vielleicht baden?“, fragte die erste Person. „Hast du da was gehört?“ „Nein. Das einzig Ungewöhnliche waren die schweren Schritte vor dem Haus, bevor ich eingeschlafen bin.“ Er musste sich Mühe geben weiterzuatmen. Das alles durfte einfach nicht sein. Es war unmöglich, die Polizei würde das beweisen und den richtigen Mörder finden, er musste sich keine Sorgen machen. Valeria bemerkte offenbar, dass es ihm nicht gut ging, denn sie stand plötzlich auf. „Komm, lass uns gehen. Es wird Zeit, dass ich nach Hause komme.“ Sein Kaffee war noch nicht leer und sein Sandwich nicht aufgegessen, aber ihm war als hätte er einen Kloß im Hals, er könnte nicht einmal mehr etwas hinunterwürgen. Deswegen kümmerte er sich nicht weiter um die Reste, sondern stand ebenfalls auf und ging mit Valeria nach draußen. Er widmete den tratschenden Frauen keinen Blick. Kaum spürte er wieder die frische Luft, fiel ihm das Atmen schon leichter. Der Himmel war mit grauen Wolken bedeckt, aber das störte ihn nicht. „Du siehst schon wieder viel besser aus.“ Valeria lächelte erleichtert. „Ich weiß nicht, was dich da drin so mitgenommen hat, und du musst es mir auch nicht erzählen. Ich kann ja schon froh sein, dass du mir alles andere erzählt hast.“ Tatsächlich fühlte er sich auch noch nicht bereit dazu, ihr von dem Bogeyman zu erzählen, genausowenig wie sonst irgendjemandem. Das war ein Punkt seiner Vergangenheit, den niemand jemals erfahren sollte, wenn es sich verhindern ließe. „Danke, Val.“ Sie nickte. „Du solltest jetzt erst einmal zurück nach Hause. Mach dir keine Sorgen um mich, ich bin auch sicher hergekommen, also schaffe ich es auch heim. Du musst dich aber unbedingt ausruhen, der Tag heute war emotional für dich, nicht?“ „Sieht ganz so aus.“ Er lächelte ein wenig grimmig. „Dann sehen wir uns.“ Er konnte gerade noch verhindern, hinzuzufügen, dass das hoffentlich bald geschähe. Sie versicherte ihm, dass man sich spätestens in der Milk Barn wiederbegegnen würde, dann machte sie sich auf den Heimweg. Wie sie gesagt hatte, lief sie einfach die Straße entlang. Für einige Sekunden sah er ihr hinterher, beobachtete ihren lockeren sorglosen Gang, der ihm half, seine schlechten Gefühle wieder möglichst weit zurückzudrängen. Erst dann wandte er sich von ihr ab, um zum Wagen zurückzukehren – und im selben Moment glaubte er, ihren Blick in seinem Rücken spüren zu können. Er überzeugte sich nicht davon, ob sie wirklich zu ihm sah, sondern genoss einfach den Glauben, dass sie es tat, und lief über den Parkplatz zum Wagen. Es wurde wirklich Zeit, zurück ins Hotel zu kommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)