Wicked Rain von Flordelis (Silent Hill: Downpour x Deadly Premonition) ================================================================================ Kapitel 2: Aber jetzt bin ich ja hier. -------------------------------------- Bis vor Silent Hill hatte Murphy stets von Charlie und Carol geträumt, von dem Glück, das ihm für immer entrissen worden war. Inzwischen träumte er nur noch von seinen Erlebnissen in Silent Hill, besonders dem, was im Waisenhaus geschehen war. Es waren keine Albträume, vielmehr nur Erinnerungen, die sich einfach immer wieder abspielten, so oft, dass er dem gegenüber bereits vollkommen abgestumpft war. Daher war er auch nicht sonderlich erschöpft, sondern ausgeruht, als er am nächsten Morgen erwachte. Im ersten Moment, noch bevor er seine Augen öffnete, fragte er sich, warum er so bequem lag. Erst nach und nach erinnerte er sich wieder daran, dass er in der Nacht zuvor nach Greenvale gekommen war und nun in einem dortigen Hotel übernachtete. Noch immer war er überrascht von diesem riesigen Zimmer – der Suite – in der er einquartiert worden war. Es war ihm absolut unmöglich, es zu bezahlen, deswegen war er schon gespannt darauf, welche Lösung Polly in einem solchen Fall für angebracht hielt. Dafür sollte er aber aufstehen und sie erst einmal treffen. Nachdem er sich selbst davon überzeugt hatte, das viel zu gemütliche Bett zu verlassen, trat er an die Terrassentür und schob den weißen Vorhang ein wenig beiseite. Der Himmel war blau, soweit er nur sehen konnte, keine einzige Wolke in Sicht, der See, den er durch die Bäume sehen konnte, glitzerte im Sonnenlicht. Es war kein Vergleich zu dem, was er in Silent Hill hatte sehen können. Er ließ den Vorhang wieder zurückfallen und ging ins Bad, um sich seiner Hygiene zu widmen, wobei ihm auffiel, dass die Kleidung, die er trug, reichlich abgetragen und noch dazu verschmutzt war. Bei Gelegenheit müsste er irgendwie an neue kommen. Wenn er Glück hatte, besaß Polly welche. Wieder im Eingangsbereich warf er einen Blick umher, konnte Polly aber nirgends entdecken, auch nicht im etwas höher gelegenen Restaurant. Allerdings hatte sie auch ohnehin von einem Saal gesprochen. Also blickte er wieder in Richtung der Gänge, die zu den Zimmern führten. Er entdeckte eine Reihe von alt aussehenden Münztelefonen, noch dazu einen Gang, der geradeaus zu einer zweiflügeligen Tür führte. Als er dort hinlief, entdeckte er rechts einen Snack- und einen Getränkeautomaten. Dieses Hotel besitzt wirklich alles, was man sich wünschen kann. Der Speisesaal war erfüllt von dem wohltuenden Geruch frischen Kaffees, Eiern, Specks und Toasts. Auch wenn der rötliche Teppich eine altertümliche Atmosphäre verbreitete, machte der Ausblick durch die verglaste Wand am anderen Ende das alles wieder wett – und der Anblick des reich gefüllten Frühstücksbuffets ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. „Guten Morgen, Mr. Coleridge.“ Er benötigte einen Moment, bis er sich wieder daran erinnerte, dass er damit gemeint war, aber dann wandte er sich Polly zu, die neben einem Servierwagen stand. Er erwiderte ihren Gruß, ehe er sich von ihr zu einem Tisch bringen und sich Kaffee einschenken ließ. „Ich hatte letztes Jahr einen Gast“, erinnerte sie sich, „der Hinweise in seinem Morgenkaffee entdecken konnte. Vielleicht sollten sie es auch einmal versuchen.“ Murphy lächelte über diesen Vorschlag, kam aber dennoch nicht umhin, in seine Tasse zu starren, nachdem er die Milch eingefüllt hatte. Während Polly ihm großzügig Rührei und Speck auf den Teller lud, gemeinsam mit mehreren Scheiben Toast, betrachtete er den wirbelnden Schaum auf seinem Kaffee. Nach einiger Zeit glaubte er, wirklich etwas sehen zu können, das entfernt an den Buchstaben V erinnerte. Aber vielleicht irre ich mich da auch. Nach allem, was bislang geschehen ist, muss man ja verrückt werden. Deswegen nahm er lieber rasch einen Schluck, statt sich weiter darum zu kümmern, ob man wirklich etwas sehen könnte. Polly setzte sich derweil an das andere Ende des Tischs, um ebenfalls zu frühstücken – und ein Gespräch mit ihm zu beginnen: „Was führt Sie nach Greenvale, Mr. Coleridge?“ „Ich bin auf der Durchreise“, antwortete er laut und vernehmlich, damit sie ihn auf diese Entfernung auch hören konnte. „Ich erkunde gerade nur das Land.“ Inzwischen hatte er davon tatsächlich auch schon wesentlich mehr gesehen, als er sich je gewünscht hatte. Auch nicht damals, als er noch selbst ein Waisenkind gewesen war und jede Nacht von einem normalen Leben in einer Familie geträumt hatte. „Oh, das klingt nett“, sagte Polly. „Als junger Mensch sollte man das ruhig einmal getan haben. Danach wird man immerhin nie wieder Gelegenheit dazu bekommen. Wenn man erst einmal so alt und eingebunden ist wie ich … hach~.“ Sie stieß ein sehnsuchtsvolles Seufzen aus, das Murphy schmunzeln ließ. „Haben Sie denn eine feste Reiseroute?“, fragte sie weiter. „Nein. Ich bin auch bisher per Anhalter gefahren.“ Über die Gefahr hatte er sich dabei nie Gedanken gemacht. Er war stattdessen der festen Überzeugung, dass man alles überwinden konnte, wenn man erst einmal lebend aus Silent Hill entkommen war. Wenn nicht einmal wahrhaftige Monster ihm etwas hatten anhaben können, wie sollte es dann einem Menschen gelingen, der sogar nur im übertragenen Sinne ein solches war? „Dann sollten wir einmal über die Bezahlung sprechen“, fuhr sie zufrieden fort. „Wie Sie sehen, ist das hier ein sehr großes Haus und ich muss mich ganz allein darum kümmern. Ich könnte ein wenig Hilfe gebrauchen, auch was die Besorgungen in der Stadt angeht.“ Murphy war erleichtert, das zu hören. Das waren immerhin Dinge, die er wirklich leisten könnte. Er hatte zwar noch nie in einem Hotel gearbeitet, aber er war anpassungsfähig und es schien ihm nicht so, als gäbe es hier einen Zeitdruck, dem er ausgesetzt wäre. In der Stadt kannte er sich zwar nicht aus, aber sofern man ihm ein Auto gab, könnte er sich dort auch zurechtfinden. „Denken Sie, das wäre Ihnen möglich?“ Zu lange dürfte er zwar nicht bleiben, da man vielleicht irgendwann darauf käme, dass er ein geflohener Häftling war, aber eine Weile dürfte es durchaus funktionieren – und dann hätte er bestimmt seine Schulden gegenüber Polly getilgt. „Ich würde mich freuen, wenn ich helfen darf.“ Polly lächelte herzlich. „Das ist schön. Und auch wenn es mir leid tut, aber ich muss Sie heute schon in die Stadt schicken, Mr. Coleridge.“ Also doch so schnell. Das behagte ihm nicht wirklich. Er kannte sich hier nicht im Mindesten aus, wusste nicht, wie informiert die Leute wirklich waren. Aber wenn ihm nichts übrig blieb … „In Ordnung. Sagen Sie mir nur, wohin genau ich gehen muss ...“ Während des Frühstücks stellte Murphy fest, dass Polly gern und viel redete, besonders über ihren verstorbenen Mann. Offenbar war es seine Idee gewesen, dieses Hotel zu eröffnen und früher hatte es sich wohl noch wesentlich mehr gelohnt als in der heutigen Zeit. Niemand besuchte Greenvale mehr, man fuhr, wenn überhaupt, nur noch durch. Aber letztes Jahr hatte sie wohl für längere Zeit einen FBI-Agenten beherbergt, der einen Mordfall aufklären sollte, der sich bald in eine Mordserie entwickelt hatte. Was daraus geworden war, hatte Murphy nicht gefragt, er ging einfach davon aus, dass der Mörder gefasst worden war. Zu seinem Glück stellte sie nicht viele Fragen über ihn, so dass er sie nicht mehr anlügen musste, als er es bislang schon getan hatte. Ihm war bewusst, dass es notwendig war, zu lügen, solange sein Fall noch nicht lange genug her war, aber bei manchen Personen, wie bei Polly, fiel es ihm schwerer als bei anderen. Nach dem Frühstück ließ er sich von ihr auf einer Karte im Foyer zeigen, wo er hingehen sollte. Sie sagte, sie benötige Medikamente aus der örtlichen Apotheke, könne wegen ihres Rückens aber nicht selbst fahren. „Außerdem muss ich mich doch auch um Ihr Zimmer kümmern, Mr. Coleridge.“ Das war eine akzeptable Begründung, weswegen er sich den Weg auf der Karte einprägte, so gut er konnte. „Ich werde dort anrufen, damit man weiß, dass Sie für mich kommen.“ Ehe sie ihn allerdings losschickte, stellte auch sie fest, dass er in dieser schmutzigen Kleidung nicht gehen könne und gab ihm neue Sachen. „Mein Mann hat sie gern getragen, als er jung war. Er hatte in etwa Ihre Statur.“ Es handelte sich um eine schwarze Stoffhose und ein moosgrünes Hemd, es ähnelte also jener Kleidung, die er bislang getragen hatte, weswegen er keine Einwände vorbrachte und sich stattdessen kommentarlos umzog. Danach, mit Pollys Segen, verließ er das Hotel, und ging auf dem Parkplatz direkt nach links, um ihren Wagen zu finden. In der letzten Nacht war es zu dunkel gewesen, um es zu sehen, aber nun konnte er sich ein erstauntes Pfeifen nicht mehr verkneifen. „Ein 76er Lincoln Town Car Coupe. So etwas sieht man nicht häufig.“ Jedenfalls nicht in den Kreisen, in denen er sich sonst bewegte. Der schwarze Lack glänzte im Sonnenschein, als kümmere sich jemand sehr gut darum, und lud Murphy geradewegs zum Probefahren ein. Der helle Ledersitz schmiegte sich an seine Konturen an, das cremefarbene Armaturenbrett war ebenfalls frei von Staub. Jemand musste sich wirklich mit viel Sorgfalt um dieses Fahrzeug kümmern. Als er den Schlüssel in die Zündung steckte und der Motor zum Leben erwachte, vibrierte der Wagen angenehm. Die Tankanzeige verriet ihm, dass noch jede Menge Benzin vorhanden war. Zufrieden strich er über das Lenkrad. „Dann wollen wir mal.“ Mittels der eingeprägten Karte gelang es ihm, den Weg in die Stadt zu finden. Die Straßenführung war aber doch wesentlich komplexer, als es ihm bislang vorgekommen war. Mehr als einmal landete er plötzlich in der gänzlich falschen Straße, nur um dann einen kleinen Umweg fahren zu müssen. Glücklicherweise war das Fahren in diesem Auto überaus angenehm, so dass es ihn nicht weiter störte, dass die Strecke länger als nötig war. Schließlich – als er schon glaubte, niemals anzukommen – gelangte er doch noch auf den Parkplatz der Apotheke. Ich hoffe nur, ich finde auch den Weg wieder zurück. Er befand sich in einem ruhigen Teil von Greenvale, scheinbar eine Wohngegend. Vereinzelt waren vorbeifahrende Autos zu hören, die sich mit singenden Vögeln abwechselten, wer die Ruhe liebte, war hier mit Sicherheit am besten aufgehoben. Murphy ging einige Schritte in Richtung des Eingangs, dann bemerkte er eine Person, die auf dem Boden kniete und etwas mit Kreide auf den Asphalt zu zeichnen schien. Bei näherer Betrachtung stellte er fest, dass es eine junge Frau war, ihr kastanienfarbenes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, hing ihr aber dennoch über die Schulter. Allerdings störte sie sich auch nicht daran, dass sie einige der Haare in ihren Mund bekam, ihre Konzentration riss nicht ab. Das Bild, das sie zeichnete, erinnerte an einen roten Baum, wie ihn Murphy noch nie zuvor gesehen hatte. Gleichzeitig war er aber auch von dem Gefühl ergriffen, dass eine Bedeutung dahinter steckte, die er nicht erkennen konnte. Oder ich denke nur noch zu sehr an diese eine Stadt. In Silent Hill schien immerhin alles mit einer Bedeutung behaftet gewesen zu sein. Daher konnte er unmöglich einfach von dieser Denkweise ablassen, egal wie viel Zeit verging. Die Frau hielt plötzlich im Zeichnen inne und hob den Kopf, um ihn anzusehen. „Oh, hallo. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass noch jemand hier ist.“ „Ich wollte Sie nicht stören.“ „Haben Sie nicht, keine Sorge.“ Sie richtete sich auf, bis ihr Rücken durchgestreckt war. „Ich wollte ohnehin gerade eine Pause machen.“ Sie lehnte sich seufzend ein wenig mit dem Oberkörper zurück und griff in eine Tasche, die neben ihr auf dem Boden lag, wo sie dann eine kleine Flasche Mineralwasser zutage förderte. Murphy wartete, bis sie einen großen Schluck genommen hatte, ehe er eine Frage stellte: „Gibt es einen besonderen Grund dafür, dass Sie einen roten Baum gezeichnet haben?“ Der noch dazu äußerst gut aussah. Er erinnerte sich an Charlies Kreidezeichnungen von früher, die waren längst nicht so gut gewesen – und wäre er selbst der Zeichner, sähe der Baum auch längst nicht so gut aus. Sie blickte selbst wieder auf ihr Bild hinunter. „In dieser Stadt gibt es einige von dieser Art, besonders am Friedhof. Ich fand die so außergewöhnlich, dass ich dachte, ich verdiene vielleicht ein wenig Kleingeld, wenn ich so einen zeichne.“ Das war auch eine Methode, wenn man unterwegs war. Schade, dass er über keinerlei Talent verfügte. „Wie nennt man diese Bäume?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich komme nicht von hier, und immer, wenn ich jemanden frage, wechselt diese Person nur das Thema. Vermutlich redet man nicht gern darüber.“ „Und dann dachten Sie, es sei eine gute Idee, einen solchen Baum zu zeichnen?“ Da sie wieder den Blick hob, konnte er sehen, dass sie die Stirn runzelte. „Jetzt, da Sie es erwähnen, stimmt das natürlich. Aber ich konnte mich einfach nicht beherrschen.“ Sie schnitt ihm eine Grimasse, dann stand sie auf. Notdürftig wischte sie sich die Hände an ihrer Jeans ab, kam aber wohl zu dem Ergebnis, dass sie die Kreide nicht vollkommen los wurde und verzichtete dann darauf, ihm die Hand zu reichen. „Valeria Attaway. Aber Sie können mich auch Val nennen, wenn Ihnen das mehr zusagt.“ „Charles Coleridge“, stellte er sich ebenfalls vor. „Sie sind ziemlich offen, was?“ „Wenn man ein verschlossener Mensch ist, hat man es schwerer, hier in Greenvale.“ Sie lächelte, was ihre braunen Augen sogar zum Leuchten brachte. „Deswegen habe ich mir das angewöhnt. Das war echt hart, das kann ich Ihnen sagen. Aber Sie sind neu hier, was?“ „Ich bin letzte Nacht erst angekommen.“ „Dann herzlich Willkommen. Kommen Sie ruhig mal in der Milk Barn vorbei, wenn ich arbeite.“ Vielleicht war sie auch ein wenig zu offenherzig für seinen Geschmack. Wenn das hier wirklich normal war, wurde er hoffentlich bald mit dem Abbezahlen seiner Schulden fertig, um weiterzuziehen. „Ich werde schauen, ob ich es einrichten kann. Jetzt muss ich aber wieder los.“ Er deutete hinter sich, in Richtung der Apotheke, wegen der er ja überhaupt losgezogen war. „Okay~. Bis dann, Charlie.“ Der Name war vollkommen unschuldig ausgesprochen, aber dennoch spürte er einen kurzen, heftigen Stich in seiner Brust. Statt noch etwas zu sagen, wandte er sich lieber rasch ab, nachdem er noch einen letzten Blick auf das Bild geworfen hatte. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken, aber für den Moment wollte er ihn lieber ignorieren. Nur nicht zu sehr in irgendwelche seltsamen Sachen verstricken lassen. Während Valeria mit dem Zeichnen fortfuhr, betrat er die Apotheke, in der es wesentlich ruhiger war. Der typische süßliche Geruch nach Seife und Hustensaft haftete auch diesen Räumen an. Zumindest wurde keine unpassende Musik gespielt. Hinter dem Schalter stand eine verkniffen dreinblickende ältere Frau, deren blondes Haar inzwischen derart hell geworden war, dass es fast schon platinblond wirkte. Die rote Brille mit dem dreieckigen Gestell, das sie auf der spitzen Nase balancierte, war mit einer silbernen Kette um ihren Hals verbunden. Während ihr Gesicht noch relativ gut aussah, war ihr Hals faltig wie der eines Truthahns, was sie nur umso älter wirken ließ. Ihre knallroten langen Fingernägel erzeugten ein klackendes Geräusch, während sie mit den Fingern auf den Tresen trommelte. „Mr. Coleridge?“ Ihre Stimme hatte einen schneidenden Unterton, der sie nicht gerade sympathischer machte. „Sie sind spät dran.“ Eine Diskussion lohnte sich nicht, das konnte er bei einer derartig streng wirkenden Person direkt sehen. Deswegen ging er nicht darauf ein, dass die Straßenführung einfach viel zu komplex für einen Außenstehenden war, und entschuldigte sich lieber. „Aber jetzt bin ich ja hier. Und ich würde gern die Medizin für Mrs. Oxford abholen.“ Sie deutete nur ein Nicken an und verschwand ins Hinterzimmer. Dennoch konnte er ihre durchdringende Stimme bis in den Verkaufsraum hören: „Was glauben diese jungen Menschen eigentlich, wer Sie sind? Nisten sich bei wohlhabenden Frauen ein und glauben dann, sie haben ausgesorgt! Und Zeit scheint Ihnen auch nichts mehr zu bedeuten! Als ob unsereins nichts anderes zu tun hätte! Aber als Gigolo kann man sich das wohl leisten!“ Gigolo? Er kannte die Bedeutung dieses Worts, aber wie kam man darauf, dass er einer sei? Er wollte doch nur seine Schulden abarbeiten. Ich kommentiere das besser nicht. Sie würde mir das ohnehin nicht glauben. Er blieb seinem Vorsatz treu, auch als sie, ohne zu schimpfen, wieder in den Verkaufsraum zurückkehrte und wütend das Pillendöschen auf den Tresen knallte. Einen kurzen Moment lang befürchtete Murphy, dass der Deckel abspränge, aber er blieb auf der kleinen Dose drauf. Sie nannte ihm die Summe, die er zahlen müsste, was er auch sofort tat. Glücklicherweise hatte Polly daran gedacht, er hätte nicht mit dieser Frau darüber diskutieren wollen, dass sie das erst einmal anschreiben sollte. Sie sah ihn mit vor Wut blitzenden blauen Augen an, während sie ihm sein Wechselgeld gab, so dass Murphy sich spontan fragte, was er ihr angetan haben mochte, dass sie ihn derart abfällig behandelte. Vielleicht erinnerte er sie aber auch nur an irgendjemanden. Also machte er sich lieber nicht zu viele Gedanken darum. Er bedankte sich wortkarg und verabschiedete sich. Sie schnaubte daraufhin nur, aber er nahm das einfach mal als Erwiderung der Verabschiedung und ging ohne jedes weitere Wort hinaus. Draußen fiel sein Blick sofort wieder auf die Stelle, an der Valeria zuvor gekniet hatte. Nun war nur noch das Bild des Baumes und ihre Tasche zu sehen. Es benötigte allerdings nur einen kurzen Seitenblick in Richtung des Lincolns, um sie wieder zu entdecken. Sie stand vor dem Wagen und betrachtete ihn eingehend, mit einem Ausdruck im Gesicht, den er gut kannte. „Interessieren Sie sich für Autos, Val?“ „Nur für die Klassiker“, antwortete sie, ohne die Augen vom Lincoln zu nehmen. „Das hier ist ein 76er Lincoln Coupe, oder?“ „Town Car“, ergänzte er noch. „Aber das Jahr stimmt.“ „Ist das Ihr Wagen?“ Er öffnete die Tür und legte die Pillendose auf dem Beifahrersitz ab. „Nein, er gehört Polly Oxford, der Besitzerin des Hotels. Ich darf ihn nur ausleihen, während ich ihr im Hotel aushelfe.“ Sie gab einen verstehenden Laut von sich, dabei nickte sie. Er war sich nicht sicher, ob sie das Thema wirklich interessierte oder ob sie einfach nur versuchte, Konversation zu betreiben. Außerdem sollte er lieber wieder zurückfahren, um Pollys Vertrauen nicht direkt am ersten Tag derart auszunutzen. „Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?“ „Nein nein.“ Sie winkte hastig ab. „Ich wohne ohnehin hier in der Gegend. Aber ein andermal mache ich gern Gebrauch von dem Angebot.“ In seinem Rücken spürte er den glühenden Blick eines Dämons – aber als er sich umdrehte, entdeckte er nur die Apothekerin, die ihn durch das Schaufenster beobachtete, die Augen sprühten nach wie vor Blitze, die ihn in Brand zu setzen drohten. „Kennen Sie dann auch diese alte Hexe?“ Valeria folgte seinem Blick, dann stieß sie ein humorloses Lachen aus. „Oh ja. Das ist Zandra Clark. Und sie ist wirklich die reinste Hexe. Lassen Sie sich also nicht von ihr unterkriegen. Irgendwann werden Sie ihre Sticheleien bestimmt auch einfach abschütteln, so wie jeder.“ Nachdem sie das gesagt hatte, winkte Valeria der Frau lächelnd zu. Zandra schnaubte sichtbar wütend und zog sich wieder vom Schaufenster zurück. „Den Rat werde ich beherzigen“, versicherte er. „Danke.“ Er griff in seine Tasche und zog seine Brieftasche heraus. Dann fischte er einen 5$ Schein heraus und reichte ihn an Valeria. Verdutzt nahm sie diesen an, blickte aber unschlüssig darauf hinab. „Wofür ist das?“ „Für das Bild.“ Er nickte zu der Kreidezeichnung hinüber. „Es ist wirklich großartig geworden. Machen Sie weiter so.“ Ehe sie noch etwas sagen konnte, ließ er sie in ihrer Irritation zurück und stieg in den Wagen. Innerhalb weniger Sekunden zog er den Lincoln wieder auf die Straße hinaus, so dass er Valeria nur noch im Rückspiegel sehen konnte, wo sie rasch immer kleiner wurde. Vielleicht hatte er sich auch geirrt und es war doch nicht so schlecht in dieser Stadt. Aber er müsste doch noch abwarten, was die nächste Zeit noch brachte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)