Despaired Fate von Platan (The Awakened Fate Ultimatum) ================================================================================ Fate ---- „... Hey.“ Jemand sprach zu mir. Es war nicht Hien, die Stimme gehörte einem Mädchen. Sie klang ruhig, schon fast monoton, aber auch zerbrechlich und zielstrebig zugleich. Ich kannte das Mädchen, dem diese Stimme gehörte – obwohl von kennen nicht wirklich die Rede sein konnte, denn eigentlich wusste ich gar nichts über sie. „Wie schön, du bist wieder bei Verstand“, bemerkte sie, scheinbar zufrieden. „Wir haben uns jetzt schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, Shin.“ „Hm ...?“ Langsam öffnete ich die Augen und tauchte aus der Schwärze auf, auch die Hitze war verschwunden, dafür fühlte sich mein Körper nun angenehm leicht an. Meine Füße standen nicht mehr auf irgendwelchen Trümmerteilen einer Ruine, sondern auf einem Pfad aus blauem Kristall, der sich zu vielen weiteren aufteilte und ein Labyrinth aus Wegen bildete, die allesamt in der Luft schwebten. In einem eigenen, kleinen Universum, dem Bewusstsein von Letecia Liveradeus. Alle Lebewesen besaßen eine eigene Welt in ihrem Geist, das hatte sie mir damals erklärt. In ihrer war ich schon einige Male gewesen, wenn ich schlief oder nicht bei Bewusstsein war. Was war geschehen? Hatte ich am Ende jetzt auch Hien getötet? Und mich selbst gleich mit? „Nein, ihr seid noch am Leben“, antwortete sie mir, ohne dass ich diese Fragen laut aussprechen musste. Zögerlich wandte ich mich in die Richtung, aus der ich ihre Stimme vernahm. Nur wenige Meter entfernt, auf einem anderen Kristallpfad, zwischen dem ein Abgrund ins Nichts lag, konnte ich sie entdecken. Letecia, ein Mädchen, das so aussah, als hätte man zwei verschiedene Personen miteinander verschmolzen. Eine Hälfte von ihr hatte schwarzes Haar, die andere dagegen war blond, jeweils mit einem violetten und einem blauen Auge. Auch ihre Kleidung wirkte wie eine Mischung aus zwei Stücken, schwarz und weiß. Was es mit ihr überhaupt auf sich hatte, wusste ich nicht, weil sie es bevorzugte nur in Rätseln mit mir zu sprechen und auf klare Aussagen zu verzichten. Mit ihr hatte ich erst Kontakt, seit ich zum Gott gemacht wurde. „Hey ...“, entgegnete ich etwas unbeholfen, wobei meine Stimme sich heiser anhörte. „Was ist passiert?“ Sie verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken und neigte den Kopf ein wenig. „Weißt du das denn nicht mehr?“ „Doch“, antwortete ich zögernd und senkte den Kopf. „Ich hatte nur gehofft, dass vielleicht alles nur ein Traum war.“ Ich warf einen Blick auf meine Hände, die wieder menschlich aussahen. Ob es daran lag, dass ich jetzt gerade doch nur träumte oder ich es geschafft hatte, mich zurückzuverwandeln, wusste ich nicht so recht. Jedenfalls konnte ich mich nicht darüber freuen, denn mit diesen Händen hatte ich Zerstörung angerichtet, die nicht mehr gutzumachen war. Niemals. Mir wurde schlecht. „Du musst dich nicht schuldig fühlen“, meinte Letecia, womit sie direkt auf meine Gedanken einging. „Du hast gezeigt, über wie viel Macht du verfügst. Damit kannst du zu einem der größten Götter von allen heranwachsen.“ „Was?“ Fassungslos hob ich den Kopf wieder und starrte sie an. „Meinst du das Ernst? Was soll ein Gott, der völlig den Verstand verloren hat, denn schon wert sein? Ich habe alles vernichtet, was ich hätte beschützen müssen!“ Sacht schüttelte sie den Kopf. „Es ist nicht Gottes Aufgabe, zu beschützen, sondern das Schicksal zu bestimmen. Entscheidungen zu treffen. Das hast du getan und dabei die volle Kraft deines Potenzials erweckt, was als Erfolg zu betrachten ist.“ Am liebsten hätte ich sie gepackt und durchgeschüttelt, aber momentan fühlten sich meine Beine viel zu schwach an, um dafür über den Abgrund zwischen uns springen zu können. Deshalb konnte ich nur weiter dastehen und sie anstarren. Völlig schockiert von dem, was sie mir zu vermitteln versuchte. Sollte ich etwa ernsthaft stolz auf das sein, was ich getan hatte? „Am liebsten wäre ich gestorben, wenn das all die Opfer verhindert hätte, die ich verursacht habe!“, schrie ich ihr aus heiserer Kehle entgegen, da ich sie nicht durchschütteln konnte. „So ein Schicksal wollte ich nicht heraufbeschwören! Ich wollte die beschützen, die mir wichtig sind und meinem Leben so einen Sinn geben!“ „Dein Leben hat doch noch einen Sinn“, wandte sie ein. Wozu gab ich mir Mühe? Offenbar verstand sie nicht, warum ich so verzweifelt war. Was sollte ich denn jetzt noch für einen Sinn im Leben haben? Als Gott der Engel hatte ich versagt, alle von ihnen waren tot. Wessen Schicksal sollte ich da bestimmen? Diese Aufgabe wollte ich nicht mehr übernehmen, selbst wenn noch jemand leben würde. „Du musst aber noch dein eigenes Schicksal erfüllen“, sprach Letecia weiter und wippte leicht auf ihren Füßen hin und her. „Hab keine Angst, ich helfe dir dabei, Shin.“ Mir entglitt ein schweres Seufzen. „Ich brauche keine Hilfe ... die anderen hätten Hilfe gebraucht. Einen richtigen Gott, nicht jemanden wie mich.“ Letecia gab einen nachdenklich Laut von sich. „Also wärst du nicht mehr verzweifelt, wenn noch jemand da wäre, den du beschützen kannst?“ „Ich ... ich weiß nicht.“ Hätte ich eine zweite Chance verdient? Letztendlich konnte ich doch nur wieder versagen, so wie all die Male davor. Der Kristall war an mir vollkommen verschwendet, Ariael. Instinktiv legte ich mir eine Hand auf die Brust, als ich an sie dachte. Bestimmt wäre sie empört darüber, dass ich so schwach war und aufgab. Was sollte ich tun? „In Ordnung, ich kümmere mich darum“, sagte Letecia auf einmal, was mich irritierte. „Wie meinst du das? Um was willst du dich kümmern?“ „Darum, dass dein Schicksal weiter seinen Lauf nehmen kann.“ Sie schloss die Augen. „Vergiss nicht, Shin, als Gott findet man für alles einen Weg. Also kämpfe weiter. Für dein Schicksal und das Schicksal aller anderen.“ „Bitte, gib mir doch einfach mal eine Antwort, mit der ich auch etwas anfangen kann“, bat ich sie, doch vergeblich. Ihr Bewusstsein wurde von einem grellen Licht überflutet, das mich packte und von diesem Ort verbannen wollte. In meinem Kopf hörte ich nur noch, wie Letecia sich verabschiedete und mein Körper seine Leichtigkeit verlor, stattdessen kehrte ein stechender Schmerz in meiner Brust zurück und weckte mich auf. Ich musste husten, als ich eine Menge Staub einatmete. Mein Körper zitterte vor Schmerzen und ich konnte mich kaum bewegen, dennoch gelang es mir irgendwie mich aufzurichten, wofür ich viel Mühe aufbringen musste. Vor meinen Augen erstreckte sich wieder die Ruine aus Trümmern von Celestia, verschleiert von einer Nebelwand aus Staub. Also war ich tatsächlich zurück in der Wirklichkeit – es war bittere Realität, kein Traum. Schnell bemerkte ich auch, dass mein Körper noch menschlich war, keine monströse, unkontrollierbare Gestalt mehr. Darüber sollte ich mich spätestens jetzt wohl freuen, aber es tröstete mich kein bisschen, solange man die Opfer nicht mehr ungeschehen machen konnte. Ariael würde mir mit Sicherheit Nudelsuppe ins Gesicht schütten und mir sagen, dass ich mich nicht so anstellen sollte, immerhin waren andere gestorben und nicht ich. „Das wurde ja auch Zeit“, ertönte eine Stimme in meiner Nähe. „Wieder unter den Lebenden, Shin Kamikaze?“ Erschöpfte blickte ich über die Schulter und sah Hien, der ebenfalls in seine menschliche Form zurückgekehrt war. Mit verschränkten Armen stand er auf einer erhöhten Position zwischen den Trümmerteilen und musterte mich aufmerksam. Seine Haare waren zerzaust und er sah mitgenommen aus, vermutlich hing das mit unserem Kampf zusammen, den wir beide überlebt hatten. Irgendwie. „Ich muss sagen, dass ich beeindruckt von dem Ausmaß deiner Kräfte bin“, gestand er mir offen. „Nur nützt dir das nichts, wenn du nicht weißt, wie man sie richtig nutzt.“ Erst Letecia und nun auch noch er. Warum sprachen sie alle nur davon, wie mächtig ich doch wäre? Sollte mir nicht mal jemand Vorwürfe machen? Oder war ich hier der einzige, dem bewusst war, was er angerichtet hatte, obwohl ich Menschen nicht mal besonders mochte? Hien ging es aber offenbar wahrlich nur um das eine: Kämpfen. „Lass mich in Ruhe“, murmelte ich leise, zwischen den Hustenanfällen. „Such dir deine würdigen Gegner woanders. Du siehst doch, dass ich zu nichts zu gebrauchen bin.“ Diese Worte unterstrich ich, indem ich mit einer ausholenden Handbewegung auf die zerstörte Umgebung hinwies. Das ließ Hien aber völlig kalt, was zu erwarten war. Als Gott der Teufel war man an Zerstörung und Tod wohl schon so sehr gewohnt, dass es zum Alltag dazugehörte, was auch seine folgende Aussage nur bestätigte. „Na und? Glaubst du es wird alles besser, nur weil du deswegen jetzt verzweifelst?“ „Hör auf über mich zu urteilen, wenn du das nicht verstehst.“ Bedrückt wandte ich den Blick ab. „Wie gesagt, ich bin kein würdiger Gegner für dich. Was willst du also noch von mir?“ Wollte Hien mich töten? Nur zu, ich würde mich nicht wehren, damit täte er mir sogar einen Gefallen, da ich für Selbstmord nicht geschaffen war. Für mich gab es nichts mehr. Keine Aufgabe, keinen Grund und auch kein Schicksal, das ich erfüllen müsste. Niemanden würde es kümmern, wenn ich verschwand. Nicht mal mehr Eri, die tot war. Nach einer Weile, in der Hien geschwiegen hatte, sagte er auf einmal etwas, das mich hellhörig machte. „Wenn man verzweifelt ist und es nichts mehr gibt, was einen am Leben hält, kann man nur eins tun: Kämpfen.“ Etwas an der Art, wie er das sagte, war anders. Nicht mehr so stolz und selbstsicher, sondern eher verständnisvoll. Ich traute mich nicht, meinen Blick nochmal in seine Richtung zu lenken, aus Angst, mich sonst doch nur zu irren. Daher sah ich ziellos in die Ferne vor mir und hörte mir weiter an, was Hien zu sagen hatte. „Kämpfe, so lange und mit aller Kraft, bis du dir selbst wieder in die Augen schauen kannst. Damit du deinen Verstand nicht verlierst, dir ein Ziel bewahrst, und so irgendwann vielleicht einen Weg findest, der dir das gibt, wonach du suchst. Dann, eines Tages, kann auch für dich vielleicht alles wieder besser werden.“ Dazu sagte ich nichts, aber ich glaubte, deutlich spüren zu können, dass Hien hier etwas Persönliches von sich preisgab, obwohl er das vermutlich nicht mal wollte. Ob ihm auch einst etwas geschehen war, wegen dem er sich so schrecklich nutzlos und schuldig gefühlt hatte wie ich? War er deswegen zu mir gekommen, weil er so etwas wie Mitleid empfand? „Also kämpfe, Shin Kamikaze“, fuhr Hien mit fester Stimme fort. „Statt dich nur schuldig zu fühlen, tue lieber etwas, weil du es dir selbst und anderen schuldig bist.“ Daraufhin waren Schritte zu hören, die nach und nach leiser wurden, bis sie verstummten. Hien war gegangen, ohne dass ich noch ein Wort an ihn richten konnte. Mir wäre auch nicht eingefallen, was ich zu ihm sagen sollte. Danke? Dafür war ich noch zu durcheinander und betroffen von den Ereignissen. Kämpfen. Sollte das die Antwort auf meine Probleme sein? „Es wäre ein Weg ...“, hörte ich mich selbst sagen. „Zu einer möglichen Antwort.“ Auf jeden Fall war es Hien mit einem Kampf gelungen, mich aus meinem Wahnsinn zu befreien. Statt mich der Verzweiflung weiter hinzugeben, hatte ich mich mehr auf das Kämpfen konzentriert und mich kurze Zeit besser gefühlt. So sah also die Lebensweise von Hien aus. Wie lange existierte er schon auf diese Weise? Ihm schien es zu helfen. Warum nicht auch mir? „Mit einer Sache hat er recht: Ich bin es den anderen schuldig, es wenigstens zu versuchen.“ Am Anfang dürfte es schwer werden. Jetzt war ich alleine und hatte niemanden mehr, der mich unterstützte oder aufbaute, wenn es mir nach einer Fehlentscheidung schlecht ging. Mit dem Kristall in der Brust war ich aber immer noch ein Gott und sobald ich aufgab, war wirklich alles verloren. Ich sollte es versuchen. Versuchen, einen Sinn in meinem Leben zu finden, indem ich dafür kämpfte. So lange, bis ich ein Ziel fand – oder es mich am Ende doch noch umbrachte. Also versuchte ich aufzustehen, sackte jedoch kraftlos in mich zusammen und wollte tief durchatmen, was mich nur nochmal schwer husten ließ. „Nützt nichts, erst muss ich mich ausruhen ...“ Währenddessen könnte ich überlegen, wohin ich gehen sollte. In diesen Ruinen konnte ich nicht bleiben, besonders falls hier noch einmal Teufel auftauchen sollten, um die Gegend auszukundschaften. Nicht alle waren so wie Hien, der einzig und allein seinen eigenen Weg ging. Kaum zu glauben, dass er mir geholfen hatte. Womöglich steckte aber auch irgendein hinterhältiger Plan dahinter. Egal, mehr außer mich konnten die Teufel nicht mehr zerstören und ich wollte versuchen mich zu wehren, damit sie es zum Schluss nicht doch zu leicht hatten. Müde legte ich mich zurück auf den harten Untergrund und schloss die Augen, eine Hand ruhte dabei auf meiner Brust, damit ich die Wärme des Kristalls spüren konnte. Es tut mir so leid, Jupiel. Ariael, dachte ich. Ich werde mich bemühen, meinen Weg zu finden. Versprochen. *** Es gab viele Dinge, über die Shin noch nicht Bescheid wusste. Zum Beispiel darüber, dass es nicht nur ein einziges Celestia gab. Die Engel verfügten über mehrere solcher Hauptquartiere, die unbemerkt dank ihrer speziellen Tarnung ihre Bahnen am Himmel zogen. Sie trafen nur nicht oft aufeinander, waren in Notfällen jedoch füreinander da. Solange er durchhielt, fand er sicher einen neuen Platz und vielleicht traf er dort dann auch die Personen wieder, von denen er glaubte, sie seien tot. Solange Jupiel und Ariael nötig waren, um sein Schicksal zu erfüllen, von dem Letecia gesprochen hatte, gab es Hoffnung, dass sie irgendwo, irgendwie noch lebten. Erst recht wenn er dafür kämpfte. Hosted by Animexx e.V. 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