Anne im Traumhaus von steffinudel ================================================================================ Kapitel 52: Abschied von einer Freundin --------------------------------------- Eines nachts klingelt, wie schon so oft, das Telefon. Inzwischen stand ein Apparat auf dem Nachttisch, damit Gilbert möglichst schnell abnehmen konnte. Verschlafen hörte Anne seine Stimme und bemerkte, wie er hastig aus dem Bett sprang. „Was ist passiert, Gil?“ fragte sie und drehte sie blinzelnd zu ihm. „Ich muss nach Green Gables“, sagte er während er sich anzog. Sofort war Anne hellwach und setzte sich im Bett auf. Bevor sie noch fragen konnte, antwortete ihr Gilbert. „Mrs. Lynde geht es schlecht. Ihr ging es in letzter Zeit mit ihrem Herz nicht besonders gut. Jetzt scheint es schlimmer als je zuvor zu sein. Marilla hat gerade angerufen.“ „Oh, nein. Wenn Susan später da ist, werde ich auf jeden Fall rüberkommen. Vielleicht kann ich Marilla irgendwie helfen.“ Gilbert nickte und gab ihr rasch einen Kuss, dann eilte er hinaus. Anne konnte nicht mehr schlafen. Unruhig zog sie sich an und ging in die Küche hinunter. Was, wenn Mrs. Lynde....? Anne dachte den Gedanken nicht zu Ende. Über so eine Möglichkeit wollte sie nicht nachdenken. Um sich abzulenken, begann sie langsam das Frühstück vorzubereiten. Später frühstückte sie mit den Kindern und versuchte sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen. „Ist Papa nicht da?“ fragte Jem. „Nein, er musste schon zu einem Patienten“, antwortete Anne und fütterte Shirley. Nachdem Jem und Walter auf dem Weg zur Schule waren und die Zwillinge ihm Wohnzimmer spielten, kam Susan. Anne erzählte ihr gerade von Rachel, als das Telefon klingelt. Gilbert war am Apparat. „Anne, ist Susan schon da?“ „Ja, sie ist gerade gekommen.“ „Kannst du rüberkommen? Ich kann leider nichts mehr für Mrs. Lynde tun und Marilla braucht ein wenig Trost.“ „Natürlich, ich komme sofort.“ Anne legte auf und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Marilla saß in der Küche vor einer Tasse Tee und starrte ins Leere, als Anne hereinkam. „Marilla“, sprach Anne sie an und legte den Arm um sie „wie geht es Rachel?“ „Nicht sehr gut. Gilbert sagt, er kann nichts mehr für sie tun. Ihr Herz hat ihr immer mehr Probleme gemacht. Ich meine, es war abzusehen, dass sie...“ Marilla sprach nicht weiter. Das alles klang ziemlich trocken. Jeder, der Marilla nicht kannte, hätte gesagt, es schiene ihr nichts auszumachen, dass ihre langjährige Freundin im Sterben lag. Doch Anne wusste, wie es in Marillas Herzen aussah. Marilla versteckte immer gekonnt ihre Gefühle. Anstatt in Tränen auszubrechen, starrte sie vor sich hin und sprach ganz ruhig. Gilbert kam herein und ein Blick auf ihn sagte Anne, das die Sache nun ernst wurde. „Marilla“, sagte er leise „Rachel möchte dich sehen.“ Ohne einen Ton zu sagen stand sie auf und ging in das Schlafzimmer, am Ende des Flurs. Anne schluckte und blickte zu Gilbert. Er schüttelte bedauernd den Kopf und drückte ihre Hand. Anne holte tief Luft und lief ebenfalls den Gang hinunter. Die sonst so robuste Mrs. Lynde lag nun geschwächt und bleich in den Kissen. Ihre Lippen hatten eine bläuliche Färbung angenommen. Marilla saß auf dem Stuhl neben dem Bett und hielt ihre Hand. Anne setzte sich auf die andere Seite. „Marilla ich möchte dir sagen, dass du damals recht behalten hast.“ Rachel sprach sehr leise. „Es war gut, dass du Anne hier behalten hast. Sie war ein Segen für uns alle.“ Langsam drehte sie den Kopf zu Anne. „Ich habe mich nie bei dir entschuldigt, Anne, für das was ich zu dir gesagt habe. Ich meine, als ich dich das erstemal sah.“ „Rachel, es gibt nichts zu entschuldigen. Ich war ja damals auch nicht freundlich.“ Antwortete Anne. Ein leichtes Lächeln huschte über Rachels Gesicht: „Du hattest aber auch allen Grund dazu. Du bist ein gute Mädchen gewesen Anne. Und du bist mir sehr ans Herz gewachsen.“ Nun konnte Anne die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie rollten über ihre Wangen. Langsam schlossen sich Rachels Augen. Gilbert fühlte ihren Puls und schüttelte bedauernd den Kopf. „Rachel....“ Rief Marilla leise. Dann ließ auch Marilla ihren Gefühlen freien Lauf und die Tränen rannen hemmungslos über ihr Gesicht. Anne eilte zu ihr und schloss sie tröstend in die Arme. Fast ganz Avonlea war auf der Beerdigung von Rachel Lynde. Rachel war etwas ganz besonderes in dem kleinen Dorf gewesen. Sie hatte immer alles im Blick gehabt. So manch einem war sie oft auf die Nerven gegangen, mit ihrer Neugier. Aber sie hatte auch viel gutes getan. Sie war die Vorsitzende des Frauenhilfwerks gewesen und hatte sich stets um die Armen in der Gemeinde gekümmert. Sie hatte zwar an vielem etwas auszusetzen, wie zum Beispiel an Marillas Johannisbeerwein, aber sie war immer zur Stelle, wenn sie gebraucht wurde. Rachel Lynde war ein sehr direkter und hilfsbereiter Mensch gewesen. Avonlea hatte mit ihr einen guten Geist verloren. Jetzt standen alle betroffen vor dem offenen Grab. Keiner würde sie vergessen. Ihre vielen Kinder und Enkelkinder war von überall her angereist. Keiner von ihnen lebte in Avonlea. Doch sie nahmen alle Abschied von ihrer Mutter. Blass und müde stand Marilla neben Anne und Gilbert. Sie hatte nicht nur eine Nachbarin, sondern auch eine langjährige Freundin verloren. In den letzten 11 Jahren hatten sie sogar zusammen auf Green Gables gelebt. Keiner hatte Rachel so gut gekannt wie sie. Mr. Allan hielt eine denkwürdige Grabrede. Er hatte sich viel Mühe gegeben und betonte mehrmals was für einen guten Geist Avonlea verloren hatte. Nach der Beerdigung wollte Anne, Marilla mit zum Traumhaus nehmen, doch sie lehnte dankend ab. „Bitte fahrt mich nach Hause. Ich möchte gerne eine Weile für mich sein.“ Bat sie. Als sie vor Green Gables stehen blieben, half Gilbert ihr vom Wagen herunter. „Sollen wir nicht noch mit reinkommen? Ich könnte dir einen Tee machen“, fragte Anne besorgt. „Nein, das ist wirklich nicht nötig. Ich brauche mal eine ruhige Minute für mich“, antwortete Marilla. Sie umarmte Anne und ging langsam auf das Haus zu. Besorgt blickte Anne ihr nach. Sie sah in diesem Moment so alt und einsam aus wie noch nie zuvor. „Lass ihr ein bisschen Zeit, Anne“, riet Gilbert und reichte ihr die Hand, um auf den Wagen zu steigen. Anne seufzte und setzte sich neben ihn. Den ganzen Nachmittag über dachte Anne an Marilla. Das Bild, wie sie alleine zum Haus lief wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf. Was sollte aus Marilla werden? Alleine auf Green Gables. In der Nacht konnte Anne nicht schlafen. Unruhig ging sie hinunter ins Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Eine halbe Stunde später kam Gilbert herunter. „Ich bin aufgewacht und hab mich gefragt, was los ist?“ fragte er besorgt. „Ich konnte nur nicht schlafen“, Anne lächelte ihm zu. „Du denkst an Marilla, nicht wahr?“ Anne nickte: „Ich werde den Gedanken nicht los, das sie jetzt alleine auf Green Gables ist. Marilla ist nicht mehr die jüngste. Sie schafft es unmöglich alleine für alles zu sorgen.“ „Sollen wir sie vielleicht fragen, ob sie bei uns wohnen will?“ fragte Gilbert. „Daran habe ich auch schon gedacht, aber sie wird ablehnen. So gut kenne ich sie. Marilla wird Green Gables nicht verlassen wollen. Aber wie soll sie nur alleine zurecht kommen“, besorgt blickte Anne ihn an. Tröstend nahm er sie in den Arm. „Uns wird schon etwas einfallen. Mach ihr den Vorschlag, dann werden wir weitersehen.“ „Ich werde morgen zu ihr gehen. Es lässt mir einfach keine Ruhe.“ „Soll ich vielleicht mitgehen?“ fragte Gilbert. „Meinst du sie würde sich dann leichter überreden lassen?“ Anne schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube eher, dann bringe ich sie gar nicht dazu. Marilla ist genauso stur wie ich. In diesem Punkt sind wir uns sehr ähnlich und ihr Stolz würde es nicht zulassen.“ „Gut, aber wenn du mich doch brauchst, dann sag es.“ „Ich danke, dir, Gil. Was täte ich nur ohne dich.“ Dankbar küsste sie ihn. „Jetzt lass uns noch ein wenig schlafen gehen. Morgen ist ein neuer Tag.“ „Und frei von Fehlern“ ergänzte Anne und schmiegte sich an ihn. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)