Wicked Rain von Flordelis (Silent Hill: Downpour x Deadly Premonition) ================================================================================ Kapitel 5: Ein hübscher Hund ---------------------------- Es fiel Murphy schwer, nicht mehr ständig diesen Baum vor Augen zu haben. Selbst als er wenige Minuten später bereits auf dem fast leeren Parkplatz der Milk Barn hielt, war da immer noch der Anblick dieses viel zu roten Baumes vor seinem inneren Auge. Er drehte den Schlüssel, um den Motor auszuschalten und der bis dahin vibrierende Wagen kam zur Ruhe. Er saß still da, den Blick auf die Wand des Geschäfts gerichtet. Mehrere Poster waren dort angebracht, sie bewarben allesamt die Eröffnung einer Galerie, die wohl in dieser Stadt sein musste, aber im Moment konnte Murphy sich nicht daran erinnern. Vielleicht war ihm doch noch nicht die gesamte Karte der Stadt in Fleisch und Blut übergegangen. Ein Münztelefon war ebenfalls an der Wand angebracht, was dem Laden eine gewisse Gemütlichkeit verlieh. Es ist wirklich so, als wäre hier die Zeit stehengeblieben, stellte Murphy wieder einmal für sich fest. Hoffentlich ist das hier nicht nur einfach ein Traum. Andererseits … wenn er an diesen Baum dachte … Es dauerte einen langen Augenblick, in dem Murphy das Blut in seinen Ohren rauschen hörte, ehe die Erinnerung an diesen Baum endlich so weit in den Hintergrund zu rücken gedachte, dass er sich wieder sicher genug fühlte, um das Auto zu verlassen. Inzwischen bedeckten graue Wolken den Himmel, aber es sah noch nicht nach Regen aus. „Ich sollte dennoch sicherstellen, dass ich immer einen Regenschirm mit mir führe, wenn ich unterwegs bin.“ Würde er die Unsitte, sich selbst etwas zuzumurmeln, irgendwann auch noch aufgeben? Während er den Blick über den verlassenen Parkplatz schweifen ließ, fielen ihm zwei Dinge auf: Selbst hier, mitten in der Stadt, gab es kaum Verkehr, und zweitens war der Parkplatz gar nicht so verlassen, wie er zuerst angenommen hatte. Zwei blonde Jungen, die etwa in Charlies Alter sein dürften, waren ebenfalls hier und spielten mit einem Dalmatiner, der immerzu fröhlich um sie herumlief. Ausgehend von der Ähnlichkeit der beiden, sowie ihrer Kleidung, die sich nur in ihrer Farbe voneinander unterschied, nahm Murphy an, dass sie Zwillinge sein mussten – aber der Anblick machte ihn nervös. Automatisch sah er sich nach einem Van um, der sich Mühe gab, möglichst unauffällig zu sein, nur zufällig in der Nähe abgestellt worden zu sein, und in dem es natürlich keinerlei Süßigkeiten oder Seile oder Klebeband gab. Sein Herz hämmerte derart laut in seinen Ohren, dass er davon ausging, dass jeder es hören musste. Jeder würde zu ihm sehen, mit dem Finger auf ihn zeigen und wissen, was er getan hatte. Fast schon war er überzeugt, hinter sich die schweren Schritte des Bogeyman zu hören. Doch er fand keinen Van. Niemand achtete auf seinen verräterischen Herzschlag. Und natürlich war der Bogeyman nicht hier. Nur die Jungen, der Hund und er standen auf diesem Parkplatz. Diese Erkenntnisse halfen ihm, sich wieder zu beruhigen, aber er war noch nicht ganz davon überzeugt, dass die beiden Kinder hier sicher waren. Er ging zu ihnen hinüber, lächelte dabei und hoffte, dass der Hund nicht zu bellen anfangen würde. Schon nach wenigen Schritten bemerkten alle drei seine Anwesenheit. Die Jungen begannen leise miteinander zu flüstern, während der Dalmatiner sich ihm zuwandte – und aufgeregt mit dem Schwanz wedelte. „Ein hübscher Hund“, sagte Murphy, als er bei diesem angekommen war und ihm über den Kopf streicheln konnte. „Gehört er euch?“ Eigentlich hatte er absolut keine Ahnung von Hunden – oder Tieren allgemein – aber das war der beste Weg, um mit ihnen in ein Gespräch zu kommen. Die Zwillinge wandten sich einander zu, die Hände vor den Mund haltend. Sie schienen sich wieder flüsternd zu unterhalten, aber da Murphy absolut nichts von ihnen hörte, war er sich da nicht sicher. Um sie nicht anzustarren, sah er sich den Hund genauer an. Es war ein Dalmatiner, wie er bereits festgestellt hatte, genau wie man sich einen solchen auf einem Feuerwehrauto vorstellte: schlanker Körper, weißes Fell mit unregelmäßigen schwarzen Flecken, schwarze Ohren, schwarze Nase, heraushängende Zunge, rotes Halsband. Das eigentlich Außergewöhnliche waren auch die Augen, wie Murphy fand. Selbst auf seinen ersten Blick sahen sie nicht … normal aus. Er glaubte, in Dunkelheit zu starren, in abgrundtiefe Finsternis, die angefüllt war mit altem Wissen, das den Menschen schon lange abhanden gekommen war, wenn sie es überhaupt je besessen hatten. Und während er hineinstarrte, glaubte er, die Augen starrten auch in ihn zurück, erfuhren alles über ihn, egal wie sehr er es zu verstecken versuchte. Hatte er so etwas jemals gespürt? „Sein Name ist Willie.“ Die klare Stimme eines Zwillings riss ihn unvermittelt aus seiner Trance heraus. „Aber er wohnt nur bei uns.“ Murphy riss sich von den Augen los und sah die Jungen an, mit einem plötzlichen Gefühl der Entblößtheit in seinem Inneren, das er auf diese Art wirklich noch niemals gespürt hatte. Nicht einmal in Silent Hill, obwohl die Stadt alles über ihn gewusst zu haben schien. „Er wohnt nur bei euch?“ Es kam ihm vor als sei seine Zunge taub geworden, als erforderte es unheimlich viel Anstrengung, zu sprechen oder auch nur diesen Satz in Gedanken zu formen. Der Junge mit dem blauen Karohemd nickte. „Eigentlich gehört er Mr. Kaysen. Aber weil er weg musste, kümmern wir uns um Willie.“ Der Hund gehörte im Grunde also nicht einmal zur Familie. Murphy sah wieder nach unten, wappnete sich gegen die Finsternis – aber jetzt blickte er nur noch in die dummen, aber treuherzigen Augen eines einfachen Hundes. Vollkommen ungefährlich. Ich werde wohl wirklich paranoid. Diese Erklärung gefiel ihm jedenfalls um einiges besser als jene, dass etwas mit diesem Tier nicht mit rechten Dingen zuging. Vielleicht könnte er so auch rasch wieder dieses furchtbare Gefühl vergessen. Er wandte sich wieder den Jungen zu. „Was macht ihr so ganz allein hier?“ Einer der beiden, der im grünen Hemd, deutete zum Laden hinüber. „Mama und Papa arbeiten hier. Wir sind immer hier.“ Also gehörte den Eltern der Laden, vermutete Murphy. War es trotzdem sicher, die beiden hier einfach spielen zu lassen? Waren diese Stadt und ihre Bewohner ungefährlich genug dafür? Ich weiß so gut wie nichts über diese Leute hier, ermahnte Murphy sich. Vielleicht sollte ich einfach Pollys Sachen holen und dann wieder zurück gehen. Dennoch verharrte er noch für einen langen Moment vor den beiden Zwillingen, die ihn ignorierten und wieder mit Willie zu spielen begonnen hatten. Er sollte wirklich gehen, durchfuhr es ihn, bevor er am Ende noch verdächtigt wurde, ihnen etwas antun zu wollen. „Viel Spaß noch, Jungs. Seid vorsichtig.“ Ein letztes Mal wandten sie ihm ihre Aufmerksamkeit zu und nickten gleichzeitig, dann widmeten sie sich wieder Willie, der bereits aufgeregt mit einem seltsam quietschenden Spielzeug im Maul um sie herumlief. Murphy wandte sich derweil ebenfalls ab und ging zur Eingangstür des Ladens. Im Inneren wurde er nicht nur von der Sauberkeit überrascht, sondern auch von der angenehmen Temperatur und dem wohltuenden Geruch. Es roch nach frischem Obst, Gemüse, Leben! Murphy fühlte sich auf eine unbekannte Weise neu vitalisiert, sämtliche finstere Gedanken verschwanden vorläufig aus seiner Erinnerung – doch zumindest einer von ihnen kehrte augenblicklich zurück, als er eine Stimme neben einem der Regale hörte: „Man sollte es wirklich nicht glauben. Dieser junge Mann wohnt jetzt wohl bei Polly. Können Sie das fassen?“ Nicht die Tatsache, dass er gemeint war, lenkte seine Aufmerksamkeit darauf, sondern die bekannte Stimme. Es war die Apothekerin, Zandra Clark, der er am Vortag begegnet war. Er konnte sie nicht sehen, da sie wohl kleiner war als das Regal hinter dem sie stand, aber ihre Stimme war eindeutig. Neben ihr stand eine Person, von der er zumindest das helle Haar sehen konnte, was ihm auch verriet, dass sie immer wieder nickte, allerdings wirkte es ein wenig desinteressiert. Die andere Person war wohl nicht so angetan von dem Gespräch. Statt sich selbst bemerkbar zu machen, umging Murphy dieses Regal und trat stattdessen direkt an den Tresen, auf dem die Kasse stand. Alles in allem wirkte dieser Laden, auch von seiner Größe her, nicht wie ein Supermarkt, sondern eher wie irgendein anderer Laden. Das ist der Charme der Kleinstadt. Die Person hinter dem Tresen konnte er so allerdings nicht erklären. Er war auf den ersten Blick als Rockfan identifizierbar, nicht nur wegen dem Luftgitarren-Auftritt, den er gerade darbot. Nein, die schwarze Lederjacke und seine an Elvis erinnernde Frisur taten ihr Übriges dazu. Aber auch wenn Murphy im ersten Moment die Stirn runzelte, entspannte er sich gleich darauf wieder. Ein skurriler Verkäufer war ihm allemal lieber als ein mysteriöser Postbote oder noch mehr kreischende Frauen – oder jemand wie Sewell. „Hey, Mann!“, sagte der Rockfan, nachdem er endlich mit seinem Auftritt fertig war. „Was kann ich für dich tun?“ Selbst wenn er sprach, schien er eher singen zu wollen, aber seiner Stimme fehlte das Samtige, das Elvis derart groß gemacht hatte. Glücklicherweise war Murphy aber nicht als Musikkritiker hier. „Mrs. Polly Oxford schickt mich“, antwortete er. „Ich soll für sie die Lebensmittel abholen.“ Der Rockfan wirbelte mit den Armen und zeigte dann mit beiden Händen zur Seite, weiter in den Laden hinein. „Da musst du meine Frau fragen, Mann. Das gehört zu ihren Aufgaben.“ Murphy versuchte die beiden ruhigen Zwillinge auf dem Parkplatz mit diesem Mann in Einklang zu bringen, aber es gelang ihm nicht wirklich. Statt es weiter zu versuchen, nickte er dem Rockfan dankbar zu und ging an den spärlichen Regalen und den anderen Kunden vorbei, bis er – schon nach überraschend wenigen Schritten – ganz hinten im Laden stand, direkt vor einer großen Auslage, die mit Obst und Gemüse gefüllt war. Ein darüber angebrachter schräger Spiegel ließ den Eindruck entstehen, dass es noch wesentlich mehr gab als nur jene Dinge, die auch wirklich greifbar waren. Eine Frau war gerade dabei, das Obst aufzufüllen – einige Äpfel waren wohl schon gekauft worden –, es dauerte einen Moment, bis Murphy sie erkannte, aber dann erinnerte er sich tatsächlich daran, dass sie ihm von diesem Job erzählt hatte. Es war vermutlich unhöflich und auch unheimlich, hier einfach herumzustehen und sie anzustarren, deswegen grüßte er sie lieber: „Hey, Val.“ Sie hielt in ihrer Tätigkeit inne und wandte ihm den Kopf zu. Ihr Pferdeschwanz flog dabei förmlich zur Seite. Im Gegensatz zu ihm erkannte sie ihn sofort, sie lächelte. „Hey, Charlie. Sie haben sich aber nicht viel Zeit damit gelassen, mich zu besuchen.“ Sie legte den letzten Apfel an seinen Platz, dann wandte sie sich ihm ganz zu, eine Hand in die Hüfte gestemmt, der andere Arm fiel locker herab, so dass diese Hand auf der fleckigen Schürze zur Ruhe kam. „Hast du dich schon eingelebt?“ „Ich bin gerade dabei.“ Murphy deutetet zum Tresen zurück. „Sie sind aber nicht mit Elvis verheiratet, oder?“ Valeria blinzelte verwirrt, dann folgte sie seinem Fingerzeig und erkannte, wen er meinte. „Nein, nein“, erwiderte sie lachend. „Ich bin nicht mit ihm verheiratet, er ist nur mein Boss. Na ja, eigentlich ist Lilly unser Boss. Sie ist Keiths Frau.“ Also hieß dieser Rockfan Keith. Murphy beschloss, sich das zu merken. „Und die Zwillinge auf dem Parkplatz?“ „Isaach und Isaiah? Die Kinder von Keith und Lilly.“ „Sie kommen nach der Mutter, oder?“ Valeria lachte wieder, diesmal sogar ein wenig länger als zuvor. „Ich würde eher sagen, sie kommen nach ihrem Großvater. Aber die Familie ist wirklich sehr nett. Also ist es eigentlich egal.“ Da er keinen von ihnen wirklich kannte, konnte er nicht widersprechen. „Ist es sicher, die beiden ohne Aufsicht draußen spielen zu lassen?“ Valerias darauf folgendes Lächeln hatte etwas Bemitleidendes, etwas Herabsehendes in sich. Als wolle sie jeden Moment „Du weißt gar nichts, Charles Coleridge“ sagen. Stattdessen kam von ihr aber eine Erklärung: „Greenvale ist wirklich eine ruhige Stadt. Und jeder kennt jeden, hier passiert ihnen nichts.“ Dann, nach kurzem Zögern, fügte sie noch etwas hinzu: „Nun, Sie kennt man hier natürlich nicht. Aber ich nehme nicht an, dass Sie die Kinder entführen wollen.“ Sie lachte gleich darauf. Eigentlich wollte er sie auf die Ernsthaftigkeit dieses Themas hinweisen, aber dann hätte er möglicherweise über seine Vergangenheit reden müssen, was er vermeiden wollte – besonders da er plötzlich die neugierigen Blicke der anderen Kunden auf sich spürte. Darunter war auch der von Zandra, die damit beschäftigt schien, sich nicht über seine Anwesenheit aufzuregen. Hielt sie ihn immer noch für einen Gigolo? Diese Aufmerksamkeit wurde Murphy bald unangenehm, aber genau in diesem Moment öffnete sich eine schwer aussehende Tür an der Wand, die wohl ins Lager führte, und eine Frau trat herein. Er wusste sofort, dass es sich um die Mutter der Zwillinge handeln musste. Sie hatte dasselbe blonde Haar, trug es allerdings schulterlang, und ihr Gesicht strahlte Mütterlichkeit aus, wie es ihm vorkam. Genau wie Valeria trug sie eine fleckige Schürze um die Hüfte, aber ihr weißes Hemd war sauber. Sie lächelte Murphy zu als wolle sie ihm eine Tasse Kakao anbieten, was aber natürlich nicht geschah. „Oh, Schätzchen, kann ich dir helfen?“ Ihre Stimme klang ein wenig rau, aber auch lieblich, genau wie Murphy sich die Stimme einer Mutter immer vorgestellt hatte. Da er nichts sagte, während sie auf ihn zukam, führte sie das Gespräch einfach fort: „Ich habe dich hier noch nie gesehen. Oh! Schickt Polly dich etwa?“ Er glaubte, ein kollektives erschrockenes Einatmen zu vernehmen, lediglich Valeria lächelte noch immer und Zandras Blick schien Blitze zu verschießen. „Polly schickt mich wegen der Lebensmittel“, ergriff er schließlich das Wort. „Wir haben schon alles für sie vorbereitet.“ Die Frau, die Lilly sein musste, wandte sich Valeria zu. „Val, Schätzchen, hol doch bitte die Tüten aus dem Kühlraum und hilf ihm sie zum Auto zu bringen.“ Die Angesprochene nickte und huschte davon. Lilly wandte sich derweil Murphy zu, der sich ohne die einzige Person, die er in diesem Laden kannte, plötzlich einsam und verlassen fühlte. „Ich bin Lilly Ingram.“ Sie ließ ihm nicht viel Zeit dafür, sich in diesem Gefühl zu suhlen. „Polly hat mich angerufen und von dir erzählt. Charles Coleridge, nicht?“ „Richtig.“ „Schön, dass es dich hierher verschlagen hat.“ Es klang wirklich als freue Lilly sich. „Greenvale wird dir bestimmt gefallen. Ich wohne schon mein ganzes Leben hier.“ Er erwähnte lieber nicht, dass er eigentlich nur für kurze Zeit hatte bleiben wollen. Vielleicht änderte er seine Meinung ja doch noch … „Bislang sieht es wirklich nach einer schönen Stadt aus“, bestätigte er. „Schön friedlich.“ Und war genau das nicht etwas, nach dem sich jeder sehnte? Er zumindest auf jeden Fall, besonders nach allem, was er erlebt hatte. Lilly lächelte stolz, als hätte sie die Stadt höchstpersönlich errichtet. Eigentlich war das schon richtig … süß. Ehe er das unfreiwillig zum Ausdruck brachte, damit er nicht doch noch nach seiner Vergangenheit gefragt wurde, kehrte Valeria mit zwei schwer aussehenden braunen Papiertüten in den Armen zurück. Murphy nahm ihr rasch eine ab, wofür sie sich lächelnd bedankte. Lilly nickte den beiden zu. „Polly hat schon dafür gezahlt, also schuldest du uns nichts, Schätzchen. Sag ihr schöne Grüße, und dass ich mit den Jungs bald mal wieder vorbeikomme.“ Ich hatte also recht, man kümmert sich hier wirklich gut um Polly. Er versicherte, dass er das tun würde, dann verabschiedete er sich knapp, um gegenüber Valeria nicht so unhöflich zu sein. Gemeinsam verließen sie den Laden, aber er fühlte nach wie vor die brennenden Blicke der Neugier in seinem Rücken. Erst als sie um die Ecke bogen und er den Lincoln sehen konnte, wurde es wieder besser. Etwas weiter entfernt spielten die Zwillinge immer noch mit Willie, der inzwischen aufgeregt kläffte. „Oh, Sie sind wieder mit dem Lincoln unterwegs~.“ Valeria seufzte. „Und wir haben wieder keine Zeit für eine Spazierfahrt.“ Murphy verstaute die Tüten vorsichtig im Wageninneren, für den Fall, dass etwas Zerbrechliches darin sein mochte. „Ich muss den Wagen demnächst auch tanken. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie dann einmal mit. Wir müssten nur einen Zeitpunkt vereinbaren.“ Voller Vorfreude begann ihr Gesicht zu strahlen. „Oh ja~. Wie wäre es mit übermorgen? Da hätte ich frei. Wir könnten uns an der Apotheke treffen, ich zeige Ihnen den Weg zur Tankstelle und danach gehen wir noch etwas essen – auf meine Rechnung natürlich.“ Zur Tankstelle fände er sicher auch allein, aber er wusste ihren Einsatz zu schätzen, deswegen widersprach er nicht. „Okay. Wie wäre es gegen zwei?“ Dann könnte er bei Polly essen, mit Valeria eine Weile herumfahren und dann auch schon mit ihr etwas essen gehen. Das sollte in Ordnung gehen, wie er hoffte. „Klingt gut“, urteilte sie. Es kam ihm vor, als wollte sie sich verabschieden – natürlich, sie musste ja wieder zur Arbeit – aber er hielt sie dennoch davon ab, indem er ihr das Wort abschnitt: „Ich habe einen der roten Bäume gesehen.“ Für einen Moment sah es aus, als hätte sie das nicht einmal registriert, sie sagte nichts. Aber gerade als er zu einer Erklärung ausholte, erwiderte sie doch etwas: „Das ging schnell. Bei mir hat es eine Weile gedauert, bis ich sie erstmals wirklich registriert habe. Sie sind sehr ungewöhnlich, nicht?“ „Ich konnte mich kaum davon losreißen.“ „Ich wünschte, ich wüsste mehr darüber.“ Sie seufzte. „Warum will nur niemand darüber reden?“ „Gute Frage.“ Obwohl Murphy es durchaus verstehen konnte. Ihm schauderte immer noch ein wenig, wenn er daran zurückdachte. Aber wichtiger war: Weswegen übten diese Bäume einen gänzlich anderen Effekt auf Valeria aus? Er wollte sie nicht darauf ansprechen, das war gerade nicht der richtige Moment dafür, und vermutlich wusste sie es selbst auch nicht so recht, also wäre ein Gespräch darüber sehr müßig. „Dann will ich Sie nicht länger von der Arbeit abhalten“, sagte er. „Bis übermorgen.“ Sie verabschiedete sich ebenfalls und ging dann davon, um ihre Arbeit fortzusetzen. Er sah ihr hinterher, bis sie um die Ecke gebogen war. Erst als das letzte rote Haar ihres Pferdeschwanzes nicht mehr zu sehen war, setzte er sich wieder ins Auto. Gerade als er den Schlüssel im Zündschloss drehen wollte, spürte er wieder einen unangenehmen brennenden Blick auf sich. Stärker als der von Zandra oder einem neugierigen Stadtbewohner. Mühevoll – sein Kopf war plötzlich so furchtbar schwer – löste er die Augen vom Lenkrad und sah auf den Parkplatz hinaus. Dort sah er wieder nur die Zwillinge, die sich gerade flüsternd miteinander unterhielten; Willie saß da und starrte Murphy über die Entfernung und durch die Fensterscheibe hindurch an. Seine Augen waren unheilvoll, finster, unergründlich, genau wie zuvor. Ein kalter, unsichtbarer Finger strich über Murphys Wirbelsäule, den ganzen Rücken hinab und hinterließ nur eine Gänsehaut. Nur mit einer Mühe, die eine enorme Müdigkeit über ihn brachte, gelang es ihm, sich aus dieser Trance zu lösen. Er startete den Wagen und fuhr davon, ohne auf den restlichen Verkehr zu achten, nur um diesem Bann zu entkommen und den Hund endgültig hinter sich zu lassen. Glücklicherweise war die Straße vollkommen leer, wie ihm aber erst bewusst wurde, als er schon mehrere Kilometer von der Milk Barn entfernt war. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Magen fühlte sich flau an, als würde er krank werden. Was ist das nur für ein Hund?, war die Frage, die ihm gerade im Kopf herumspukte. Aber eigentlich gab es da doch eine wesentlich wichtigere, wenn er da an die Geschichte des Regenmantelmörders und die roten Bäume dachte: Was ist nur in dieser Stadt los? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)