Liebe führt, auch in Russland, zu Dummheiten von Lyndis ================================================================================ Kapitel 1: Betreff unbekannt ---------------------------- Hallo Kai,   ich habe mir jetzt ungefähr eine halbe Stunde lang überlegt, wie ich dich in dieser E-Mail ansprechen soll. Nachdem ich die Ansprache ungefähr 50 Mal geändert habe, habe ich mich dazu entschlossen, es einfach bei einem 'Hallo Kai' zu belassen und abzuwarten, wie du reagierst.   Wie du dir sicherlich denken kannst, sitze ich an dem Laptop, den du mir hast 'zukommen' lassen. Ein anderes Wort fällt mir dafür beim besten Willen nicht ein. Du hast das absichtlich gemacht, oder? Du musstest es so machen, nicht? So und nicht anders, denn alles andere wäre ja normal gewesen und du bist bekanntermaßen ja nicht normal und hütest dich davor, auch nur im entferntesten so zu erscheinen als seist du normal. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie du das gemacht hast. Ich fliege Samstag in zwei Wochen. Waren neben 'Nach Moskau' die einzige Information, die du hattest. Keine Uhrzeit und nicht einmal der genaue Flughafen und auch nicht die Airline. Du wusstest nichts sonst und dennoch hast du es verdammt noch mal geschafft, das Ding bei mir ankommen zu lassen. Und oh, wie es angekommen ist! Weißt du eigentlich wie das ist, wenn man plötzlich von einem Zollbeamten auf einer Sprache angesprochen wird, die man kaum je gesprochen hat und nur einige Vokabeln geübt hat? Ich dachte der Kerl vermutet Drogen bei mir oder so was! Und wie meine Eltern erst geschaut haben. Jedenfalls sind wir dann in so ein Hinterzimmer gegangen. Nachdem ich alle Sprachen, die ich kann, durchgegangen bin, haben wir uns auf einen Mischmasch aus Englisch und Russisch geeinigt. Das war echt nicht einfach. Nach einigem hin und her, hat er mir dann den Laptop gegeben, mit dem ich absolut nichts anfangen konnte. Er hat mir einen Zettel unter die Nase gehalten, den ich unterschrieben habe und dann durften wir weiter. Himmel! Gibs zu, das war deine volle Absicht!   Wie kommst du überhaupt auf die glorreiche Idee mir einen Laptop zu schenken?! Und dann auch noch so ein hochmodernes Teil! Was soll ich denn damit, außer dir E-Mails zu schreiben? Oder vielleicht Takao. Aber sonst? Das ist total verschwendetes Geld, mal abgesehen davon, dass ich dir das niemals danken kann. Oh Mann Kai, so was kannst du mir doch nicht antun! Andererseits ist es mal wieder so typisch du, dass ich dir nicht einmal böse sein kann. Und praktisch ist es ja schon, so kann ich mit dir und allen anderen besseren Kontakt halten. Briefe brauchen immer so ewig und ich denke, E-Mail-Adressen wechselt man weniger häufig als seinen Wohnort oder seine Telefonnummer, oder? Ach, keine Ahnung, ich werde es ja sehen.   Woher ich weiß, dass der Laptop von dir ist? Tja... ich hab mich ja kaum getraut ihn an zu machen, weil ich dachte er explodiert vielleicht oder so was, aber abgesehen davon, dass ich niemanden in meinem Freundeskreis habe, der so irre ist, mir einen Laptop zu schenken (ja, das kriegst du noch etwas länger von mir vorgehalten), hat mich dein Gesicht begrüßt, als ich auf dem Desktopbildschirm angekommen bin. Und eine ganze Menge weiterer Bilder von dir, die im Hintergrund immer durchwechseln. Ich frage mich wirklich, wann und wie du die gemacht hast und wie du darauf gekommen bist. Die sind echt toll geworden und ich habe mich wirklich gefreut, als ich sie gesehen habe! Wow. Ich glaube, das ist das einfallsreichste und süßeste Geschenk, was ich jemals bekommen habe! Ich werde es auf jeden Fall in Ehren halten, auch wenn es total irre ist. Erst war ich etwas enttäuscht, dass keine etwas delikateren Bilder dabei sind, aber dann dachte ich wiederum, dass es vielleicht unpraktisch wäre, wenn andere die versehentlich zu Gesicht bekämen. Ich bin jetzt schon unsicher, ob ich die Diashow so belasse, weil ich Angst habe, dass meine Eltern das irgendwann mal sehen und dann komische Rückschlüsse ziehen. Die Fragerei würde ich mir gerne ersparen. Aber andererseits bringe ich es nicht wirklich übers Herz.   Ich kann übrigens nicht wirklich sagen, was mein Lieblingsbild ist. Ich mag sie alle, aber ich glaube, das, auf dem du an einen Baum gelehnt, mit verschränkten Armen stehst und mit ausdruckslosem Gesicht in den Sonnenuntergang schaust, mag ich ein bisschen mehr als die anderen. Deine Augen haben da so einen schönen goldenen Schimmer. Habe ich dir eigentlich je erzählt, dass mir deine Augen als erstes an dir aufgefallen sind? Es war tatsächlich das Erste, was ich von dir gesehen habe... eh, nein nicht ganz. Ich hab dich von unten auf dem Ast liegen gesehen, aber du weißt schon, was ich meine. Ich bin gerade am überlegen ob ich den Absatz hier wieder lösche, aber ich denke ich mache es wie mit der Begrüßung, ich schaue einfach, wie du reagierst.   Jetzt aber mal weg von dir und hin zu mir. Wir wohnen jetzt seit einer Woche hier in Moskau und wie immer ist es erst einmal ziemlich viel Arbeit und sehr chaotisch. Aber ich mag die ersten Wochen in den neuen Städten immer sehr, weil meine Eltern dann non-stop da sind. Das ist schon ziemlich cool, wo ich sie sonst doch fast nie sehe. Gerade sind sie einkaufen gefahren und ich habe die Gelegenheit genutzt, dir zu schreiben. Mein Zimmer ist ungefähr genauso groß wie mein altes in Japan. Bisher habe ich es nur geschafft das Bild von Byakko auf zu hängen. Du weißt schon, das von dem weißen Tiger. Ansonsten lebe ich momentan noch aus dem Koffer und aus Kisten. Ich habe immer noch kein richtiges Bett, sondern schlafe auf einer Matratze und die ganze Wohnung riecht nach nasser Farbe. Irgendwie mag ich es. Es geht mir immer ziemlich auf die Nerven eigentlich, aber auf der anderen Seite ist es auch aufregend und spannend. Ich bräuchte das nur nicht mindestens einmal im Jahr.   Meine Eltern haben mir übrigens versprochen, dass ich hier in Ruhe meinen Abschluss machen kann. In einer Woche fahren wir kurz zu der neuen Schule, damit ich mir etwas Material zum durcharbeiten mitnehmen kann, damit ich auf den aktuellen Stand hier komme. Ich bin mal gespannt. Mit der Sprache komme ich ganz gut zurecht denke ich. Die Schrift macht mir noch ein wenig zu schaffen, aber ich denke das kommt mit der Zeit. Im Moment reicht es aus, um mich einigermaßen zu verständigen.   Ab und an war ich schon in der Stadt und habe mich umgesehen. Für Juli ist es hier echt.. kühl. Man friert zwar nicht, aber so richtig warm ist es auch nicht. Ist aber nichts, woran ich mich nicht gewöhnen kann. Ich habe nur irgendwie Angst vor dem Winter. Hab gehört es kann hier ziemlich kalt werden. Moskau ist echt abgefahren! Ich benutze so ein Wort ja wirklich nur selten, aber ich bin ziemlich überwältigt und dabei habe ich bisher kaum was gesehen. Wir wohnen wegen der hohen Miete eher so irgendwo zwischen dem begehrten Rand der Stadt und der noch begehrteren Innenstadt. Aber wir waren schon Mal in besagter Innenstadt und haben uns etwas umgesehen. Moskau ist echt riesig und ganz anders als Tokyo oder New York. Ich mag diese Mischung aus alt und neu. Es gibt hier so viel Tradition und so viel Modernes gleichzeitig, das ist krass!   Ich kann es wirklich kaum erwarten, bis ich mir das alles genauer ansehen kann. Aber noch weniger kann ich es erwarten, bis ich dich wieder sehe. Ich habe tagsüber kaum Zeit dich oder jemand anderen zu vermissen. Aber nachts, wenn ich alleine auf meiner Matratze liege, da muss ich an dich denken. Ich freue mich auf die über 100 Parks in dieser Stadt, aber es wird einsam werden, ohne dich, der bei mir sitzt. Noch habe ich mich nicht daran gewöhnt, dass du nicht mehr da bist und ich weiß auch nicht, ob ich will, dass ich mich irgendwann daran gewöhne. Ich will nur aufhören mich einsam zu fühlen...   Bevor ich jetzt vollkommen theatralisch werde, mache ich lieber Schluss. Ich glaube meine Eltern sind auch wieder da.   Ich hoffe dir geht es gut und ich hoffe, dass wir uns bald wieder sehen können.     Bis dann (<- Dumme Abschlussformel, ich weiß schon wieder nicht was ich schreiben soll!)   Rei   ~*~   Rei,   wenn du Zeit hast, eine halbe Stunde lang über eine Grußformel, die niemanden interessiert, nachzudenken, kann dein Leben in Russland nicht wirklich aufregend sein. Denkst du, ich sitze hier und analysiere, wie du mich angesprochen hast? Lächerlich. Allerdings würde es mich doch interessieren, aus reiner Neugierde, was du vorher an Grüßen ausprobiert hast. So wie ich dich kenne, hast du zuerst mit 'Liebster' begonnen, hast es als zu persönlich und zu kitschig abgetan, dich dafür geschämt, dass du überhaupt daran gedacht hast und es dann eilig wieder gelöscht. Und danach hast du sicherlich 'Lieber' geschrieben und es auch gleich wieder gelöscht, weil das zu kindlich und klischeehaft klingt. Wie du siehst.. ich analysiere weniger was du geschrieben hast, sondern was nicht, aber das nur nebenbei.   Glücklicherweise bist du in der Lage dazu, ordentliche E-Mails zu schreiben. Viele verbinden ja alles, was mit dem Internet zu tun hat, mit einem Haufen Smileys und ätzender Abkürzungen. Gut, dass du das nicht machst.   Es erfreut mich, dass der Laptop gut bei dir angekommen ist und dass du dich darüber gefreut hast. Da ich dich nie mit mehr als einer Fernbedienung und einem alten Handy in der Hand gesehen habe, war ich mir nicht ganz sicher, ob du mit einem umgehen kannst, aber auch das scheinst du gemeistert zu haben. Nun, warum auch nicht, schließlich ist Technik kein Hexenwerk, auch wenn viele das anders sehen mögen.   Du wünschst dir also delikate Bilder? So so. Du hast aber recht. Es wäre unpraktisch, würde die jemand entdecken. Du wirst doch also mit deiner Fantasie begnügen müssen. Außerdem wäre es doch schade um den schönen Laptop, wenn er voll mit weißen Klecksen wäre, oder?   Es freut mich, dass es dir in der neuen Stadt gefällt. Ich würde dir gerne etwas empfehlen oder darüber erzählen, aber ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich je in Moskau war.   Die neue Schule wird sicherlich kaum anders werden wie deine Alte, nur eben mit einer anderen Kultur. Menschen sind von Grund auf recht ähnlich, nur die Erziehung variiert. Du solltest also auf keine allzu große Überraschung treffen. Es ist unwahrscheinlich, dass du auf noch jemanden wie mich triffst oder, Gott bewahre, auf jemanden wie Takao. Wobei du eine gewisse Anziehung auf ungewöhnliche Menschen zu haben scheinst. Sollte es also irgendwo an dieser Schule jemanden geben, der ungewöhnlich ist, wirst du in den ersten Tagen in ihn hinein laufen. Nun, du brauchst schließlich auch ein neues Projekt, nicht wahr? Ohne mich wird dir sonst wohl zu langweilig das Jahr über.   Hier ist alles soweit ruhig. Großvater ist anscheinend recht froh, dass du 'endlich' weg bist. Er scheint mitbekommen zu haben, dass ich häufig mit dir verkehrt habe. Die Wochen bevor du weg bist, war er recht angespannt und wir haben uns oft gestritten. Das hat sich mittlerweile wieder gelegt. Ich habe den ersten Platz in dem regionalen Kickbox-Turnier gemacht. Großvater will, dass ich unbedingt auch bei den Ausscheidungen für das Landesturnier mitmache, aber ich bin mir noch unsicher. So etwas interessiert mich nicht.   Momentan genieße ich noch die Ruhe. Die Übungen mit den Privatlehrern nehmen zwar viel Zeit in Anspruch, aber ich habe etwas mehr Freiraum, als während der Schulzeit. Ich sitze momentan oft am Klavier und auch am Schlagzeug. Öfter als sonst. Manchmal ist es so, als würdest du dann bei mir sitzen und mir lauschen. Meinen Glückwunsch, du hast aus mir einen gefühlsduseligen Idioten gemacht. Aus dem selben Grund meide ich derzeit auch den Park. Ich brauche jetzt einen anderen Platz, an dem ich den Samstag verbringen kann. Wunderbar. Apropos Samstag... Dein Laptop hat mobiles Internet. Nutze es, ich werde Samstag online sein. Die Kontaktdaten sind im Anhang. Dann können wir wenigstens die Samstage miteinander verbringen, sofern du Zeit hast. Gib nur vorher Bescheid, damit ich nicht umsonst warte. Es wird ein wenig schwierig, das mit dem Zeitunterschied von fünf Stunden zu koordinieren, aber es ist nicht unmöglich.   Mit Grauen sehe ich dem neuen Schuljahr entgegen. Glücklicherweise ist es noch etwas hin, aber dank dir habe ich ab dann Kinomiya am Hals. Ich muss mir noch überlegen, wie ich ihn loswerde. Ai ist wenigstens so taktvoll mir aus dem Weg zu gehen, wobei gesagt werden muss, dass ihre Anwesenheit im Allgemeinen angenehmer ist als die von Kinomiya. Aber das ist redundant... schließlich ist selbst die Anwesenheit eines tollwütigen Waschbärs angenehmer. Wie auch immer... ich muss wohl noch ein Jahr mit der Nervensäge leben, danach kann er bleiben, wo der Pfeffer wächst.   Mich würde es interessieren, was du einen Eindruck von deiner neuen Schule hast, also schreibe ruhig ausführlicher darüber.   Ich freue mich auf weitere Nachrichten, aber erwarte nicht, dass ich von mir aus schreibe. Du kennst mich.     Kai   P.S.: Hör auf dir solche Gedanken um deine Wortwahl zu machen. Das steht dir nicht.  Kapitel 2: Willkommen --------------------- Hallo Kai,   ich war heute kurz in der neuen Schule und muss sagen, dass ich beeindruckt bin. Volkov-san, der Leiter der Schule, hat mich ein wenig herum geführt und mir einiges erklärt. Die Schule war, bis er es übernommen hat, ein katholisches Waisenhaus. Doch es wurden so wenige Kinder adoptiert, dass er eine Lösung suchte, wie er die 18 jährigen da behalten konnte, ohne die Unterstützung vom Staat zu verlieren. Deshalb gründete er die Schule, ein Internat. Mittlerweile dürfen auch Schüler dort hin, die keine Waisenkinder sind. Die werden aber nicht auf das Internat aufgenommen, sondern gehen dort ganz normal zur Schule. Es kommen wohl nicht allzu viele Außenstehende dort hin, weshalb mich Volkov-san schon gewarnt hat, dass die anderen mich meiden könnten. Aber das macht mir nichts, du kennst mich ja.   Ich bin ziemlich beeindruckt von der Idee. Sie sind momentan sogar am überlegen, ob sie nicht sogar eine Universität in diesem Stil aufbauen, aber das trifft wohl auf ziemlich viel Gegenwind, weil man befürchtet, dass die Waisenkinder dann nicht mehr mit der Außenwelt wirklich in Kontakt treten werden. Weil sie dann ja ihr halbes Leben, zumindest gefühlt, in ihrem Waisenhaus verbringen würden und zu wenig über das echte Leben lernen würden. Nun ja, ich halte mich da raus.   Weißt du was auch toll ist? Das Internat hat ein spezielles Sportförderprogramm, an dem ich teilnehmen kann! Das ist so toll! Die Teams hier sind so gut, dass sie mit den Preisgeldern, die sie gewinnen, einen großen Teil zum Erhalt des Internats beitragen! Ich bin hier mit der Weltelite zusammen und ich freue mich so darauf! Es gibt verschiedene Kurse von Anfänger bis Profi, ich bin gespannt, wo ich rein komme. Zumindest über den Anfängerkurs sollte ich ja drüber kommen. Wäre schon peinlich, wenn ich das nach all den Jahren Training nicht schaffen würde, oder?   Nun ja.. weg vom Enthusiasmus, ich muss jetzt den Kram durcharbeiten, den mir Volkov-san mit gegeben hat. Das wird einiges an Arbeit. Ich bin dann am Samstag trotzdem online, dann eben nur nicht in einem Park, sondern in meinem Zimmer. Ich freue mich schon!   Bis dann!   Rei   ~*~   Kai: Hallo Rei. Wie läuft das Lernen?   WeißerTiger: Hey Kai. Ganz gut. Ich bin ziemlich aufgeregt, am Montag geht es los.   Kai: Du schaffst das schon. Wann ist die Aufnahmeprüfung für den Kampfkurs?   WeißerTiger: Am Mittwochnachmittag. Drück mir die Daumen, es wäre echt cool, wenn ich es in den Fortgeschrittenen Kurs schaffen würde.   Kai: Selbst wenn nicht, ist das kein Weltuntergang. Dann arbeitest du dich eben hoch.   Kai: Weißt du schon, wie viele andere 'Außenseiter' mit an die Schule gehen?   WeißerTiger: Nicht so viele. Ich hab was von 10 oder 20 gehört. So um den Dreh. Ich werde es am Montag sehen, wir haben so was wie eine kleine Begrüßungszeremonie. Ansonsten habe ich keine Ahnung, wer da so alles aufkreuzt.   Kai: Kommst du denn wenigstens mit der Sprache zurecht?   WeißerTiger: Ja, das klappt mittlerweile ganz gut. Wenn ich erst einmal ein paar Wochen an der Schule bin, sollte das kein Problem mehr sein. Lesen kann ich die Schrift mittlerweile auch ganz gut. Also alles im Grünen Bereich, denke ich.   Kai: Gut. Dann ist das schon einmal keine Hürde, um in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden.   WeißerTiger: Als wäre mir das so wichtig. Ich bin nur ein Jahr hier, mache meinen Abschluss und dann ist gut. Ich werde es überleben, egal was kommt.   Kai: Hm.   WeißerTiger: Wie auch immer. Wie läuft es bei dir? Die Ferienzeit gut überstanden?   Kai: Ja, natürlich. Meine Lehrer sind alle sehr zufrieden mit mir und so auch mein Großvater. Ich kann nicht klagen.   WeißerTiger: Der Vorentscheid für die Meisterschaften im Kickboxen stehen an. Hast du dich entschieden ob du mit machen willst?   Kai: Ich weiß es noch immer nicht. Die Anmeldefrist läuft noch bis Ende nächster Woche. Ich tendiere aber eher zu nein. Solche Veranstaltungen bringen mir nichts. Ich weiß nicht, warum Großvater immer wieder so sehr darauf drängt.   WeißerTiger: Ich würde es einfach mal versuchen. Oder nein, lieber doch nicht. Dein Ego ist schon groß genug.   Kai: Ha ha.   Kai: Aber vielleicht mache ich es wirklich. Einfach um mal zu schauen wie es läuft. Ich weiß es noch nicht.   WeißerTiger: Überleg es dir einfach. Und wenn du drüber reden willst gib Bescheid, ich bin da. Jetzt aber setze ich mich erst mal wieder ans Lernen, es sei denn, es gibt noch irgendwas zu reden.   Kai: Nein, alles in Ordnung. Lern weiter.   WeißerTiger: Ich vermisse dich. Bis dann.   Kai: Bis dann.   *   Natürlich würde Kai niemals offen sagen, dass er ihn vermisste. Die erste E-Mail die er von ihm bekommen hatte, war schon enorm emotional, das würde er nicht noch einmal zu hören bekommen. Aber das war in Ordnung, das erwartete er nicht. Nur manchmal fragte er sich doch, ob er es gerne hätte, denn er sagte sich erstaunlich oft, dass es in Ordnung war und er Kai so mochte wie er war. Es war wirklich alles gut, aber er verwirrte sich selbst damit, dass er sich das ständig selbst sagte. Wie auch immer, er musste noch lernen.   ~*~   "Wir freuen uns auch dieses Jahr wieder neue Gesichter hier begrüßen zu dürfen..." Volkov begrüßte wie jedes Jahr die Neuen in der großen Aula. Um die große Halle herum führten Treppen und breite Wege, die an der Seite zur Halle hin mit Geländern abgesichert waren, zu weiteren Gängen und Räumen. Hier stand er, und sah auf die dummen Kinder hinab, die freiwillig hier her kamen. Keiner von ihnen würde ein Jahr lang bleiben, das hatte noch niemand geschafft. Das verschwieg der Leiter des Internats nur gerne, um weiterhin staatliche Zuschüsse zu erhalten. Nicht, dass sie sie absichtlich vertrieben...   Sie waren angewiesen, mit den Außenseitern nicht zu reden oder wenn überhaupt, dann nur das nötigste. Niemand der hier her kam, ertrug diese kalte Atmosphäre und so gingen sie bald schon auf eine andere Schule. Sie hatten mehr als genug Auswahl. Was sie dann letztendlich vertrieben hatte, konnte keiner wirklich wiedergeben. 'Es hat sich komisch da angefühlt' war die genauste Aussage die alle treffen konnten, mehr nicht.   Sie nannten sie 'Lichtkinder', was mehrere Bedeutungen hatte. Hauptsächlich war es der Neid darauf, dass sie ein normales Leben hatten, dass sie Eltern hatten und dass sie frei waren. Nicht, dass irgendwer gezwungen war hier zu sein, aber für viele war das hier einfach die letzte Hoffnung. Diese Kinder da unten waren behütet aufgewachsen. Sie hatten noch nie Kämpfen, noch nie um ihr Leben bangen müssen. Diese Kinder waren schwach und weich. Sie waren wie das Licht einer Flamme das drohte zu erlöschen, sobald man das brennende Material weg nahm. Dunkelheit existierte immer, auch ohne Energie zu benötigen und sie alle hatten nichts, was sie verbrennen konnten. Die Lichtkinder bekamen Zuwendung, Liebe, Geborgenheit und Schutz. Alles Dinge, die viele von ihnen hier auch einmal gehabt hatten und man hatte es ihnen weg genommen. Jetzt blieb ihnen nur noch die Dunkelheit.   Sein Blick glitt langsam über die Traube von neuen Schülern und blieb etwas verwirrt an einer Person hängen. Für einen Moment hatte er tatsächlich geglaubt, dass ein Mädchen dort unten stand, doch bei genauerem hinsehen bemerkte er, dass die Statur nicht weiblich war. Die Figur war ein wenig zierlicher, geschmeidiger als die von den meisten Kerlen, aber sie war sicherlich nicht weiblich. Muskulöse Arme zeichneten sich unter dem Oberteil ab und allein seine Haltung sagte ihm, dass er in der Lage war zu kämpfen. Nein, das war ganz sicher kein Mädchen, konnte es gar nicht sein, denn sie waren hier in dem Flügel, in dem nur Jungen lebten. Sie hatten strenge Geschlechtertrennung und es war aufs schärfste verboten die Gebäude der Schülerinnen zu betreten. Hier würde sich kein weibliches Wesen her verirren, dennoch hatten die langen Haare ihn kurz irritiert. Die Haare waren in einem langen Band zusammengefasst, reichten aber dennoch bis fast zum Boden. Interessant... nun, in einem Kampf würden die unpraktisch werden, egal ob sie zusammengebunden waren oder nicht. Im Allgemeinen war dieser Kerl also keinerlei Bedrohung. Schade eigentlich. Schon lange konnte es kaum noch jemand mit ihm aufnehmen. Eine neue Herausforderung hätte ihm gefallen. Vielleicht ließe sich das ja ändern.   Die neuen Schüler applaudierten verhalten. Volkov hatte seine kleine Rede also beendet. Es kam jetzt noch eine kurze rede von einem ihrer Vorzeigeschüler. Das waren Kinder, die man hier nicht gebrauchen konnte, die aber herrlich zum herumzeigen waren, weil sie gut reden konnten und hübsch aussahen. Pressekinder. Man musste sie in Ruhe lassen, doch als Schoßhunde der Schulleitung hatte auch niemand Interesse daran sich weiter mit ihnen zu befassen. Im Gegensatz zu ihm selbst und den anderen seines Ranges, wussten diese Kinder nicht, was es bedeutete, für das eigene Überleben kämpfen zu müssen. Auch sie waren schwach, aber man brauchte sie. Dieser merkwürdige Ausländer mit den langen Haaren hätte definitiv auch Potential dazu, aber dafür müsste er im Internat leben und da kamen Lichtkinder nicht herein.   Er selbst wartete ungeduldig darauf, dass der Tag endlich herum ging. Die Begrüßungszeremonie half nicht gerade dabei, dass die Zeit schneller verging. Es war langweilig, langwierig und uninteressant. Keine interessanten neuen Gesichter, nichts, was erwähnenswert war. Er wollte eigentlich nicht hier sein, aber nichts zu tun, kam für ihn auch nicht in Frage und trainieren durfte er heute nicht. Gestern hatte er sich bei einem Kampf die Schulter ausgekugelt. Natürlich hatte er dennoch gewonnen, aber der Arzt hatte ihm verboten den Arm bis heute Abend zu bewegen, da die Gefahr von bleibenden Schäden zu groß war. Und sein Körper durfte keinen bleibenden Schaden nehmen, das wäre sein Untergang. Die meisten Gegner würde er zwar noch in einem Rollstuhl mit zwei gebrochenen Armen besiegen können, aber in diesem Haus war alles, was nicht absolut perfekt war, absolut verboten. Für den Auftritt gestern, für die Verletzung die er sich zugezogen hatte, würde er auch noch eine Strafe erhalten, sobald er wieder gesundet war. Ein nicht perfekter Sieg, war kein Sieg und erst recht nichts, was geduldet wurde. Aber das war gut so. Nur so konnten sie die Weltspitze bleiben. Nur so konnten sie diese Schule weiterhin am Leben erhalten, nur so hatten sie alle einen Ort, an dem sie leben konnten. Es war notwendig und das wussten sie alle. Es gab keine Alternative und wenn sie alle ehrlich mit sich selbst waren, dann wollten sie auch keine. Hier war ihr zu Hause und sie würden dafür sorgen, dass es das bleiben würde.   Nur Außenstehende würden das niemals verstehen, denn sie waren schwach und weich. Jedes Jahr wieder schwemmte ein Ausblick auf das herein, was sie leben könnten. Es kam Gedankengut hier herein, das eigentlich giftig sein müsste für jeden von ihnen. Gedankengut von Freiheit und Wohlstand, doch mit den Jahren hatten sie gelernt, dass Freiheit und Wohlstand nur eine Illusion war. Sie hatten diese Dinge zu fürchten gelernt. Er wusste nicht wie, aber irgendwie war das Gift nur zu normalem Wasser geworden. Es berührte sie nicht mehr. Es war nichts Faszinierendes oder Erstrebenswertes für sie. Es war nichts, was sie wollten, denn sie gehörten nicht nach draußen. Sie gehörten hier her. Alle miteinander. Nur die Lichtkinder nicht und das würden die früh genug bemerken.   Willkommen, dachte er bei sich, Herzlich willkommen im Nichts.   Kapitel 3: Gewecktes Interesse ------------------------------ Hallo Kai, ich hatte heute den Zuordnungstest für die Kampfsportkurse. Eigentlich lief es ganz gut, ich war zuversichtlich, dass ich vielleicht sogar zu den Fortgeschrittenen komme, nicht nur zu den Amateuren. Gerade bin ich mir aber nicht einmal sicher, ob ich über den Anfängerkurs hinaus komme. Die meisten anderen waren schlechter als ich, keine Frage, auch wenn ich in der Technik an sich nicht so richtig gut bin, weil ich zu oft die Sportart gewechselt habe, aber ich weiß, wie ich gewinnen kann und ich musste mich in der Vergangenheit auch oft genug zur Wehr setzen, um genügend Erfahrung zu haben, auch ohne an Wettkämpfen teilgenommen zu haben. Aber... diese Schule hat einen ganz anderen Standard als ich ihn gewohnt bin. Das ist echt... ich habe da nicht einmal ein Wort für. Ich weiß nicht genau warum, aber einer aus dem Team, das die Schule international vertritt, war da. Er ist gegen Ende des Probetrainings dazu gekommen und der Trainer hat gefragt, wer sich trauen würde, gegen ihn anzutreten. Der Kerl sah gruselig aus und irgendwas war in seinen Augen, was mir Angst gemacht hat. Ich kann nicht genau sagen, was es war, aber der Kerl ist mir wirklich nicht geheuer. Dennoch habe ich mich freiwillig gemeldet, einfach nur, weil ich neugierig war. Man bekommt nicht jeden Tag die Gelegenheit, gegen einen Weltmeister anzutreten, nicht? Ich habe mir nicht eingebildet, dass ich gewinnen könnte. Wie gesagt, dazu fehlt es mir allein schon an Technik. Er hat mich sogar gefragt, welche Sportart ich bevorzugen würde, ich solle einfach eine nennen. Seine Stimme war total desinteressiert und kalt. Er hat mich ein wenig an dich erinnert, als wir uns gerade kennengelernt haben, aber er ist irgendwie noch krasser. Verstehst du was ich meine? Er wirkt total entrückt, vollkommen fern dieser Welt und er hat mich angesehen, als wäre er ein Gott und ich eines seiner mickrigsten Geschöpfe. So einen Blick hast selbst du nicht drauf und ich hätte wirklich nicht gedacht, dass es möglich ist, dass deine Verachtung der ganzen Menschheit gegenüber noch irgendwer übertreffen kann. Es wirkte nur nicht wirklich wie Verachtung... ich kann es nicht beschreiben, es war komisch. Das hat mich aber alles nicht wirklich beeindruckt. Angst gemacht hat es mir nur ein wenig, dass er mich die Kampfart wählen ließ.. so als würde er alle kennen und alle können und mich in allen besiegen können. Deshalb habe ich Freestyle gewählt. Wahrscheinlich war das keine allzu gute Idee, aber ich hatte gehofft, dass er durch die Wettkämpfe klare Regeln gewohnt ist und ich durch meine - nennen wir es mal 'Straßenerfahrung' auch wenn das natürlich übertrieben ist - einen Vorteil habe. Falsch gedacht. Himmel, der Kerl hat Manöver gebracht, die ich nicht einmal im Ansatz kenne! Ich bin nicht einmal an ihn heran gekommen, ich habe ihn noch nicht einmal berührt. Das ist so... woah. Ich bin noch immer ziemlich sprachlos deshalb. Ich habe wirklich nicht gedacht, dass die Profiliga SO gut ist und dass ich SO schlecht bin. Das ist ja fast schon peinlich. Nun ja, eben nur fast. Ich denke also nicht, dass ich in den Amateurkurs komme. Ich bin solche Lichtjahre von den Profis entfernt, dass ich garantiert erst einmal zu den Anfängern gesteckt werde, aber vielleicht kann ich mich ja hocharbeiten. Ich habe den Kerl übrigens mal gegoogelt. Sein Name ist Yuriy Ivanov, aber bei internationalen Kämpfen nennt er sich wohl nur Tala. Wenn ich das richtig verstanden habe, hat er den Spitznamen von einem amerikanischen Ureinwohner bekommen, als er auf einer Trainingsreise durch die ganze Welt war. Angeblich soll es übersetzt 'Der Wolf' heißen. Nach kurzer Recherche stimmt das wohl sogar. Allerdings gibt es den Begriff auch in verschiedenen anderen Sprachen. In einem Chinesischen Dialekt, heißt Tala so viel wie 'Talent', was eigentlich auch passen würde. Egal. Als 'Der Wolf' ist er jedenfalls bekannt geworden und er hat den Namen wohl bei behalten. Ich würde die anderen Schüler gerne ein wenig über ihn befragen, aber die gehen mir alle aus dem Weg. Die sind hier wohl tatsächlich ein wenig Fremdenfeindlich. Mich hat dieser Yuriy auf jeden Fall ziemlich beeindruckt und neugierig gemacht. Ich glaube also, ich habe ein neues Projekt für den Rest des Jahres. Es wird allerdings schwierig an ihn ran zu kommen. Er tut mir sicherlich nicht den Gefallen und taucht plötzlich neben mir in einem Park auf. Ich muss mir da was einfallen lassen. Oh und keine Sorge, nur so zum Vorbeugen: Ich bin nur neugierig, ehrlich! Klar war ich das bei dir am Anfang auch, aber Ivanov ist definitiv nicht mein Typ. Bei dir habe ich immer gewisses Leben in den Augen gesehen. Seine Augen sind einfach nur tot. Ich denke auch nicht, dass ich in einem Jahr mehr schaffe, als mal einen Satz mit ihm zu sprechen. Ich glaube nicht, dass ich hier an irgendwen leicht ran komme, gerade nicht an den Weltmeister. Der wird besseres zu tun haben, als sich mit einem Außenseiter zu unterhalten. Aber wer weiß, vielleicht habe ich ja Glück. Jedenfalls brauchst du dir um ihn keine Sorgen zu machen. Und auch um keinen anderen. Ich will hier einfach nur meinen Abschluss machen und dann bin ich wieder weg. Oh Mann, ich habe echt das Gefühl ich tippe mich hier um Kopf und Kragen. Was ich sagen will: Ich lauf dir nicht weg, auch wenn wir uns im Moment nicht wirklich sehen können. Ich bin eine sehr treue Seele und ich brauche einfach nur irgendwas, um mich das Jahr über zu beschäftigen. Es sieht immerhin nicht so aus, als würde ich hier bald Freunde finden. Die Ergebnisse des Testunterrichts kriege ich nächsten Montag. Ab dann kann ich jeden Tag nachmittags trainieren wenn ich will. Ich muss mich dann nur entscheiden, ob ich in den Kurs will, der mich speziell als Profi ausbildet oder in den, der einfach nur zum Ziel hat, dass man fit bleibt und sich bewegt. Ich tendiere eher zu letzterem. In einem Jahr kann ich hier sowieso nichts reißen und was bringt es mir eine Profikarriere anzustreben, die ich gar nicht will? Ja, ich denke, das ist eine gute Entscheidung. Wie sieht es bei dir aus? Weißt du endlich, ob du dich zu den Meisterschaftsqualifikationen anmelden willst? Liebe Grüße Rei * Hallo Rei, hör endlich auf, dir ständig Gedanken um deine Wortwahl zu machen. Wie ich schon am ersten Tag gesagt habe, das ist nicht notwendig. So empfindlich bin ich nicht. Zudem weißt du, dass ich dich umbringen würde, wenn du es wagen würdest mich zu betrügen und soweit ich informiert bin, hängst du an deinem Leben. Also reg dich ab. Von diesem Yuriy solltest du dich aber dennoch fern halten. Solche Menschen sind gefährlich. Du hast schon Glück mit mir gehabt, stell dein Glück nicht noch weiter auf die Probe. Gegen mich hättest du dich im Ernstfall wehren können, aber er gehört offensichtlich zur absoluten Elite und so wie du ihn beschreibst, scheint er skrupellos zu sein. Misch dich da nicht ein. Das ganze Internat klingt nicht gerade angenehm. Sei bitte vorsichtig. Du bist nur ein Jahr da, bring dich nicht dafür in Gefahr. Nicht nur, weil die langweilig ist. Sportler sind oft nicht ohne. Normalerweise nur, wenn man ihnen ihren Platz streitig macht, aber wer weiß, was die da mit einem Chinesen machen, der rumschnüffelt und den falschen Leuten auf die Nerven geht. Lass das lieber. Freunde dich lieber mit den anderen Außenseitern an, das ist viel sicherer. Und ja, ich weiß, wie sehr du es magst mit dem Feuer zu spielen, aber das ist wahrscheinlich eine Nummer zu groß für dich. Lass es bleiben. Ich kenne den Namen übrigens. Natürlich kenne ich ihn, ich kenne jeden Weltmeister im Kampfsport. Ich wusste nur nicht, dass er auf dieses Internat geht und dass er Waise ist. So sehr habe ich mich noch nicht mit ihm beschäftigt. Bei Kämpfen mit ihm ist es üblich, dass man da nur mit gebrochenen Knochen raus kommt. Alles noch im Rahmen der Regeln, aber eben immer nur haarscharf. Er wird auch der Wolf genannt, weil er vollkommen unbarmherzig ist. Er redet nicht viel. Wenn, dann meistens nur um Anweisungen zu geben. Seine Bewegungsmuster im Sport sind legendär und werden als übermenschlich beschrieben. Manche bezeichnen ihn sogar als 'Wolfskind'. Das ist eine Art Legende in Europa, nach der Kinder fernab von Menschen aufgewachsen sind, vielleicht sogar von Tieren wie Wölfen aufgezogen wurden und sich deshalb merkwürdig verhalten. Natürlich ist das Unsinn, wahrscheinlich genauso wie die Geschichte über seinen Spitznamen, aber allein das Gerücht zeigt, dass er wahrscheinlich ein Soziopath oder ein Psychopath ist. Also halt dich von ihm fern! Ich recherchiere gerne etwas weiter über ihn, wenn du mir versprichst, die Finger von ihm zu lassen und ihm brav aus dem Weg zu gehen, wie es jeder andere mit ein wenig Verstand auch tun würde. Ich will wirklich nicht, dass du da Probleme bekommst. Von hier aus kann ich dir kaum helfen, wenn etwas schief geht. Ich denke übrigens, dass du durchaus das Zeug für den Amateurkurs hast, warte es einfach ab. Und wenn es nicht funktioniert, ist das auch kein Weltuntergang. Die sind da wohl etwas strenger als gewöhnlich, aber das macht den Ausbilder eines Weltmeisters wohl aus. Für dich ist es nur ein Hobby, also belasse es dabei. Ich werde das auch tun, auch wenn es mir schwer fällt, meinen Großvater dahingehend zu enttäuschen. Ich werde nicht an den internationalen Ausscheidungen teilnehmen. Es interessiert mich einfach zu wenig. Ich konzentriere mich darauf, die Firma eines Tages zu übernehmen. Eine Karriere als Profisportler steht da nur im Weg. Nochmal: Bitte halte dich von diesem Ivanov fern. Ich mache mir sonst wirklich ernsthafte Sorgen und du willst doch nicht, dass du mich nachts wach hältst, oder? Nun, zumindest noch mehr als sowieso schon. Der Einstieg in das neue Schuljahr ist übrigens recht gut geglückt. Kinomiya meint, mir Gesellschaft leisten zu müssen, weil du ja jetzt nicht mehr da bist. Stell dir bitte vor, wie ich während dem letzten Satz genervt die Augen verdrehe. Wie auch immer. Solange er die Klappe hält, lasse ich ihn eben bei mir rum hängen, dafür darf ich mich dann auch an seinem Essen bedienen. Fair genug, würde ich sagen. Ich denke auch, dass er es ist, der Gesellschaft sucht, weil er dich vermisst, aber das geht mich nichts an. Wir kriegen nächste Woche einen Austauschschüler aus Amerika, vielleicht lenkt der Kinomiya genug ab, dass er mich in Frieden lässt. Was hat der Kerl eigentlich gemacht, bevor du an der Schule warst und ihr euch angefreundet habt? Der muss doch noch andere Freunde haben. Not my buisiness. Wie auch immer. Gib auf dich acht. Leider überschneiden sich unsere Herbstferien nicht wirklich, aber eventuell kann ich in der ersten Januarwoche zu Besuch kommen. Kai ~*~ "Warum warst du eigentlich bei dem Probetraining dabei?" Boris Kuznetsov, einer der Mitglieder der Borg, dem Team aus Weltmeistern innerhalb des Internats, sah erwartungsvoll zu seinem Teamcaptain. Sie standen gerade unter der Gemeinschaftsdusche der Sporthalle. "Langeweile.", war das Einzige, was Yuriy darauf antwortete. Wahrscheinlich war es auch ein wenig Neugierde gewesen. Er hatte gehört, dass dieser Chinese sich eingeschrieben hatte und wollte eigentlich nur sehen, was er konnte. Dass der sich als einziger traute gegen ihn anzutreten, hatte er nicht erwartet. Der Kleine hatte eine stolze Körperhaltung, aber er hatte ihm diese Art von Rückgrat nicht zugetraut. "Frage mich, ob der Kerl einfach nur dumm oder mutig ist, sich mit dir anzulegen. Ist gerade Gesprächsthema Nummer eins hier." Yuriy reagierte gar nicht erst darauf, stellte nur das Wasser aus und trat aus der Kabine heraus. Es interessierte ihn nicht, was Boris dazu sagte. Dieser Knirps war gut gewesen für ein Lichtkind und einen Anfänger. Vielleicht sollte er ihn sich einmal näher ansehen. Volkov würde ihm sicherlich die Erlaubnis für eine nähere Begutachtung geben. Kurz betrachtete er sich in einem der Spiegel, während er sich abtrocknete. Auch wenn er es nicht mehr spürte, seine Schulter war noch immer blau und jetzt vom Training erneut leicht geschwollen. Er würde noch einmal zu den Ärzten müssen und das begutachten lassen. Ein bleibender Schaden wäre nach wie vor inakzeptabel. "Hey Yuriy." Er wandte seinen Kopf leicht zu Sergei, der auch aus der Dusche getreten war. Der besah sich die Schulter auch kurz skeptisch und schien zu verstehen. Allerdings hatte er den Anstand nicht weiter darauf einzugehen. "Wenn du von den Ärzten wieder kommst, will Volkov dich im Labor sehen." Da kam dann also die Strafe, nun gut. Wahrscheinlich würde es mit einer Nacht Spezialtraining getan sein, wenn er ihn schon ins Labor rief. Er nickte nur leicht und zog sich dann an: "Wir sehen uns morgen beim Training." Schlafmangel machte ihm schon lange nichts mehr. Und wenn er schon bei Volkov war, konnte er ihn auch gleich um Erlaubnis bitten, den Chinesen prüfen zu dürfen. Kapitel 4: Herausforderung -------------------------- "Verzieht euch!", zischte es dunkel zu dem Tisch, an dem die Außenseiter mittags saßen. Alle schauten kurz erschrocken auf, auch Rei. Als er Yuriy sah, legte er kurz skeptisch die Stirn in Falten, nahm dann aber, wie alle andere auch, sein Tablett und stand auf. Nein, er fand es ganz und gar nicht gut, dass der Russe sich so aufspielte, aber sich mit ihm anlegen? Das würde nicht einmal etwas bringen. Er hasste diese Art von Machtlosigkeit, aber er war nicht dumm. Er hatte keine Lust, sich die nächsten Monate terrorisieren zu lassen, nur um jetzt seinen Stolz zu schützen.   "Du nicht!" Erst hatte er sich nicht wirklich angesprochen gefühlt, bemerkte dann aber, dass die Augen des anderen ihn fixierten. Jetzt wurde ihm wirklich etwas mulmig zumute. Auch wenn er es selbst kaum glauben konnte, hatte er sich die Worte von Kai in seiner gestrigen E-Mail wirklich zu Herzen genommen. Ja, er spielte gerne mit dem Feuer, aber er verbrannte sich nur sehr ungern. Das Jahr einfach abzusitzen, schien ihm wirklich die bessere Variante. Nun, scheinbar hatte er schon zu viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Stumm setzte er sich wieder und fühlte gleichzeitig wie sämtliche Augen der gesamten Mensa auf ihm lagen. Wo hatte er sich hier nur rein geritten? Nun, ruhig bleiben, war jetzt die Devise.   "Was kann ich für dich tun?" Eigentlich war das eine seiner Standard Antworten, aber gerade erschien ihm die Wortwahl doch etwas zu unterwürfig. Hoffentlich hatte er nicht jetzt schon einen Fehler gemacht. Kurz schweifte Yuriys Blick durch die Halle, sein Ausdruck ermahnend und kalt, wie ein tyrannischer Herrscher, der sich sein Volk besah, das ihm offensichtlich auf die Nerven ging. Als alle sich von ihnen abgewandt hatten und die Gespräche langsam wieder in Gang kamen, setzte sich auch der Russe. Danach sah er ihn einfach nur an. Musterte ihn, als würde er auf irgendetwas warten.   "Du sprichst gutes Russisch für einen Ausländer.", durchbrach Yuriy schließlich die angespannte Stille zwischen Ihnen. "Danke.", antwortete Rei etwas unbeholfen, wusste nicht, was er sonst sagen wollte. "Willst du nicht weiter essen? So lang ist die Pause nicht mehr und du brauchst doch Kraft für den Unterricht." Auf eine seltsame Art und Weise fühlte er sich schikaniert und er konnte nicht einmal sagen warum. Es sprach kein Hohn aus dem Anderen und seine Augen, sowie seine Stimme, zeigten ausschließlich Desinteresse. Vielleicht war es pure Paranoia, aber Rei ahnte, dass gerade mit ihm gespielt wurde. Er wusste, dass er sich zurückhalten sollte, aber das war nicht seine Art. "Was ist passiert, dass es dir nicht reicht, mich auf die Bretter zu schicken und du jetzt her kommst und offensichtlich dein Revier markieren musst? Liegt es daran, dass ich mich tatsächlich getraut habe gegen dich anzutreten?"   Vielleicht war er ja doch dumm... und lebensmüde. Wie sollte er es Kai nur erklären, wenn der ihn im Januar nicht in der Wohnung, sondern im Krankenhaus besuchen käme? Warum kamen diese Typen eigentlich immer, wenn er gerade beschlossen hatte, seine Ruhe haben zu wollen? Was war das nur immer? Doch Yuriy blieb still, rührte sich keinen Millimeter. Ok, das wurde jetzt gruselig. "Was willst du? Na los, spucks schon aus. Wärst du hier um mich fertig zu machen, wärst du jetzt bereits aufgesprungen und hättest mir eine rein gehauen." Ein leichtes Grinsen bildete sich auf dem Gesicht seines Gegenübers. Ein Grinsen, das Rei kalt erschauern ließ. Dieser Kerl vor ihm war so viel irrer und gefährlicher als Kai, das wurde ihm jetzt mehr denn je klar. "Intelligent bist du also auch noch. Du gefällst mir", säuselte der Russe plötzlich, was Rei fast zum Aufspringen gebracht hätte. Vor Schreck oder Ärger, konnte er nicht sagen. Er stocherte nur verärgert in seinem Mittagessen herum und zischte: "Ich bin nicht schwul!" Und mit einem Mal war der komplette Saal still und Rei verstand nicht einmal wieso. Was war denn jetzt los? Verwirrt warf er einen Blick umher und musste mit Schrecken feststellen, dass alle Blicke vollkommen entsetzt auf ihm lagen. Was... was war das denn? War es so ungewöhnlich, dass jemand Yuriy ablehnte? Durfte man das hier vielleicht gar nicht? War er so berüchtigt, dass jeder gemeuchelt wurde, der sich ihm entzog? Im nächsten Moment wurde er aber schon vom Stuhl gerissen und an einen Körper gezerrt. Wutverzerrte, eisige Augen starrten ihn: "Hast du mich gerade schwul genannt?" Die gefauchten Worte brachten Rei die Erkenntnis, die er gebraucht hatte. Erschrocken riss er die Augen auf, als er sich seinem Fehler gewahr wurde. Scheiße. Er war es so sehr gewohnt, mit Leuten umgeben zu sein, die kein Problem mit jeglicher Art von Sexualität hatten (Kai ausgeschlossen, aber vor dem konnte er da auch frei sprechen), dass er vergessen hatte, dass das auf dieser Welt noch immer ein großes Problem war. Ungewollt hatte er den kühlen Russen gerade tatsächlich als schwul bezeichnet. Doch im nächsten Moment wurde er einfach fallen gelassen und ein kaltes Lachen erfüllte den Raum. Er stolperte zurück, fiel über den umgestürzten Stuhl und kam hart auf dem Boden auf. Als das freudlose Lachen wieder verstummte, hatte er eine Hand vor der Nase, mit der er erst einmal nichts anfangen konnte, bis ihm dämmerte, dass da jemand versuchte ihm hoch zu helfen. Er ergriff die Hand und sah seinen Gegenüber deutlich verwirrt an, als er wieder stand. "Mut hast du wirklich, Kleiner. Aber arbeite an deiner Mimik, die verrät dich." Yuriy beugte sich etwas zu ihm vor, so, dass ihre Gesichter nur noch ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren. "Hast ausgesehen wie ein kleines, verängstigtes Kätzchen."   Rei wusste nicht wirklich, was er dazu sagen sollte. Und so schwieg er einfach, stellte stattdessen den Stuhl wieder aufrecht. Langsam begann wieder Leben in die Halle zu kommen, die Aufmerksamkeit von ihnen zu verschwinden. Als er sich wieder zu Yuriy umwenden wollte, saß der bereits erneut auf dem Stuhl ihm gegenüber. Verwirrt legte Rei kurz die Stirn in Falten, ehe er sich wieder setzte. Er hatte nicht bemerkt, dass der Andere sich überhaupt bewegt hatte. "Dein Kampfstil hat mich auch sehr an eine Katze erinnert. Geschmeidig und kraftvoll." "Ehm.. danke.", brachte er etwas unsicher hervor.   Sie schwiegen wieder, was Rei dazu veranlasste seinen Gegenüber zu mustern. Irgendwie sah er anders aus, als an dem Tag, an dem sie gegeneinander gekämpft hatten. "Ist alles in Ordnung?", fragte er, was den anderen eine schlanke Augenbraue heben ließ. "Du siehst müde aus."     ~*~   Hallo Kai,   ich hatte heute eine Begegnung dritter Art mit Yuriy. Krass ist der Kerl gruselig und irre und unberechenbar! Und nein, ich habe es nicht darauf angelegt. Ich habe einfach nur am Mittagstisch gesessen und er kam zu mir. Nach einem sehr verwirrenden Gespräch (oder wie auch immer man das nennen kann) hat er mir dann gesagt, ich solle kurz vor der Wettkampfsaison im Frühjahr an dem Wettbewerb hier an der Schule teilnehmen, er wolle noch einmal gegen mich kämpfen, wenn ich in Topform sei. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber eines weiß ich: offensichtlich habe ich versehentlich mehr Aufmerksamkeit auf mich gezogen als gewollt. Es juckt mir ja schon in den Fingern, noch einmal gegen ihn anzutreten. Aber ich bin mir noch unsicher. Mal sehen, was die nächste Zeit noch so passiert. Scheint nicht einmal im Ansatz so langweilig zu werden, wie es schien. Der Kerl ist dennoch gruselig... Ich hatte noch nie mit einem Menschen wie ihm zu tun. Es ist beängstigend und spannend zugleich. Aber keine Sorge, ich passe schon auf mich auf. Er kann mich ja kaum umbringen oder zum Krüppel machen, nicht?   Grüße Rei   *   Kai faltete den E-Mail Ausdruck wieder zusammen und steckte ihn sich in die Hosentasche. Nachdenklich sah er in den Himmel, während er auf dem Ast auf 'Seinem Baum' lag. Er machte sich Sorgen, ernsthafte Sorgen. Russland war ihm im Allgemeinen nicht geheuer, was bei dem, was er dort erlebt hatte, wohl auch kein Wunder war. Schon als er erfahren hatte, wohin Rei zog, hätte er ihn am liebsten aufgehalten, aber er hatte nicht gewusst wie und außerdem ging es ihn überhaupt nichts an. Eine Beziehung berechtigte ihn nicht dazu, sich in das Leben seines Partners einzumischen. Zusätzlich hätte es wohl außer einem Streit sowieso nichts gebracht, denn Rei liebte seine Eltern viel zu sehr, als dass er sich gegen sie auflehnen würde. Es wäre also sowieso sinnlos gewesen.   Das änderte aber nichts daran, dass er sich jetzt sorgte. Seit Rei von dem Internat erzählte, fühlten seine Briefe sich kalt an. Natürlich hatte sich die Herzlichkeit seines Partners nicht verändert, aber es schien, als würde er immer wieder einen Teil des Internats mit seinen Briefen mit schicken und dieser Teil fühlte sich kalt an. Kalt und dunkel. Seit er diese Briefe erhielt, hatte er vermehrt Alpträume. Diese Art der Alpträume, die ihn schon seit seiner Ankunft in Japan verfolgten und langsam musste er sich wohl eingestehen, dass ihn irgendetwas von Reis Schilderungen an seine Vergangenheit erinnerte. Er konnte nur nicht sagen was es war. Es war noch nicht greifbar. Neben der Tatsache, dass ihm das Angst machte, schürte das nur seine Sorge. Am liebsten wäre er nach Russland geflogen und hätte den Chinesen wieder nach Japan geholt. Zu ihm - da hin, wo er hin gehörte. Er wollte ihn bei sich haben um auf ihn achten zu können und um ihn um sich haben zu können. Er vermisste ihn mehr, als er jemals gedacht hätte und mehr, als er sich selbst eingestehen wollte. Aber er würde nicht beginnen sich selbst zu belügen, nur, um seinen Stolz zu wahren und so lange es andere nicht mit bekamen, war ihm das herzlich egal.   "Hey Kai!" Wo er gerade bei 'anderen' gewesen war. Er ignorierte Kinomiya, so wie er es die ganze Zeit schon tat. Allerdings fing er das Päckchen, das ihm empor geworfen wurde und begann gewohnheitsmäßig den Inhalt zu essen, während der Japaner sich unter den Baum setzte und geräuschvoll selbst zu essen begann. Er war sich nicht sicher, warum er das Essen noch immer an nahm, es war einfach zur Routine geworden und er mochte das selbstgemachte Frühstück von Kinomiyas Mutter oder wem auch immer.   Er fragte sich, was für ein Gespräch Rei mit diesem Yuriy geführt hatte. Das klang irgendwie bedrohlich, auch wenn der Chinese versucht hatte, das alles runter zu spielen. Allerdings zeigten allein die fehlenden Details, dass da irgendetwas gewesen sein musste. Warum erzählte er es ihm nicht? Hatte er Angst vor seiner Reaktion? Angst, dass er sauer war, dass er mit dem Russen geredet hatte? Unwahrscheinlich. Rei war nicht der Typ Mensch, der davor zurückschreckte, seine Taten auch vor anderen zu vertreten und im schlimmsten Fall auch zu verteidigen. Nein, das konnte es nicht sein. Aber was dann? Was war da los? Und warum zum Teufel lud dieser Yuriy ihn zu diesem Ausscheidungsturnier ein? Was hatte der vor? Kai wusste viel zu wenig, er würde recherchieren. Eigentlich hatte er sich ja raus halten wollen, aber das war jetzt nicht mehr möglich. Er würde recherchieren und wenn er auf das dunkle Geheimnis stieß, dass er vermutete, dass er fürchtete, dann würde er Rei da wieder raus holen. Dann war es ihm auch egal, dass er kein Recht dazu hatte, dann konnten ihn die Regeln der Gesellschaft mal kreuzweise. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass er sich über das hinweg setzte, was andere als normal bezeichneten. Er hatte bis zum Frühjahr Zeit. Bis zu diesem Turnier. Und er hatte nur die Winterferien, um vor Ort zu recherchieren. Das war ein knappes Zeitfenster, aber es musste reichen.   ~*~   Du siehst müde aus   Immer wieder spukten ihm diese Worte durch den Kopf.   Du siehst müde aus   Und immer wieder schürten sie von neuem unbändige Wut. Wie konnte dieser Wurm es wagen, ihm solche Schwäche zu unterstellen und dabei auch noch so mitleidig zu klingen? Wie hatte er das überhaupt bemerken können? Er war perfekt darin, jedwede Schwäche zu verbergen, selbst vor sich selbst wenn es sein musste! Dieser elende, kleine Wurm! Er war nicht schwach!   Du siehst müde aus   Graaa! Sein nächster Schlag traf seinen Gegner direkt am Brustbein und er konnte das Knacken der Knochen sowohl hören als auch spüren, doch sein Kontrahent gab keinen Ton von sich, schwankte nicht einmal. Der packte ihn nur am Handgelenk und versuchte ihn über seine Schulter zu werfen, doch Yuriy reagierte schneller, nutzte die Gelegenheit, dass der andere mit dem Rücken zu ihm stand, und trat ihm direkt in die Kniekehle.   Du siehst müde aus   Als sein Kontrahent in die Knie ging, stoppte er nicht, setzte stattdessen einen gezielten Tritt direkt in die Niere, was den anderen endlich aufschreien ließ. Genugtuung machte sich in ihm breit, doch er war noch lange nicht fertig.   Du siehst müde aus   Während der andere sich vor Schmerzen krümmte, setzte er einen Fuß in dessen Nacken, drückte so lange zu, bis dessen Stirn den Boden berührte. "Sag es!", zischte er gefährlich.   Du siehst müde aus   Er drückte noch fester zu, was dem anderen ein leichtes Winseln entlockte. "Na los! Sag es!" Doch kein Wort war zu hören. Stattdessen bemerkte er eine leichte Bewegung unter sich und schaffte es mehr instinktiv als gewollt, dem nächsten Angriff auszuweichen.   Du siehst müde aus   Als sein Kontrahent wieder auf den Beinen stand, sah er das Messer, dass ihm gerade noch fast die Achilles-Sehne durchgeschnitten hätten. Yuriy blickte gar nicht erst zu dem Trainer, der würde nichts dagegen tun. Wenn er nicht gegen einen Gegner ankam, der eine Waffe in der Hand hatte, konnte er sich gleich selbst wieder auf die Straße setzen, das wäre die harmlosere Strafe dafür, wenn er den Kampf denn überhaupt überlebte.   Du siehst müde aus   Mit einem kräftigen Schlag gegen das Handgelenk, hatte er seinen Gegner entwaffnet, stoppte allerdings da auch nicht. Er ergriff den Arm, kickte nebenbei das Messer beiseite, damit es für sie beide außer Reichweite war, drehte den Arm auf den Rücken und kugelte ihm mit einem gezielten Ruck die Schulter aus. Das alles passierte so schnell, dass der Andere mehr vor Verwunderung, statt vor Schmerz aufschrie. "Sag es!", keifte Yuriy wieder, doch wieder kam keine Antwort.   Du siehst müde aus   Ein weiterer Tritt in die Kniekehle des anderen brachte den wieder zu Boden und Yuriy wusste, dass er die erwarteten Worte von ihm nicht mehr hören würde. Sein Kontrahent war zu stolz und zu verzweifelt. Er würde bis zum letzten Atemzug kämpfen, wenn es sein musste.   Du siehst müde aus   ICH BIN NICHT MÜDE! Schrie er in Gedanken, als er den Ellbogen seines freien Arms in den Nacken des anderen rammte und der Körper dann in sich zusammensackte. Er hatte nichts knacken gespürt, war sich aber nicht sicher, ob sein Kontrahent je wieder aufstehen würde. Es interessierte ihn auch nicht. Ein Blick zu seinem Trainer zeigte ihm, dass der nicht zufrieden war. Es hatte zu lange gedauert, er hatte seinem Gegner zu viele Möglichkeiten zur Aufgabe gegeben, hatte sich mit dem Messer zurück drängen lassen, statt ihn sofort zu entwaffnen. Er würde heute wieder Extrastunden einlegen müssen. Der Verlierer wurde von ein paar anderen weg gebracht. Wohin wusste er nicht und er wollte es auch niemals erfahren. Wahrscheinlich ins Labor, aber es war ihm gleich.   Du siehst müde aus   Ohne noch irgendetwas abzuwarten drehte er sich um, verschwand aus dem Trainingsraum und knallte lautstark die Tür hinter sich zu, die geräuschvoll aus den Angeln sprang. Zu dumm, dass er einem Lichtkind nichts antun durfte. Kapitel 5: Eskalation --------------------- Erschöpft ließ er sich auf sein Bett fallen und starrte an die Decke. Vor zwei Wochen hatte er erfahren, dass er in den Fortgeschrittenen-Kurs aufgenommen worden war und er war sich ziemlich sicher, dass Yuriy bei dieser Entscheidung seine Finger mit im Spiel gehabt hatte. Kurz darauf hatte er dann begonnen jeden Nachmittag nach der Schule mehrere Stunden zu trainieren. Es war hart und es zehrte sehr an seinen Kräften, aber aus irgendeinem Grund hatte ihn der Ehrgeiz gepackt. Er wollte Yuriy besiegen, warum auch immer. Scheinbar war er stolzer was das anging, als er bisher gedacht hatte. Es gab nicht viele Menschen, die ihn besiegt hatten seitdem er angefangen hatte mit dem Kampfsport. Es nagte an ihm, dass jemand ihn dann so einfach geschlagen hatte. Außerdem genoss er das Gefühl des Ehrgeizes, das seitdem durch seine Adern pulsierte und seinem Körper ungeahnte Kraft und Ausdauer gab. Nur deshalb war er in der Lage das alles durchzustehen.   Müde sah er zu seinem Laptop, der zugeklappt auf dem Schreibtisch stand. Er hatte Kai schon lange nicht mehr geschrieben und er wusste, dass er auch heute keine Nachricht von seinem Freund bekommen hatte. Er schrieb nie von sich aus, das hatte er ihm am Anfang gesagt und bisher so durchgehalten. Er wollte Kai gerne etwas schreiben, aber er wusste nicht so recht was. Sein Alltag war momentan sehr eintönig. Er war in der Schule, danach trainieren, dann kam er nach Hause, machte seine Hausaufgaben und fiel danach erschöpft ins Bett. Das war es. Er hatte keine Freunde mit denen er sich traf oder mit denen er auch nur mittags zusammen aß. Er saß alleine. Seit Yuriy vor zwei Wochen bei ihm aufgetaucht war, gingen ihm auch die anderen Neulinge aus dem Weg, mal abgesehen davon, dass einige die Schule gewechselt hatten. Er verstand den Hintergrund nicht ganz, aber vielleicht war es für jene, die nichts mit Kampfsport zu tun hatten, einfach die falsche Schule. Vielleicht hatten die Lehrer ihnen sogar empfohlen zu wechseln, damit ihre Talente besser gefördert werden konnten. Es gab viele Möglichkeiten und ehrlich gesagt, war es Rei egal, was mit den anderen war. Es kümmerte ihn nicht sonderlich, wenn er ehrlich war. Er hatte selbst genug zu tun und genug Sorgen, da konnte er nicht auch noch über irgendwelche Beweggründe von Menschen nachdenken, die er nicht einmal wirklich kannte.   Takao hatte ihm bei ihrem letzten Telefonat gesagt, dass Kai sich merkwürdig verhalten würde. Er konnte es nicht genau benennen, aber er meinte etwas davon, dass er noch reizbarer wäre als sonst schon. Rei hatte Takao geraten, ihm einfach aus dem Weg zu gehen, doch der Japaner war anscheinend zu loyal. Er wollte Kai gerne fragen was los war, doch dann würde er Takao Probleme bereiten, immerhin hatte der sozusagen gepetzt. Es war eine verfahrene Situation, die ihn davon abhielt, überhaupt irgendwas zu schreiben. Dann wiederum dachte er darüber nach, wie es auf Kai wirkte, dass er nicht mehr schrieb und er befürchtete, dass das vielleicht der Grund für die schlechte Laune war. Warum kontaktierte er ihn dann nicht? Rei seufzte deprimiert, als ihm klar wurde, dass der Russe niemals den Anschein erwecken würde, dass er ihn vermisste. Lieber fraß er den Frust in sich hinein. Ja, das war typisch, brachte ihn selbst aber in eine schwierige Lage. Was sollte er tun? Wenn er irgendeine nichtssagende E-Mail schreiben würde, käme das auch nicht gerade gut rüber. Er war nicht einmal in der Lage sich momentan am Wochenende mit ihm über Chat zu unterhalten, weil er während der wenigen Stunden, die sie beide durch die Zeitverschiebung zusammen haben könnten, in der Schule beim Training verbrachte, um den Rückstand an Technik aufzuholen. Frustrierende Situation. Er würde etwas ändern müssen, wenn er nicht wollte, dass seine Beziehung kaputt ging und das wollte er auf keinen Fall, auch wenn es merkwürdig einfach zu ertragen war, dass er kaum mit Kai kommunizierte. Er war wohl von all den Abschieden und Verlusten zu abgestumpft und war allgemein zu beschäftigt um seinen Freund zu vermissen. Dennoch war es merkwürdig...   Vielleicht lag die schlechte Laune aber auch an etwas anderem. Takao hatte ihm begeistert von einem Amerikanischen Austauschschüler erzählt, mit dem er sich angefreundet hatte und den er auch mit zu Kai schleppte. Vielleicht war der also nur genervt, weil er jetzt mit zwei Chaoten klar kommen musste. Rei schmunzelte leicht. Er wäre gerne einmal dabei, wenn die drei aufeinander trafen und er wollte auch den Amerikaner, Max, gerne einmal kennenlernen. Er klang nach einem aufgeweckten, fröhlichen Menschen und wenn er ehrlich war, sehnte er sich etwas nach einem Optimisten in seiner Nähe. Jemandem, der immer lächelte und nie schlecht drauf war. Ein solcher Mensch spendete oft Kraft und Mut, auch wenn die leicht naive Art dieser Menschen nervig sein konnte. Trotzdem könnte er so jemanden gerade wirklich brauchen, denn die Stimmung in dem Internat war drückend und anstrengend. Wie nicht anders zu erwarten, war alles auf Leistung und Ergebnisse ausgelegt. Er war das von den asiatischen Schulsystemen schon gewohnt, aber hier schien alles noch ein wenig schlimmer. Die Kinder, die nichts anderes hatten, als dieses Internat und diese Ausbildung, verzweifelten regelmäßig an dem Druck und die Lehrer schienen nicht wirklich gewillt, etwas dagegen zu tun. Es war alles ein wenig wie 'Friss oder stirb' und erinnerte eher an einen Drill, statt eine normale Schulausbildung. Aber das war wahrscheinlich einfach die russische Kultur. Viele Menschen, auch in der Stadt, wirkten hier abweisend und kühl. Vielleicht war in einem so kalten Land auch das Herz erkaltet. Zusammen mit dem mittlerweile ständig grauem Himmel und den immer weiter fallenden Temperaturen, war das eine sehr deprimierende Atmosphäre. Er war recht froh, dass er sich beim Training davon ablenken konnte.   Vielleicht würde es ihm ja gut tun, mit Kai darüber zu reden? Andererseits war der andere jetzt nicht unbedingt die Art Sonnenschein, die ihn aufmuntern konnte, oder? Ob er vielleicht lieber Takao anrufen sollte? Ein Blick auf die Uhr, zeigte ihm, dass das keine gute Idee war. Es war gerade mitten in der Nacht im fernen Osten. Rei seufzte. Träge nahm er den Laptop zur Hand. Was sollte er schreiben? Er war sich wirklich nicht sicher. Er konnte ihn doch auch nicht die ganze Mail lang nur zujammern, nachdem er sich so lange nicht gemeldet hatte. Aber was sollte er sonst machen? Es gab in seinem Leben derzeit nichts anderes als das. Er würde wohl improvisieren müssen, aber das konnte so schwer ja nicht sein, oder?   Hallo Kai,   Und dabei blieb es dann auch. Er würde ihm morgen schreiben. Bis dahin war ihm sicherlich irgendetwas eingefallen.   ~*~   Träge und schwerfällig öffnete er die Augen, nur um sie kurz darauf wieder zu schließen. Sein Körper fühlte sich taub und schwer an. Nur sein Kopf war ganz und gar nicht taub, denn der schmerzte, als wäre ein Laster darüber gefahren. Das stechende Licht, das jetzt sogar hinter seine Augenlider zu dringen schien, machte es nur noch schlimmer. Genauso wie das nervende Piepen direkt neben ihm, das sich jedes mal wie ein Nadelstich in seinem Kopf anfühlte und einen pulsierenden Schmerz durch seinen ganzen Körper schickte. Noch ehe er die Augen auch nur ein Mal richtig geöffnet hatte, verschwammen seine Gedanken bereits wieder und er verlor sich erneut in einem traumlosen Schlaf.   Als er das nächste Mal erwachte, war das nervende Piepsen noch immer da, aber es fühlte sich nicht mehr so an, als würde man mit einem Messer auf einem Nerv direkt in seinem Kopf herum kratzen. Er seufzte erleichtert, was irgendetwas wohl dazu veranlasste, sich zu bewegen. Denn er hörte etwas in seiner Nähe rascheln. Er wollte sich bewegen, sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht streichen, weil sie ihm über den Augen klebten, doch er konnte nicht. Irgendetwas drückte seinen gesamten Körper auf die Matratze und machte ihn vollkommen bewegungsunfähig. Panik erfasste ihn, doch selbst das dadurch ausgelöst Adrenalin reichte nicht, um seinen Körper in Bewegung zu setzen. Irgendjemand schrie etwas, was nur verzerrt und unverständlich bei ihm ankam. Das Piepen hatte sich in einen schnellen, unregelmäßigen Rhythmus gewandelt.   Eine Hand umfasste plötzlich seine, hielt sie fest und sicher. Die Hand war größer als seine, war aber nicht so rau wie die seines Vaters. Dennoch beruhigte er sich sofort, vielleicht einfach nur, weil er wusste, dass er nicht allein war.   Etwas kaltes streifte seine Stirn und als die Angst wieder begann Besitz von ihm zu ergreifen, griff ihn die Hand fester und ein Daumen streichelte über seinen Handrücken. Es war alles in Ordnung. Ein neues Geräusch drang an seine Ohren, doch er konnte es nicht identifizieren. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, doch es dauert lange, bis er es erkannte. Es war eine Stimme und die Worte drangen nur verzerrt in seinen Geist. Es war so schwer die Worte nicht einfach vorbei schwimmen zu lassen und sich zurückfallen zu lassen, in die einladende Schwärze die ihn umgab. Doch die Hand die seine festhielt, wirkte wie ein Anker in der wirklichen Welt und er wusste, dass es wichtig war, dass er die Worte verstand.   "Herr Kon, hören Sie mich? Herr Kon?" Diese Worte wiederholten sich immer und immer wieder und langsam sickerte auch ihre Bedeutung in sein Bewusstsein. Ja, ja, er hörte sie. Er hörte die Stimme dieser Frau jetzt klar und deutlich. "Herr Kon, wenn Sie mich hören, versuchen Sie bitte einen Finger zu bewegen. Nur einen Finger. Konzentrieren Sie sich darauf." Stille breitete sich um ihn herum aus. Eine Stille, die ihn fast wieder hätte in die Dunkelheit zurückgleiten lassen. Aber da war immer noch die Hand, die ihn unerbittlich fest hielt und ihn nicht weg ließ. Und er wollte diesen Druck um seine Hand erwidern, er wollte, weil es ihm so viel Kraft spendete und so viel halt und weil es sich so richtig anfühlte.   "Seine Hand hat gezuckt" Die Stimme die nun sprach war dunkel und tief und eindeutig männlich. Sie löste ein angenehmes Kribbeln in seinem Körper aus und so etwas wie Erleichterung machte sich in ihm breit. Er war hier definitiv sicher. "Das ist ein gutes Zeichen.", sprach nun wieder die weibliche Stimme. "Herr Kon, ich werde jetzt ihre Reflexe testen. Wenn alles normal ist, wird es kurz etwas pieksen." Irgendetwas stach kurz darauf in eine seiner Zehen und er spürte seinen Fuß leicht zucken. Zu mehr war er nicht in de Lage. "Das sieht gut aus." Die Frau kam wieder näher zu ihm und blieb neben seinem Kopf stehen. "Herr Kon, ich weiß nicht, an wie viel sie sich erinnern. Sie sind in eine Schlägerei geraten und dann mit einem Messer attackiert worden. Die Wunde ist nicht besonders schlimm, aber Sie haben viel Blut verloren. Es scheinen keine Hirnschäden aufgetreten zu sein, demnach steht Ihrer vollständigen Genesung nichts mehr im Weg. Schlafen Sie noch etwas. Wenn Sie wieder aufwachen, sollten Sie in der Lage sein, sich zu bewegen." Und diese Sätze waren wie eine Erlösung, denn er konnte sich wieder fallen lassen und dem erholsamen Schlaf nachgeben, der ihn auch sogleich mit wohlwollenden armen umfing.   ~*~   Erst am nächsten Tag öffneten sich seine Augen endlich, was Kai mehr als erleichterte. Die Panikattacke, wie die Ärztin es später genannt hatte, bei dem sein ganzer Körper begonnen hatte zu zittern und zu zucken, war beängstigend mit anzusehen gewesen. Aber jetzt öffnete er, wie die Ärztin versprochen hatte, sogar die Augen. Sie waren noch etwas glasig und unfixiert, aber sie waren offen und das war die Hauptsache.   "Wie fühlst du dich?" Es kam nur ein leises Stöhnen aus seiner Kehle und selbst das klang krächzend. Also nahm Kai die Wasserflasche, gab davon etwas in ein Glas und half Rei auf, damit er einen Schluck trinken konnte.   Eigentlich sollte er unglaublich sauer auf dieses Häufchen Elend in seinem Arm sein. Und das war er im Prinzip auch, aber nicht jetzt. Nicht gerade. Seine Wut war zweitrangig, ausnahmsweise. Er hatte sich von Takao die Nummer besorgt, weil er sich Sorgen gemacht hatte. Tagelang schon war er mit einem merkwürdigen Gefühl aufgewacht und war auch damit wieder schlafen gegangen und nachdem sich Rei weiterhin nicht bei ihm gemeldet hatte, hatte er sich schließlich die Nummer besorgt. Nur um dann von seinen Eltern zu erfahren, dass er im Krankenhaus lag, weil er abgestochen worden war. Vierundzwanzig Stunden später befand er sich am Krankenbett seines Freundes und hatte kurz darauf mitbekommen, wie er das erste Mal wirklich aufgewacht war. Er würde wieder werden, das war das wichtigste. "Kai", krächzte es vom Bett und glasige Augen lagen nun auf ihm, verwundert und voller Liebe. Dennoch erschreckte es ihn, was er da sah. Die Augen wirkten neben der Erschöpfung stumpf und leer. Vielleicht lag es an der Ausgezehrtheit seines Körpers und seinem wahrscheinlich immer noch unklaren Geist, aber sein Freund wirkte nicht mehr, wie zu dem Zeitpunkt, als er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Irgendetwas an ihm war anders und das gefiel ihm gar nicht. "Schhh. Ich bin hier. Schlaf noch ein wenig."   Ganz sicher würde er ihn jetzt nicht mehr alleine lassen und der, der ihm das angetan hatte, würde dafür büßen.   ~*~   Diese Idioten! Diese verdammten Idioten! Was hatten die sich nur dabei gedacht? Nicht nur, dass sie sich selbst damit ins Unglück gestürzt hatten, es schadete auch massiv dem Ruf der Schule. Wie hatten sie ein Lichtkind angreifen können!? Und dann auch noch auf so eine feige Art und Weise! Es gab so viele Möglichkeiten jemanden herauszufordern, aber diesmal schien es einfach nur das Ausschalten eines möglichen Konkurrenten gewesen zu sein. Hirnlos und einfach nur dumm. Er war fassungslos und enttäuscht von ihnen allen. Natürlich ging es hart bei ihnen zu, er selbst war mehr als einmal mit einem Messer oder sonstigen Waffen angegriffen worden, aber das war intern geblieben! Dieser Chinese war ein Lichtkind und durfte nicht so angegangen werden. Was hatten die sich nur dabei gedacht!?   Er drängte seinen Ärger zurück, als er vor dem Krankenzimmer ankam. Normalerweise durften sie nicht in die Stadt, aber er als Mitglied des Nationalteams war so oder so öfter draußen und war ausgewählt worden, um den Verletzten zu besuchen. Natürlich übernahm Volkov das nicht persönlich, zumindest nicht, wenn kein Kamerateam sich gleich mit in das Zimmer quetschte, aber das war nicht sein Problem. Er tat, was man ihm sagte.   Er klopfte kurz an die Tür und trat dann ein. Was er sah, beeindruckte ihn nicht wirklich. Rei saß in seinem Bett und aß gerade das Mittagessen. Er war noch sehr blass und seine Hände zitterten, aber das war es auch schon. Ihm selbst war es bewusst, dass dieser Anblick bereits viele erschrecken würde, aber er hatte schon so viel schlimmeres gesehen und selbst erlebt, dass er das wirklich als harmlos empfand. Aber es durfte nicht bemerkt werden, dass das so war. Er durfte nicht unmenschlich wirken, zumindest nicht noch unmenschlicher, als er sowieso schon wirkte. Dennoch war er nicht dazu in der Lage, dem verwunderten Blick seines Gegenübers mit Mitleid zu begegnen, denn ehrlich gesagt wusste er nicht einmal, wie sein eigenes Gesicht auszusehen hatte, wenn er dieses Gefühl widerspiegeln wollte. "Yuriy?"   Offensichtlich reichte es schon, dass er überhaupt da war. Rei war so von dieses Tatsache eingenommen, dass er offensichtlich die fehlenden, aber eigentlich passenden Emotionen in dieser Situation nicht bemerkte. "Hallo Rei", antwortete er etwas steif und ging auf einen kleinen Tisch im Raum zu, um sich von dort einen Stuhl zu nehmen und sich an das Bett zu setzen. "Wie geht es dir?" Glücklicherweise gab es für solche Anlässe feste Skripte, denen man einfach nur folgen musste. Solcherlei Interaktion war ihm ehrlich gesagt zuwider, aber er hatte einen Auftrag und er würde Volkov nicht enttäuschen.   "Gut, denke ich. Was machst du hier?" Die Verwirrung stand dem Anderen ins Gesicht geschrieben. Alles was er tat schien ihn zu verwirren, was auf ihn selbst ein wenig seltsam wirkte, denn in seiner Welt war sein Verhalten vollkommen normal und meist sogar vorhersehbar, solange sein Gegenüber nichts unvorhergesehenes Tat. Und selbst dann gab es spezielle Regeln denen er folgte. Es gab für alles Regeln und das war gut so, denn ansonsten hätte er enorme Schwierigkeiten, sich überhaupt in einer Welt zurecht zu finden. Er mochte Regeln. Er holte ein Packung mit feiner Schokolade aus einem Beutel, den er mitgebracht hatte. "Ich wollte nach dir sehen.", sagte er schlicht. "Im Internat haben wir ein bisschen gesammelt um dir das hier kaufen zu können. Als Entschuldigung sozusagen, dass unsere Kameraden so etwas verwerfliches getan haben und natürlich im Sinne eines Genesungswunsches." Das klang wahrscheinlich zu steif, aber Rei schien das nicht zu interessieren. Er schaute ihn nur verwundert an, mit leicht geweiteten Augen und sah dann auf die Schokoladenschachtel. "Das... das wäre nicht nötig gewesen, ehrlich! Und macht euch keine Sorgen, mir ist klar, dass das einfach nur Schwarze Schafe waren und das nichts mit dem restlichen Internat zu tun hat." Wenn du wüsstest, dachte Yuriy nur bei sich. Natürlich war das mit der Sammelaktion eine absolute Lüge gewesen. Volkov hatte ihm die Schachtel in die Hand gedrückt und ihm aufgetragen, zu behaupten, es käme von den armen Internatskindern, die ja selbst kaum etwas haben. Innerlich verdrehte er die Augen über dieses Schmierentheater, aber natürlich zeigte er es nicht. Stattdessen lächelte er nur das Lächeln, das man von ihm erwartete, als Rei die Schokolade annahm. Ohne zu zögern öffnete er die Packung, doch statt sich selbst etwas zu nehmen, hielt er ihm die Schachtel wieder hin. Verwirrt hob er eine Augenbraue und besah sich die die dunklen Rechtecke vor sich. Was sollte er jetzt tun? War das eine Ablehnung des Geschenks? Das sähe dem Chinesen aber gar nicht ähnlich. "Magst du keine Schokolade?", kam es verwundert vom Bett, was den Russen nun vollkommen aus dem Konzept brachte. Das war in dem Skript, das er im Kopf hatte, aber nicht vorgesehen. Was wurde jetzt von ihm erwartet? "Doch", murmelte er und war selbst überrascht, wie unsicher er dabei klang. Hoffentlich fiel es seinem Gegenüber nicht auf. "Dann nimm dir ruhig ein Stück oder auch zwei." Anscheinend wurde erwartet, dass er sich etwas von dem teuren Zeug nahm. Aber warum? Das ergab doch gar keinen Sinn! Er wollte dennoch nicht auffallen und griff zu. Ja, er mochte Schokolade und er wusste nicht, wann er das letzte mal welche bekommen hatte. Zu Weihnachten wohl, dachte er bei sich, als er das kleine braune Täfelchen zu seinem Mund führte. An Weihnachten spendeten einige Bewohner der Stadt Geschenke und es wurde ein ziemliches Spektakel daraus gemacht. Er war sich nie so sicher ob er sich tatsächlich auf Weihnachten freute oder nicht, aber das war jetzt auch zweitrangig.   Gerade als er den ersten Bissen nahm, ging die Tür auf und er erstarrte, als er sah, wer da hinein kam. Kapitel 6: Emotionen -------------------- Rei sah verwundert auf, als jemand einfach ins Zimmer kam. Es gab eigentlich nur einen, der so unverfroren war und nicht klopfte. Sogleich hellte sich sein Gesicht deutlich auf und er entspannte sich etwas. "Kai!" Doch der sah ihn gar nicht erst an, sondern betrachtete seinen Besucher mit argwöhnischem Blick. "Das ist Yuriy. Ich hab dir doch von ihm erzählt." Natürlich war ihm klar, dass Kai längst wusste, wer da saß, schließlich hatte er mit ihm zusammen über ihn recherchiert, aber das musste Yuriy ja nicht wissen. "Yuriy, das ist Kai. Mein..." Oh Mist, nein, er konnte ihn nicht als seinen Freund vorstellen. Nicht nur, weil Kai etwas dagegen haben würde, sondern auch, weil der rothaarige Russe diese Information sicherlich nicht gut aufnehmen würde. "Lebenspartner", kam es dann aber kalt von Kai, woraufhin Reis Herz gleichzeitig vor Angst als auch vor schierer Freude einen Sprung machte. War Kai eifersüchtig, oder warum steckte er sein Territorium plötzlich so ab? Er war sich bewusst, dass es nicht anderes als Besitzansprüche waren, die er da gerade markierte. Ihm sollte es recht sein. Ein kurzer Blick in das stoische Gesicht seines ersten Besuchers, brachte nicht wirklich Erkenntnis über dessen Gedanken. Es kam ihm nur so vor, als wäre die Raumtemperatur gerade um einige Grad gefallen. "Yuriy hat mir Schokolade mit gebracht.", versuchte Rei die Stimmung ein wenig aufzulockern und hielt auch Kai die Schachtel hin. Doch der lehnte mit einem Kopfschütteln ab und setzte sich gelassen an das Fußende des Bettes, legte sogar eine Hand auf eins seiner Beine. Von ihm aus konnte sein Freund öfter eifersüchtig sein. Die beiden Russen ließen sich allerdings nicht aus den Augen, bis Yuriy dann seinen Blick auf Rei warf. "Du sagtest du seist nicht schwul." Rei seufzte genervt. War ja klar gewesen. Natürlich war genau das die jetzt gerade wichtigste Information, die man erfragen konnte. Manchmal fragte er sich wirklich, ob alle Menschen in dieser Hinsicht gleich waren. "Bin ich auch nicht. Es gibt ein paar Milliarden Abstufungen zwischen hetero- und homosexuell. Ich neige mehr in die bisexuelle Richtung." Kurz legte sich angespannte Stille über den Raum, ehe Yuriy wieder das Wort ergriff: "Ich sollte dann wohl jetzt gehen." Es lag etwas angeekeltes in der Stimme des Weltmeisters, als er sich erhob. "Du musst nicht gehen. Also... du kannst ruhig bleiben. Mir macht das nichts und du bist ja gerade erst gekommen." Doch Yuriy winkte nur ab und ging bereits in Richtung der Tür: "Krankenhäuser sind sowieso kein Ort, an dem ich gerne bin. So stehe ich nicht unter dem Druck mir selbst eine Ausrede einfallen lassen zu müssen, um verschwinden zu können." Und dann fiel die Tür ins Schloss und er war weg. Rei seufzte und lehnte sich dann in seinem Bett wieder zurück. "Merkwürdiger Kauz...", murmelte er. War er jetzt wegen seinem Outing gegangen und hatte die Krankenhausphobie als Ausrede genommen oder war das die Wahrheit gewesen? Er war sich nicht sicher. Aber das machte ihm gerade nicht unbedingt so große Sorgen, wie die Befürchtung, dass im Internat jetzt herum gehen würde, dass er einen männlichen Partner hatte. Das könnte Probleme geben und das konnte er beim besten Willen nicht auch noch gebrauchen. "Mach dir keine Sorgen. Er wird nichts sagen.", kam es plötzlich erstaunlich einfühlsam von Kai. Verwirrt wandte Rei seinen Blick ihm zu: "Wie kommst du darauf?" "Weil es ihn nicht interessiert. Der Ekel war aufgesetzt. Wahrscheinlich hat er gerade nur ein gesellschaftliches Protokoll erfüllt." Rei legte die Stirn in Falten, skeptisch über diese Ausführung. Dann aber dachte er daran, wie ähnlich Kai und Yuriy sich sein konnten und vielleicht verstand sein Freund solche Menschen einfach besser als er selbst. "Warum warst du eigentlich eifersüchtig?", fragte Rei dann grinsend, sich vollkommen bewusst, dass er den Russen damit reizte. Es war ihm schlicht und ergreifend egal, genau wie der eiskalte Blick, den er sich damit einfing. Wie sehr hatte er Kai vermisst. "Ich war nicht eifersüchtig!" Jeder Andere hätte jetzt wohl nachgegeben, aber Rei war nicht 'andere'. Er hatte keine Angst vor Kai und würde jetzt sicherlich nicht zurückschrecken. "Oh und wie du das warst!" Plötzlich hatte er das Gesicht seines Freundes direkt vor sich. Dunkles Rot schimmerte ihm aufreizend entgegen. "Muss ich dir etwa erst Manieren beibringen?" "Musst du wohl", schnurrte Rei ihm entgegen und spürte im nächsten Moment weiche Lippen, die sich fordernd auf seine legten. ~*~ Yuriy verließ das Krankenhaus mit gemischten Gefühlen. Einerseits war er erleichtert, endlich wieder dort raus zu sein. Er hatte etwas gegen Krankenhäuser. Sie erinnerten ihn an das Labor im Internat. Andererseits war er einfach nur geschockt Kai gesehen zu haben. Er hätte sich niemals erträumt ihn noch einmal zu sehen. Damals hatte man urplötzlich einen Verwandten, angeblich seinen Großvater, gefunden und er war dann zu dem gezogen. Nach Japan. Tzz... Kai war genauso Russe wie er, warum sollte der einen japanischen Großvater haben? Das stank zum Himmel das ganze. Dennoch... gerade weil er dann nach Japan abgereist war, hatte er nicht daran geglaubt ihn je wieder zu sehen. Es hatte ihn vollkommen unvorbereitet getroffen und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Es löste komplizierte Gefühle in ihm aus, die er nicht verarbeiten konnte oder auch nur wollte. Bilder flackerten vor seinem inneren Auge vorbei, die er nicht sehen wollte. Er war Kai nicht böse, dass er damals gegangen war. Vor allem nicht nachdem, was kurze Zeit vorher vorgefallen war. Er wäre auch gegangen, wenn er es gekonnt hätte. Jeder würde gehen, wenn plötzlich jemand kam und sie adoptierte. Das geschah aber fast nie. Trotz, dass er das wusste und auch damals schon gewusst hatte, hatte er sich verraten gefühlt. Kai hatte sie alle allein gelassen, einfach so und hatte sich dann nie wieder gemeldet. Und jetzt kam dieses Gefühl des Verrats wieder, denn Kai hatte nicht einmal auf ihn reagiert, hatte einfach nur so getan, als würden sie sich nicht kennen. War ihm seine Vergangenheit etwa peinlich? Schämte er sich dafür, einmal mit jemandem wie ihm befreundet gewesen zu sein? Mit ihm ein Zimmer geteilt zu haben? Wollte er das vor seinem noblen Freund verbergen? Yuriy schnaubte verärgert. Sollte er doch machen was er wollte. Es war sowieso egal. Kai war keiner von ihnen mehr. Kai war jetzt auch ein Lichtkind, egal zu welchem Preis ihn dieser ominöse 'Großvater' bei sich aufgenommen hatte, es war nicht zu den Bedingungen des Internats. Er konnte es in seinen Augen sehen. Er war frei, er hatte ein Leben. Seine Augen waren jetzt so viel lebendiger als sie es damals gewesen waren. Es sollte ihn freuen, das wusste er. Es sollte ihn freuen, dass einer seiner Kameraden zurück ins Leben gefunden hatte. Doch sein eigenes Herz kannte wohl nur Bitterkeit und Missgunst. Er fühlte sich verraten, doch es war egal, es änderte nichts. Wenn er ihn nicht kennen wollte, dann sollte es eben so sein. Kai war sowieso nicht mehr der, den er einmal gekannt hatte. Er selbst war ja auch nicht mehr der Yuriy, der er damals gewesen war. So waren sie so oder so nur zwei Fremde, die sich über den Weg gelaufen waren und so sollte es auch weiterhin bleiben. Denn es war ihm nicht erlaubt, mit einem Lichtkind unnötig zu interagieren. Yuriy merkte nicht, wie das Stück Schokolade, dass er noch immer zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, langsam zu schmelzen begann. ~*~ Kai fühlte sich merkwürdig, als er einige Stunden später das Krankenhaus verließ. Das Zusammentreffen mit diesem Yuriy hatte ihn mehr überrascht und mitgenommen, als er es zugeben wollte. Kurz war das Gefühl von Vertrautheit in ihm aufgekommen, doch es war verschwunden, als er in die Eiskristalle gesehen hatte, die andere wohl als Augen bezeichneten. Er hatte in seinem Leben noch nie jemanden angesehen, der so tot gewirkt hatte. Die ungewöhnliche, hellblaue Farbe, unterstützte das Gefühl von Kälte nur noch. Dennoch kam ihm auch dieser Ausdruck seltsam vertraut vor, aber in einem anderen Kontext. Es hatte eine weile gedauert, bis er dahin gekommen war, doch dann war ihm klar geworden, dass er selbst so ausgesehen hatte, kurz, nachdem er Russland verlassen hatte. Anfangs hatte er Spiegel vermieden, genauso wie Fotos oder irgendetwas, worauf er sonst seine eigenen Augen sehen konnte. Er hatte diesen Ausdruck verabscheut. Er hatte ihm gezeigt, dass die, bei denen er gewesen war, gewonnen hatten und das war etwas, was er nicht hatte akzeptieren wollen. Heute waren seine Augen zwar immer noch kalt, aber fest entschlossen und nicht gewillt irgendjemandem oder irgendetwas nachzugeben. In seinen Augen ruhte ein Feuer, dass er mühsam über die letzten Jahre entfacht hatte und nun pflegte, damit es nicht wieder erlosch. Das Eis in Yuriy Augen hingegen war starr und tot und es verschlang alles auf seinem Weg. Seit er bei Rei war, hatte der Ausdruck in seinen Augen sich wieder etwas normalisiert. Das helle Funkeln, das er so sehr an ihm mochte, war wieder gekehrt und nur wenig der dunklen Schatten war noch geblieben. Doch jetzt wo er Yuriy gesehen hatte, war ihm klar, woher diese Schatten gekommen waren. Mit diesem Internat stimmte etwas nicht und er würde herausfinden was. Irgendetwas in ihm warnte ihn davor, alldem auf den Grund zu gehen. Er hatte ein schlechtes Gefühl dabei, doch er nahm an, dass ihm einfach nur unwohl dabei war, gegen seinen Großvater aufzubegehren und mitten im Schuljahr sowohl das Land als auch die Schule zu wechseln. Das war riskant und könnte ihn die Chancen auf eine gute Universität kosten, aber das war es ihm wert. Er würde jetzt sicherlich nicht wieder zurückfliegen und Rei hier seinem Schicksal überlassen. Glücklicherweise hatte er mehr als genug Geld um den Internatsvorstand davon zu überzeugen ihn nicht nur dort zur Schule gehen zu lassen, sondern ihn auch dort wohnen zu lassen und dann würde er sehen, was hinter der Fassade dieser angeblich so perfekten Schule eigentlich ab ging. Dass er sich in irgendeiner Weise auf Reis Eltern verlassen konnte, bezweifelte er. Die bekamen es kaum hin ihren eigenen Sohn täglich zu besuchen, ihnen würde nicht einmal auffallen, dass mit Rei etwas nicht stimmte, zumindest so lange, bis es zu spät war. Nein, das musste er selbst in die Hand nehmen, beziehungsweise zusammen mit Rei. Denn nur wenn er ihm zeigte, dass etwas ganz gewaltig schief lief, konnte er ihn davor bewahren in ein dunkles Loch zu stürzen, aus dem er ihn nicht mehr so einfach heraus holen konnte. Kapitel 7: Ankunft ------------------ Yuriy   "Hiwatari ist also wieder da.", kam es als Feststellung von Sergei. "Ja." Mehr würden sie von ihm nicht hören. Sie saßen gerade in einem kleinen Besprechungsraum und warteten auf Volkov, um mit ihm die Trainingspläne des nächsten Monats zu besprechen. Außerdem rückte Weihnachten immer näher und dafür mussten ebenfalls Vorbereitungen getroffen werden. Das Spektakel musste vor der Außenwelt eben wie immer Eindruck schinden. "Wer ist dieser Hiwatari? Der Name kommt mir bekannt vor." Das war Boris gewesen. Natürlich kannte der Kai nicht, schließlich war er erst nach dessen Adoption zu ihnen gestoßen. Er hatte sich erstaunlich schnell hochgearbeitet. Innerhalb eines Jahres war er zum Eliteteam aufgestiegen, aber vielleicht war das auch kein Wunder. Es gingen Gerüchte um, dass er vorher an illegalen Boxkämpfen teilgenommen hatte, die Disziplin, in der er heute Weltmeister war. "Natürlich sollte dir der Name bekannt vor kommen.", erklärte Yuriy kühl und mit deutlichem Tadel in der Stimme. "Hast du im Unterricht nicht aufgepasst?", kam es dann auch gleich von Ivan. Der kleine Besserwisser konnte die Klappe natürlich nicht halten, aber das war dem Anführer der vier nur Recht. So brauchte er nicht zu reden. "Sein Großvater ist Mitbegründer des Internats. Er hat die Gebäude hier gestiftet." Kurz flog so etwas wie Verwunderung über die sonst so stoischen Züge ihres neusten Teammitgliedes. "Sein Großvater? Was macht der Schnösel dann hier?" Sergei und Ivan lachten beide ob dieser Aussage, was ihnen einen wütenden Blick von Boris einbrachte. Da die beiden so bald nicht damit aufhören würden, sprang Yuriy für sie ein: "Red nicht von etwas, wovon du keine Ahnung hast." Das war schärfer gekommen als beabsichtigt und brachte die anderen beiden sofort zum Schweigen. Boris verstand allerdings immer noch nicht, weshalb der Anführer der Gruppe fortfuhr: "Er mag mittlerweile ein Lichtkind und ein reicher Schnösel sein, aber glaub bloß nicht, dass er mit dir nicht den Boden wischen könnte, wenn er wollte. Unterschätz' ihn nicht." "Als er noch hier war, war er der Gruppenführer. Er hat uns in all unseren Disziplinen schlagen können.", kam es von Ivan. Wieder kurze Verwunderung und ein ungläubiger Blick, der an den Teamcaptain gerichtet war. Eine stumme Frage, die Yuriy ihm mit stoischer Miene beantwortete: "Wir waren die härtesten Konkurrenten, aber ja, auch mich hat er geschlagen. In allen Disziplinen. Er hat in den letzten Jahren wahrscheinlich mehr verlernt, als wir je konnten." "Der Tod seiner Eltern hat ihn traumatisiert. Er hat jede freie Sekunde trainiert, bis er der Beste war. Er konnte es noch nie leiden, irgendwas nicht zu können. Liegt ihm im Blut.", kam es von Sergei. "Er hat trainiert wie ein Irrer.", schnaubte Ivan. Doch Boris schien das nicht wirklich zu beeindrucken. Natürlich nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwen gab, der ihn in seiner Meisterdisziplin schlagen konnte. Yuriy konnte auch nicht wirklich sagen, ob Kai das heute immer noch konnte. Er wusste nicht, wie weich er geworden war, wie verwöhnt. "Aber wenn er der Enkel von Hiwatari ist, warum war er dann hier? Und dann auch noch so lange, dass er sich an die Spitze arbeiten konnte?" "Tja...", entkam es Yuriy. "Das ist das große Mysterium." Weiter konnten sie darüber nicht diskutieren, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür und Volkov trat herein.   ~*~   Kai   Langsam stellte er seine Tasche ab und sah sich um. Es war ein kleiner Raum mit zwei Betten, zwei Schreibtischen und einem Schrank, in dem normalerweise nicht einmal seine Jacken Platz gefunden hätten. Er hatte nur das nötigste mit genommen, schließlich hatte er es eilig gehabt, nach der Nachricht, dass Rei im Krankenhaus lag. Aber er befürchtete dennoch, dass die Sachen, die er dabei hatte, zu schick waren. Er würde hier wahrscheinlich auffallen, wie ein bunter Hund. Er war sich nicht sicher, warum ihn das interessierte, aber das tat es definitiv. Ihm gefiel das nicht, aber er konnte es kaum ändern.   Dieses Zimmer war merkwürdig und nach kurzer Zeit fiel ihm auch auf, was es war: Es fehlten jegliche persönlichen Dinge. Bilder, Poster.. ja sogar Kleidung. Hatte dieser Volkov ihm nicht gesagt, es gäbe kein Einzelzimmer mehr? Neugierig ging er zum Schrank und schob eine Tür auf. Da hing Kleidung. Säuberlich zusammengefaltet und aufgehängt. Es war nicht viel, aber definitiv vorhanden. Kurz legte er die Stirn in Falten. Dieser Ort wurde ihm immer unsympathischer und das lag nicht daran, dass ihn das alles an die strenge Disziplin seines Großvaters erinnerte. Er hatte trotz allem immer auch persönliche Dinge besitzen dürfen. Zumindest ein paar. Wer das wohl war, mit dem er zusammen lebte? Nun, nerviger als Kinomiya würde sein Mitbewohner kaum werden können. Er würde es wohl oder übel abwarten müssen, denn aus diesem Zimmer, konnte er rein gar nichts, über seinen Mitbewohner herausfinden. Nun, es wurde Zeit sich hier einzurichten. Für die nächsten Monate, würde das hier sein zu Hause sein. Ein Schauer lief seinen Rücken herab bei diesem Gedanken, aber er ignorierte ihn. Genau wie das nagende Gefühl, dass ihm ständig im Nacken saß. Er ignorierte es alles und das ohne, dass er es wirklich aktiv bemerkte. Nur die kleine Stimme nicht, die ihm ständig zuflüsterte, dass irgendetwas merkwürdig war, aber das bezog er nicht auf sich. Es ging hier schließlich um Rei und nur um den. Worum auch sonst?   ~*~   Rei   Gemeinsam mit Kai saß er am Mittagstisch und aß. Es war wie letztes Jahr in Japan und es machte ihn glücklich. Er musste noch immer auf sich achten, hatte aber nach zweiwöchigem Aufenthalt im Krankenhaus darauf bestanden, wenigstens den normalen Unterricht wieder zu besuchen. Auf den Kampfsport würde er noch einen ganzen Monat verzichten müssen, was ihm zusetzte. Die Anwesenheit seines Freundes machte das aber zum größten Teil wieder wett. Heute war der erste Tag, an dem Kai das Internat besuchte. Erst ab morgen ging für ihn der Unterricht los, so hatte er Zeit, sich in Ruhe umzusehen und sich etwas einzuleben. "Du hattest recht, als du in deinen Briefen geschrieben hast, die Stimmung hier sei merkwürdig. Du hast allerdings noch untertrieben." Und irgendwie hatte Kai damit schon recht. Es war aber auch enorm schwer zu beschreiben. Die Kinder und jugendlichen in der großen Mensa schienen sich aufgeregt und ganz normal zu unterhalten. Wenn man aber genauer hinsah, bemerkte man bald, dass sich einzelne immer wieder hektisch umsahen und viele zusammengekauert über ihrem Essen hingen und so aussahen, als wollten sie die Nahrung im Notfall mit ihrem Leben verteidigen. Das war gruselig, aber vielleicht ja normal für ein Heim. Er hatte oft gehört, dass es in solchen Kinderheimen rau zu ging. Aber den Eindruck hatte er ehrlich gesagt eher nicht. Es sah nicht so aus, als wären die Kinder untereinander das Problem, aber die Lehrer taten auch nichts Verdächtiges. Es war enorm schwer einzuordnen was genau hier nicht richtig war. "Ich wusste nicht, wie ich es beschreiben sollte.", antwortete Rei deshalb wahrheitsgemäß. Noch einmal ließ er den Blick kurz über den Raum schweifen, ehe er sich seinem Gegenüber voll zuwandte.   "Ich bin dir ehrlich dankbar, dass du extra wegen mir hergekommen bist, aber du weißt, dass du das nicht machen musst. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen." Sie hatten diese Diskussion schon einige Male geführt und er hoffte, dass Kai endlich einsah, dass er ganz und gar nicht schwach war. Doch der andere war genauso stur wie er selbst und so wussten sie beide, dass niemand von ihnen nachgeben würde. "Hör auf dich darüber aufzuregen. Ich bin hier und ich gehe sicherlich nicht mehr. Oder willst du etwa, dass ich verschwinde und dich hier wieder alleine lasse?" "Nein! So habe ich das sicherlich nicht gemeint. Ich freue mich, dass du hier bist." Ein siegessicheres grinsen breitete sich auf dem Gesicht seines Freundes aus und zeigte ihm, dass er sich hatte austricksen lassen. "Siehst du? Und deshalb bleibe ich." Arroganter Idiot, dachte Rei nur bei sich, musste aber dennoch schmunzeln. Wie sehr er ihn doch vermisst hatte. "Tu, was du nicht lassen kannst. Aufhalten kann ich dich ja doch nicht. Aber wehe du ziehst hier eine Solonummer durch! Wir sind schließlich ein Team." Kurz versteifte sich die Linie um Kais Kiefer deutlich, was Rei irritierte, denn das war eigentlich ein Zeichen von Ärger. Hatte er etwa tatsächlich vor gehabt, das ganze auf eigene Faust zu machen? Einerseits wäre es typisch, aber andererseits musste er doch gewusst haben, dass Rei das nicht einfach so zulassen würde, oder? Nein, Kai war zu intelligent um so naiv zu sein, zu glauben, dass er selbst sich nicht an seine Fersen heften würde. Aber was war es dann? Kai nickte allerdings zustimmend und aß sein Essen weiter, als wäre nichts gewesen. Merkwürdig. "Was denkst du, wie werde ich am schnellsten in die Gemeinschaft hier aufgenommen?", fragte sein Gesprächspartner dann. Rei war sich nicht sicher, ob er das machte um das Gesprächsthema zu wechseln oder ob keine tiefere Absicht dahinter steckte. Er musste wohl später mal vorsichtig nachhaken, ob alles in Ordnung war, aber gerade war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. "Ich denke, das wird am Besten über deinen Mitbewohner gehen. Du hast ein Doppelzimmer, nicht? Ist perfekt um dem anderen etwas näher zu kommen. Sobald du dich mit ihm angefreundet hast, wird er dich anderen vorstellen und du wirst hier Anschluss finden." Ganz im Gegensatz zu ihm selbst und das wussten sie beide. Kai sprach es nicht an, aber obwohl er jetzt hier war, würden sie sich, wenn alles nach Plan liefe, nicht wirklich viel sehen. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen, wie sie das managen wollten, aber es würde eine Herausforderung werden. Rei war ein Außenseiter. Wenn Kai sich weiterhin so offensichtlich mit ihm treffen würde, würde er nie in die Gemeinschaft der anderen Heimkinder aufgenommen werden. Das war frustrierend. "Wer ist überhaupt dein Mitbewohner?", fragte Rei, um sich selbst abzulenken. "Ich habe ihn noch nicht gesehen. Aber du hast recht, über den wird es sicherlich am Besten gehen." "Wahrscheinlich siehst du ihn heute nach dem Unterricht." Bevor die Mittagspause zu Ende gehen konnte, wollte Rei seinen Freund aber noch etwas fragen. Es war nur ein wenig heikel und er war sich nicht ganz sicher, ob er das wirklich ansprechen sollte. Es war dennoch notwendig und so nahm er etwas Mut zusammen: "Was... ist eigentlich mit deinem Großvater?" Halb erwartete er einen Wutausbruch, wenn er ehrlich war, aber die logischere Variante war, was Kai jetzt auch tat: Er sah ihn mit ein wenig Verwunderung, aber ansonsten keinerlei Gefühlsregung an. "Was sollte mit ihm sein?" Beinahe hätte Rei geseufzt. "Tu nicht so, als würdest du dir nicht selbst Sorgen darum machen. So wie das klang, bist du einfach abgehauen, ohne ihm Bescheid zu geben. Er wird wütend sein, wenn er das raus findet." Doch er bekam nur ein Schulterzucken als Antwort: "Er denkt ich wäre auf einem Symposium oder so etwas." Das war keine zufriedenstellende Antwort, wenn er ehrlich war. Und wenn er sich damit schon nicht abspeisen ließ, würde es der Alte auch nicht tun: "Was normalerweise wie lange dauert? Ein paar Tage? Ihm wird wohl auffallen, wenn du einfach nicht mehr zurück kommst. Solltest du ihm nicht irgendwie Bescheid geben? Ich weiß ja nicht, wie das bei euch läuft, aber du wirst Volkov ziemlich viel Geld in den Rachen geworfen haben, damit er dich hier wohnen lässt, nicht? Dein Großvater kann doch sicherlich deine Bankkonten einsehen." Ein Schnauben war für eine Weile alles, was er hörte, weil Kai sich, wahrscheinlich absichtlich, ein zu großes Stück von seinem Essen in den Mund schob. Daraus resultierte, dass er gar nicht in der Lage war zu antworten. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sein 'Opfer' abwarten, aber finster anzustarren, bis es wieder in der Lage war zu reden. "Ich regle das schon, also reg dich ab. Das geht dich auch absolut nichts an." "Natürlich geht es mich was an! Ich bin dein..." Und er brach ab. Nicht nur, weil Kais Augen ihn plötzlich stechend durchbohrten und eindeutig davor warnten, jetzt weiter zu reden, sondern auch, weil ihm plötzlich sehr bewusst wurde, wo sie hier eigentlich waren. Das war kein ruhiger, sicherer Ort, an dem sie ungestört über alles reden konnten. Nein, sie saßen hier mitten in der Mensa, mit hunderten von anderen Menschen um sie herum. Und er hätte sich beinahe verquatscht... Aus neuer Gewohnheit heraus, hatte er mit Kai auf russisch gesprochen, was bedeutete, dass wirklich alle ihn hätten verstehen können. Das war knapp gewesen. So nahm er sich etwas zurück, nahm den Druck aus der Stimme und ließ die eben noch angespannten Schultern fallen. "Ich mache mir nur Sorgen. Tut mir leid." "Das ist mein Leben, Rei. Darum brauchst du dir keine Sorgen zu machen." Diesmal war es sein Kiefer, der sich versteifte. Aber hier war definitiv nicht der richtige Ort, um sich zu streiten. Allerdings würde er Kai irgendwann sicherlich einmal fragen, warum er eigentlich glaubte, dass ein Lebenspartner nichts mit dem Leben seines Partners zu tun hatte.   ~*~   Kai   Er war immer noch ein wenig aufgekratzt von dem Gespräch mit Rei, als er am Abend zurück in sein Zimmer kam. Sein Zimmer... diese Worte fühlten sich komisch an, als er genauer darüber nachdachte. Es war eigenartig, wie schnell sich dieser Begriff in seinem Bewusstsein manifestiert hatte. Sein Zimmer... Dabei war es doch gar nicht seines. Es war im Prinzip gemietet. Wenn er das Geld bedachte, was er dafür bezahlt hatte, war es wahrscheinlich das ganze Gebäude, was er gemietet hatte... oder vielleicht auch gleich gekauft. Eine absurd hohe Summe, die er da investiert hatte, aber das war es ihm wert gewesen. Er hatte das Geld sowieso. Er brauchte sich darum keine Gedanken zu machen. Worum er sich Gedanken machte, war sein Großvater. Er hatte es vor Rei nicht zeigen wollen, um ihm keine Sorgen zu machen, aber auch, weil er einfach nicht darüber reden wollte. Wenn er so darüber nachdachte, war es vielleicht nicht sehr intelligent gewesen, sein Bankkonto zu drei Vierteln leer zu räumen. Er musste nämlich befürchten, dass das eventuell das letzte Geld gewesen war, was er je von seinem Großvater bekommen hatte. Allerdings... war das vielleicht bald kein Problem mehr. Darüber würde er sich aber morgen erst wieder Gedanken machen, denn heute Abend galt es, seinen Mitbewohner um den kleinen Finger zu wickeln. Er mochte sozial nicht wirklich geschickt sein, aber er war nicht schlecht darin, andere zu manipulieren. Mit etwas Glück bekam er einen Zimmergenossen, bei dem er einfaches Spiel haben würde. Bei jedem anderen war es nur eine Frage der Zeit, bis er ihn knackte. Und wenn nicht, dann suchte er sich eben ein anderes Opfer. Irgendein Kind, das labil genug war, um ihm leicht zu vertrauen, würde er schon finden. Und wenn alle Stricke rissen, musste er eben jemanden bezahlen, damit der ihn in die Gemeinschaft hier einführte. Denn, wenn er eines in seinem bisherigen Leben gelernt hatte, dann, dass man mit Geld so ziemlich jeden kriegen konnte, man musste nur genug anbieten. Und wie hoch konnte der Preis eines Heimkindes schon sein? Für die waren 12000 Yen die Welt. Für ihn war das fast nichts. Er würde das schon hinbekommen. Kapitel 8: Mitbewohner ---------------------- Yuriy   Es war der Abend des Tages, an dem Kai bei ihnen eingezogen war. Sein Training war gerade beendet und wie immer, stand er danach mit seinem Team unter der Dusche. Das Training war oberflächlich normal verlaufen, aber in seinem Inneren war es unruhig. Volkov hatte eine Entscheidung getroffen, die er durchaus nachvollziehen konnte, aber sie passte ihm nicht und er selbst wagte es normalerweise nicht einmal daran zu denken, dass eine Entscheidung von Volkov ihm nicht passte.   "Denkst du, du bekommst das hin?", fragte Sergei von gegenüber. Was für eine Frage. "Natürlich." Er ließ seine Stimme absichtlich etwas kühler und schneidender klingen. Sein Befehlston. Die anderen sollten es nicht einmal wagen, ihm irgendeine Art der Schwäche zu unterstellen. Er hatte bisher alle seine Aufträge ausgeführt, dann sollte er auch das schaffen. "Ob Volkov es tatsächlich schafft, dass niemand sich verrät? Einige hier kennen Hiwatari." Yuriy zuckte auf diese Frage nur gleichgültig die Schultern. Das war nicht sein Problem, auch wenn es dann an ihm hängen bleiben würde, das wieder gerade zu biegen. Aber das würden auch bald die anderen Kinder hier wissen, weshalb er wirklich hoffte, dass die genug Angst vor den Konsequenzen hatten, dass sie nichts verraten würden. "Ich verstehe das Alles nicht wirklich." Es war kein Wunder, dass Boris das sagte. Er konnte das nicht verstehen. Wie auch? Er kannte Kai nicht. "Dann hat er eben sein Gedächtnis verloren und weiß nicht mehr, dass er schon mal hier war, aber warum ist das so ein großes Problem? Und warum ist er dann überhaupt wieder hier? Das ist absolut unlogisch. Wie hat er sein Gedächtnis überhaupt verloren?" "Er hat es nicht verkraftet.", plapperte Ivan auch gleich los. Natürlich hielt der nicht seine Klappe, aber das war glücklicherweise nicht sein Problem. Er musste allerdings auch selbst gestehen, dass es unfair wäre, Boris als einzigen im Dunkeln zu lassen. Wenn Ivan das erledigte, musste er sich nicht darum kümmern. "Was nicht verkraftet?" "Das, was wir alle schon verkraften mussten." Eine kurze, andächtige Stille legte sich über den Raum. "Er war schwach. Zu schwach. Danach ist er in eine Art Schockstarre verfallen. Er hat nicht einmal mehr gegessen. Hiwatari Senior hat ihn dann kurz darauf abgeholt. Keine Ahnung, warum er das Privileg hatte, adoptiert zu werden. Aber er war schon immer intelligent und zielstrebig und so was. Wahrscheinlich war der Alte der Meinung, dass er zu nützlich wäre, um ihn einfach wegzuwerfen, wie ein kaputtes Spielzeug." Ja, das war so ziemlich die bestehende Meinung. Es war nur die Frage, ob die beiden wirklich verwandt waren. Das wusste keiner so recht und wahrscheinlich würde man das auch nie erfahren. Die meisten, Yuriy selbst auch, waren der Meinung, dass sie es nicht waren. Kein Verwandter tauchte so plötzlich auf, vor allem nicht zu so einem Zeitpunkt und rettete einen von ihnen. Solche glücklichen Zufälle gab es in ihrer Welt nicht. Das war kompletter Unsinn. Aber vielleicht war für sie alle auch die Alternative zu dieser Theorie einfach unerträglich. Denn, wenn sie tatsächlich verwandt waren, hieße das, dass sein Großvater ihn all die Jahre hier behalten hatte. Hier, in diesem dunklen Verlies, wo sein eigener Enkel vollkommen auf sich allein gestellt war und zusätzlich auch noch in höchster Lebensgefahr. Keiner von ihnen wusste genau, was mit den Kindern passierte, die für unfähig gehalten wurden, aber das auch nur, weil sie es nicht wissen wollten. Es wäre wahrscheinlich nicht schwer, das herauszufinden, aber es ging sie nichts an und damit beließen sie jedwede Nachforschung. "Das erklärt aber immer noch nicht, warum er wieder hier ist." Yuriy schnaubte, was die anderen nicht hören konnten, da das Wasser der Dusche, solch leise Geräusche verschluckte. "Das ist doch offensichtlich." Sie hatten ein Recht es zu erfahren, auch wenn es sie eigentlich nichts anging. Aber er brauchte wahrscheinlich ihre Unterstützung, wenn er seinen neuen Auftrag erledigen sollte. Sein Team sollte also eingeweiht sein. Sie mussten nur nicht alles wissen. "Was ist passiert, bevor er her gekommen ist?" Ratlose Blicke ruhten auf ihm, das konnte er spüren. Sergei war es dann schließlich, der wieder das Wort ergriff: "Dieser Chinese ist doch abgestochen worden, oder?" Sein Teamkamerad war nicht in der Lage, die leichte Verachtung aus seiner Stimme zu verbannen. Dass er diesen Kampf verloren hatte, war ein Zeichen von Schwäche. Sie alle waren schon mehrfach angegriffen worden und nicht selten auch mit Messern. Wer das nicht ab konnte, war hier definitiv falsch, aber er sah ein, dass es für Außenstehende schwierig war, sich an diese Regeln zu gewöhnen. Hier hieß es eben 'friss oder stirb' und Letzteres war durchaus wörtlich gemeint. Er fragte sich bis heute, wie Volkov die Toten vor der Presse verbergen konnte, aber er nahm an, dass nach Heimkindern nicht wirklich jemand fragte und wenn doch, dann waren sie eben adoptiert worden, von Personen, die nicht genannt werden wollten. Die angebliche Adoptionsrate in diesem Heim war hoch, dabei hatte er selten wirklich einmal eine mitbekommen und er war eigentlich über alles informiert, was hier vor sich ging. "Das heißt, er und der Chinese stehen sich so nah, dass er wegen ihm hier ist?", fragte Boris skeptisch. "Richtig." Eine merkwürdige Stille legte sich über den Raum und er konnte die Frage, die sich in den Köpfen seiner drei Teamkameraden bildete, förmlich hören. Wie konnten zwei Menschen, sich so nah stehen, dass man so etwas für den anderen tat? Er selbst fragte sich das auch, aber die beiden liebten sich ja anscheinend. Eine Emotion, mit der er selbst nicht wirklich etwas anfangen konnte, wie so ziemlich mit allen anderen Emotionen. Aber diese eine, diese spezielle, verstand er noch weniger. Freude, Trauer, Wut, Angst.. all das konnte logisch erklärt werden. Aber Liebe? Liebe war ein irrationales Gefühl, das offensichtlich merkwürdige Dinge anstellte. Nichts, was er je verstehen würde.   Die anderen stellten ihre Frage nicht und er antwortete ihnen nicht darauf. Das ging sie nichts an. Niemand musste wissen, dass die beiden auf das gleiche Geschlecht standen. Das würde sich viel zu schnell hier verbreiten und viel zu viele Probleme machen. Sie redeten alle nicht viel und waren hauptsächlich nur unter sich, wegen dem Sonderstatus, den sie aufgrund ihrer Titel 'genossen', aber das hieß nicht, dass allein das Aussprechen dieser Tatsache, dazu führen konnte, dass es jemand mitbekam, der es anderen erzählen würde. Ob es jetzt ein Außenstehender oder jemand innerhalb des Teams, war dabei gleich. Was ausgesprochen wurde, konnte weitergegeben werden. Es wunderte ihn sowieso, dass Kai so offen damit umgegangen war. Ob er sich doch noch an Einzelheiten erinnerte? "Warum bist ausgerechnet du eigentlich sein Aufpasser?", fragte Bryan weiter. Seine Neugierde schien heute wirklich nicht gestillt werden zu können. Doch diesmal war diese Information so intim, dass nicht einmal Ivan es wagte, das Wort zu ergreifen. Sie waren einmal Freunde gewesen. Das war die schlichte Wahrheit und deshalb befürchtete Sergei auch, dass er das nicht schaffen würde. Volkov hingegen war der festen Überzeugung, dass er es genau deshalb als einziger konnte. So ein törichter Mann. Seit damals waren Jahre vergangen und Kai erinnerte sich nicht einmal daran. Es war heute alles anders. "Wir waren schon einmal Zimmergenossen." Seit damals hatte er keinen Mitbewohner mehr gehabt. Ein Privileg, das die Elite eben bekam. Das einzige, wenn man es genau nahm. Es würde eine Umstellung werden, jetzt wieder jemanden in seinem Zimmer zu haben. Aber das war eigentlich das geringste Problem an der ganzen Sache. Innerlich seufzte er. Das würde noch spaßig werden.   *   Er öffnete die Tür, gab sich Mühe, dass er es nicht zögerlicher tat als sonst. Was Unsinn war, wenn man bedachte, dass Kai nicht wusste, wie er sonst eine Tür öffnete. Da lag er. Auf dem Bett und las ein Buch. In einem ersten Impuls wollte er ihm sagen, dass so was wie Bücher oder andere persönliche Sachen keine gute Idee waren, denn die konnten einem weg genommen werden. Dann aber hielt er sich zurück und schloss einfach nur die Tür hinter sich. Kai musste nicht wissen, was hier vor sich ging und er würde auch nichts zu befürchten haben, denn er hatte eine Sonderstellung.   Er war etwas nervös, das musste er zugeben. Er wusste nicht genau, was er tun sollte. So eine Situation kannte er noch nicht, es gab noch kein Skript dafür, was bedeutete, dass potentiell viele Fehler gemacht werden konnten. Das musste er unbedingt auf ein Minimum begrenzen. Aber wie jetzt anfangen? Was jetzt sagen? "Du also." Nun, das nahm ihm das Problem mit dem Anfang ab. Kai hatte das Buch gesengt und sah ihn nun aus düsteren, roten Augen an. Seine Augenfarbe hatte sich ein wenig verändert. Als er ihn kennengelernt hatte, war es eher ein Braunton gewesen. Das stechende rot war wirklich etwas neues und irgendwie passte es zu ihm. "Offensichtlich.", antwortete er nur kurz angebunden. Wahrscheinlich hätte er noch mehr sagen sollen, aber reden war nicht seine Stärke und das konnte er kaum von jetzt auf gleich ändern.   Kai   Yuriy war es also. Eigentlich hätte er sich das auch denken können. Volkov schickte natürlich sein bestes Pferd im Stall um ihn im Auge zu behalten. Oder um ihn hier heraus zu ekeln, das konnte er nicht genau sagen. Außerdem war Yuriy skrupellos genug, um ihn auch mit Gewalt von irgendetwas abzuhalten. Ein gefährlicher Mitbewohner. Aber, und das galt es auch zu bedenken, wenn er ihn auf seine Seite ziehen konnte, wäre er der wertvollste Verbündete in diesem ganzen Laden. Mit ihm hätte er Zugang zu allen Informationen und Bereichen in diesem Internat. Wer wusste schon mehr von diesem Laden, als das Kronjuwel der ganzen Einrichtung? Aber wie brachte er ihn dazu, sich ihm anzuvertrauen? Ihm zu vertrauen? Er war in so was nicht wirklich geschickt, aber vielleicht konnte Rei ihm dabei helfen, schließlich schien der sich ganz gut mit ihm zu verstehen. Und er war allgemein besser im Zwischenmenschlichen, wie Kai selbst. Allerdings schien sein Zimmergenosse ungefähr genauso gesprächig zu sein, wie er. Vielleicht waren sie sich ja recht ähnlich. Dann aber fragte er sich, wie man ihn beeindrucken konnte. Konnte man das überhaupt? Rei hatte dafür ein halbes Jahr gebraucht und er konnte noch nicht einmal sagen, wie er das gemacht hatte. Vielleicht sollte er mit den Grundlagen anfangen? So stand er erst einmal vom Bett auf, denn es war unhöflich, bei einem ersten Treffen zu liegen. Er schätzte sehr, dass man diese Begegnung als ihr erstes 'Treffen' bezeichnen konnte. Das im Krankenhaus war dafür zu kurz gewesen. Als er jedoch auf ihn zu ging, um ihm nach europäischer Tradition die Hand zu reichen, bemerkte er, wie Yuriy sich anspannte, seine Hand leicht hinter seinen Rücken schob. Entweder hatte er da ein Messer, oder er wollte im Notfall nach dem Türknauf greifen können. Eine wirklich seltsame Reaktion darauf, dass einfach nur jemand auf ihn zukam. Aber nach kurzen nachdenken bemerkte er, dass der Raum zu klein war, um ausweichen zu können, sollte er ihn tatsächlich angreifen. Indem er auf ihn zukam, drängte er ihn förmlich an die Wand. Aber was sollte diese Reaktion? Ja, er war ein Fremder, aber eine normale Reaktion war das nicht, oder? Dann allerdings musste er an das denken, was Rei passiert war. Das Verhalten seines Gegenübers ließ darauf schließen, dass das normal war. Was war das nur für ein furchtbares Internat, oder wusste die Leitung nichts davon? War das für ein Kinderheim vielleicht normal? Nun, die Jugendlichen hier hatten nicht wirklich eine Bezugsperson, niemanden, zu dem sie Vertrauen aufbauen konnten. Spiegelte sich das vielleicht in Gewalt wieder? Er konnte es nicht wirklich sagen, aber als er bei seinem Großvater angekommen war, hatte er auch eine hohe Gewaltbereitschaft gehabt. Wenn er auch in einem Heim gewesen war, könnte das ein Muster sein. Aber das konnte er nicht beweisen und bevor Yuriy ihn angreifen würde, musste er etwas tun. Er entschied sich, einfach sein Vorhaben weiter durchzuführen.   Er blieb vor ihm stehen und streckte ihm nachlässig die Hand entgegen. Er bemerkte das kurze Zucken in dem Arm des anderen, ignorierte das aber geflissentlich. "Mein Name ist Kai Hiwatari. Erfreut dich kennenzulernen." Mit wachsamen Augen, beobachtete er, was sein Gegenüber jetzt tat.   Yuriy   Seine sonst so aufmerksamen Augen glitten kurz nach unten, um der ausgestreckten Hand entgegen zu sehen. Was sollte das denn jetzt? In seinem Kopf kramte er nach einem passenden Protokoll, aber es wollte sich nicht so recht eines finden. Sie hatten sich doch schon kennengelernt, oder nicht? Warum sollte er sich noch einmal vorstellen. War das in Japan normal so? Soweit er wusste, war Hiwatari ein japanischer Nachname, demnach würde Kai doch da wohnen, nicht? Begrüßte man sich da zweimal? Gab es dafür einen bestimmten Ablauf? Er kannte keinen und so blieb ihm nichts anderes übrig, als das Skript für ein normales Kennenlernen hervor zu kramen. Er hielt allerdings inne, als er seinen Blick wieder hob und den aufmerksamen, musternden Augen seines Gegenübers begegnete. Er beobachtete ihn so genau. Hatte er etwas vor? Es war ihm schon unheimlich gewesen, dass er ihn so eingekesselt hatte. Instinktiv hatte er sich eine Fluchtmöglichkeit geschaffen, indem er sich bereit machte, die Tür zu öffnen, sollte es brenzlig werden. Eine Vorsichtsmaßnahme, die ihm schon das ein oder andere Mal das Leben gerettet hatte. Jetzt aber streckte ihm dieser Kerl nur die Hand entgegen. War das ernst gemeint oder ein Trick? Er war sich nicht sicher. Andererseits wäre es wahrscheinlich eine Beleidigung, wenn er die dargebotene Geste nicht annahm. Das könnte unpraktisch werden, denn nur, wenn er das Vertrauen des anderen gewann, konnte er ordentlich auf ihn aufpassen. Wenn Kai irgendetwas tun würde, was das Internat auch nur im geringsten beschädigen könnte, würde er selbst den Kopf dafür hinhalten müssen. Er musste auf ihn achten, denn er kannte ihn ja am besten, weil sie ein Freunde gewesen waren. So ein Unsinn. Den Menschen vor sich, hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Nichts erinnerte noch an seinen damaligen Freund.   Außer einer Sache und die veranlasste ihn dazu, doch noch die Hand anzunehmen. "Yuriy Ivanov. Manche nennen mich auch Tala." Kurz wurden die Hände geschüttelt, dann war die Szene auch wieder vorbei. So einfach konnte das gehen. Warum Kai das gemacht hatte, wusste er dennoch nicht. In seinen Augen war das vollkommen überflüssig, denn sie hatten sich bereits kennengelernt. Merkwürdige Gebräuche, die die da in Japan hatten. "Wir hatten im Krankenhaus nicht wirklich die Gelegenheit uns kennen zu lernen." Yuriy konnte nicht wirklich sagen, aus welcher Ecke seines Verstandes das jetzt gekommen war, aber an dem amüsierten Funkeln in den Augen seines Gegenübers konnte er erahnen, dass es kein falscher Schachzug gewesen war. "Du hattest es auch ziemlich eilig, da weg zu kommen." "War mir plötzlich zu warm da drin." Nein, verdammt! Das war die falsche Antwort gewesen. Ich mag keine Krankenhäuser oder so etwas in der Richtung, wäre besser gewesen. Eine gute Ausflucht und eine Offenbarung über sich selbst, die den Gesprächspartner mit etwas Glück dazu bringen konnte, selbst etwas über sich preis zu geben und so ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Ja, das wäre die bessere Antwort gewesen. Ihn wegen seiner Homosexualität zu verhöhnen, war es sicherlich nicht gewesen. Verdammt.   Kai schnaubte, während seine Augen sich gefährlich verengten. Das mit dem Vertrauensverhältnis konnte er die nächste Zeit vergessen. "Gib acht, was du sagst, Ivanov!", zischte er und dachte damit wohl, einschüchternd zu wirken. Tz, nicht bei ihm. Ganz sicher nicht bei ihm. "Sonst was?" Das nahm vielen den Wind aus den Segeln, auch wenn er sich sicher war, dass das bei Kai nicht zutraf. Der war noch nie auf den Mund gefallen. "Sonst landest du das nächste Mal im Krankenbett." Das war erstaunlich schwach, aber er hatte ja schon erwähnt, dass er sein Gegenüber nicht mehr kannte. Wenn er beim Kämpfen genauso abgebaut hatte, wäre das enorm enttäuschend. Aber was war von einem Lichtkind auch Anderes zu erwarten? Die waren doch alle so. Schwach und weich. Erbärmlich. "Das üben wir nochmal.", antwortete er schlichtweg. Es lag kein Spott in seiner Stimme, nur pure Kälte und Berechnung. Wo die Frage vorher nicht funktioniert hatte um die Situation zu entschärfen, saß das jetzt wirklich punktgenau. Er war sich sicher, dass ihm das noch keiner entgegnet hatte, mit dem er je ein verbales Duell ausgetragen hatte. Kai war es, wie auch damals immer, gewohnt, dass er der Überlegene war, aber das konnte er hier vergessen. Hier würde keiner vor ihm kriechen. Nicht, bevor er sich nicht bewiesen hatte und selbst dann, gab es immer noch Menschen, die mit ihm auf der gleichen Stufe oder sogar über ihm standen. Das würde noch eine harte Lektion werden.   Er nutzte den kurzen Moment der Verwirrung und schlüpfte an seinem neuen Zimmergenossen vorbei, zu seinem Bett. Fein säuberlich zusammengefaltet, lag dort eine Schlafhose auf dem akkurat gemachten Bett. Disziplin war hier oberste Priorität. Alles, was sie taten beruhte auf diesem einfachen Prinzip. Disziplin in allem was sie ausmachte. Denn nur wer klare Regeln befolgte, konnte einen ebenso klaren Kopf haben. Wie gut Kai das wohl noch konnte? Ihm war bekannt, dass viele Lichtkinder ein Problem mit derart strenger Disziplin hatten. Nun, es würde sich zeigen. Während er sich auszog, legte sich Kai wieder auf sein Bett. Er war noch vollständig angezogen und schien diesen Umstand auch noch nicht ändern zu wollen. Seine Sache, damit hatte er nichts zu tun. Er zog sich gerade die Schlafhose an, als die verwunderte Stimme von seinem Mitbewohner plötzlich ertönte: "Woher hast du die?" Vollkommen perplex, wandte er sich wieder zu ihm um. Was sollte die Frage denn? "Von Alexander. Dem Kerl, der die Spenden verwaltet." Hatte er etwa keine Schlafsachen dabei? War er deshalb noch nicht umgezogen? Kurz unterbrach ein Zungeschnalzen die Stille im Zimmer und indizierte Yuriy, dass die Hose wohl nicht gemeint gewesen war. Dennoch zögerte sein neuer Mitbewohner offenbar, die Frage noch einmal zu stellen und sah ihn stattdessen lieber unschlüssig an. Der musternde Blick, der über seinen Körper streifte, ließ kurz Ekel in ihm aufsteigen, bis er begriff, dass das kein sexuell aufgeladener Blick war. Irgendetwas an seinem Körper, hatte seine Aufmerksamkeit erweckt und schien mit seiner Frage zu tun zu haben. Aber was? "Spuck's schon aus!" Geduld war nur dann eine seiner Tugenden, wenn es keine Alternative gab. Im Privaten Rahmen - und obwohl man es anders sehen konnte, waren die Zimmer der Elite tatsächlich so was wie privat - griff er als Ersatz gerne zu Aggressionen. Doch genau wie er, ließ auch Kai sich nicht einschüchtern, was ihn offenbar dazu brachte, noch eine ganze Minute ihrer Zeit zu verschwenden, ehe er mit der Sprache heraus rückte: "Die Narben. Woher hast du die?"   Kurz glitt Yuriy Blick automatisch an sich hinunter. Streifte erst über die Brust, dann den Bauch und schließlich auch über seine Arme. Fast überall, waren kleine, feine Linien zu erkennen. Zwischendurch wölbte seine Haut sich auch mal, doch das meiste sah man kaum. Er konnte nicht genau sagen warum, aber er wich der Frage aus: "Ist doch normal." Ehrlich gesagt, wusste er auch nicht so recht, was er darauf antworten sollte. An die meisten Verletzungen erinnerte er sich kaum noch. Die meisten kamen von Strafen, andere hatte er sich im Kampf zugezogen. Manche sogar bei Wettbewerben. Jeder hier sah so aus, deshalb hatte er sich niemals Gedanken darum gemacht und würde auch jetzt nicht damit anfangen. "Nicht wirklich."   Die Augen von Kai ruhten noch immer auf ihm, als er sich auf sein Bett setzte. Es stand parallel zu dem anderen. Lässig stützte er die Ellbogen auf seine Knie, ließ die Hände locker dazwischen hängen. Eine typische Geste von ihm, die sein Gegenüber in trügerischer Sicherheit wiegte. Es sah entspannt aus, aber in Wirklichkeit, konnte er mit nur wenig Gewichtsverlagerung nach vorne schnellen und hatte dabei Arme und Hände sofort einsatzbereit. Nur sein Kopf war durch die nach vorne gebeugte Haltung offen und recht ungeschützt, aber bisher hatte die fingierte Ruhe ihn immer genug geschützt. Außerdem konnte er, indem er sich von seinen Knien abstieß, auch recht schnell nach hinten ausweichen. Er achtete darauf, genau so weit auf dem Bett zu sitzen, dass sein Kopf, sollte er sich nach hinten fallen lassen, nicht mit der Wand kollidierte. Den Schwung konnte er dann gut nutzen, um den anderen über sich zu werfen, oder ihn mit einem gezielten Tritt auszuschalten. "Was willst du jetzt von mir hören?" Er fragte das, weil er sich wirklich nicht sicher war und weil er Zeit schinden musste, um sich eine passende Antwort zu suchen. Er durfte ihm keine Informationen geben, die dem Heim schaden konnten und obwohl er selbst es als vollkommen normal empfand, wusste er, dass es die Außenwelt nicht gut heißen würde, würde sie erfahren, dass hier Kinder verletzt wurden. "Die Wahrheit.", kam es trocken als Entgegnung. Er musste lachen, ohne, dass er etwas dafür konnte. Er war auch nicht in der Lage zu sagen, warum er es tat. Er lachte einfach nur. Trocken und freudlos. Nur einen Moment später war der kurze Anfall wieder vorbei und er fixierte sein Gegenüber nicht minder ernst als vorher, nur mit einem kalten Lächeln auf den Lippen. "Wahrheit existiert nicht. Du solltest jetzt schlafen, Kai. Der Wecker klingelt um fünf Uhr dreißig."   Und damit schlug er die Decke beiseite, legte sich hin und rollte sich mit dem Rücken zu seinem Zimmergenossen. Es war merkwürdig wieder jemanden im Raum zu haben. Er war sich nicht sicher, ob er so schlafen konnte. Eigentlich sollte das kein Problem darstellen, denn er wusste, dass, wenn Kai auch nur eine falsche Bewegung machte, er sofort wieder wach wäre und jeden möglichen Angriff auch abwehren könnte, aber wohl war ihm dennoch nicht dabei, dass er sich so wehrlos jemandem auslieferte. Manchmal war es nur eine halbe Sekunde, die man zu langsam reagierte. Das konnte ihn das Leben kosten. Andererseits war das ein Lichtkind, wenn er sich von dem überwältigen ließ, wenn auch nur im Schlaf, hatte er das Leben wahrscheinlich sowieso nicht mehr verdient. Weiterhin gab es für Kai keinen Grund ihn anzugreifen. Was brachte ihm das? Nun, ziemlich viele Pluspunkte bei Volkov, wenn er es wirklich schaffte, ihn zu überlisten, aber das konnte Kai kaum wissen. Zumindest nicht, wenn er wirklich sein Gedächtnis verloren hatte und das war etwas, was er nicht überprüfen konnte. Dennoch sah es ehrlich gesagt nicht so aus, als könne er sich noch an irgendetwas erinnern, wenn er schon so merkwürdige Fragen stellte und so merkwürdige Rituale durchführte. Also war von Kai keine Gefahr zu erwarten, aber was hieß das schon? Vielleicht hatte sein Kopf noch andere Schäden, als nur einen Gedächtnisverlust davon getragen und er war zu einem irren mutiert? Wenn er dann einen Anfall hatte, war ein Angriff gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Vielleicht hatte Volkov ihn ja deshalb ausgewählt. Nicht, weil er ihn angeblich am besten kannte, sondern, weil er sich am besten wehren konnte. Befürchtete Volkov einen Wahn, in den sein neustes Heimmitglied verfallen könnte? Wo er gerade an Mitglied dachte... Wenn Kai der Enkel von Hiwatari, dem Mitbegründer, war, was tat er dann hier? Rei mal ganz außen vor gelassen. Hiwatari würde niemals zulassen, dass sein Fleisch und Blut wieder hier her kam. Es sei denn.... Ja... es sei denn. Es sei denn, er hatte ihn her geschickt, um überprüfen zu lassen, ob hier alles nach dem Rechten lief. Das war die einzig logische Erklärung. Sollte er deshalb auf ihn aufpassen? Befürchtete Volkov nicht, dass irgendetwas an die Außenwelt drang, was dort nicht hin gehörte, sondern, dass Hiwatari nicht zufrieden sein könnte? Wusste Volkov überhaupt von der Überprüfung? Was, wenn Hiwatari nicht zufrieden sein würde? Würde dann Volkov bestraft? Das würde auf sie alle zurückfallen... Wenn Kai ihn nun zum Test im Schlaf angreifen würde? Um zu überprüfen, ob er gut genug trainiert war?   Erst Stunden später, schaffte Yuriy es, über seinen vollkommen paranoiden Gedanken einzuschlafen. Es forderte eben seinen Tribut, immer allen einen Schritt voraus sein zu müssen, um in dieser Welt wortwörtlich überleben zu können. Kapitel 9: Wir -------------- Kai   "Wo willst du hin?" Genervt drehte sich Kai zu seinem persönlichen Wachhund um. Nein, Yuriy verfolgte ihn nicht auf Schritt und Tritt, aber er bemerkte durchaus, dass er unter seiner Beobachtung stand. Dass der Russe jetzt hier war, zeigte ihm nur, dass er ihm tatsächlich an den Fersen klebte. Das wurde ja immer besser. "Weg. Offensichtlich." Kai hatte sich bereits bis an die Grenze des Grundstücks des Internats geschlichen, was sich als nicht so einfach wie gedacht heraus stellte. Angeblich waren die Männer, die hier Wache schoben, nur dazu da, um die Schüler zu beschützen, aber das hier sah eher nach Bewachung von Gefängnisinsassen aus. Aus diesem Grund war er ihnen aus dem Weg gegangen. Yuriys Anwesenheit bestätigte ihm die Gefängnistheorie bloß. "Willst den kleinen Chinesen besuchen, was?" Darauf würde er keine Antwort geben. Das ging den wirklich nichts an. Stattdessen drehte er sich wieder seinem Ziel zu und sah um die Ecke eines Gebäudes, damit er wusste, ob eine der Wachen vorbei kam. Wenn dieser Idiot ihm das hier versaute... "Hör zu, Wolfi", begann er drohend, doch Yuriy beeindruckte das nicht einmal. Stattdessen sagte er etwas, was ihn sehr verwunderte: "Ich kann dich hier raus bringen." Damit hatte er dann auch wieder seine Aufmerksamkeit. "Warum solltest du das tun?" Das würde doch niemals ohne Gegenleistung ablaufen. Sollte er tatsächlich dem Schoßhund von Volkov vertrauen? "Ich kann dich hier raus bringen, ich kann dich nicht davor bewahren, dass auffällt, dass du weg bist." Würde er ihn also verpfeifen? Wollte er ihm das damit sagen? "Danke ich verzichte", grollte Kai nur und wandte sich wieder um. Er wollte jemandem wie ihm nichts schuldig sein. Das war viel zu gefährlich.   Er vernahm ein kräftiges Schnauben hinter sich, beachtete es aber nicht weiter und er hätte auch die folgenden Worte ignoriert, wenn sie ihn nicht derart aufgeregt hätten: "Die Hilfe von so einem schäbigem Heimkind ist dir wohl nicht gut genug, was?" In einem Sekundenbruchteil hatte er sich zum wiederholten male umgewandt und hatte die wenigen Meter Abstand zwischen ihnen überquert. Grob packte er ihn am Kragen und presste ihn gegen die Wand. Er knurrte ihn an, doch er kam nicht wirklich dazu, etwas zu sagen. "Oh, du fasst mich sogar an. Gib acht, dass du dir die Hände nicht schmutzig machst." Yuriy starrte ihn vollkommen unbeeindruckt an, blieb ganz locker. Es war ganz so, als würde er in ihm gar keine Gefahr sehen und das machte ihn noch rasender. Eigentlich hatte er schon länger darauf gewartet, dass man ihn auf seine Herkunft ansprach, aber ehrlich gesagt hätte er nicht gedacht, dass es ausgerechnet Yuriy sein würde. Die Woche über hatten sie sich eigentlich in schweigender Einvernehmlichkeit mit vorsichtigem Respekt behandelt. Und er wusste auch nicht, was er getan haben könnte, was diese Reaktion rechtfertigen könnte. Nichtsdestotrotz ließ er sich von so einem dahergelaufenen Straßenkind sicherlich nicht beleidigen. "Ich nehm' deine Hilfe nicht an, weil du der Schoßhund vom Heimleiter bist!" Was dann geschah spielte sich scheinbar im Augenblick eines Wimpernschlages ab und Kai konnte nicht sagen, was genau es war, was passierte. Er wusste nur, dass er plötzlich hart mit dem Rücken auf den Boden aufschlug. Yuriy war über ihm und presste einen Fuß auf sein Brustbein. Es schmerzte etwas, war aber nicht gefährlich. "Weichei", spuckte er aus und sah mit verachtendem Blick auf ihn herab. Dieses elende Aß. Der Russe beugte sich zu ihm runter, übte dabei noch etwas mehr Druck aus und lächelte ihn hochmütig an: "Ich bin niemandes Schoßhund. Merk dir das! Und jetzt winsel da nicht so auf dem Boden 'rum. Ich weiß, dass du mehr kannst." Knurrend hob Kai sein Becken an, drängte sein Knie zwischen die Beine von Yuriy, schlang es um dessen Oberschenkel und drückte ihn so zurück. Im war im selben Moment, als es funktionierte, klar, dass sein Gegner ihn das machen ließ. Er störte sich nicht daran, drückte Yuriy nur weg und stand dann selbst auf. Eigentlich hätte er ihn damit selbst umwerfen sollen, aber der Russe war nur zurückgewichen und gab ihn so frei. Er mochte keine geschenkten Siege, aber er bildete sich auch nicht ein, dass er in seinem jetzigen Zustand mit einem Weltmeister mitkam. Aber das würde er garantiert noch ändern. Diese halbe Portion sollte eigentlich kein Problem für ihn sein.   "Lässt du dir jetzt von mir helfen?" "Was sollte sich geändert haben? Nur, weil du mich gerade hast gewinnen lassen?" Doch Yuriy schnaubte nur, verschränkte die Arme vor der Brust. Hatte er nicht eigentlich versuchen wollen, sich gut mit ihm zu stellen? Das hatte er wohl endgültig vermasselt, was allerdings abzusehen gewesen war. Sie waren beide sehr dominante Persönlichkeiten. Das konnte nicht gut gehen. "Du kapierst es nicht, oder?" Kai reagierte gar nicht erst darauf. Wartete nur darauf, dass sein Gegenüber endlich weiter sprach. "Jeder hier ist ein Einzelkämpfer, aber ohne Hilfe kommst du nicht weit. Das muss jeder von uns irgendwann lernen." "Denkst du wirklich ich mache mich derart abhängig von dir? Vergiss es! Ich werde jemandem wie dir niemals etwas schuldig sein!" So etwas wie ein verzweifeltes Seufzen verließ den Mund seines Gesprächspartners. Es klang nur weniger verzweifelt, als emotionslos. Wie konnte man emotionslos Seufzen? "Was bin ich denn? Schon wieder ein Schoßhund? Oder doch das schmutzige Heimkind?" Ivanov ließ seine Arme wieder fallen und kam auf ihn zu. Er blieb stehen, ließ sich davon nicht beeindrucken. Er würde nicht nachgeben. Ganz nah vor ihm blieb er stehen, lehnte sich noch etwas vor, bis ihre Nasenspitzen sich fast berührten. Kai fiel erst jetzt auf, dass Yuriy etwas größer als er war. "Was denkst du passiert, wenn irgendwer mitbekommt, dass ich dir geholfen habe hier weg zu kommen? Du bist sicher, weil du keiner von uns bist. Dir wird Volkov kein Haar krümmen. Schon allein weil du der Enkel unseres Hauptsponsors bist!" Yuriy spuckte ihm die Worte förmlich ins Gesicht. Voller Verachtung, voller Hass. Was war mit dem Kerl eigentlich nicht in Ordnung? Aber das war gerade nicht wichtig. "Er schlägt euch?" An dem Zurückzucken und Abstandnehmen konnte er deutlich erkennen, dass er wohl ins Schwarze getroffen hatte. War es das, was hier so merkwürdig war? "Nein..." Und das klang definitiv nicht gelogen. Er schlug sie nicht, aber.... "Kommen daher die Narben?" Er bekam Kopfschmerzen von dieser Konversation. Das war anstrengend und ihm eigentlich zu emotional, obwohl sie beide keinerlei Emotionen zeigten. Das alles wurde immer abstruser. "Ohne mich kommst du hier nicht raus und glaub mir, du willst nicht, dass Volkov 'rausfindet, wie viel dir das kleine Kätzchen bedeutet."   Das war ein Themenwechsel... ein Themenwechsel... er sollte nachhaken, jetzt nicht aufgeben. Es war die einmalige Chance mehr über diesen Laden hier heraus zu finden. "Gut." Aber er fragte nicht weiter nach. Er ließ Ivanov davon kommen. Wieso? War es wegen der kleinen, drängenden Stimme, die ihm sagte, dass er es nicht wissen wollte? War es wegen der Kopfschmerzen, die er bekam, wenn er daran dachte? Was es auch war, es blockierte ihn und das musste er loswerden. Dringend.   ~*~   Rei   "Ich finde es toll, dass du es geschafft hast, her zu kommen." Er lag mit Kai auf dem Sofa, seinen Kopf in dessen Schoß. Es war herrlich, ihn wieder bei sich zu haben. Natürlich war Samstag, und da er noch nicht wieder trainieren durfte, hatten sie sich bei ihm zu Hause getroffen. Sich im Internat zu treffen, wäre nur dumm gewesen. Abwesend strich Kai ihm leicht über den Kopf. Himmlisch. "Wie läuft es im Internat? Seit deinem ersten Tag haben wir uns nicht wirklich gesehen." "Nicht so wie ich will. Ich komme nicht in die Gemeinschaft. Es ist schwer jemanden zu finden, der schwach genug ist, mir zu vertrauen. Niemand redet mit mir. Nur dieser Yuriy. Und der nervt mich eher." "Yuriy ist dein Zimmergenosse, oder? Versteht ihr euch nicht?" Das darauffolgende leise Knurren, ließ ihn vermuten, dass dem wohl so war. "Er verfolgt und beobachtet mich ständig. Nicht aufdringlich, aber es fällt auf. Es geht mir auf die Nerven. Und er ist hochmütig und arrogant und unterstellt mir, ich sei ein Schnösel und hielte mich für etwas Besseres." Amüsiert sah er zu seinem Freund empor: "Kai, du bist ein Schnösel und natürlich hältst du dich für was besseres. Das musst du. Du bist Erbe eines Milliarden Unternehmens." Der eiskalte Blick der ihn jetzt traf, ließ ihn tatsächlich kurz erschauern, aber es reichte nicht, um ihn dazu zu bringen, das zurück zu nehmen. "Kai... das sind Eigenschaften die dich ausmachen. Es ist eine Seite von dir, aber nicht alle. Das weiß Yuriy nur nicht. Er ist deine einzige Chance an Informationen zu kommen. Wenn du keinen Verbündeten hast, wird es wirklich schwierig." "Und was soll ich deiner Meinung nach tun?" Rei zuckte nur mit den Schultern, ein wenig hilflos. "Weißt du... manchmal ist es hilfreich, wenn man jemandem etwas persönliches von sich erzählt. Ich weiß, dass das nicht so dein Ding ist, aber du musst auf ihn zugehen, damit er anfängt dir zu vertrauen." Doch er konnte sehen, dass Kai absolut nicht zufrieden mit der Antwort war. Oder vielleicht auch mit dem gesamten Gespräch. "Selbst wenn ich das tun würde, wer sagt, dass ich ihm vertrauen kann?" Rei seufzte leise und richtete sich auf, um sich hinzusetzen. "Warum fragst du mich so schwere Sachen? Ich bin nicht allwissend." Er legte den Kopf leicht schief und musterte seinen Freund: "Wovor hast du Angst? Was soll dir ein siebzehnjähriger schon groß tun?" Aha, da lag der Hase also begraben. Dachte er es sich doch. Kai wandte seinen Blick kurz ab. Das tat er nur, wenn man ihn bei etwas erwischt hatte, was ihm selbst nicht richtig bewusst war. "Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache. Irgendetwas ist merkwürdig..." Vorsichtig ergriff er die Hand von Kai, drückte sie leicht und schon bald ruhten die roten Iriden wieder auf ihm. "Kai. Du musst das nicht machen. Es geht mir jetzt gut da. Der Schulleiter scheint ein Machtwort gesprochen zu haben. Mich lassen jetzt alle in Ruhe und man fragt mich oft, ob es mir gut ginge. Die kümmern sich da gut um ihre Schüler. Bleib da doch einfach weg. Ich will nicht, dass dir etwas passiert oder du dich unwohl fühlst." Doch Kai, stur wie er war, schüttelte nur mit dem Kopf. "Nein, ich werde herausfinden, was mit diesem Internat nicht stimmt. Komme was da wolle." Er redete schon wieder nur von sich selbst. War es denn wirklich so schwer, ihn als einen Teampartner zu sehen? Klar konnte er nicht wirklich helfen, aber alleine, dass sie hier saßen, und sein Freund ihm all diese Fragen stellte, war doch ein Teil, den er beisteuern konnte, oder? "Wie du meinst..."   Eine Weile sahen sie sich einfach nur schweigend an, dann ergriff Kai wieder das Wort: "Rei? Lass uns diesen Contest im Frühjahr gewinnen." "Was!?" War das sein Ernst? "Kai! Ich darf immer noch nicht wieder trainieren und das sind Weltmeister! Wie stellst du dir das vor?" Doch statt zu entwaffnen, weckte die Gegenwehr ein seltenes Feuer in den Augen seines Gegenübers. Ein keckes Grinsen bildete sich auf dessen Gesicht und ließ Reis Herz kurz schneller schlagen. "Willst du mir etwa sagen, dass du das nicht kannst?" Wie gemein. Kai wusste genau, dass er strebsam und ehrgeizig war und vor keiner Herausforderung zurück schreckte.   Allerdings war es etwas anderes, was ihn letztendlich zustimmen ließ. Denn zum ersten Mal, hatte Kai ihn wirklich mit einbezogen. Sie würden das gemeinsam machen und sie würden es schaffen. Kapitel 10: Versehen -------------------- Kai   "Was meinst du mit 'behandeln wie alle anderen'?" Volkovs Stimme wirkte aufgesetzt freundlich und geradezu schleimig. Der Kerl war wirklich widerlich, aber er war nun einmal der Schulleiter. Wenn er herausfinden wollte, was hier los war, musste er das hier durchsetzen. "Alle hier schleichen um mich herum, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Ich bin nicht dumm, Volkov. Ich habe hier eine Sonderstellung und unter normalen Voraussetzungen würde ich das durchaus willkommen heißen, aber ich habe nicht so viel Geld auf den Tisch, um dann hier ausgeschlossen zu werden." Er konnte genau sehen, wie sich die Miene seines Gesprächspartners verhärtete. Natürlich würde er das nicht so einfach machen, aber wie brachte er ihn dazu? Was würde einen Mann wie ihn dazu zwingen können, sich selbst zu verraten? Das war schwer.  "Kai,...", begann Volkov und ihm lief dabei ein kalter Schauer den Rücken herab. Jedes Mal wenn er ihn so ansprach passierte das. Dieser spezielle Klang in seiner Stimme löste Übelkeit in ihm aus. "... die Kinder hier vertrauen niemandem so schnell. Sie haben ihre Eltern verloren. Viele haben lange Zeit auf der Straße gelebt, bevor wir sie gefunden haben. Das ist alles nicht so einfach und du bist erst ein paar Tage hier. Kümmert sich Yuriy nicht gut genug um dich?" Ja, natürlich lag es daran. Die Kinder waren einfach nur schüchtern. So ein Unsinn! Sie sahen ihn an, als wäre er die Pest. Sprangen aus dem Weg, wenn er auch nur in ihre Nähe kam. Dafür, dass die kleinen Bälger sich untereinander enorm aggressiv verhielten, war das ein äußerst ungewöhnliches Verhalten.  Es lag ganz sicher nicht daran, dass sie ihm nicht trauten. Sie hatten angst vor den Konsequenzen, wenn sie sich mit ihm abgaben. Und Yuriy? Der konnte ihm wirklich gestohlen bleiben. "Hör zu Kai. Ich werde mit Yuriy reden, er wird dich mit den anderen bekannt machen. Ganz so, wie es sich für einen anständigen Mitbewohner gehört. Und dann bin ich mir sicher, wirst du sehr schnell in die Gemeinschaft hier aufgenommen." Aber darum ging es ihm doch gar nicht! Es ging ihm nicht um eine gefakte Gemeinschaft, die man ihm vor spielte, weil der Schulleiter angst hatte, er würde sonst irgendetwas tun. Wovor genau der Angst hatte, konnte er nicht einmal ausmachen. Vielleicht wollte er nicht, dass er sein Geld zurück verlangte. Wäre ihm jedenfalls zuzutrauen.  "Ich will wenigstens in den echten Profikurs." "Was meinst du mit 'echt'?" Dieses Spielchen wurde allmählich wirklich mehr als ermüdend. War der Kerl tatsächlich so dumm, oder tat der nur so? "Ich will in den Kurs von Yuriy und den anderen. In den echten Profikurs eben. Nicht den Kurs, den sie der Welt da draußen vor gaukeln und in den sie begabte Außenseiter stecken." Er wollte nicht speziell Rei erwähnen, das war zu riskant. Momentan war er in dem gleichen Kurs wie er, nur, dass Rei noch nicht wieder trainieren durfte. Da Yuriy und sein Team nie dort aufgetaucht waren, lag die Vermutung nahe, dass es noch einen anderen Kurs gab. Den richtigen Profikurs eben. "Nun, normalerweise steht dieser Kurs nur all jenen offen, die auch garantiert für uns kämpfen und hier bleiben wollen. Aber ich denke, ich kann eine Ausnahme machen." Wenigstens etwas, aber damit war sein Problem immer noch nicht behoben. Vielleicht würde es ihn aber einen Schritt näher bringen. Wenn Volkov die Kinder hier wirklich misshandelte, würde er das sicherlich niemanden erfahren lassen, der das der Außenwelt mitteilen könnte. Kai hielt ihn für dumm, aber nicht so dumm. * Er lag auf seinem Bett und las, wie eigentlich jeden der letzten Abende, da er hier kein Klavier oder sonstige Möglichkeiten zur Individuellen Entfaltung hatte, als Yuriy herein kam. Er bewegte sich ein wenig merkwürdig, doch es wunderte ihn nicht weiter, kam er schließlich gerade vom Training. Wahrscheinlich hatte er einen harten Schlag abbekommen und bewegte sich deshalb etwas ungelenk. Es war erstaunlich wie viel er trainierte, es war immerhin Sonntag, aber ein Weltmeister musste seine Leistung eben halten oder gleich steigern. Wenn er ihn schlagen wollte, musste er ganz schön an Kraft und Technik zulegen. Er hoffte wirklich, dass Rei bis dahin fit war, damit er ihn unterstützen konnte. Er war definitiv besser ausgebildet als er. Als Yuriy sich dann aber angezogen aufs Bett legte, wurde er doch stutzig. Wenn er eines in den letzten Tagen gelernt hatte, dann, dass hier alles strikte Regeln und Abläufe gab und damit auch gewisse Gewohnheiten einher gingen. Eine dieser Gewohnheiten war, dass Yuriy nach dem Training ins Zimmer kam, sich umzog und dann ins Bett legte.  Er wusste nicht genau, warum ihn das besorgte, aber er wollte das nicht auf sich beruhen lassen. Irgendetwas stimmte nicht: "Was ist los Ivanov? Plötzlich angst, ich könnte dir was wegschauen?" Da kam erst einmal nur ein abfälliges Schnauben zurück, während sich angesprochener demonstrativ mit dem Rücken zu ihm drehte: "Wohl eher davor, dass du mich anspringst, wenn du meinen geilen Körper siehst." Das hatte sehr wenig Effekt, wenn er mit der Wand sprach. Merkwürdig. Yuriy mochte zwar ziemlich einen an der Waffel haben, aber auf diese Art sonderbar verhielt er sich normalerweise nicht. Nicht, dass er groß eine Ahnung hatte, wie sich der Russe normalerweise benahm, aber das fiel gerade wirklich ziemlich aus dem Rahmen. "Hast wohl deine Tage, was?" Normalerweise wäre der rote Teufel jetzt aufgesprungen und hätte ihm mit irgendwas gedroht. Aber er rührte sich nicht, was Kai dazu veranlasste sich stirnrunzelnd aufzusetzen. "Was ist los?", hakte er deshalb noch einmal nach, doch es kam wieder keine Antwort und er bezweifelte, dass der andere schlief. Wenn er das richtig mitbekommen hatte, hatte der nämlich seit seiner Ankunft hier, fast gar nicht geschlafen. Das würde sich jetzt nicht plötzlich ändern. Deshalb stand er auf und ging zu dem anderen Bett. Als er allerdings seine Hand auf die Schulter seines Zimmergenossen legen wollte, drehte der sich plötzlich um, schlug besagte Hand weg und knurrte ihn förmlich an: "Fass mich nicht an!" Verwundert und schockiert taumelte Kai leicht zurück, nahm so Abstand. Was war jetzt auf einmal los? Überfordert mit der Situation, tat er das einzige, was er gut konnte: Angreifen. "Beruhig dich du Weichei! Was zum Teufel ist eigentlich dein Problem?" Einen Augenblick später lag er unter ihm auf dem Bett und konnte noch immer nicht sagen, wie er das machte. Er hasste es, allein schon, weil es ihm zeigte, wie weit ihre Fähigkeiten auseinander lagen. Ja, er brauchte wirklich Rei, um das zu schaffen. Das war jetzt aber mehr als nebensächlich, denn die Augen, die ihn zu durchbohren versuchten, ließen ihn tatsächlich unangenehm erschauern. Diesmal ließ er ihm keine einfache Möglichkeit zur Flucht, so wie gestern Mittag. Diesmal war es ernster.  "Mein Problem bist du, Arschloch!" Das kam hart und irgendwie unerwartet. Was nur, war passiert? War doch raus gekommen, dass er sich weg geschlichen hatte?  "Ich kann mich nicht daran erinnern, dir irgendetwas getan zu haben!" Natürlich würde er nicht klein beigeben. Warum sollte er auch? Egal was passiert war, er war maximal passiv daran Schuld.  Wenn, dann waren es Volkovs Taten, die den anderen verletzt hatten oder was auch immer passiert war. Doch seine Worte schienen die Wut in dem Anderen nur zu steigern. "Ignorante Schwuchtel!" Kai spannte sich an. Eine Vorsichtsmaßnahme, falls Yuriy gleich zu einem Schlag ausholen würde und es sah sehr danach aus, dass er das gleich tun würde. Sich wehren würde schwer werden, aber er würde sich hier sicherlich nicht verprügeln lassen. Doch es kam anders als erwartet. Yuriy richtete sich auf, so dass nur noch sein Becken ihn auf dem Bett hielt. Jetzt würde er sich befreien können, doch erst einmal wartete er ab. Wenn sie das jetzt nicht klärten, würde das ewig zwischen ihnen stehen und das konnte er nicht gebrauchen. "Du willst wissen, was los ist!?" Und damit riss er sich förmlich sein Oberteil vom Körper. Nicht wortwörtlich natürlich, aber es hatte einen doch recht beeindruckenden Effekt.   Kai riss die Augen auf, als er sah, was darunter hervor kam: Blutige, teilweise schon verschorfte Striemen und ansonsten enorme Rötungen, wo die Haut nicht aufgeplatzt war.   Ehe er näher darüber nachdenken konnte, traf aber direkt neben ihm eine Faust auf die Matratze. Erschreckt konnte er das Zusammenzucken seines Körpers nicht verhindern. Angst zu zeigen, könnte allerdings ein fataler Fehler sein. "Ich helfe dir hier raus und du schwärzt mich an!?", fauchte Yuriy ihm hasserfüllt entgegen. Er hatte in seinem Leben nie so viel Hass gesehen. Verachtung, ja.. aber Hass? "Ich habe dich nicht angeschwärzt!" Bei wem auch? Und warum? Der Russe hatte ihm ja nie etwas getan, was sollte er da anbringen? Und überhaupt, bei wem denn? Der einzige mit dem er geredet hatte war.... Geschockt riss er die Augen leicht auf.  "Nein! Yuriy, das ist ein Missverständnis! Ich..." Doch er kam gar nicht so weit sich zu erklären, der Andere gab ihm einfach nicht die Möglichkeit: "Das hier nennst du ein Missverständnis? Sieht das für dich wirklich wie ein verdammtes Missverständnis aus?" Yuriy schrie nicht, was Kai nur im ersten Moment verwunderte. Irrationalerweise analysierte er die ganze Situation weiterhin nebenher, obwohl er sich auf sein Gegenüber konzentrieren sollte, was den Augenblick merkwürdig unrealistisch erscheinen ließ. Fast so, als würde er gleichzeitig noch neben dem Bett stehen und sie beide beobachten. Yuriy schrie nicht, weil er nicht wollte, dass irgendwer sie hörte und er noch einmal bestraft wurde. Er war sich sicher, dass es dem Anderen verboten war, ihn anzugreifen. Hier war es einem also nicht einmal gestattet, seiner Wut ordentlich Luft zu machen. Kein Wunder, dass man Rei angegriffen hatte. So viel Frust und Wut über die eigene Hilflosigkeit und die endlose Ohnmacht musste irgendwo raus und er wusste aus eigener Erfahrung, dass Sport allein da oft nicht reichte.  "Ich habe einmal einen Vogel zu Tode gequält...", gestand Kai dann plötzlich und ohne ersichtlichen Zusammenhang. Es reichte aber aus, um Yuriy dazu zu bringen, sich aufzurichten und ihn leicht fragen und irritiert anzusehen. Er nutzte die Chance. "Ich bin irgendwo hier in Russland aufgewachsen. Ich weiß nicht wo, ich kann mich nicht erinnern. Als mein Großvater mich  hier gefunden hat und mit nach Japan genommen hat, ging es mir nicht gut. Ich weiß nicht warum, das wusste ich damals schon nicht, aber ich war wütend und wollte zurück, während ich gleichzeitig Angst davor hatte, her zu kommen. Ein Jahr lang habe ich mich ständig geprügelt, aber als ich von der Schule geflogen bin, hat das nicht mehr gereicht. Bevor ich angefangen habe mich selbst für meine Unfähigkeit zu bestrafen, habe ich meinen Frust an diesem Vogel ausgelassen..." Wachsam lagen die eisblauen Augen auf ihm. So eine unnatürliche Augenfarbe. Noch so viel unnatürlicher als seine eigene, die wenigstens durch eine Pigmentstörung zu erklären war. Das tiefe Eis, was er da vor sich sah, war keine menschliche Augenfarbe, aber wenigstens hatte sie aufgehört vor Wut zu glühen. Das Eis wirkte wieder starr und leblos und er wusste nicht so recht, ob er das gut fand. "Ich habe ihn gefunden als ich durch einen Wald gelaufen bin. Weit weg vom Grundstück meines Großvaters. Ich lief einfach und lief und lief und lief... einfach weg. Weg von allem, was ich nicht beeinflussen konnte. Weg von allem, was fremdbestimmt wurde. Weg von mir selbst, weil ich nicht einmal über mich selbst irgendwelche Macht hatte. Und dann fand ich diesen Vogel, der am Straßenrand lag und sich aus irgendeinem Grund den Flügel gebrochen hatte. Mein erster Impuls war, ihm zu helfen. Deshalb ging ich zu ihm, bewegte vorsichtig den Flügel. Aber als ich ihn daraufhin schreien hörte... diesen grässlichen Ton, den ein Tier von sich gibt, wenn es denkt, dass es in Lebensgefahr ist... da hatte ich zum ersten Mal wirklich Macht über etwas. Ich hab angefangen ihm die Federn auszureißen, so lange, bis er vor Stress und Angst gestorben ist." Das hatte er noch nie jemandem erzählt. Niemals. Dieses Geheimnis hatte er mit in sein Grab nehmen wollen, genauso wie den Rest seiner dunklen Seite. Der Kontrollsucht und dem Vergnügen daran, andere vor sich betteln zu sehen und ihnen ihren Wunsch dann doch nicht zu gewähren.  Warum er das ausgerechnet jetzt vom Stapel ließ, konnte er nicht genau sagen, aber es hatte Yuriy wenigstens aufgehalten und schien ihn irgendwie beruhigt zu haben. Das Eis in seinen Augen wurde allerdings noch ein wenig kälter. "Du bist widerlich!" Kai schnaubte, statt das auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag. Das sagt der richtige, geisterte es ihm dennoch zumindest durch den Kopf.  "Ich weiß.", war die schlichte, desinteressierte Antwort. In Wirklichkeit war er nicht desinteressiert. Es war schwer genug sich zu öffnen, dann auch noch derart abgewiesen zu werden, tat wirklich weh. Ein Gefühl, dass ihn erstaunte, denn eigentlich sollte ihm die Meinung eines nahezu Fremden vollkommen gleichgültig sein. Er schob es auf die Tatsache, dass er durch die Selbstoffenbarung verletzlicher war. Ein Umstand der ihm nur bewies, dass er das bleiben lassen sollte. Aber das war nicht der Punkt. "Trotzdem würde ich niemals absichtlich veranlassen, dass so etwas gemacht wird. Der Vogel war ein Tier, kein Mensch und selbst bei dem Vogel habe ich es direkt danach bereut." Oh und wie er das hatte. Das hatte erst aufgehört, nachdem er sich das erste Mal geritzt hatte. Danach hatte er sich nur sehr allmählich damit abfinden können, dass er eine sehr dunkle Seite besaß, die unter bestimmten Umständen zum Vorschein kam. Irgendwann hatte er das aber als Teil von sich selbst akzeptiert und konnte mittlerweile einigermaßen damit umgehen.  "Ich wollte nicht, dass dir etwas passiert, klar? Was bringt es mir denn auch? Wenn ich will, dass du leidest, würde ich mich schon selbst darum kümmern."  "Als würdest du so nah an mich heran kommen!" Das kam nicht abweisend sondern absichtlich übermütig, er schien ihm also zu glauben. Das erleichterte Kai, hielt ihn aber nicht davon ab, ihre Position mit ein paar geschickten Griffen zu tauschen. Statt Yuriy aber anständig fest zu nageln, setzte er ein Knie auf eine der Wunden und verlagerte den Großteil seines Gewichtes darauf. Er hätte sich als überlegen gefühlt, wenn sein Gegner wenigstens auf gekeucht hätte... oder sein Gesicht in irgendeiner Art und Weise gezuckt hätte. Anmerken ließ er sich diese Kränkung seines Stolzes natürlich nicht: "Bin ich doch schon längst" Das fast schon sanfte Säuseln verklang im leeren Raum zwischen ihnen, ohne, dass irgendwer reagierte. Frustrierend langweilig, aber es war wahrscheinlich besser, dass Yuriy sich nicht wehrte. In seinem jetzigen Zustand, würde Kai nicht mithalten können. Noch eine Kerbe, die sich tief in seinen Stolz bohrte. Er hasste es nicht die Oberhand zu haben! Kapitel 11: Grau ---------------- Rei   Es war Montagnachmittag und er schlenderte gerade durch einen der unzähligen Parks. Es war kalt, aber er hielt sich an dem heißen Becher mit Tee fest, der ihm ein wenig Wärme spendete. Ihm war die Decke zu Hause mal wieder auf den Kopf gefallen und er hatte raus gemusst. Seine Eltern waren schon länger nicht mehr zu Hause gewesen und jetzt, da er Kai nicht einmal mehr erreichen konnte, wenn er wollte, fühlte er sich einsam. Das Umherwandern in der Natur lenkte ihn ein wenig davon ab. Es war merkwürdig, dass, jetzt wo Kai hier war, er sich noch weiter von ihm entfernt fühlte, als vorher. Hoffentlich würde sich das legen, wenn sie beide zusammen für das Turnier trainierten. Wenn nicht... er wusste wirklich nicht, ob er das so weiterhin konnte. Ja, er liebte Kai, aber wenn sie sich nie sahen und kaum miteinander redeten, dann würde das nicht mehr lange anhalten. Das konnte ein Paar nicht überstehen, oder? Nun, vielleicht war es ja noch zu retten. Er wollte diese Beziehung nicht aufgeben, auch wenn die Tage, in denen sie glücklich zusammen waren, immer mehr verblassten. Es war eine traurige Tatsache, aber es war nichts anderes als ein weiterer Abschied. Eigentlich hätte er das vorhersehen müssen. Kai war nicht der Typ, der sich voll auf so etwas emotionales einlassen konnte. Eine richtige Beziehung war einfach nichts für ihn, aber Verliebtheit machte eben blind. Er hatte es versuchen wollen und jetzt war der Aufschlag auf den Boden der Tatsachen umso härter. Als hätte er seine Lektion nicht schon gelernt. Aber es wäre nur ein Jahr gewesen, das sie getrennt waren. War es so verrückt, auf ein gutes Ergebnis zu hoffen? Dass es zwei Menschen schafften, sich ein Jahr kaum oder gar nicht zu sehen und dennoch eine ausgewogene Beziehung zu führen? Wenn er jetzt so darüber nachdachte, klang das ziemlich utopisch und naiv.   "Du musst Kai da raus holen." Vor Schreck hätte er sich fast den Tee über geschüttet. Schnell wirbelte er herum und ignorierte dabei das unangenehme Ziehen, das von der Stichwunde ausging. Verwirrt fixierte er den Rotschopf, der ganz locker an einen Baum gelehnt da stand. Wie zum Teufel hatte er das geschafft? Die feuerroten Haare waren eigentlich zu auffällig, als dass man sie einfach in einem sonst leeren Park übersehen konnte. War er selbst so tief in Gedanken gewesen? Dann aber realisierte er, was Yuriy ihm gerade gesagt hatte. Geschockt riss er die Augen auf: "Wo raus? Ist er eingesperrt? Was ist passiert?" Kurz sah sein Gesprächspartner so aus, als wolle er wütend oder frustriert - oder was auch immer - abziehen, aber er blieb da. "Du musst ihn davon überzeugen, wieder zurück nach Japan zu gehen. Kai gehört hier nicht her und er steckt seine Nase in Angelegenheiten, die ihn nichts angehen." In einem ersten Impuls wollte er Yuriy tatsächlich angehen und ihm sagen, er solle sich da raus halten, aber er hielt inne, als er die Botschaft hinter den Worten zu begreifen begann. Yuriy machte sich Sorgen um Kai, wollte ihm helfen, hatte angst, ihm würde etwas passieren. "Du magst Kai." Was für eine interessante neue Entwicklung. Wie war das denn passiert? Doch Yuriy gab nur ein zischendes Geräusch von sich und wandte sich ab: "Zeitverschwendung" Doch ehe sein Gegenüber auch nur einen Schritt tun konnte, war er bei ihm und packte ihn am Handgelenk. Nur seine Jahrelange Erfahrung und ein wenig Glück, ließen ihn den leichten Zug bemerken, der eine Abwehrattacke andeutete, und noch ehe Yuriy die Bewegung ausführen konnte, hatte er ihm bereits die Beine weg geschlagen. Eine Welle von Schmerz durchzuckte seinen Körper und ließen ihn auf keuchen, aber er nahm sich zusammen, um nicht in die Knie zu gehen. Der Russe war ein paar Schritte weg gestolpert. Zu dumm, eigentlich hätte er fallen müssen. "Bist du eigentlich irre!?", polterte Rei los, musste sich aber die Seite halten. Die plötzliche Bewegung hatte ihm wirklich nicht gut getan. Dumme Stichverletzung. "Wenn du mich zu Boden wirfst, könnte die Verletzung wieder aufgehen! Willst du mich umbringen!?" "Tz... selbst Schuld wenn du dich mit jemandem anlegst, mit dem du nicht mithalten kannst." Obwohl er sonst nicht auf den Mund gefallen war, wusste er nicht wirklich, was er darauf antworten konnte. Die schiere Gleichgültigkeit und Überheblichkeit, die Yuriy da an den Tag legte, warf ihn einfach aus der Bahn. "Ich habe mich nicht 'mit dir angelegt'. Ich habe versucht dich vom gehen abzuhalten." Das Schnauben, das er daraufhin als Antwort bekam, signalisierte ihm, dass es für den Russen schlicht und ergreifend das selbe war, ob er ihn angriff oder schlicht und ergreifend anfasste. Diese Waisenkinder hier waren doch alle irgendwie irre. Innerlich seufzte Rei. Das hatte er eigentlich nicht denken wollen. Aber war das denn so verwunderlich? Man hatte ihn hier abgestochen und alle, die er hier kennenlernte, verhielten sich merkwürdig und bedrohlich. Das war wirklich nicht normal. Aber er schätzte, dass die Kinder hier am wenigsten dafür konnten und einfach nur versuchten zu überleben. Wie deprimierend und angsteinflößend. Aber er sollte sich auf das wesentliche konzentrieren: "Egal ob du Kai magst oder nicht... warum soll ich ihn aus dem Internat holen? Und vor allem wie? Kai ist niemand, der sich was sagen lässt. Und ehrlich gesagt, kann er auch ziemlich gut auf sich selbst aufpassen." Aber alles was er als Antwort bekam, war eine weitere kalte Schulter. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn Yuriy drehte schon wieder ab und war dabei zu gehen. "Hey, jetzt warte doch mal verdammt!" Gott war das frustrierend, sollte er etwa Gedanken lesen? Wer wusste schon, was man den Kindern hier über andere Kulturen beibrachte. Vielleicht hielt der Kerl Chinesen tatsächlich für fähig so etwas zu tun. Irre, sagte er doch!   "Warum sagst du ihm das nicht selbst? Warum sagst du ihm nicht, dass er sich raus halten soll und dass es gefährlich ist?" Aber schon als Rei das ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, dass das seinen Freund nur dazu bewegen würde, noch tiefer zu graben, statt die Flucht zu ergreifen. Flucht.. pfft. Das war ein Wort, das im gleichen Satz mit 'Kai' nicht existieren konnte. Wahrscheinlich stoppte Yuriy deshalb auch nicht und ging einfach weiter, bis er in der grauen Einöde verschwand. War Russland so deprimierend grau oder kam ihm das nur so vor? Selbst die feuerroten Haare waren ihm seltsam blass und farblos erschienen. Wahrscheinlich bildete er sich das nur ein. Resigniert seufzend hob er den Teebecher wieder auf, dessen Inhalt sich nach der kurzen Kampfsporteinlage auf dem Boden verteilt hatte. Auch das noch. Zusammen mit dem grauen Schleier der über allem zu liegen schien, fühlte sich alles auch noch zunehmend kalt an. Langsam begann er wirklich Antipathien gegen dieses Land zu hegen.   ~*~   Manchmal waren ihm die Götter wohl hold, so wie heute. Denn nur zwei Stunden nach der seltsamen Begegnung mit dem Anführer der Borg saß er mit Kai in einem kleinen, wirklich gemütlichen Café und nippte an einem Kakao. Das war das erste Date, das sie seit sie beide hier in Russland waren, hatten und es tat seiner Seele unglaublich gut. Nun ja.. Date konnte man das vielleicht nicht nennen, aber sie unternahmen zumindest etwas zusammen. Wenn er wieder zu Hause war, würde er Byakko, seinem Schutzgeist, ausgiebig danken. Aber erst einmal von vorne. Kai hatte ihn kurz nach der Begegnung angerufen und ihn um ein treffen gebeten. Worum es ging, hatte er nicht wirklich verlauten lassen. Umso neugieriger war er jetzt. Natürlich würde er seinem Freund einen solchen Wunsch niemals abschlagen, auch wenn er zu bedenken gegeben hatte, dass er ja eigentlich Training hätte. Das war Kai allerdings herzlich egal gewesen. Er hatte nichts von seiner leicht rebellischen Seite verloren, das war angenehm. Jetzt jedenfalls saßen sie zusammen in diesem Café und schwiegen sich an, während Rei fast vor Neugier platzte, aber mit mäßigem Erfolg so tat, als wäre er ganz ruhig. Ihm war klar, dass, sobald er Kai in irgendeiner Weise drängen würde, das nie etwas gäbe. Nur die Götter wussten, wie froh er war, dass sich für einen Moment wieder alles anfühlte, als wäre es normal. Kurz überschwemmte ihn diese Erleichterung so sehr, dass er Kai am liebsten genommen und ihn nach Hause geschleppt hätte, wo er ihn eine ganze Weile lang nicht aus seinem Zimmer lassen würde. Leider war das eine sehr unangebrachte Reaktion darauf, dass seinem Freund eindeutig etwas auf dem Herzen lastete. Und eigentlich sollte er sich auch darauf konzentrieren, ob sein Liebster etwas sagte. Wenn er das verpasste, wäre das das Todesurteil für ihre Beziehung.   Allerdings dauerte es noch einige weitere Minuten, bis er endlich einen Ton hörte: "Ich denke ich war als Kind hier." Prompt hätte Rei fast den Kakao über dem Tisch verteilt. Glücklicherweise wirklich nur fast, aber es brauchte Kraft um das zu bewerkstelligen. Danach brauchte er einen Moment um wirklich sacken zu lassen, was er da gehört hatte. Er hatte das doch richtig verstanden, oder? "Du denkst du warst in dem Internat hier!?" Ein sehr schwaches Nicken ließ ihn nahezu mit einem Schock zurück. "Wie kommst du denn darauf?" Ja, wie so plötzlich? Rei hatte sein Verhalten durchaus das ein oder andere Mal mit dem von Yuriy verglichen, aber das hieß ja noch lange nicht, dass sie die gleiche Erziehung genossen hatten, oder? Es gab viele Menschen die sich zu einem Teil oder auch ganz wie ein Psychopath verhielten und ehrlich gesagt war Yuriy eher davon betroffen als sein Freund, aber das hieß ja auch nicht, dass all diese Menschen hier aufgewachsen waren. Kai hingegen schien sich dem aber relativ sicher zu sein, was ihn wieder zu der Frage brachte, wie er darauf kam. Doch bevor der ihm antwortete, warf er ihm einen mahnenden Blick zu. Ja, gut, das hatte er verdient. Er hatte so ungläubig gewirkt, dass sein Gegenüber leicht denken konnte, dass er ihn nicht ernst nahm. Darauf sollte er achten. Kai fiel es so schon schwer überhaupt darüber zu reden, er sollte ihn nicht noch weiter verunsichern.   "Yuriy hat sie auch...", begann er dann, nachdem er die zweite Hälfte seines Kaffees getrunken und einen neuen bestellt hatte. Die Antwort warf aber nur noch mehr Fragen auf. Doch noch ehe er laut aussprechen konnte, dass er nicht verstand, was er meinte, verdrehte Kai genervt die Augen und deutete möglichst unauffällig auf seinen Unterarm. Verwirrt folgte er seinem Fingerzeig und suchte nach etwas ungewöhnlichem, fand aber nichts. Nach einem Augenblick stellte er selbst fest, dass er den Anblick der Narben auf dem Arm seines Freundes als so normal empfand, dass er sie mittlerweile übersah. "Die Narben?", fragte er dennoch sicherheitshalber leise nach und bekam ein Nicken als Antwort. Das war tatsächlich ein auffälliges Merkmal, aber das sagte eigentlich noch nichts. "Kai... ich weiß, dass man gerne denkt, dass es maximal einen Ort auf der Welt gibt, an dem Schlimmes passiert, aber das ist leider nicht so. Die Narben könnten überall her kommen." Er versuchte nicht zu behutsam zu wirken, aber auch nicht zu sicher. Mann, war das schwer. Er fing sich dennoch einen genervten Blick ein. Wie frustrierend. Wusste Kai nicht, wie schwer es war, mit ihm umzugehen? "Er hat es als normal empfunden. Das deutet darauf hin, dass es anderen in dem Internat auch so geht. Aber das ist noch nicht alles." Er bekam endlich seinen neuen Kaffee und nahm einen Schluck. Reis Kakao war nicht einmal zur Hälfte getrunken und mittlerweile wahrscheinlich kalt. "Mir kommt vieles irgendwie bekannt vor und irgendetwas in mir warnt mich ständig davor weiter zu suchen. Außerdem..." Und er machte schon wieder eine Pause. Er war sonst immer sehr rational und direkt, das hier musste also enorm schwer für ihn sein. Es löste ein warmes Gefühl in ihm aus, dass er sich ausgerechnet ihm öffnete, auch wenn das unangebracht war. "Ich hatte heute Nacht einen Traum. Es war eine Erinnerung, da bin ich mir sehr sicher. Es war nicht in dem Internat.. sondern in einem Keller. Er war voll mit Maschinen und merkwürdigen Körpern und Schreien. Ich bin mir sicher, dass es eine Art Erinnerung war. Ich träume für gewöhnlich nicht so klar."   "Deshalb also!", das platzte eher aus ihm heraus, als dass es beabsichtigt war. Es brachte ihm einen verwirrten Blick ein und irgendwie tat es gut, mal kurz der zu sein, der dieses Gespräch in der Hand hatte. Aber im Gegensatz zu Kai, wollte er die Konversation nicht in die Länge ziehen: "Entschuldige. Kurz bevor du angerufen hast, war ich im Park spazieren und Yuriy hat mich abgefangen. Er hat mir gesagt, ich solle dich davon überzeugen, dass du das Internat verlässt. Kurz danach ist er dann wieder verschwunden." Kai musste nicht wissen, dass es eine kleine Auseinandersetzung gegeben hatte. Doch die einzige Reaktion die er bekam, war, dass Kai den brühend heißen Kaffee herunter kippte und aufstand, nachdem er viel zu viel Geld auf den Tisch geknallt hatte. Was hatte er denn jetzt wieder getan!? Konnte der Kerl nicht vernünftig mit ihm reden? Kapitel 12: Wahrheit -------------------- Kai   "Du bist echt wahnsinnig", zischte Yuriy neben ihm. Er war dabei aber so leise, dass Kai ihn kaum verstehen konnte. Kein Wunder, sie beide wussten, was hier auf dem Spiel stand.   Es waren drei Wochen vergangen, seit er mit Rei in dem Café gesessen hatte. Seitdem hatten sie sich kaum mehr gesehen. Sie beide hatten viel mit der Schule zu tun und Rei war wieder dabei mit dem Training anzufangen. Da sie schon länger nicht mehr im selben Kurs waren, trafen sie sich auch dort nicht. Es war allerdings geplant, dass sie ab nächster Woche zusammen an den Wochenenden trainierten, damit sie fit für den Wettkampf im Frühjahr waren. Zwischendurch irgendwann würde auch noch Weihnachten sein, was sie wahrscheinlich wie letztes Jahr zusammen verbringen würden. Kai hatte die letzten Wochen schlichtweg keine Zeit gehabt, weil er sich mit Yuriy beschäftigt hatte. Nachdem er erfahren hatte, wie sehr der sich in seine Angelegenheiten einmischte, hatte er beschlossen, härtere Geschütze aufzufahren. Natürlich keine körperlichen. Wie schon unzählige Male erwähnt, war es Kai bewusst, dass er noch keine Chance gegen den Russen hatte. Dennoch war auch das psychische Spiel nicht einfach gewesen. Aber auch wenn Yuriy äußerst intelligent war, mit Kai konnte er nicht mithalten. Irgendwann hatte er ihn klein gekriegt und ihn so dazu bringen können, ihm die Geheimnisse des Internats offen zu legen. Nun, zumindest hatte er begonnen ihm zu sagen oder zu zeigen, wie er an die Informationen kam, an die er wollte. Heute war die erste, größere Erkundungstour an der Reihe. Yuriy hatte sich unglaublich dagegen gesträubt, ihm die geheimen Kellerräume zu zeigen. Offenbar lebten die Kinder hier mit dem Wissen, dass etwas nicht stimmte, wollten aber nicht wissen was es war. Nachvollziehbar, aber in diesem Fall vollkommen irrelevant. Es hatte nur ein wenig Überzeugungskraft gebraucht und Yuriy hatte widerwillig zugestimmt. Jetzt gerade waren sie beide in einem der dunklen Gänge des Kellers und lauschten, ob von irgendwoher Schritte hallten.   "Mach dir nicht gleich ins Hemd.", zischte Kai auf die Anschuldigung, er sei verrückt, zurück. Dann löste er sich von der Wand, an der sie gepresst standen und lief vorwärts. Yuriy folgte ihm, das wusste er, doch er konnte ihn fast nicht hören. Entweder die Umfassende Ausbildung hier oder die Angst bei etwas Verbotenem erwischt zu werden, hatten ihn zu einem unschlagbaren Schleicher werden lassen. Das einzige Geräusch was so in der Dunkelheit widerhallte, waren Kais Schritte. Ihm war selbst nicht wirklich wohl dabei, wenn er ehrlich war. Die dunklen Gänge erinnerten ihn an seine finsteren Träume, vor denen er eigentlich schon seit der Ankunft in Japan davon lief. Doch es nutzte alles nichts. Wenn er wissen wollte, was hier los war, dann war es unbedingt notwendig, dass er auch die Keller untersuchte. Wenn sogar die Heimkinder sich davon fern hielten, musste etwas grausames dort lauern und er musste wissen, was es war.   Die Gänge waren kaum bewacht. Eigentlich liefen Sie niemandem über den Weg, aber Kai hatte immer wieder das Gefühl, etwas zu hören. Als wären Schritte ständig hinter ihm oder vor ihm. Schwere Schritte, langsame Schritte, die aber stetig bei ihnen waren. Er war sich nicht sicher, warum er das dachte, warum sein Kopf ihm diese Streiche spielte, denn so nervös er auch war, Wahnvorstellungen waren nun wirklich nicht sein Gebiet. Vielleicht waren es Erinnerungen, die ihn die letzte Zeit immer häufiger heimsuchten. Wahrscheinlich war es pure Paranoia. Aber egal was es nun letztendlich war, er würde sich davon nicht einschüchtern lassen.   Das Dumme an der ganzen Sache war allerdings, dass selbst Yuriy noch nie hier unten gewesen war. Nicht in diesem Teil des Kellers zumindest. Es gab auch noch einen anderen Bereich: das sogenannte Labor. Kai hatte es in den letzten Tagen einmal gesehen. Eine grausige Einrichtung voll mit Maschinen und Arzneischränken. Das Labor wurde dazu verwendet, um die Kinder hier mit legalen mitteln zu dopen und anderweitig zu optimieren. Und mit anderweitiger Optimierung, meinte er tatsächlich genetische Verbesserungen. Widerlich. Es war kalt dort und furchteinflößend und er war sich ziemlich sicher, dass daher seine Abneigung gegen Ärzte und Krankenhäuser kommen musste. Ja, Kai war mittlerweile überzeugt davon, dass er in diesem Internat einen Großteil seiner Kindheit verbracht hatte. Es war kein allzu großer Schock gewesen, wenn er ehrlich war. Es war mehr wie ein Puzzle, dass er endlich gelöst hatte. Ein wenig so etwas wie Erleichterung hatte ihn erfasst und eine Art Zufriedenheit darüber, dass er endlich wusste, wo sein Ursprung lag. Jetzt war alles ganz logisch und sinnvoll. Jetzt wusste er warum er war wie er war und, dass es nicht einmal seine eigene Schuld war. Er selbst war nicht von Grund auf verkommen und psychopathisch. Man hatte ihn hier dazu gemacht. Das war tatsächlich etwas, wofür er sich immer geschämt hatte und jetzt brauchte er sich keinerlei Gedanken mehr darum zu machen. Wirklich angenehm. Was noch blieb, war aber der Kampf den er weiter kämpfen musste. Denn er wollte nicht ewig so kaputt bleiben wie er jetzt war und da spielte es auch keine Rolle, wer das zu verantworten hatte. Es lag allein in seiner Hand, das zu ändern.   Es fehlte aber noch etwas. Etwas ganz entscheidendes: Das letzte bisschen Gewissheit über wirklich alles, was hier vor sich ging. Denn etwas fehlte noch, das wusste er. Irgendetwas war da noch, er konnte nur nicht sagen was und das machte ihm irgendwo angst. Denn wenn sein Geist sich nicht daran erinnern wollte, musste es etwas furchtbares sein. Yuriy wusste etwas, das war ihm auch schnell klar geworden. Er wusste etwas, vor dem er ihn beschützen wollte, so absurd das auch klang. Kai war sich nicht ganz sicher, warum er das wollte, aber er war sich sicher, dass er es wollte. Vielleicht war es ein Geheimnis, über das niemand redete. Vielleicht hatte er damals etwas schlimmes angestellt. Vielleicht war es etwas, was jeder mitmachte, eine Art Aufnahmeritual möglicherweise. Ungewollt hatte er sogar an Vergewaltigung gedacht, aber wenn er ehrlich war, bezweifelte er das doch sehr. So züchtete man keine Kampfmaschinen. Auch wenn er selbst es nicht besonders mochte, wenn man ihn berührte, hatte er niemals Anzeichen für eine solche Grausamkeit gezeigt. Dass er sich nicht gerne anfassen ließ, lag sowieso nur daran, dass er dafür jemand anderen nah an sich heran lassen musste und sich damit angreifbar machte. Es war also eher ein antrainiertes Abwehrverhalten. Ein Verhalten, ganz nebenbei erwähnt, dass jeder andere in diesem Internat ebenfalls an den Tag legte. Also ein weiterer Beweis dafür, dass er hier aufgewachsen war.   Letztendlich blieb er vor einer großen Tür stehen. Es war eine ganz ähnliche, wie die des Labors: schwer und aus Metall. Dort hinter befand sich eine Antwort. Eine Antwort, auf die er die Frage nicht kannte und genau in diesem Moment, musste er sich dazu entscheiden, diese Frage kennenlernen zu wollen und die Antwort dazu ertragen zu müssen. Sein Unterbewusstsein, momentan alles andere als tatsächlich unterbewusst, signalisierte ihm deutlich, dass er es nicht wissen wollte. Es signalisierte ihm, dass er umdrehen und gehen sollte - weit weg - und dass er nie wieder einen Gedanken daran verschwenden sollte. Niemals wieder... Aber das konnte er nicht. Er musste wissen wer er war. So lange hatte er einen vollkommen Fremden im Spiegel betrachtet. So lange hatten ihn Alpträume heimgesucht. Sein Geist warnte ihn davor, dass die Alpträume hier nach sicherlich schlimmer werden würden. Das war ihm egal. Gegen etwas, was man kannte, konnte man etwas tun. Dann hatte er etwas, gegen das er kämpfen konnte. Es war dann kein formloses Gesicht mehr, das ihn bedrohte. Endlich würde alles klar vor ihm liegen.   Und dennoch zitterte seine Hand, als er sie zum Türgriff führte und auch, als er eben diesen herunter drückte. Wie zu erwarten, war die Tür schwergängig. Kurz durchflutete Licht den finsteren Gang und blendete die beiden Jugendlichen, die daraufhin eilig in dem Raum verschwanden, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Als sich die Augen der beiden an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, erstarrten sie.   Vor ihnen lag ein riesiger, weiß gekachelter Raum, in dem große Behältnisse standen, die mit einer Flüssigkeit gefüllt war und irgendetwas schwamm darin herum. Nur zögerlich gingen beide vorwärts. Yuriy so abgelenkt, dass auch seine Schritte zu hören waren. Nur das leise summen irgendwelcher Maschinen, versuchte dieses Geräusch zu übertönen. Beide Russen konnten erst einmal nicht einordnen, was sie sahen, bis sie an einem der Tanks angekommen waren. Wie erstarrt standen sie davor und versuchten zu verarbeiten, was nicht verarbeitet werden konnte. In dem Tank schwamm ein Körper, kaum noch als solchen zu erkennen. Von ihm aus gingen unzählige Schläuche, Kabel und was sonst noch alles. Ausgezehrt spannte sich die Haut über Knochen, die Gesichter bis fast zur Unkenntlichkeit zusammengefallen. Leblos... nicht wahr? "Was ist das für ein Monitor?", hauchte Yuriy mehr, als dass er wirklich sprach. Kai musste sich zwingen seinen Blick von dieser Grausamkeit abzuwenden und dann, zum ersten Mal in seinem Leben, wurde ihm schlecht vor entsetzen. "Ein Herzschlag?", keuchte er und wich erschrocken von dem Tank zurück. Nur um gegen einen anderen zu stoßen. Ein Blick über seine Schulter eröffnete ihm freie Sicht auf einen weiteren Körper. Auch dessen Monitor zeigte Vitalwerte an. Kai gab ein würgendes Geräusch von sich und trat in die Mitte, zwischen den beiden Behältern. Yuriy wirkte ungesund gräulich im Gesicht, verzog aber keine Miene. "Was tun die hier mit denen? Wer ist das?" Kai konnte nicht vermeiden, dass seine Stimme den Schock mit ausdrückte, den er empfand. Er war nicht so hartgesotten wie sein Begleiter, der in aller Ruhe erwiderte: "Ich weiß nicht was sie tun. Aber das sind die angeblich adoptierten." Kais Magen gab und nachdem er sich gerade wieder ganz aufgerichtet hatte, ertönte ein tiefes, mechanisches Geräusch. Ohne es ausprobieren zu müssen, wussten beide, dass ein Mechanismus gerade die Tür versperrt hatte. "Kai... was machst du hier unten?" Erschrocken wirbelte der Angesprochene herum und sah Volkov zwischen den unzähligen Tanks hindurch auf sie zukommen. Er wirkte ganz normal. So schleimig wie immer. Ihm machte diese Szenerie gar nichts aus. Kein Funken Mitleid war in seinen Augen zu sehen. Widerlich.   Kai spannte sich an und sah automatisch Hilfesuchend zu Yuriy, doch der hatte sich etwas Abseits gestellt und schien nur noch ein unbeteiligter Beobachter. Oder vielleicht doch nicht so unbeteiligt, wie er jetzt erfahren durfte: "Yuriy hat mir erzählt, dass du unangenehme Fragen stellst. Ich habe ihm erlaubt sie zu beantworten, weil ich sehen wollte, wie weit du gehen würdest. Offenbar bist du bis zum Äußersten gegangen." Was? Diese Ratte! Yuriy hatte ihn von Anfang an verraten? Aber was hatte er denn auch erwartet? Dass sie Freunde waren? Dass Yuriy ihm den Rücken frei hielt? Wohl kaum... er hätte das wissen müssen. Es war alles viel zu glatt gelaufen. Alle Türen waren offen gewesen. Yuriy hatte ihm immer ausführlich geantwortet. Sie waren niemals jemandem begegnet. Gott, er war so blind gewesen! Wie hatte er sich nur so sehr von seiner Aufgabe einnehmen lassen können, dass er das übersehen hatte? Jetzt war es zu spät und es hieß Ruhe bewahren. "Du krankes Schwein!" Nun gut, das war nicht die beste Art von 'Ruhe bewahren', aber wenn er dieses Ekel angreifen konnte, wenn auch erst einmal nur verbal, lenkte ihn das ein wenig von der heiklen Situation ab. "Wie kannst du diesen Jungen das antun? Hast du denn kein bisschen Menschlichkeit in dir?" Doch Volkov berührten seine Worte gar nicht. Er blieb ganz ruhig, sah ihm nur mit einem überheblichen Lächeln entgegen und blieb schließlich dicht vor ihm stehen. "Na, na Kai. So redet man doch nicht mit seinem Erzieher, oder?" Die Worte waren ohne jegliche Drohung ausgesprochen worden. Sie waren nur genauso schleimig wie sonst auch und dennoch brachten sie ihn zum Erstarren, als hätte Volkov gerade eine Pistole auf ihn gerichtet. Angst erfüllte ihn. Eine tiefe Angst, die er selbst nicht greifen konnte, die er nicht verstand. War das das Resultat der Internatserziehung? Wenn der Leiter auch nur eine Ermahnung aussprach, verfiel man in eine Schockstarre? Wie schaffte Volkov das? Wie? Nach so vielen Jahren sollte er keine Macht mehr über ihn haben! Er konnte sich ja nicht einmal an ihn erinnern! Sein eigener Körper erinnerte sich aber nur zu gut. Die Narben auf seinen Armen begannen plötzlich zu brennen, als wäre jemand dabei, die Haut dort auseinander zu reißen. Eine tonnenschwere Last legte sich auf seine Brust und erschwerte ihm das atmen, während sein Herz raste und versuchte den wenigen Sauerstoff den er hatte, so schnell wie möglich durch seinen Körper zu pumpen. Ihm wurde schwarz vor Augen und es viel ihm schwer aufrecht stehen zu bleiben. Lähmende Angst legte sich um seine Muskeln, machte jede Bewegung eigentlich unmöglich, während sein Kopf ihm immer wieder zu schrie, er solle verschwinden, solle weglaufen, solle hemmungslos gegen die dicke, eiserne Tür schlagen, in der Hoffnung, sie würde aufspringen. Doch er rührte sich kein Stück. Nie in seinem Leben hatte er solche Angst gehabt. Nicht einmal vor seinem eigenen Großvater.   Und dann plötzlich schossen ihm Bilder durch den Kopf. Grausame, blutige Bilder. Ihm wurde wieder schlecht, doch sein Magen enthielt nichts mehr, was er loswerden konnte. Er schmeckte nur saure Galle auf seiner Zunge. Als er seinen Blick auf seine Arme richtete, bemerkte er, dass er sie blutig gekratzt hatte. Eine nervöse Anwandlung, die er vor Jahren schon losgeworden war. Vor so vielen Jahren. "Ich dachte ich hätte dir das abgewöhnt." Die Stimme Volkovs drang nur stumpf zu seinen Ohren durch, sorgte aber für einen weiteren Schwall Erinnerungen, den er nicht unterdrücken konnte. Mit dem kratzen hatte er angefangen, kurz nachdem er in diesem Internat angekommen war. Damals... nach dem Tod seiner Eltern. Es war ein nervöser Tick gewesen, der sich von Tag zu Tag verschlimmert hatte. Einer der Lehrer hatte ihn einmal dabei erwischt und Volkov Bescheid gegeben. Der hatte ihm mit einem Messer den Unterarm aufgeschlitzt. Nicht tief, aber tief genug, dass es seine erste Narbe gegeben hatte. Wenn er seinen eigenen Körper so wenig wertschätzte, konnte man ihn ja auch weiter verschandeln, hatte Volkov damals gesagt. Und, dass man solche Schwächlinge wie ihn hier nicht gebrauchen konnte. Jedes mal wenn er ihn danach erwischte, gab es eine weitere Narbe. Das war aber nicht der Grund gewesen, warum er aufgehört hatte. Diese Behandlung hatte es sogar noch verschlimmert. Kurz flackerte sein Blick wieder zu Yuriy. Ich mag deine Arme. Sie sind so stark und muskulös. Nicht so wie meine. Schade, dass sie ständig unter Bandagen versteckt sind. Die Kinderstimme hallte ihm durch den Kopf. Er konnte sie nicht so recht zuordnen, aber irgendetwas sagte ihm, dass es Yuriys Stimme gewesen war. Ob das der Grund gewesen war, warum er aufgehört hatte sich zu kratzen? Fast schon automatisch ließ er die Arme wieder sinken. Diese eine Erinnerung hatte ihn wieder ruhiger gemacht und so konnte er Volkov wieder offen ansehen. "So ist es besser, nicht wahr, Kai?" Doch er ging gar nicht erst darauf ein. "Was machst du mit den Körpern?", feixte er, statt ihm zu antworten. "Ich schenke ihnen ein zweites Leben." Mit Stolz in den Augen, betrachtete Volkov sein widerliches Werk und erneut versuchte sich Kais Magen umzudrehen. Wie konnte man nur... warum gab es solche Menschen? Warum hielt ihn niemand auf? Ein so schleimiger Kotzbrocken konnte unmöglich genug Kontakte haben, um das hier zu verbergen, oder? War er wirklich so intelligent? Vieles hatte Kai sich ausgemalt. Viele Grausamkeiten, aber nicht das hier. Das mussten dutzende Kinder sein. Die ganze, riesige Halle, war voll gestellt mit diesen Tanks. Und dieses Monster war auch noch stolz darauf! "Ich nutze die Körper, um neue Methoden und Mittel zu testen, um die noch lebenden Kinder zu verbessern." Zu verbessern... Kais Blick schweifte erneut zu Yuriy. Ob er verbessert war? Ob er von dieser Abscheulichkeit profitierte? Nach dessen Reaktion vorher zu urteilen, hatte er keine Ahnung von den Machenschaften hier gehabt, aber jetzt stand er einfach teilnahmslos da. Wie die Puppe die er nun einmal war. Ein braver Soldat, der seinem Herren diente. Straßenköter Schoss es ihm erneut durch den Kopf und plötzlich wusste er wieder, woher dieser Ausdruck kam. Alle in dieser Einrichtung waren Köter, die man von der Straße geholt hatte und die hier einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Tu was man dir sagt, gehorche und solange du nützlich bist, hast du einen Platz, zu dem du gehörst. Er selbst war niemals anders gewesen. Erst Volkov, dann sein Großvater. Trotz seiner Rebellion hatte er sich bereit dazu erklärt, der Erbe zu werden. Solange du am Ende deiner Ausbildung bereit bist, eine Firma zu leiten, kannst du tun, was du willst. Er hatte es für Freiheit gehalten, aber das war es nicht. Freiheit war an keine Bedingung geknüpft. Er war immer noch ein Soldat.   "Du bist so still geworden, Kai. Möchtest du denn nicht erfahren, warum du hier her gekommen bist? Warum es dich in diesen Raum gezogen hat, seit du hier angekommen bist?" Seine Augen richteten sich wieder auf das Monster vor ihm. Yuriy konnte warten. "Was meinst du?" Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf die Züge von Volkov, ganz so, als hätte er ein Spiel gewonnen. Aber Kai wusste, dass es noch lange nicht vorbei war. Dieses Spiel hatte gerade erst begonnen. Doch Kai wusste jetzt, dass er seinen Gegner nicht unterschätzen durfte. Er war gefährlich, hinterhältig und offensichtlich intelligenter und trickreicher als er bisher angenommen hatte. Vorsicht war geboten. "Ich zeige es dir. Komm mit."   Kai vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Hauptsächlich um zu verbergen, wie sehr sie zitterten, aber auch, weil er so gelassen wie möglich wirken wollte. Seine Hände zu vergraben, machte ihn angreifbar und drückte deshalb Selbstsicherheit aus. Er tat so, als würde es sich nicht bedroht fühlen, auch wenn es ihm schwer fiel. In solchen Situationen war es wichtig, in irgendeiner Weise die Oberhand zu behalten und wenn es nur aus einer so kleinen Geste bestand. Er würde sich nicht unterkriegen lassen. Er nickte nur und folgte dem Erwachsenen dann.   Kapitel 13: Yuuya ----------------- Kai   "Kai, ich hab angst." Genervt seufzte der Angesprochene, blieb aber auf dem Ast seines Baumes liegen und starrte in den Himmel. Es war ein angenehmer, sonniger Tag und er hatte wenig Lust, den mit Babysitten zu verbringen. Er wollte seine Ruhe, schließlich bekam man die hier nicht oft. Es war der Tag vor dem Turnier, das bestimmen sollte, wer in das Weltmeisterschaftsteam vorrückte. Natürlich war er fest davon überzeugt zu gewinnen. Eine Alternative dazu gab es für ihn nicht. "Du bist gut in deiner Kategorie, also mach dir nicht ins Hemd." Seine Stimme klang genervt, wie immer, wenn er mit ihm sprach. Der Junge war wie eine Klette, dabei hatte er selbst genug eigene Probleme. Doch trotz aller Abweisung, hatte er es nicht geschafft den Kleinen zu vertreiben. In jeder freien Sekunde war er bei ihm, zumindest wenn Yuriy nicht in der Nähe war. Vor dem hatte er offensichtlich Angst. Er fragte sich wirklich, warum er dann ausgerechnet bei ihm herumhing. Als wäre er nicht mindestens genauso furchteinflößend wie Yuriy. Stärker war er allemal. "Aber ich will nicht kämpfen.", murmelte der Junge jetzt weinerlich und hilflos. Das würde noch eine Weile dauern. "Du hast keine Wahl, Yuuya." "Aber ich will nicht! Ich will auch gar nicht in das Nationalteam! Ich will... ich will einfach nur nach Hause." Ging das schon wieder los. "Yuuya", begann er ermahnend. "Du hast keine Wahl und du kannst auch nicht nach Hause. Deine Eltern sind tot, klar? Finde dich endlich damit ab. Und um hier zu Überleben und eine gute Position zu haben, musst du eben kämpfen. Und du bist gut. Also hör endlich auf rum zu heulen." Doch das brachte den Jungen immer noch nicht zum Schweigen. Im Gegenteil, es schien ihn noch mehr verzweifeln zu lassen. "Und was ist, wenn ich trotzdem verliere? Manche, die nicht die erwartete Leistung bringen, verschwinden plötzlich." "Mach dich nicht lächerlich. Die wurden adoptiert. Das hört man doch immer wieder. Das hat nichts mit ihrer Leistung zu tun. Vielleicht wurden ein paar auch raus geschmissen, wer weiß? Aber warum sollte das schlimm sein? Du willst doch sowieso nicht hier sein." Er brauchte nicht zu sehen, dass der Kleine in sich zusammensank, um zu wissen, dass er es tat. Dieses Weichei würde es hier niemals zu etwas bringen. "Draußen ist es noch schlimmer... die anderen Menschen auf der Straße sind.... sind..." Kai erfuhr niemals, was die anderen waren, denn Yuuya brach einfach ab und verstummte. Wenigstens hatte er jetzt endlich seine Ruhe. Solange die Nervensäge still war, konnte er wenigstens so tun, als wäre er allein.   Kai fiel es schwer, sich von dieser Erinnerung loszureißen, doch er musste, bevor er darin vollkommen versackte. Er war auf die Knie gesunken, ohne es zu merken und auch jetzt änderte er nichts daran und starrte nur auf das Behältnis vor ihm und den Körper, der darin schwamm. Er war sich nicht sicher, warum er den Jungen erkannte, denn eigentlich war der Körper bis zur Unkenntlichkeit zerfallen. Hier und da, löste sich die Haut vom Knochen, der Bauch war aufgebläht und die Haare komplett ausgefallen. Die Augenhöhlen hinter den Lidern waren eingefallen, als wären die Augen selbst gar nicht mehr vorhanden. Nur das leise Piepsen des Monitors zeigte überhaupt noch, dass er am Leben war. Dennoch war er sich sicher, dass das Yuuya war. Er fühlte es. Das war einmal das Kind gewesen, das ihn mit seiner Anhänglichkeit schier in den Wahnsinn getrieben hatte und das er trotz allem, irgendwie gemocht hatte. Kurz nach dem Verschwinden des Jungen, war Souichirou aufgetaucht. ... Nein... nicht Verschwinden... da war etwas anderes gewesen.   "Erinnerst du dich, Kai?" Volkov war neben ihn getreten und betrachtete den Jungen hinter dem Glas vollkommen gelassen. "Er ist ausrangiert und ausgeschlachtet. Wir müssen ihn bald entsorgen." Ausrangiert... ausgeschlachtet... entsorgen... Wie ein Auto, das seinen dienst getan hatte. Wie ein Ding ohne Seele. Wie konnte er nur so von einem menschlichen Wesen sprechen? Einem Wesen, das einmal sein Freund gewesen war. "Was schaust du so entsetzt? Er hat mir gute Dienste geleistet und das habe ich allein dir zu verdanken." Ihm? Was hatte er damit zu tun? Yuuya war einfach verschwunden, das war nicht seine Schuld gewesen. ... Oder?   Wieder und wieder schrie sein Verstand, sein Unterbewusstsein, sein Geist, ja, sein ganzes Selbst, dass er aufstehen und verschwinden sollte. Dass er weglaufen und all das hier einfach vergessen sollte. Aber er war nicht dazu in der Lage sich zu rühren. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Nichts an ihm gehorchte ihm noch. Er war vollkommen machtlos und eingenommen von der Szenerie. Vollkommen entsetzt und unfähig, irgendetwas zu ändern. Er konnte nicht weg. Er konnte nicht mehr zurück. Es war zu spät. Die Zeit, die er zum Weglaufen gehabt hatte, war abgelaufen und er Vollidiot war zurückgekehrt. Er hätte weg bleiben sollen.   Verdrängte Erinnerungen konnten nur von einem Hirnschaden oder einem Trauma hervorgerufen werden. Das war ihm schon immer klar gewesen. Er war nicht mit besonderen Verletzungen zu seinem Großvater gekommen, also war ihm schon immer bewusst gewesen, dass es ein Trauma hatte sein müssen. Er hatte angenommen, es wäre die Erziehung gewesen. Diese Einrichtung.. sein Leben hier. Die Summe an kleinen, furchtbaren Ereignissen, die immer wieder aufgetreten waren und ihn allmählich zermürbt hatten, bis sein Geist sich in Unwissen geflüchtet hatte. Er hätte wissen müssen, dass dem nicht so war. Schon immer war er stark gewesen und das nicht nur körperlich. Er hielt einiges aus, hatte all die Jahre mit so vielen Lasten gelebt, die ihn oft versucht hatten zu erdrücken, doch er war immer stärker gewesen. Er hätte wissen müssen, dass es etwas viel, viel furchtbareres gewesen sein musste. Er hätte es wissen müssen...   Stumm saß er da und spürte die Tränen, die ihm die Wangen hinab rannen. Es war ihm egal. Das Erste Mal, dass er weinte, seit dem Streit mit Souichirou. Es war ihm egal. Es war ihm egal, denn das was er gerade empfand, drohte ihn vollkommen zu zerfressen. Es drohte ihn zu verschlingen und niemals wieder los zu lassen. Wie sollte er das nur ertragen? Wie sollte damit fertig werden? Wie sollte er jemals damit leben können? Er hatte einen Menschen getötet.   Das Turnier damals war gut für sie alle gelaufen. Gut für ihn, Yuriy und sogar für Yuuya. Sie alle gewannen in ihrer Kategorie, wurden ins Nationalteam aufgenommen. Und so wie es Tradition war, kämpften die Sieger gegeneinander um den Teamcaptain auszuwählen. Yuuya hatte gegen ihn antreten müssen und wollte freiwillig aufgeben. Doch weder Kai noch die Schiedsrichter noch Volkov hatten ihm das erlauben wollen. Kai hatte ihn angefahren, ihn beleidigt, was für ein Schwächling und Feigling er doch sei. Er hatte den Jungen anstacheln wollen, denn nichts war schlimmer für ihn, als kampflos zu gewinnen. Er hatte nicht gewusst, dass Yuuya verletzt war. Niemand hatte das. Seine Milz war angerissen und nach einem gezielten Tritt, war er einfach zusammengebrochen. Später hatte Kai erfahren, dass Yuuya verstorben war. Nun, wohl nicht gänzlich. Schließlich wurde er hier von dieser abartigen Maschinerie noch am Leben erhalten. Tag für Tag... Jahr für Jahr...   "Du siehst Kai: Nicht nur ich habe Blut an meinen Händen. Du hast es auch, genau wie jeder andere an diesem Institut"   Rei   "Wo ist Kai!?", zischte Rei aufgeregt dem Russen entgegen, der ihm gerade den Weg in das Zimmer seines Freundes versperrte. "Er ist nicht zu sprechen." Das ging jetzt schon mehrere Minuten so und er verstand nicht warum. Heute hätte Kai zum Training auftauchen müssen, aber das ist er nicht. Außerdem hatte er ihn die letzten Tage nicht einmal in der Schule gesehen. Auch wenn sie da nicht miteinander sprachen, zumindest hatte er ihn da immer gesehen! Und jetzt wo er die Verabredung nicht eingehalten hatte, hatte sich seine Sorge nur bestätigt. Irgendetwas war passiert. Kai war nie unzuverlässig gewesen, allein schon, weil er selbst nicht mit derartiger Zurückweisung leben konnte. Zu lebhaft konnte sich Rei noch an das eine Mal erinnern, als er seinem Freund nicht gesagt hatte, dass er die Verabredung im Park nicht einhalten konnte. Was das ein Drama gewesen war. Kai würde also niemals ohne Grund einfach nicht auftauchen. Er würde absagen! "Lass mich durch! Ich will zu ihm!" "Er ist krank und braucht Ruhe." Graaa! Das war zum Haare raufen! Was bildete sich dieser Russe eigentlich ein? Er hatte jedes Recht, seinen Freund zu sehen. "Rei, verschwinde oder ich tue die weh. Das ist mein Ernst." "Denkst du das juckt mich!? Es geht hier um Kai! Also lass mich durch oder ich tue dir weh!" Doch zu der Auseinandersetzung kam es nicht, denn in diesem Moment wurde die Zimmertür aufgedrückt und Kai erschien auf der Bildfläche. Geschockt sah Rei seinen Geliebten an. Er bot ein furchtbares Bild. Seine Augen waren wie vom weinen vollkommen verquollen und rot, darunter tiefe, schwarze Ränder. Sein Gesicht wirkte eingefallen und die Haut so blass, dass sie fast durchscheinend wirkte. Er wirkte krank und abgemagert und vollkommen fertig. Er sah ihn einfach nur an, schien dabei aber keinesfalls wach oder lebendig. Als wäre er geistig in einer vollkommen anderen Welt gefangen und käme nicht mehr heraus.   Was Rei aber fast noch mehr schockierte, war der erschrockene, besorgte Blick von Yuriy, der sich sofort zu Kai umgewandt hatte. "Was machst du hier?", zischte er vorwurfsvoll. "Geh wieder ins Bett!" Doch Kai rührte sich kein Stück. "Was... was ist passiert?", war das einzige, was Rei heraus brachte. "Nichts", feixte Yuriy. "Und jetzt verschwinde!" Und damit drehte der Russe seinen Geliebten einfach um und schob ihn wieder ins Zimmer zurück. Ein leises Klicken verriet Rei, dass er abgeschlossen hatte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als einfach da zu stehen und zu versuchen, das eben Gesehene irgendwie zu verarbeiten. Was war nur passiert, was Kai so aus der Bahn geworfen hatte? Warum ließ Yuriy ihn nicht zu ihm? Er konnte ihm sicherlich helfen! Schließlich war Kai doch auch an die Tür gekommen, oder? Sicherlich hatte seine Stimme ihn angelockt. Sicherlich wollte er ihn sehen! Dann aber erinnerte er sich unwillkürlich an seinen Gesichtsausdruck und war sich nicht sicher, ob er überhaupt etwas mitbekommen hatte. Ob er einfach nur dem Lärm gefolgt war? Was sollte er jetzt tun? Einfach gehen? Das konnte er nicht... er konnte ihn nicht einfach alleine lassen. Nicht, wenn es ihm offenbar so schlecht ging. Aber was blieb ihm anderes übrig?   Seufzend setzte er sich an die Wand gegenüber der Tür. Irgendwann musste einer von beiden wieder aus dem Zimmer kommen und dann würde er sich nicht wieder abschütteln lassen. Egal wie lange es dauerte. Er würde warten. Kapitel 14: Vergangenheit ------------------------- Rei   "Du bist echt die Pest. Dich wird man auch nicht los, ehe man dich verbrennt." Rei sprang auf, etwas erschrocken, denn er war eingenickt. Es war mitten in der Nacht und er hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass noch etwas passieren würde. Jetzt stand Yuriy vor ihm und er wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte. Der Russe wirkte müde und abgeschlagen und das machte Rei angst. Es war das dritte Mal, dass ihm auffiel, dass Yuriy sich etwas aus seinem Freund machte. Jemanden, der sonst vollkommen desinteressiert war, so besorgt zu sehen, konnte nichts gutes bedeuten. "Was ist passiert?" Entgegengesetzt zu dem vergangenen Mittag, versuchte er es jetzt mit Ruhe, auch wenn ihn die kühlen Augen, die frostig auf ihm ruhten, nervös machten. Er wollte einfach nur zu Kai und ihm beistehen, egal was passiert war. Er wollte nur für ihn da sein dürfen. Es machte ihn schier wahnsinnig, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Doch er schien nicht zum dem Russen vor ihm durchdringen zu können: "Das geht dich nichts an." Auch diese Worte kamen ruhig, aber mit einer Endgültigkeit, die ihn erschreckte. "Yuriy, ernsthaft..." Doch weiter kam Rei gar nicht. "Nein! Es geht dich nichts an. Da kannst du mit ihm verbandelt sein so viel du willst. Ich bin nicht in der Position dir irgendetwas zu erklären." War es tatsächlich freundschaftliche Loyalität, die ihm da demonstriert wurde? Was war nur in den letzten Wochen zwischen den beiden passiert, dass sie plötzlich so eng miteinander waren? Warum hatte Kai ihm nicht erzählt, dass sie sich so gut verstanden, ja sogar befreundet waren? Was hatte er da verpasst? Aber das war gerade nicht wichtig. Sauer darauf zu sein, dass sein Freund ihn weiterhin so aus seinem Leben ausschloss, konnte er auch später noch. Erst einmal musste es dem wieder gut genug für einen Streit gehen...   "Dann lass mich zu ihm, damit er es mir erklären kann." "Ich denke nicht, dass er momentan dazu in der Lage ist." Warum nur, war der Kerl so stur? "Dann lass mich zu ihm, damit ich einfach bei ihm sein kann. Ich bin sein Freund Yuriy! Denkst du nicht, es würde ihm gut tun, jemanden bei sich zu haben, dem er vertrauen kann?" Irgendetwas in dem Gesicht des Russen veränderte sich kurz. Eine Emotion huschte darüber, die Rei nicht bestimmen konnte. Hatte er da etwas getroffen? "Yuriy...", zischte er finster, als er Begriff, worauf sein Gegenüber reagiert hatte. "Was hast du getan?" Bei dem Wort 'Vertrauen' war er fast zusammengezuckt. Er musste etwas getan haben. Etwas schreckliches. Etwas, was Kai offensichtlich zerstört hatte. Aber das war unlogisch. Wenn Yuriy diesen Zustand ausgelöst hatte, warum nur war er dann so besorgt um Kai? Das ergab keinen Sinn. "Das ist alles deine Schuld!", brach es dann aber plötzlich aus dem Russen heraus. Wesentlich emotionaler als Rei das je erwartet hätte. Es waren nicht direkt greifbare Emotionen, aber der Druck der hinter diesen Worten steckte, sagte viel aus. "Bitte was!?" Das war ja wohl die Höhe! Er hatte Kai seit über einer Woche nicht gesehen und noch viel länger nicht mit ihm gesprochen und dann sollte plötzlich er Schuld sein!?   Doch noch ehe Rei in Wut verfallen konnte, wandte sich Yuriy ab. "Komm mit." Verdutzt blieb er erst einmal an Ort und Stelle stehen und sah seinem Gesprächspartner einfach nur hinterher, bis der fast in der Dunkelheit des Flurs verschwunden war. Erst dann entsann er sich, dass er sich in Bewegung setzen musste, um folgen zu können.   Erst als sie weit genug von allem weg waren, was irgendwie ihr Treffen mitbekommen könnte, blieb Yuriy stehen und wandte sich wieder an ihn. Sein Blick wirkte merkwürdig abwesend und er schien zu zögern. Rei wartete, aus Angst, wenn er etwas sagte, könne Yuriy es sich anders überlegen. Es dauerte ein wenig, aber dann schien er sich endlich gesammelt zu haben: "Ich habe dir gesagt, du sollst ihn nach Japan zurück schicken! Aber dich hat nur interessiert, was ich für eine Beziehung zu ihm habe! Du hast mir nicht einmal richtig zu gehört. Jetzt siehst du, was wir davon haben!" Verwirrt und etwas erschrocken über den Ausbruch, trat Rei einen Schritt zurück, fasste sich dann aber schnell wieder. "Man kann Kai zu nichts überreden! Du warst die ganze Zeit bei ihm, warum hast du nichts getan!?" "Als ob ich eine Wahl hatte!" Das Gespräch der beiden mochte energisch sein, aber weil sie nicht erwischt werden wollten, sprachen sie weiterhin sehr leise. "Man hat immer eine Wahl! Egal was los war, du hättest ihm helfen müssen!" "Eine Wahl? Ja, zu sterben! Das wäre meine Wahl gewesen! Und das auch nur, wenn ich Glück gehabt hätte. Hör auf von Dingen zu reden, von denen du keine Ahnung hast!" "Ich habe nur keine Ahnung, weil weder du noch Kai noch sonst wer irgendetwas erzählt! Woher soll ich also etwas wissen? Ich kann wohl kaum hellsehen!" "Du bist nur ein erbärmliches, verweichlichtes Lichtkind. Das hier geht dich nichts an!"   In diesem Moment wurde es Rei zu viel. All der Frust und die Angst und die Sorge brachen aus ihm heraus, als er seine Faust ballte und nach seinem Gegenüber schlug. Doch er kam nicht weit, da hatte Yuriy seine Hand abgefangen und hielt sie in einem eisernen Griff fest. "Siehst du? Du hast nicht einmal Ahnung vom Kämpfen. Du warst noch nie hier. Du bist ein Außenseiter und wirst es auch immer bleiben. Du..." Der zweite Versuch saß. Yuriy musste vollkommen übermüdet sein, dass er das nicht kommen gesehen hatte, aber das war Rei herzlich egal. Er genoss den kurzen Moment in dem seine Faust schier mit dem Gesicht seines Gegenübers verschmolz und genoss noch mehr, als selbiger zurücktaumelte und ihn verwirrt anblickte. Dann aber fasste er sich wieder und keifte wütend zurück: "Du mieser.. kleiner.." "Halt's Maul!", unterbrach ihn Rei zischend und tatsächlich kehrte kurz Ruhe zwischen den beiden ein. Er holte kurz Luft um sich wieder etwas zu beruhigen, ehe er den entstandenen Abstand wieder schloss und sogar noch etwas näher an den Anderen heran trat. "Ich will dir mal was sagen du aufgeblasener Kotzbrocken", begann er finster. Seine Stimme zitterte leicht vor unterdrückter Wut. "Ich habe vielleicht nicht das durch gemacht, was du oder Kai durchgemacht haben, aber ich habe auch schon genug Scheiße in meinem Leben gefressen. Ich bin immer und immer wieder verlassen worden. Ich war immer wieder allein, musste immer wieder von vorne anfangen. Jeder in meiner Nähe, jeder meiner Freunde, jeder der sich noch mit mir abgibt ist mir wichtig, also glaub ja nicht, dass ich Kai einfach allein lasse, nur weil du Arschloch denkst, mit irgendwelchen Vorurteilen daher zu kommen, die dir von einem noch größeren Arschloch eingebläut wurden! Vergiss es! Du wirst mich nicht los, also lass mich zu Kai oder ich verschaffe mir gewaltsam Zutritt!"   Und plötzlich entspannte sich Yuriy und schien ruhig zu werden. Vergessen schien die Wut und er schien akzeptiert zu haben, dass er gerade nicht gewinnen konnte. Dieses eine Mal wenigstens hatte Rei sich durchsetzen können. Wie auch immer er das geschafft hatte. "Volkov hat ihn daran erinnert, warum Kai damals nach Japan ist." Und dann pausierte er wieder, als müsse er abwägen, was er sagte. Schließlich wandte er seinen Blick gen Himmel und schien sich in der dunkeln Nacht zu verlieren. Es kostete Rei einiges an Überwindung einfach den Mund zu halten, doch er wusste, dass einfach nur zuhören, gerade das Beste war. "Es passiert jedem von uns früher oder später. Es ist hier nichts besonderes. Es ist fast wie ein Aufnahmeritual in diese Welt, in der kein Platz für Außenseiter ist. Jeder hier will dazu gehören, denn ihm bleibt nichts anderes. Es gibt für uns nur dieses Internat... wir haben sonst nichts mehr. Wer diese Prüfung übersteht gehört dazu und dann gibt es auch kein zurück mehr. Kai hat nicht bestanden und wurde dann von Souichirou weg geholt. Jetzt wurde er erneut vor die Prüfung gestellt. Ich schätze Volkov denkt, dass er ihn so manipulieren kann und damit die Gefahr, die von ihm ausgeht, auslöschen kann. Wenn einen so etwas zusammen hält, dann ist man nicht gerade gewillt, den, der es weiß, an den Pranger zu stellen." Rei war sich nicht sicher, ob er wirklich wissen wollte, was los war. Nicht nach dieser kleinen Ansprache, in der der Russe ihn nicht einmal angesehen hatte. So kühl der auch war, es schien ihm dennoch etwas aus zu machen. Vielleicht weil er wusste, dass Rei schockiert sein würde? Oder weil er wusste, dass es für die Außenwelt im Allgemeinen nicht normal war? Es war aber auch möglich, dass Yuriy gerade einfach nur zu verdrängen versuchte, dass er sich und die anderen Heimkinder gerade verriet. "Ich bereue nicht, was ich getan habe. Versteh mich also nicht falsch. Ich habe nie einen zweiten Gedanken daran verschwendet. Nur, dass Kai so sehr deshalb mit sich hadert, macht mir Sorgen." Endlich wandte er seinen Blick wieder Rei zu. Die Augen glühten förmlich vor Entschlossenheit, als sich ein wenig Mondlicht darin fing. "Ich habe mindestens einen meiner Kameraden umgebracht. Genau so wie jeder andere in diesem Internat. Es war mir egal. Es ist mir heute noch egal. Ich würde es wieder tun, denn es war notwendig. Kai hat es auch getan und das verkraftet er nicht."   Es zog Rei den Boden unter den Füßen weg. Er wusste nicht, was er fühlen sollte. Er wusste nicht, was er denken sollte. Er wünschte sich nur, dass er das nie gehört hätte. So stand er einfach nur da und rührte sich nicht. Yuriy gab ein abfälliges Geräusch von sich und sein Gesicht verlor jegliche Offenheit, die es gerade noch aufgewiesen hatte. "Ich wusste es. Du bist auch nur ein erbärmliches Lichtkind. Für ein paar Sekunden habe ich mich wirklich täuschen lassen." "Was soll ich denn tun? Mich darüber freuen?! Er hat jemanden umgebracht.. und du auch und..." Das waren so unglaublich viele Tote. Das mussten dutzende sein. Vielleicht hunderte. Wie konnte dieser Kerl da nur stehen und das so locker nehmen? "Habe ich etwa deine kleine, perfekte Welt zerstört, Kätzchen?", die Worte kamen abfällig und kalt. "Kai ist und war nie der nette Kerl den du versucht hast in ihm zu sehen. Er ist einer von uns und da du ihn hier nicht heraus geholt hast, wird er das auch immer bleiben." Rei wusste wirklich nicht, was er dazu sagen sollte und diesmal war es Yuriy, der eindeutig in die Offensive ging: "Na, wo sind deine großen Worte jetzt? Ist dir Kai jetzt nicht mehr wichtig? Passt er jetzt nicht mehr in die Welt, die du dir wünschst? Tze... ihr seid doch alles Heuchler."   Rei wusste nicht genau wieso, aber als Yuriy energisch versuchte an ihm vorbei zu kommen, hielt er ihn am Handgelenk fest. Sie beide wandten sich nicht zueinander und für einen kleinen Augenblick schien die Welt still zu stehen. "Wie kann ich ihm helfen?", hauchte Rei in die Stille der Nacht hinein. "Mach dich nicht lächerlich. Was dich jetzt treibt ist dein schlechtes Gewissen, weil ich dich beim heucheln erwischt habe. Lass ihn in Ruhe, ich regle das." Rei verstand es immer noch nicht. Er konnte es nicht nachvollziehen. "Warum ist dir Kai so wichtig?" "Fängst du schon wieder damit an?" Kurz spürte er einen Ruck an seiner Hand, doch er ließ nicht los. Er würde nicht aufgeben. Das hier war zu wichtig. Es stand für ihn und auch für Kai zu viel auf dem Spiel. "Natürlich tue ich das!", antwortete er mit Nachdruck. "Wie soll ich Kai auch helfen können, wenn ich von allem nur die halbe Wahrheit weiß?" Und wieder kehrte Stille ein. Langsam wurde das zur Zerreißprobe für Reis Nerven. Alles was er wollte, war, endlich die Wahrheit zu erfahren! "Hör mal...", setzte er dann fort, als auch nach einer halben Ewigkeit keine Erwiderung kam. Langsam hatte er für all das wirklich keine Kraft mehr. "Yuriy, ich bitte dich. Ich mache mir Sorgen um Kai und ich will ihm helfen. Er hat etwas grausames getan aber... aber darum muss ich mich kümmern, wenn es ihm wieder besser geht." Wenn er sich überhaupt je darum kümmern würde. Vielleicht würde er einfach ignorieren, dass er das wusste. Wenn er es verdrängte, konnte er sicherlich besser damit leben. "Und ich habe es so satt immer ausgeschlossen zu werden. Verstehst du? Ich bin ein Teil seines Lebens, aber jeder, inklusive ihm selbst, behandelt mich, als wäre ich einfach nur ein teilnahmsloser Zuschauer. Wie soll das je mit uns beiden funktionieren, wenn ich gar nichts weiß? Ich will endlich wissen, mit wem ich zusammen bin!" "Funktionieren? Ihr seid zwei Männer, wie soll das je funktionieren?" "Yuriy!" Verdammt nochmal er hatte jetzt keine Zeit für diese Grundsatzdiskussion! Gerade in dem Moment, als er den Griff um das Handgelenk des Anderen lockern wollte, ließ ihn ein genervtes Seufzen aufhorchen. "Ich werde dich vorher ja doch nicht los, oder?" Er antwortete darauf nicht. Zu groß war die Gefahr, dass seine Stimme die Lüge verriet. Schließlich war er gerade kurz davor gewesen aufzugeben. "Schön, aber lass mich endlich los." Als er dem Wunsch nachkam, lehnte Yuriy sich mit dem Rücken an die Mauer, die das Internat umgab. Ob das hier eine Art toter Winkel war? Hier schien niemand vorbei zu kommen. Vielleicht genoss der Russe vor ihm aber auch eine Art Sonderstatus als Weltmeister und er wurde einfach in Ruhe gelassen. Mit verschränkten Armen sah ihn jener Weltmeister jetzt eindringlich an. Diesmal wandte er seine Augen nicht ab, aber er schien nachdenklich.   "Zu beschreiben, was Kai und ich waren, ist schwierig. Wir waren Zimmergenossen und so etwas wie Freunde. Hätte man uns gefragt, hätten wir aber beteuert, dass wir uns nicht leiden können. Dennoch waren wir viel zusammen unterwegs. Im Nachhinein betrachtet, waren wir öfter beieinander, als voneinander getrennt. Ich kann nicht einmal sagen wieso genau. Dieses Internat kann seltsame Bindungen knüpfen..." Abermals legte sich Stille über die beiden, doch diesmal war es nicht schwer für Rei einfach abzuwarten. Endlich erfuhr er etwas und er war gewillt, sich dafür in Geduld zu üben. "Wir haben uns viel gestritten, aber ich schätze, wir hätten alles füreinander getan. Ich denke.. diese eine Geschichte zeigt sehr gut, was wir waren..."   Yuriy   "Ich hasse dich! Ich wette deine Eltern sind gar nicht Tod, sondern haben dich einfach ausgesetzt, weil sie dich auch hassen!" Volltreffer! Die Hände von Kai ballten sich zu Fäusten. Gleich würde er zuschlagen und sie sich dann prügeln. Yuriys Körper bebte vor Aufregung, bei dem Gedanken seinen ewigen Rivalen wieder einmal herausfordern zu können. Doch es kam ganz anders als erwartet. Plötzlich sammelte sich Flüssigkeit in den roten Augen und das Kind vor ihm begann zu zittern. "Das ist nicht wahr." Wahrscheinlich hatte Kai das energischer aussprechen wollen, doch es kam nur als ersticktes Flüstern bei ihm an. Zu groß schwer wohl das Schluchzen zurückzuhalten, das den kleinen Körper durchschüttelte. Das hatte er nicht erreichen wollen. Was war denn los? Sonst war es ihm doch egal, was er über seine Eltern sagte. Sonst schlug er ihn einfach, wenn ihm etwas nicht passte. Warum weinte er denn jetzt? "Kai?" Doch der drehte sich nur weg, kreuzte die Arme vor der Brust und versuchte weiterhin kein verräterisches Geräusch von sich zu geben. "Kai, was ist los?" "Lass mich!" Als würde er jetzt locker lassen. Genervt verdrehte er die Augen und legte eine Hand auf die Schultern des anderen. "Red' mit mir. Du weißt sowieso, dass ich nicht aufhöre mit fragen." Noch einen Moment lang blieb der Sturkopf vor ihm standhaft, dann gab er auf und ließ die Arme wieder fallen. "Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern." "Woran?" "An meine Eltern! Vielleicht... haben sie ja wirklich..." "Unsinn!", unterbrach Yuriy ihn, ehe er noch weiter in Selbstmitleid versinken würde. Gott, wenn das einer der Wachleute das mitkriegen würde, dann wäre hier die Hölle los. Sie beide waren diese Woche schon bestraft worden, weil man sie bei einer Rauferei erwischt hatte. Rumheulen war noch so viel schlimmer. "Woher willst du das wissen, Yuriy? Ich hab nicht mal was, was mich an sie erinnert! Ich weiß kaum noch wie sie aussahen." Als wäre das so was schlimmes. Er selbst hatte seine Eltern nie kennengelernt. Sie waren bei seiner Geburt verstorben. Sollte Kai doch froh sein, wenn er langsam die Erinnerungen verlor. Das machte vieles hier einfacher. Aber so unlogisch er seinen Gefühlsausbruch auch fand, ihm war zumindest bewusst, dass es ihm schlecht ging. Und das wollte er nicht. Er wollte seinen Rivalen wieder und zwar in voller Stärke! Also musste er etwas tun.. aber was? Hmm... wenn er ein Erinnerungsstück wollte, aber sich kaum noch an seine Eltern erinnern konnte... ja, wahrscheinlich würde das gehen. Innerlich grinste Yuriy für diese äußerst geniale Idee. "Schwachkopf. Du bist echt vergesslich." Damit ging er zu dem Schrank, in dem ihre Anziehsachen verstaut waren und riss den auf. Er suchte etwas bestimmtes, aber es dauerte etwas, bis er es fand. Schließlich zog er einen weißen Schal heraus. Es war nichts besonderes. Er hielt recht warm, aber da sie nach Möglichkeit keine Schwäche zeigen durften, verzichteten sie auf alles, was sie aktiv unterstützte. Nur normale Kleidung, nichts besonders warmes. Beim Kämpfen keine Handschuhe oder Messer oder sonst was. Immer nur das aller Nötigste und dazu gehörte nun einmal kein Schal. Er war sich nicht einmal sicher, woher dieses Exemplar kam. Wahrscheinlich eine Spende zu Weihnachten, die dann zufällig bei ihnen gelandet war. Aber jetzt gerade war es perfekt ihn zu haben. "Du hast doch ein Erinnerungsstück du Idiot." Damit legte er Kai das Kleidungsstück um. "Erinnerst du dich echt nicht mehr?" Natürlich sah ihm nur Verwirrung entgegen, doch er machte unbeirrt weiter. "Ganz am Anfang als du her kamst, hast du mir erzählt, dass deine Mutter ihn dir geschenkt hat. Sie hat ihn dir so umgelegt wie ich jetzt. Weißt du nicht mehr?" Zufrieden bemerkte er, dass die Fantasie des Jüngeren langsam in Gang kam. Die Tränen waren längst gestoppt und als er kurz die Nase in dem Stück Stoff vergrub, begannen seine Augen zu leuchten. "Er riecht sogar noch nach Mama." Was für ein Idiot. Der Schal roch nach irgendwelchen Lagerräumen oder Waschmitteln. Aber wenn es ihm half. "Siehst du? Und jemand der dich hasst würde dir doch so was nicht schenken, oder? Also krieg dich wieder ein. Und vergiss es vor allem nicht wieder."   Er hatte damals nicht ahnen können, dass Kai diesen Schal niemals wieder ablegen würde. Das war das einzige, was gleich an ihm geblieben war. Selbst über den Gedächtnisverlust hinweg. Es war sein Geschenk an ihn gewesen. Er hatte ihm eine falsche Erinnerung verschafft, damit er die Kraft besaß, das furchtbare Leben in dem Internat zu überstehen. Der Schal war letztendlich auch das gewesen, was ihn vor Wochen dazu veranlasst hatte Kai die Hand zu schütteln, als er sein neuer, alter Mitbewohner wurde. Dass er diesen Schal noch trug hatte ihn hoffen lassen, dass der alte Kai, sein Freund und Rivale, noch am Leben war. Kapitel 15: Grippe ------------------ Rei Rei war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Sein Herz zog sich kurz schmerzhaft zusammen, bei dem Gedanken, dass die beiden sich einmal so nahe gestanden hatten, dass Yuriy so etwas getan hatte. Auch wenn er es nicht als richtig empfand, jemand anderen anzulügen; Kai hatte damals Hilfe gebraucht und Yuriy hatte das einzige getan, was ihm eingefallen war. Der menschliche Verstand war schon ein merkwürdiges Phänomen. Er hätte niemals gedacht, dass man sich selbst eine falsche Erinnerung einpflanzen konnte, nur, weil man es sich so sehr wünschte. Dennoch war das alles unangenehm für ihn. "Wart... wart ihr zusammen?", hauchte er deshalb leise und fürchtete sich gleichzeitig vor der Antwort. Doch Yuriy Augen verengten sich nur verärgert: "War ja klar. Natürlich geht es wieder nur um dich. Du kotzt mich echt an." "Yuriy, bitte! Ich.. ich hab angst, ok? Ich liebe Kai! Das tue ich wirklich. Aber seit er hier ist... ich habe einfach angst, dass ich ihm nicht genug bin. Oder nicht der Richtige. Er erzählt mir nichts. Er macht alles hinter meinem Rücken und vor allem alleine. Ich will doch nur ein Teil seines Lebens sein." Doch Yuriy gab nur ein angewidertes Geräusch von sich. "Macht das Schwulheit aus einem? Ein jammerndes Waschweib? Das ist echt widerlich." Schwulheit. In jeder anderen Situation hätte er wohl gelacht. Aber ihm war nicht nach lachen. Ihm war schon erstaunlich lange nicht mehr nach Lachen zumute. Diese ganze Situation mit Kai und dem Internat zerfraß ihn. Das war gar nicht gut und er musste das ändern. Zumindest sobald es Kai wieder besser ging. Jetzt aber musste er sich zu aller erst einmal um Yuriy kümmern: "Du verstehst das nicht." Seine Stimme bebte, als er das sagte. Es war einfach alles zu viel.   "Natürlich verstehe ich es nicht!", kam es nur zischend zurück. "Wie soll ich so etwas auch verstehen? Als ich dich kennengelernt habe, warst du noch interessant. Du hast mich beeindruckt! Und sieh dir an, was aus dir geworden ist: Ein jammerndes Bündel, das ziellos durch sein Leben irrt, nur, weil er von jemandem nicht die Bestätigung bekommt, die er will. Das ist lächerlich und armselig!" "Was verstehst du schon, von so etwas wie Beziehungen!?" Wahrscheinlich hätte er erschüttert darüber sein sollen, dass man ihn für ein weinerliches Weichei hielt, aber er ließ sich ganz sicher nicht von einem psychopathischen Russen sagen, dass er sich gefälligst zusammenreißen sollte. Er sagte ihm ja auch nicht, dass er gefälligst Mitgefühl mit anderen haben sollte! Als Antwort bekam Rei aber nur ein verächtliches Kopfschütteln. Dann ging Yuriy. "Wage es bloß nicht, noch einmal zu unserem Zimmer zu kommen, bevor du dich wieder gesammelt hast."   Yuriy   Was verstehst du schon von Beziehungen!?   Diese Worte gingen ihm den gesamten Tag schon nicht aus dem Kopf. Die Nacht über hatte er sich um Kai gekümmert, der ständig von Alpträumen geplagt worden war, da hatte er keine Zeit gehabt um nachzudenken. Doch jetzt während dem Unterricht und dem Training waren diese Worte immer und immer wieder in seinem Kopf aufgetaucht. Ja, was verstand er schon davon? Nichts und er war sich sicher, dass er bestrebt war, diesen Zustand aufrecht zu erhalten. Warum aber verfolgten ihn diese Worte so? Zugegeben, in gewissem Sinne hatte es ihn beeindruckt, wie sehr sich Rei gesorgt hatte. Das war etwas, was er so nicht kannte. Ja, er machte sich auch Sorgen um Kai, aber sollte ihn das in irgendeiner Weise von seinen Pflichten abhalten, wäre das schnell vergessen. Er konnte es sich nicht leisten, sich zu sorgen oder überhaupt so etwas wie Mitleid und Fürsorge für jemanden zu empfinden. Warum er das bei Kai tat? Er war sich nicht ganz sicher. Sie beide hatten viel zusammen durchgemacht. Wahrscheinlich lag es also daran. Ehrlich gesagt hätte er das auch für den Rest des Weltmeisterteams getan. Die waren aber stark genug, dass sie seine Hilfe nicht brauchten, also war diese Seite zu vernachlässigen. Warum störte es ihn bei Kai nur so wenig, dass er schwach war? Er war nicht in der Lage dazu ihn deshalb zu verhöhnen. Er empfand nicht einmal wirkliches Mitleid. Es war eher.. er konnte es nicht wirklich sagen. Er wollte nicht, dass es Kai schlecht ging, was letztendlich wohl auch der Grund war, warum er doch noch mit dem Chinesen geredet hatte.   Bei dem Gedanken an Rei verzog er leicht das Gesicht. Dieses Weichei machte ihn wahnsinnig! Warum hatte Kai ausgerechnet den gewählt? Gab es keine ordentlichen Männer im fernen Osten? Oder mochte er das etwa an ihm? Stand Kai auf Weicheier? Nein.. das konnte er nicht glauben. Auch wenn sein ehemaliger Freund sich sehr verändert hatte, hatte er immer noch einen gewissen Stolz. Wenn er sich schon auf einen Mann einließ, dann doch wenigstens auf einen, der ihm ebenbürtig war. Aber Rei war ihm nicht ebenbürtig...   "Du warst heute ganz schön abgelenkt, Yuriy. Was ist los?", kam es plötzlich von Ivan. Es schwang ein deutlich schadenfroher Unterton in seiner Stimme mit. Sie waren wie so oft bei ihren Gesprächen unter der Dusche. Er antwortete nicht, warum sollte er auch? Es ging niemanden etwas an. "Geht es um diesen Hiwatari?", grollte es plötzlich von Boris. Auch das noch. Hatte der etwa etwas mitbekommen? Egal, nur nichts anmerken lassen. "Ich habe von Volkov gehört, dass es wohl gut mit ihm läuft. Was wohl so viel heißt, als dass du ihn unter Kontrolle hast." Warum klang dieser Tonfall nur so lauernd? Sonst griffen die anderen ihn doch nicht so an. Verlor er an Autorität? "Du hast die letzte Zeit ziemlich viel Zeit mit ihm verbracht." Prima, jetzt mischte sich auch noch Sergei ein.   Erst jetzt wandte sich Yuriy zu den anderen, und starrte sie finster an: "Wenn ihr Zeit habt darüber nachzudenken, macht ihr etwas falsch." Es war eine deutliche Warnung das Thema fallen zu lasse, doch die drei schienen nicht gerade beeindruckt. Wie konnten sie es nur wagen seine Autorität dermaßen in Frage zu stellen? Sie wussten, dass er der Stärkste von ihnen war, selbst wenn er derzeit Probleme mit der Konzentration hatte!   Ivan gab nur ein abfälliges Schnauben von sich, ehe er antwortete: "Tala..." Yuriy erschauderte als er seinen Spitznamen hörte. Sein Team sprach ihn nur so an, wenn sie an seine kämpferische Seite appellieren wollten und das geschah nicht gerade oft. Meistens eigentlich nur bei Beglückwünschungen nach einem gewonnen Duell. "Wenn jemand von uns sich so verhalten würde wie du in der letzten Zeit, würdest du uns auch auf den Zahn fühlen. Also erspare uns die Zeit und spuck's aus!" Angesprochener presste kurz seine Kiefer aufeinander und musste an sich halten, nichts unüberlegtes zu tun. Seine Teamkameraden sahen ihn abwartend und auffordernd an, aber er hatte wirklich keine Intention dazu, irgendetwas mit ihnen zu teilen. Leider hatten sie aber recht. Er hätte auch nicht nachgegeben und Fairness war unter ihnen eigentlich immer gegeben gewesen. Was war nur dieses merkwürdige Gefühl in seinem Bauch, dass er bei dem Gedanken empfand, dass sein Team sich um ihn scherte? Wurde er doch weich? Ihm sollte das egal sein. Er sollte einfach aus dem Raum gehen und die anderen ignorieren. Warum tat er es nicht? Wahrscheinlich weil er sich insgeheim eingestehen musste, dass er das Bedürfnis hatte, mit jemandem zu reden und die drei vor ihm waren die einzigen, mit denen er das tun konnte. Sie wollten zu hören, aber sein eigener Stolz hielt ihn zurück. Würden sie ihre hohe Meinung von ihm verlieren, wenn er derartige Dinge ansprach und zugab, Probleme zu haben?   Boris gab ein abfälliges Schnauben von sich, als er das Wasser aus stellte und sich abwandte: "Natürlich bist du die große Ausnahme. Was habe ich auch anderes erwartet?" Die anderen schlossen sich mit einem Nicken an und stellten ebenfalls die Duschen ab. Sie wirkten leicht.. enttäuscht? Yuriy sah ihnen hinterher, als sie den Raum verließen. "Habt ihr je daran gedacht eine Beziehung zu führen?" Für einen Moment fragte sich der Russe, woher diese Stimme gekommen war, eher er realisierte, dass es seine eigene gewesen war. Was zum Teufel hatte ihn geritten, ausgerechnet so anzufangen? Jetzt konnte er den Respekt der anderen wirklich vergessen. Die sahen ihn auch vollkommen geschockt an. Keine wirkliche Überraschung. "Bist du etwa verliebt?" Das hatte er sich selbst zuzuschreiben. Aber er verdrehte nur genervt die Augen und signalisierte so, dass Sergei mit seiner Frage vollkommen auf dem Holzweg war. "Hiwatari scheint deinen Verstand zu vergiften." Warum nur hegte Boris so einen Groll gegen Kai? Das war schon das zweite mal, dass er grundlos vollkommen abfällig über ihn redete. Vielleicht lag es nur daran, dass er ein Lichtkind war. "Es geht nicht um Kai." "Dann um diesen Chinesen?" Das kam von Sergei. Yuriy schnaubte. War es denn wichtig, woher das kam? War es nicht viel wichtiger, dass es da war? "Ihr habt mir meine Frage nicht beantwortet." Kurz herrschte Stille, als die drei darüber nachdachten, was er denn eigentlich gefragt hatte. Ivan war der Erste, der wieder sprach: "Da wir hier niemanden haben, mit dem wir eine Beziehung führen könnten, habe ich natürlich noch nie darüber nachgedacht." Doch der Kleine Russe war weder dumm, noch eines der Kinder, die nie die Mauern dieses Gebäudes verlassen hatten. Er wusste durchaus was Homosexualität war. Deshalb fuhr er auch nach kurzer Zeit fort: "Oder meinst du etwa...? Eww..." Die Worte wären nicht einmal nötig gewesen. Das angewiderte Gesicht sprach Bände. "Das ist widerlich." Boris schien so bleich, dass Yuriy kurz befürchtete, er würde sich vor ekel übergeben. Aber natürlich behielt er seine Selbstbeherrschung. "Wenn es darum geht, solltest du einfach zu Volkov gehen, damit der dich davon kuriert." Das Gespräch lief plötzlich in eine vollkommen falsche Richtung. Er sollte das unterbinden, bevor jemand das tatsächlich ernst nahm: "Es geht nicht um meine sexuelle Ausrichtung!" Hoffentlich war das Eis, das er in seine Stimme gelegt hatte, schneidend genug gewesen, dass sie das ernst nahmen. Gerüchte darüber, er könne schwul sein, hatten ihm gerade noch gefehlt. "Es geht mir eher darum einen Partner im allgemeinen zu haben. Habt ihr schon mal darüber nachgedacht?" Deutliche Ratlosigkeit schlug ihm entgegen. Also nein. Was hatte er sich auch dabei gedacht? Natürlich nicht. "Ich brauche niemanden.", kam es dann von Sergei und Ivan nickte zustimmend. Boris hielt sich raus, vielleicht noch zu geschockt über die kurzen Sekunden, in denen er angenommen hatte, sein Teamcaptain wäre vom anderen Ufer. "Ich hab schließlich euch.", grinste der Kleinste im Bunde und ging dann einfach. Die anderen sagten nichts dagegen und gingen einfach in einvernehmlicher Zustimmung.   Dieses merkwürdige Gefühl in seinem Magen nahm zu. Er hatte sich nicht wirklich eine Grippe oder so etwas eingefangen, oder? Dagegen sollte er eigentlich längst immun sein. Kapitel 16: Für dich -------------------- Kai   "Kai!" ... "Kai, hilf mir!" ... "Dimitrij und seine Bande sind gemein zu mir!"   Erschrocken riss Kai die Augen auf und musste sich erst einmal orientieren. War er tatsächlich eingeschlafen? "Kai!" Etwas genervt sah er nach unten zu dem Jungen, der unter dem Baum stand, auf dem er lag. Er hatte ein blaues Auge und sah blass aus. "Ist das mein Problem? Verschwinde!" Damit wandte er seine Augen wieder gen Himmel und schloss sie. Wenn er geschlafen hatte, dann hatte das sicherlich seinen Grund gehabt. "A... aber Kai!" Er schnaubte. Natürlich verschwand diese Nervensäge nicht. "Du kannst dich gut genug selbst verteidigen! Dann tu es auch!" Wie wollte er je alleine klar kommen, wenn er wegen jedem Problem zu ihm gerannt kam, statt sich selbst darum zu kümmern? "Ich..." Auch wenn er es nicht aussprach, wusste Kai, was er sagen wollte. Ich will niemandem weh tun. "Und wenn du mich auf sie hetzt, dann tut denen das weniger weh? Du solltest was gegen Doppelmoral haben." Das brachte den Kleinen wenigstens zum Schweigen. Kai jedoch war jetzt definitiv wach und er ertrug die Nähe von diesem Jammerlappen nicht. So sprang er von dem Baum und ging einfach wieder in Richtung des Hauptgebäudes. Es war sowieso bald wieder Zeit für den Unterricht. Natürlich nahm er den kürzesten Weg, schließlich wollte er nicht zu spät kommen. Die Abkürzung führte ihn aber an einer Gruppe Kinder vorbei, die ihm prompt den Weg versperrten. "Na na, wo willst du denn hin Kai?" Wann lernten diese Idioten denn endlich, dass sie sich nicht mit ihm anlegen sollten? Selbst zu fünft würden sie keine Chance haben. "Ihr steht mir im Weg." Die Gruppe lachte aber nur und begann langsam ihn einzukreisen. Danach ging alles recht schnell. Der erste schlug zu. Kai fing die Hand ab und wirbelte ihn herum, so, dass er gegen einen seiner Kameraden stieß und die beiden erst einmal zu Boden gingen. Unter dem nächsten Schlag duckte er sich weg, vollführte eine halbe Drehung und riss seinen Angreifer von den Füßen, der durch den Schwung halb über ihn fiel und so den Tritt einsteckte, der eigentlich von dem Vierten im Bunde an ihn gerichtet worden war. Nachdem er den nun Ächzenden wieder von sich geschleudert hatte und aufgesprungen war, stand er nun nur noch Zweien gegenüber, die ihn etwas unsicher ansehen. Dieses Zögern besiegelte ihren Untergang, denn sie reagierten zu spät auf seine Schläge, um sie noch abwehren zu können.   Gerade als er sich umwenden wollte, um sich mit den beiden zu beschäftigen, die er nur kurzzeitig ausgeknockt hatte, hörte er zwei Körper zu Boden fallen. Verwundert drehte er sich um und sah, wie Yuriy über den beiden stand und ihn musternd ansah. "Womit hatten Dimitrij und seine Gruppe das verdient?" Es lag reiner Spott in der Stimme des Russen, doch Kai ging einfach weiter Richtung Hauptgebäude: "Sie standen mir im Weg."   *   Ich habe dir vertraut.   Er versuchte seine Augen zu öffnen, doch es ging nicht. Um ihn herum war nichts weiter als Stille. Irgendetwas rauschte in seinen Ohren, doch es war nichts externes. Es war kalt und sein Körper fühlte sich merkwürdig an. Sein Körper schrie nach Sauerstoff, doch er konnte nicht Atmen. Nachdem dieser Zustand sich über Minuten nicht änderte und er noch immer nicht erstickt war, begann er langsam sich zu beruhigen.   Es ist nicht meine Schuld.   Warum konnte er die Augen nicht öffnen? Warum sich nicht bewegen? Er fühlte sich wie in eine Zwangsjacke gewickelt. Weit in der Ferne hörte er ein gleichmäßiges Piepen.   Ich habe nie jemandem etwas getan!   Ob er dieser Stimme zuhören sollte? Diesen Worten, die sich tief in sein Herz zu graben versuchten? Ob sie ihm helfen würde, würde er ihr Beachtung schenken? Es ist nicht meine Schuld. Es ist deine!   Es wurde hell hinter seinen Augenlidern, doch sehen konnte er immer noch nichts. Schemenhafte Schatten schienen vor ihm zu tanzen, doch er war nicht fähig seine Augen zu öffnen. Die Helligkeit bereitete ihm dennoch Kopfschmerzen. Wie lange war er schon hier?   Und deshalb...   Pure Kälte floss durch seine Adern, doch er konnte nicht einmal zittern. Bewegungsunfähig musste er das Kribbeln ertragen, das seinen ganzen Körper erfasste und ihn schier in den Wahnsinn trieb. Seine Muskeln schmerzten, sowohl von der Anstrengung die durch die Bewegungsversuche verursacht wurden, als auch von der Bewegungslosigkeit selbst.   ...deshalb ist es nur gerecht, dass du dafür büßt und nicht ich.   Plötzlich flogen seine Augen auf, als wäre ein Schalter umgelegt worden und er sah jemanden vor sich unter sich stehen. Die erhobene Position in der er sich selbst befand, ließ den anderen klein wirken. Nein... es war tatsächlich ein jugendlicher, noch nicht ausgewachsen und er sah ihn an. Genaues konnte er nicht erkennen, seine Augen schafften es nicht ihn zu fixieren. Wieder falsch... er konnte ihn nicht klar erkennen, weil die Flüssigkeit um ihn herum das Bild verzerrte. Erkennen tat er ihn trotzdem. Es war er selbst...   Ein Ohrenbetäubendes lachen hallte durch den Raum, was seinen ganzen Körper mit einer Gänsehaut überzogen hätte, wäre sein Hirn noch in der Lage gewesen, irgendwelche anständigen Signale zu senden. Das Lachen was er vernahm war nicht sein eigenes. Er wusste nicht wessen es war. Es hörte sich falsch an, schrill geradezu und wahnsinnig. Es war das Lachen eines vollkommen wahnsinnigen Menschen.   Du gehörst dort hin, nicht ich!   *   Kai riss die Augen auf und saß im selben Moment aufrecht im Bett. Für einen Moment atmete er einfach nur schwer und schnell, begrüßte den Sauerstoff, der ihm scheinbar Jahrelang gefehlt hatte und den sein Körper eigentlich gar nicht brauchte, weil er ihm in Wirklichkeit nie verwehrt geblieben war. Ihm wurde schwindelig noch bevor er erkannte, dass er hyperventilierte. Die Bilder seines Traumes verblassten nicht und in einem Anflug von Übelkeit griff er nach dem Eimer, den Yuriy ihm besorgt hatte, um sich zu übergeben. Schon seit Tagen hatte er keine Nahrung mehr zu sich genommen und nur wenig getrunken, weshalb außer etwas Speichel nichts in dem Behälter landete. Stattdessen schmeckte er saure Galle und fühlte das gewohnte Brennen von Magensäure in seiner Brust.   Als er sich aufrichtete, spürte er den kühlen, feuchten Lappen auf seiner Stirn, den er ebenfalls schon gewohnt war. Yuriy war nachts immer da, wenn er aufwachte und das passierte oft. Wenn sie beide nicht endlich etwas Schlaf fanden, dann würden sie noch daran zugrunde gehen. Er beruhigte sich nur langsam wieder und schloss die Augen, um sich der sanften Liebkosung der so wohltuenden Kühle auf seiner erhitzten Haut hinzugeben. Nachdem sein Gesicht von sämtlichem Schweiß befreit war, ließ er sich sogar in eine Umarmung ziehen. Das war neu, aber nicht unwillkommen. Was allerdings ebenfalls neu war, war der Geruch der ihm jetzt in die Nase stieg und ihn dazu veranlasste, verwirrt die Augen aufzureißen. Das war nicht Yuriy.   Rei   Es hatte einige Tage gedauert, bis er sich tatsächlich zusammen gerissen hatte. Yuriy hatte tatsächlich irgendwo recht gehabt, als er sagte, er würde ihn nicht zu Kai lassen, ehe er sich wieder beisammen hatte. Spätestens heute Nacht hatte er den Grund gesehen. Wenn er selbst nicht gefestigt in sich selbst wäre, würde ihn dieses Bild fertig machen, dabei musste er stark für Kai sein. Er wusste jetzt zumindest, warum selbst Yuriy so furchtbar müde aussah. Er würde auch nicht schlafen können, wenn sich jemand in seinem Zimmer ständig herum wälzte, wimmerte und teilweise schrie.   Rei konnte nicht genau sagen, was ihn ausgerechnet heute hergeführt hatte, doch Yuriy musste etwas in seinen Augen gesehen haben, denn er hatte ihn herein gelassen. Es war nicht so, als wäre er mit sich im Reinen oder würde sich weniger Gedanken darüber machen, warum Kai nichts mit ihm teilte, aber er fühlte sich ruhiger und mehr bereit dazu, seinen Freund zu unterstützen. Jetzt lag dieser leicht zitternd in seinen Armen.. nun, so halb zumindest. Er schien verwirrt ihn zu sehen. "Hi", sagte er etwas unsicher und er flüsterte, weil er Yuriy nicht wecken oder irgendwelche andere Aufmerksamkeit auf sie ziehen wollte. Kai sank nur zurück in seine Arme, offenbar zu müde zum Protestieren, was an sich schon mehr als Besorgniserregend war. Er strich ihm leicht über den Rücken und überlegte fieberhaft, was er tun oder sagen konnte. Kai schien sich nicht wirklich zu beruhigen, aber es war ihm schleierhaft, wie er ihm helfen konnte. Eigentlich war er ja her gekommen, um ihn ein Stück weiter zu bringen, aber in diesem Zustand, konnte er es vergessen, mit Kai auch nur irgendetwas zu machen.   Kai   Er war zu kraftlos um Rei weg zu schicken und zu traumatisiert um nicht zu genießen, dass er da war. Er hatte eigentlich nicht gewollt, dass sein Freund ihn so sah. Niemand sollte ihn so sehen, niemand wissen, dass er so schwach war. Schlimm genug, dass Yuriy es wusste, doch jetzt auch noch Rei? Das ertrug er fast nicht, doch sein Körper zwang ihn förmlich dazu, diesen Umstand zu akzeptieren, denn er brauchte die Nähe des anderen, um sich wenigstens ein bisschen zu beruhigen. Er war froh, dass Rei da war, aber gleichzeitig wollte er nichts lieber, als ihn von sich zu stoßen.   Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er aufhörte zu zittern, bis er verarbeitet hatte, was er gesehen hatte, was er gefühlt hatte. Warum konnte er es nicht einfach wieder vergessen? Warum konnte er die Erinnerungen nicht wieder verdrängen und so weiter machen wie bisher? Aber es ging nicht. Er bekam Yuuyas Stimme nicht mehr aus dem Kopf. Er hörte ihn immer wieder. Es waren Erinnerungsfetzen und manchmal etwas, was er sich selbst erdachte, wie in dem Traum in dieser Nacht. Oft ging es darum, dass er ihm vertraute, dass er auf ihn baute und ihn mochte. In Alpträumen ging es dann um das Gegenteil. Er wusste beim besten Willen nicht, wie er ihn wieder aus seinem Kopf bekam. Wenn er weiterhin nichts aß und alle Flüssigkeit sofort wieder erbrach, würde er zugrunde gehen. Langsam und qualvoll... wie er es verdient hatte.   "Kai?" Reis Stimme riss ihn sofort wieder in die Realität zurück und er genoss die kurze Sekunde, in der er nicht an die Vergangenheit dachte. "Hm?" Er war nicht wirklich in der Lage mehr zu sagen, ganz davon abgesehen, dass er nicht gewusst hätte was. "Du vertraust mir, richtig?" Er nickte noch ehe er wirklich verarbeitet hatte, was Rei ihn gefragt hatte. Vertraute er ihm wirklich? Im Grunde schon, doch allein die Tatsache, dass er Geheimnisse vor ihm hatte, große Geheimnisse, zeigte doch eigentlich, dass er das nicht wirklich tat. Warum aber hatte sein Körper automatisch reagiert? Er war nicht der Typ, der log, weil er anderen nicht weh tun wollte. Aber in gewissem Sinne vertraute er Rei wirklich. Er hatte ihm viel erzählt und er wusste, dass er ihn niemals hintergehen würde. Dass er ihm nicht alles erzählte, hatte einen anderen Grund. "Ich will die etwas zeigen." Die Stimme seines Freundes, riss ihn erneut aus seinen Gedanken. Etwas zeigen? Jetzt? Wie kam er auf diese absurde Idee? "Vertrau mir, Kai." Hatte er denn eine Wahl? Er war sich nur nicht ganz sicher, ob er es bis zu dem ominösen Ort schaffte, zu dem Rei ihn führen wollte. Er war schon lange nicht mehr länger als einige Sekunden auf den Beinen gewesen. Dennoch nickte er und löste sich leicht von Rei, der daraufhin aufstand und ihm eine Hand hin hielt, um ihn beim Verlassen des Bettes zu unterstützen. "Es dauert nicht lange.", versicherte er ihm, als er bemerkte, dass er leicht schwankte. Das war wirklich peinlich, aber nur logisch. Er hatte im Prinzip seit Tagen nichts gegessen, dass sein Körper da nachgab, war wirklich kein Wunder.   Zusammen mit Reis Hilfe stolperten sie die Flure entlang. Sie beide mussten nicht wirklich angst vor Wachen haben, das wussten sie. Volkov konnte keinen Finger an sie legen, denn sie waren keiner seiner Schützlinge. Als sie schließlich nach draußen kamen, wurde die Frage, was Rei vor hatte, immer drängender, doch er fragte nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt auf den Beinen zu bleiben, um noch die Kraft aufbringen zu können, seinen Mund zu bewegen. Nach einer gefühlten Ewigkeit blieben sie dann endlich stehen. Sie befanden sich an einer der äußersten Ecken der Mauer, die das Internat umgaben. Mühsam drehte er den Kopf und suchte nach dem Grund, warum Rei ihn hier her geschleppt haben könnte, doch hier war nichts außer der Steinmauer. "Es ist... nicht viel....", hauchte es plötzlich neben ihm. Die Stimme klang schon fast schuldbewusst und schüchtern. Etwas, was er von Rei eigentlich gar nicht kannte. Aber was meinte er eigentlich? Als er zu ihm sah, bemerkte er, dass er zu Boden schaute. Im ersten Moment dachte er, es wäre aus Scham, doch dann sah er, dass Rei etwas fixierte. Er folgte seinem Blick und fast sofort schnürte sich ihm die Kehle zu.   Für dich, mein Freund   Es war ein Stein und auf ihm standen diese Worte geschrieben. Nur ein Stein, nur diese Worte. Niemand der ihn je finden würde, würde wissen, was es damit auf sich hatte. Aber Kai wusste es. Er wusste es und es zerriss ihm fast das Herz. Er ließ sich auf den Boden gleiten, etwas weg von Rei, und starrte auf den winzigen Grabstein, der eigentlich nicht mal einer war, denn was war ein Grabstein schon ohne Grab? Fassungslos starrte er auf diese Geste. Warum hatte Rei das getan?   Eine Weile schwiegen beide, ehe Rei noch einmal die Stimme erhob: "Ich dachte... ich dachte du brauchst etwas, um dich verabschieden zu können." Ungläubig ruhten seine Augen auf dem Stein und nur Augenblicke später, spürte er wie heiße Tränen seine Wangen hinab liefen. Er wusste nicht wieso, denn eigentlich fühlte er sich leer. Sein Körper schien auf Automatik umgestellt zu haben, denn als er sich zusammen kauerte, Hände und Stirn auf dem Boden, entfleuchten ihm die Worte ganz von alleine:   Es tut mir leid...   Es tut mir leid...   Kapitel 17: Training -------------------- Rei   "Na los, das kannst du besser!" Reis Muskeln schmerzten, doch er machte weiter. Schlag um Schlag setzte er gegen die Polsterungen um Kais Unterarme, Tritt um Tritt gegen den geschützten Körper. Schon lange war er am Ende, schon lange konnte er nicht mehr wirklich Kraft aufbringen, doch er gab nicht auf. Kai begann von einhundert Rückwärts zu zählen. Eine Zahl die ihm so groß erschien, dass er sich sicher war, die 0 niemals erreichen zu können. Doch er hielt durch. Sein Sparring-Partner war nicht besser dran, da war sich Rei sicher. Kai tropfte der Schweiß von der Stirn und seine Arme zitterten leicht. Offensichtlich konnte er die Polster kaum noch heben.   Genau in dem Moment, in dem er die Null hörte, gaben Reis Knie nach und er sank schwer atmend und keuchend zu Boden. Das sollte jetzt noch 2 Monate so weitergehen? Wie sollte er das überleben? Aber er konnte nicht aufgeben. Er konnte es nicht, weil er wusste, was auf dem Spiel stand.   *   Flashback   Er war froh gewesen, als Kai ihm endlich mitteilte, dass sie mit dem Training beginnen würden. Er war froh gewesen, weil das bedeutete, dass sich Kai erholt hatte. Er war froh gewesen, weil er dann endlich wieder Zeit mit Kai verbringen konnte. Als sie dann allerdings mit dem Training begannen, löste sich diese Freude schnell in Frust auf. Kai war während des Trainings wie ausgewechselt. Er war obsessiv und wirkte fast fanatisch. Immer, wenn Rei am Ende seiner Kräfte war, pushte er ihn weiter und schien nie zufrieden zu sein. Irgendwann schnappte dann selbst der sonst so ruhige Chinese über: "Du kannst mich mal!" Die Worte die er eigentlich hatte schreien wollen, gingen in seinem eigenen Keuchen fast unter. Halb in sich zusammengesackt, stand er vor seinem Freund, der ihn nur kalt anblitzte. "Ich habe mir mehr von dir erhofft, Rei! Dachte nicht, dass du so schwach bist!" Das hätte gesessen, wenn er das die letzten Tage nicht schon öfter gehört hätte. "So schlagen wir sie nie!" Rei trat einen Stein, der auf dem sandigen Boden des Außengeländes lag, so heftig, dass er, als er an Kais Wange vorbei flog, einen roten Streifen auf dieser hinterließ. Kai rührte sich nicht. "Warum zum Teufel willst du sie überhaupt so dringend schlagen!?" Langsam bekam er wieder genug Luft um mehr Druck in seine Stimme zu legen. "Das ist doch total sinnlos! Ich verstehe es nicht! Was ist das für ein kranker Egotrip den du da fährst?" Und das war es für Rei tatsächlich. Irgendein Egotrip. Irgendetwas was sich Kai beweisen musste. Er war durchaus bereit seinen Freund zu unterstützen, aber ganz sicher nicht zu jedem Preis! Und schon gar nicht, wenn er so enorm fanatisch dabei wurde.   "Wenn du noch die Kraft hast so herum zu jammern, dann kannst du auch weiter machen.", kam nur die gezischte Antwort. "Kai!", schrie er wütend. Unfähig zu verstehen was hier vor sich ging. "Warum Kai? Warum soll ich weiter machen? Gib mir einen Grund! Irgendwas vernünftiges das mir zeigt, dass du nicht vollkommen durchgedreht bist!" Etwas blitzte in Kais Augen auf, was Rei kurz tatsächlich Angst machte, doch dann entspannten sich seine Züge wieder. "Vertraust du mir nicht, Rei?" "Gerade im Moment? Kein Stück!" Das war hart, aber nicht gelogen. Gerade wusste er wirklich nicht, was er davon halten sollte. Er hatte wirklich Angst, dass sein Freund, nachdem er all seine Erinnerungen wiedererlangt hatte, vollkommen durchgedreht war. Dieses Internat hier bildete keine guten Menschen aus, das war ihm bewusst. Wer sagte ihm also, dass Kai nicht etwas von seiner altern Erziehung wiedererlangt hatte? Er hatte schon immer etwas gefährliches an sich gehabt. War schon immer anders gewesen. Wenn das sich jetzt alles intensiviert hatte? Wenn diese dunkle Seite in ihm nun wieder ausgebrochen und nicht kontrollierbar war?   "Du kotzt mich allmählich echt an!", knurrte Kai ihm entgegen, was Rei fast den Boden unter den Füßen wegriss. "Was?", hauchte er verwirrt. Was sollte das denn jetzt? Wo kam das her? "Nur, weil ich angst habe, dass du übergeschnappt bist? Kai, du wirkst im Moment nicht besser als Yuriy!" Er wollte nicht streiten. Wirklich nicht. Aber es ging nicht anders. Diese ganze Geheimniskrämerei wurde ihm einfach zu viel. Das musste endlich aufhören!   "Du vertraust mir schon nicht, seit ich hier her gekommen bin!", keifte Kai zurück. "Ich frage mich, ob du mir je irgendwie vertraut hast! Und zu allem Überfluss behandelst du mich seitdem auch wieder, wie zu der Zeit, in der wir uns kennengelernt haben! Es kotzt mich an!" Reis Augen weiteten sich, als er das hörte. War er etwa nicht der Einzige, der von dem Verhalten seines Partners enttäuscht war? Aber.. warum? Was hatte er denn getan? Er hatte sich doch wirklich alle Mühe gegeben. Hatte versucht zu akzeptieren, dass Kai eben anders war und dementsprechend behandelt werden musste. Er hatte so viel Geduld mit ihm gehabt! "Du verstehst es immer noch nicht, oder? Seit wir hier sind, bist du wie ausgewechselt! Wo ist der Kerl hin, der mich mitten auf dem Schulhof geküsst hat? Wo ist der, der sich getraut hat, mit mir Klartext zu reden? Du behandelst mich genau, wie zu dem Zeitpunkt, als wir uns kennenlernten: Als würde ich gleich wegrennen, wenn du auch nur ein falsches Wort sagst!" Damit kam Kai langsam auf Rei zu, der sich keinen Millimeter fortbewegte. Das was Kai sagte, erinnerte ihn sehr an die Worte von Yuriy. Hatte er sich wirklich verändert? Ging er anders mit seinem Freund um? Er konnte es nicht wirklich sagen. Als Kai vor ihm stand, zischte er die nächsten Worte nur noch: "Du hast mir nicht einmal gesagt, dass es dich nervt, dass ich alles im Alleingang mache. Du hast es einfach akzeptiert und die Klappe gehalten. Warum? Warum spuckst du nicht einfach aus, wenn dich was nervt? Das hast du früher immer gemacht!" "Selbst wenn ich etwas gesagt hätte, als hättest du dir reinreden lassen!" "Natürlich hätte ich das nicht! Aber dann hätte ich dir vielleicht mal erklärt, warum!"   Wie war das Gespräch eigentlich so umgeschlagen? Rei verstand es nicht, aber es spielte auch nicht wirklich eine Rolle. "Wenn du weißt, dass es mich stört, warum kommst du denn dann nicht mal auf mich zu?" Doch der Gegenangriff schien Kai nicht zu beeindrucken. Das war wohl das Problem, wenn man mit einem Managementerben zusammen war, die mussten diskutieren können. "Warum sollte ich? Wenn du den Mund nicht auf bekommst, ist das wohl kaum mein Problem!" "So funktioniert eine Beziehung aber nicht!" "Und wie funktioniert sie dann? Schleicht man so lange umeinander rum, bis man erraten hat, was der andere denkt? Ist das die Art von Beziehung, die du willst?" Rei wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Er fühlte sich in die Enge getrieben und Panik machte sich in ihm breit. War das das Aus ihrer Beziehung? So schnell? So einfach? Nein, er wollte nicht, dass es hier endete! "Du bist eben ein Einzelgänger. Ich wollte dich akzeptieren wie du bist, statt dich verändern zu wollen." "Hör doch auf mit diesen dummen Floskeln!" "Das sind keine dummen Floskeln! Was hätte es denn geändert, außer, dass wir uns gestritten hätten? Gar nichts! Du hättest eher noch weniger Zeit mit mir verbracht, als sowieso schon!" Er konnte ihm nicht sagen, dass das nicht der Wahrheit entsprach. "Bist du tatsächlich so verzweifelt, dass du dich schon selbst zurück nimmst, nur, um mich zu sehen? Was ist das für eine Beziehung?" "Es ist immerhin eine, oder? Ist es nicht normal, dass man mit der Person zusammen sein will, die man liebt?" Rei erschrak selbst etwas, als ihm diese Worte über die Lippen rutschten. Ja, sie waren schon eine Weile zusammen, aber niemand von ihnen hatte tatsächlich ausgesprochen, dass sie sich liebten und das hier war jetzt definitiv der falsche Zeitpunkt für so etwas. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Doch statt noch wütender zu werden, schien Kai sich ein wenig zu entspannen. "Wir sind beide sehr unterschiedlich, Rei. Sollten wir die Zeit die wir zusammen haben nicht lieber nutzen, um zu sehen, ob wir zusammen wirklich funktionieren? Was bringt es uns denn, wenn wir nur versuchen es dem anderen möglichst recht zu machen?"   Leicht beschämt wandte Rei seine Augen ab und wusste wieder nicht so recht, was er sagen sollte. Die Wut die die ganze Zeit in ihm gebrodelt hatte, schien sich langsam zu verflüchtigen. "Irgendwo hast du ja recht." "Natürlich habe ich das.", kam es voller Überzeugung von seinem Freund, was Rei nur dazu brachte seine Augen genervt zu verdrehen. Ein scheuer Blick in das Gesicht des anderen ließ ihn das leichte Schmunzeln noch sehen, ehe es wieder der gewohnt kühlen Maske wich. "Wir sind ein Team Kai. Natürlich müssen wir nicht alles zusammen machen, aber gerade bei so etwas Wichtigem will ich dabei sein. Verstehst du? Ich habe angst, dass dir etwas passiert, ich will dir helfen und um ehrlich zu sein, bin ich ziemlich eifersüchtig darauf, dass du Yuriy einweihst, aber mich nicht! Ich will nicht der sein, der als einziger außen vor gelassen wird!" Ehrlichkeit war in diesem Fall wohl wirklich das Beste. Sie mussten sich endlich aussprechen. "Es gibt einen Grund, warum ich das so mache, Rei. Du wurdest hier schon einmal angegriffen und fast umgebracht. Das die Stichwunde nicht tödlich war, war reines Glück. Ich will dich beschützen. Denn das alles hier ist nicht ungefährlich. Es wundert mich ja schon, dass ich noch nicht angegriffen wurde, aber ich schätze einfach, dass Volkov einfach denkt mich unter Kontrolle zu haben oder mich los zu sein, sobald das Jahr rum ist."   Er hatte ihn also die ganze Zeit nur beschützen wollen? Irgendwie war das schon niedlich, andererseits entfachte es von neuem die Wut in ihm. "Mich beschützen? Kai, ich bin weder ein kleines Kind, noch irgendein Mädchen, das sich nicht wehren kann!" Er war da schon immer recht empfindlich gewesen, wenn er ehrlich zu sich war. Er konnte es nicht leiden, wenn man dachte, er könne nicht für sich selbst sorgen. So lange schon lebte er im Prinzip alleine und auf sich allein gestellt, da konnte man ihm doch zutrauen, dass er das auch konnte, oder? "Darum geht es nicht, Rei! Das hier ist eine Nummer zu groß für dich! Ich bin immer noch der Erbe des Internatsinhabers, mir kann Volkov so schnell nichts! Deshalb..." "Moment, was?", unterbrach Rei schockiert. "Deinem Großvater gehört das Internat?"   War das sein Ernst? Kai war der Erbe eines Imperiums, das so etwas guthieß? Das so etwas förderte? Und sein Freund stand hier und sagte ihm das, als wäre es das Normalste auf dieser Welt? War es das? Betrieben alle großen Imperien solche perversen Einrichtungen? Wollte Kai das dann vielleicht auch so weiter führen? War denn die ganze Welt total übergeschnappt?   "Ja, aber Rei, hör mir zu!" "Dir zuhören? Du bist der Erbe dieses Drecksladens! Und das erzählst du mir erst jetzt? Warum zum Teufel willst du dann dieses Turnier gewinnen? Damit die Kinder angst vor dir haben, wenn du dieses Drecksloch nach dem Tod deines Großvaters übernimmst?" "Richtig." Rei riss geschockt die Augen auf, als diese trockene Antwort seine Ohren erreichte. Am liebsten wäre er weggelaufen, doch seine Beine bewegten sich nicht. Er konnte nur in die kalten Augen seines Freundes sehen und sich wünschen, dass er das nie gesagt hätte. Doch glücklicherweise sprach Kai weiter, noch bevor er seinen Körper dazu bringen konnte, wieder ordentlich zu funktionieren: "Denn nur wenn sie auf mich hören, kann ich ihnen helfen."   *   Flashback Ende   Kai hatte ihm im Groben erklärt, was genau er vor hatte. Er wollte den Kindern hier helfen, wollte sie von Volkov befreien. Aber dafür brauchte er deren Respekt und Achtung. Deshalb mussten sie beide gewinnen und das war auch der Grund, warum Rei immer wieder und wieder aufstand, egal wie sehr sein Körper dagegen protestierte. Es stand einfach zu viel auf dem Spiel. Kapitel 18: Die Ruhe vor dem Sturm ---------------------------------- Kai   Die Sonne ging gerade unter und tauchte die Umgebung in ein skurriles Blutrot. Es lag Schnee überall und heute war einer der wenigen vollkommen klaren Tage gewesen. Absurde Schatten schienen über die nahezu unberührte weiße Decke zu huschen, als Kai langsam zum Rand des Internats schritt. Sein Ziel war die Mauer, wie so oft in den letzten Wochen. Heute würde es das letzte Mal sein.   Er fühlte sich wie ein Soldat der in den Krieg zog und wusste, dass er nicht zurückkommen würde. Es war ein merkwürdiges Gefühl und er konnte nicht recht erklären, woher es kam. Natürlich konnte er sich nicht vollkommen sicher über den Ausgang des morgigen Tages sein, doch er zweifelte nicht daran, dass sie gewinnen konnten. Dennoch war sein Plan fragil. Selbst wenn sie gewannen, gab es keine Garantie dafür, dass die anderen Kinder ihnen folgen würden. Es könnte alles schief gehen und wenn auch nur eine Sache nicht so lief wie sie sollte, könnte er wirklich nicht mehr lebend zurück kommen. Er war schon so gut wie enterbt. Wenn sein Großvater auch noch mitbekam, was er hier versuchte und er zu allem Überfluss auch noch scheiterte, dann würde er ihn garantiert verstoßen. Wenn er aber Erfolg hatte, brauchte er sich darum absolut keine Gedanken zu machen. Und eines war definitiv sicher: Kein Hiwatari war ein Verlierer.   Dennoch war er nervös. Ein Gefühl, das er so gar nicht kannte. Es war wohl normal, wenn man sein Leben riskierte. Ironischerweise kämpfte er nicht für sich. Ein Fakt, der ihn selbst überraschte und wohl auch jeden überraschen würde, der ihn je länger als 5 Minuten kannte. Gleichzeitig war es wiederum so typisch für ihn, dass er ob der Ironie fast lachen musste. Jetzt wo er seine Erinnerungen zu einem großen Teil wieder hatte, erkannte er die Zusammenhänge.   Yuriy war nicht immer so eiskalt und psychopathisch gewesen. Natürlich war er das nicht. Niemand von ihnen war so geboren worden. Kai befürchtete allerdings, dass Yuriy hauptsächlich wegen ihm so geworden war. Sie hatten das ein oder andere Jahr miteinander verbracht und waren bald bekannt dafür gewesen, dass sie die schwächeren auch mal beschützten. So jemanden wie Yuuya zum Beispiel. Es war nie etwas Offizielles, immer nur Gerüchte und es war das Beste Training gewesen, das sie hätten bekommen können. Sie hatten sich mit jedem angelegt, der die weniger Starken oder einfach Friedfertigeren ausnutzte und schikanierte. Es war egal wie alt sie waren und egal wie stark oder wie viele. Sie hatten sie besiegt. Yuriy aber hatte das als Schwäche angesehen. Kein Wunder, so oft wie sie dafür bestraft worden waren, hatte er auch ab und an seine Zweifel gehabt. Zusätzlich verstand sein damaliger bester Freund nicht, was es brachte die Unterlegenen zu schützen. Er befürchtete, dass die es nie schaffen würden, für sich selbst einzustehen. Etwas, was in ihrer Welt einfach unabdingbar war. Aber im Gegensatz zu Yuriy, hatte Kai niemals vergessen, wie die wahre Welt, die normale Welt war und da waren die Schwachen genauso wertvoll wie alle anderen auch. Jeder Mensch war es Wert, beschützt zu werden. Als Kai dann allerdings versagt hatte und an Yuuyas Tod fast zugrunde gegangen wäre, muss das der Beweis für Yuriy gewesen sein, dass Emotionen und Mitleid gar nichts brachten. So muss er die Lehren, die er eingetrichtert bekommen hat, vollkommen angenommen haben und muss zu dem Psychopathen geworden sein, der er heute war. Eine Sache die sich niemals rückgängig machen ließ. Einmal derart verkümmert, kamen Emotionen nur schwer wieder zurück. Er würde Yuriy morgen zeigen, was es bedeutete, für andere zu kämpfen. Vielleicht würde ihn das genug beeindrucken, um den Willen aufzubringen, sich verändern zu wollen. Auch wenn er da wirklich wenig Hoffnung sah. Glücklicherweise war das aber nichts, worüber sich Kai Gedanken machen musste. Das war wahrlich nicht seine Schuld, sondern die von Volkov. Es gab allerdings etwas, was definitiv seine Schuld war.   Kais Schritte stoppten vor dem Grabstein und er blickte hinab. Auch eine Sache, die er nie mehr richten konnte, aber morgen würde er dafür sorgen, dass Yuuya endlich ruhen konnte. Er würde ihn, genau wie all die anderen verstorbenen und noch lebenden Kinder, befreien. "Nur noch ein Tag, Yuuya. Hab noch einen Tag Geduld. Danach ist alles vorbei. Danach wird aus diesem Ort das, was es schon immer hätte sein sollen: Ein Zufluchtsort und eine Bildungsstätte für Kinder, die nirgendwo anders hin können. Ich werde es zu etwas machen, worauf du Stolz gewesen wärst. Hab nur noch ein wenig Geduld."   Rei   Er wusste nicht wohin mit sich. Sollte er raus oder doch drin bleiben? Er hätte seine Eltern gerne noch einmal gesehen, doch die würden erst in zwei Wochen wieder kommen. Er würde gerne mit seiner Mutter reden und ihr sagen, was sie vor hatten. Sie würde versuchen ihn aufzuhalten und vielleicht wollte er auch aufgehalten werden. Natürlich wollte er das, schließlich war es Wahnsinn, was sie da taten. Sie legten sich mit dem Sporteliteinternat schlechthin an und kämpften dazu einen Kampf auf Leben und Tod. Ihm war das nur zu bewusst. Wenn sie verloren würde sie nichts in der Welt mehr schützen. Mit der Anmeldung zu dem Turnier waren sie auf eine Stufe mit den Heimkindern gerutscht. Das einzige was sie derzeit noch schützte, war Volkovs Angst, dass etwas an die Öffentlichkeit dringen würde und eventuell seine Hoffnung, dass er sie unter Kontrolle hatte. Wenn der Plan aber schief ging, würde Volkov sie aus dem Weg räumen, so viel war sicher.   Er wollte jetzt eigentlich wirklich nicht allein sein, aber Kai hatte sich geweigert den Abend mit ihm zu verbringen. Es war typisch, dass er allein sein wollte und Rei hatte das akzeptiert, auch wenn er das gerade wirklich bereute. Er wusste wirklich nicht wohin mit sich und fand keine Ruhe. Hoffentlich würde er schlafen können. Er musste morgen ausgeruht sein. Es war doch wirklich zum Haare raufen! Worauf hatte er sich da auch eingelassen? Warum tat er das? Eigentlich ging ihn diese ganze Sache doch gar nichts an! Und trotzdem tigerte er jetzt durch die Wohnung wie ein Irrer, weil er morgen einen Lebensgefährlichen und auf jeden Fall lebensverändernden Tag vor sich hatte. In seinen Händen lagen die Leben von Dutzenden Kindern. Wahrscheinlich sogar von noch viel mehr, denn das Ganze würde ja nicht aufhören. Alle zukünftigen Kinder waren ebenso in Gefahr und somit lagen auch ihre Leben in seinen Händen. Das war eine Last die er nicht imstande war zu tragen und nur Kai wusste von alledem. Warum tat er das? Rei verstand es selbst nicht. Tat er das für Kai? Oder für sich selbst? Tat er es für die Kinder? War er wirklich so selbstlos?   Er kam in seinem Zimmer zum stehen und starrte an die Wand, an der das Bild von Byakko hing. "Es ist absurd, oder? Ich bin ein guter Mensch, ja. Aber so gut? Ich hätte mich nie für einen Märtyrer gehalten." Nun, Märtyrer starben für gewöhnlich auch und er hatte wirklich nicht vor das zu tun. "Es ist richtig, oder? Es ist richtig diesen Kindern helfen zu wollen, auch wenn der Preis für den Versuch groß sein könnte." Eigentlich war er mehr als überzeugt davon, aber wie konnte man sich bei so etwas sicher sein, wenn man sein eigenes Leben aus Spiel setzte? War es wirklich das richtige? "Ich vertraue Kai. Er hat gesagt, dass alles nach Plan laufen wird. Wir müssen nur gewinnen. Aber bin ich stark genug dafür? Wir haben zwar pausenlos trainiert, aber das werden die anderen auch gemacht haben. Besonders Yuriy. Kai hat gesagt, dass ich so weit bin und ich glaube ihm, wenn er das sagt.. aber... wir reden hier vom amtierenden Weltmeister. Und er kämpft irgendwie auch um sein Leben, nicht wahr? Er hat die gleiche Motivation wie ich... wobei, nein. Ich kämpfe nicht um mein Leben. Ich kämpfe für das Leben der anderen. Macht mich das vielleicht letztendlich stärker? Vielleicht..." Rei seufzte ob seiner eigenen wirren Gedanken und setzte sich vor sein Bett auf den Boden. Die Knie mit den Armen umschließend, starrte er weiter das riesige Bild an. "Es ist keine Zeit und kein Platz für Zweifel. Trotzdem sind sie da. Byakko... ich habe dich noch nie mehr gebraucht als jetzt. Ich brauche deine Hilfe. Bitte beschütz' mich, damit ich die schützen kann, die selbst nicht für sich einstehen können."   Yuriy   Es fühlte sich merkwürdig an. Alles war so intensiv und wirkte gleichzeitig so weit weg. Selbst das Wasser auf seiner Haut. Es war, als wenn er alles gleichzeitig auch von außerhalb seines eigenen Körpers erfahren würde. Er war sich nicht einmal sicher, ob das Wasser warm oder kalt war. "Du benimmst dich seit heute morgen ganz schön komisch, Yuriy. Was haben die die Nacht über mit dir im Labor gemacht?" Er antwortete nicht auf Sergeis Frage. Er durfte sowieso nicht und wäre auch nicht imstande gewesen, in Worte zu fassen, was passiert war. Sie hatten ihn verändert. "Dafür bist du beim Training heute aber ganz schön zur Sache gegangen." Er sah keinen Sinn darin, auf diese Feststellung von Ivan zu antworten. Überflüssig. Boris schien auch anders. Seine Augen waren düsterer als sonst gewesen. Ob sie das selbe mit ihm gemacht hatten? Er war sich nicht sicher. "Morgen ist dann also der große Tag, huh?" Wieder Ivan. Der Kleinste und Vorlauteste aus der Gruppe war schon immer ein wenig nervös gewesen. Yuriy hatte ihm meistens ein warmes Wort geschenkt, aber er sah heute keinen Sinn darin. Er sah in ziemlich wenig einen Sinn heute. Er fühlte sich merkwürdig fremd in seinem Körper. Irgendetwas war anders, aber er konnte nicht sagen was genau. Hoffentlich wäre das morgen besser. Wenn er so merkwürdige Dinge empfand, könnte ihn das ablenken. Das war absolut inakzeptabel. Vielleicht hätte er nicht zu den Ärzten gehen sollen, mit der Angabe, er wäre krank. Das war zwar schon über 4 Monate her, aber wer wusste schon, wie die das aufgefasst hatten? Oder war das eine verquere Strafe von Volkov? Es war egal... er sollte sich darum keine Gedanken machen. "Du und Boris, ihr seid beide furchtbar ruhig heute. Ist alles in Ordnung?" Sergeis Stimme klang tatsächlich leicht besorgt. Warum? Seiner Meinung nach tat er nichts wirklich anderes als sonst auch. Er hatte nie viel geredet und Boris schon gar nicht. Wahrscheinlich war Sergei auch aufgeregt. Wie unnötig. "Habt ihr beiden euch gestritten?" "Mach dich nicht lächerlich." Die leichte Trägheit seiner Zunge signalisierte ihm, dass das die ersten Worte waren, die er heute gesprochen hatte. Egal.   Er stellte die Dusche ab und begann sich abzutrocknen. Seine Haut war stark gerötet, was darauf hin wies, dass das Wasser doch ziemlich heiß gewesen musste. Er wartete nicht einmal auf sein Team, zog sich einfach an und ging dann. Er sah keinen Sinn darin auf sie zu warten. Zeitverschwendung.   Irgendwas in ihm sagte ihm, das etwas nicht stimmte, aber er konnte sich nicht wirklich dazu bringen, sich Sorgen zu machen. Was Volkov tat war schon richtig so. Darauf vertraute er. Warum sich also Sorgen machen? Schließlich musste er sich auf ein Turnier konzentrieren. Kapitel 19: Turnier ------------------- Kai   Er war fast schon enttäuscht, aber was hatte er auch erwartet? In seiner Kategorie war keiner der Weltmeister. Rei und er hatten das so geplant, damit sie erst in der Endrunde, in der der Kapitän bestimmt wurde, auf die anderen trafen. So konnte keiner behaupten, dass sie nicht alles gegeben hatten. Kai hatte nie etwas anderes als Kickboxen gelernt, deshalb war er in dieser Gruppe. Rei trat in der Gruppe für Karate an. Yuriy war in der Mixed Martial Arts Sektion, während sich Boris durch die Boxer kämpfte. Ivan hatte dank seiner Größe nicht viel Auswahl und trat deshalb als Judoka an. Sergei war mit seiner Größe ein perfekter Taekwondo Kämpfer. Sie alle würden in der Endrunde in der Mixed Martial Arts Kategorie kämpfen, was Yuriy schon fast einen unfairen Vorteil gab. Aber Rei hatte seine Fertigkeiten in allen Bereichen perfektioniert, er würde das schon schaffen. Wie er sicher sein konnte, dass Rei gegen Yuriy kämpfte? Das war er nicht wirklich, aber Rei war der gefährlichere von ihnen beiden und das wusste auch Volkov. Er würde die Paarungen schon passend wählen. Kai war sich ziemlich sicher, dass er entweder gegen Sergei oder Boris antreten würde. Ivan war zu klein um es mit ihm wirklich aufnehmen zu können. Das Turnier verlief natürlich nicht nach echten Wettkampfregeln. Das einzige was verboten war, war Kampftechniken aus fremden Stilen zu verwenden, alles andere war variabel. Den Schiedsrichter gab es nur sporadisch. Verstieß eines der Kinder heftig gegen die allgemeinen Regeln, zum Beispiel wenn plötzlich Waffen im Spiel waren, wurde es erst nach dem Kampf disqualifiziert. Dieses Turnier war wirklich mörderisch. Es gab einige die dachten, dass ihre Waffe nicht auffallen würde. Kai hatte das in einer Runde bereits am eigenen Leib erfahren. Er hatte nicht mit dem Rasiermesser gerechnet, das plötzlich aus dem Oberteil seines Kontrahenten gezogen wurde und deshalb prangte jetzt ein langer Schnitt an seinem Arm. Mit einem heftigen Tritt mitten ins Gesicht des Kindes, hatte Kai den Kampf dann beendet. Als man ihn gefragt hatte, ob er ärztliche Hilfe benötige, hatte er abgelehnt, wohl wissend, dass ihm das ein wenig Respekt einbrachte. Er durfte sich nicht verarzten lassen, sonst würde er schwach wirken. Ansonsten stellten die anderen Kinder kaum Gegner für ihn dar. Es war ganz wie in der Zeit, als er noch selbst Teil des Waisenhauses gewesen war. Dadurch, dass er einiges an Erinnerungen wieder hatte, hatte er sich auch an die meisten Kampftechniken erinnert. So war er wieder die Nummer eins, zumindest in dieser einen Kategorie. So hatte er sich auch bald ins Finale seiner Sektion vorgearbeitet.   Er stand einem Jungen gegenüber, den er nicht kannte. Gut so, dann konnte er sich ganz auf den Kampf konzentrieren. Ihm fiel allerdings auf, das der andere leicht nervös wirkte und offensichtlich bereits leicht verletzt war. Ungewollt legte sich das Bild von Yuuya über die Gestalt vor ihm. Wie er da gestanden hatte, mit Tränen in den Augen und ihn darum gebeten hatte, einfach aufgeben zu dürfen. Wie er gezittert hatte, nicht aus Angst, sondern vor Schmerzen. Die geweiteten Augen und das Aschfahle Gesicht schienen die Züge seines Gegners vollständig zu ersetzen. Vollkommen von diesem Moment eingenommen und wie erstarrt, hörte Kai das Signal das Schiedsrichters nicht und steckte so den ersten Tritt in seine Seite voll ein. Er stürzte zur Seite und rollte sich weg, um einem weiteren Angriff zu entgehen. Er hatte keine Zeit um nachzudenken. So schnell wie möglich war er wieder auf den Beinen und hob seine Hände zur Deckung. Das hätte nicht passieren dürfen. Der Junge vor ihm grinste höhnisch, sich jetzt im Vorteil hoffend. Es wurde nicht gesprochen, das war ein ungeschriebenes Gesetz. Man war zum kämpfen hier, nicht um Kaffeekränzchen zu halten.   Hochmütig griff der andere abermals an. Wahrscheinlich dachte er, dass er leichtes Spiel hatte, denn er setzte zu einem Tritt gegen seinen Kopf an, der seine Deckung vollkommen offen ließ. Kai fing den Tritt ab, indem er ihn gegen deinen Unterarm prallen ließ und konterte seinerseits mit einem Tritt in die Magengrube. Sein Gegner taumelte zurück, leicht zusammengekrümmt, aber ansonsten bereit weiter zu machen. Hartnäckiger Bursche, dabei hatte er ihn voll erwischt. Damit wäre der vorige Nachteil wieder ausgeglichen. Jetzt hieß es nur noch, sich wieder zu konzentrieren.   Mit erhobenen Fäusten schlichen sie kurz umeinander herum, wie Tiger, die nach einer Schwachstelle zum Angreifen suchten. Sie fanden beide keine. Kai jedoch bewies die stärkeren Nerven. Sein Gegner wurde ungeduldig und näherte sich ihm, mit einer schnellen Rechts-Links Kombination der Fäuste, denen Kai auswich oder die er abfing, nur um dann zu kontern. Nur einen Moment ließ der Junge seine Deckung leicht offen, um sich nach dem erfolglosen Angriff wieder zu sammeln, doch es reichte für Kai um zu zuschlagen. Seine Faust traf mitten in das Gesicht des anderen, was diesen merklich zurücktaumeln und ihn offen für weitere Angriffe machte. Sofort setzte Kai nach und benötigte nur noch ein paar gezielte Kombinationen aus Tritten und Schlägen um den anderen zu Boden zu bringen. Sicherheitshalber trat er noch einmal nach, direkt in die Nieren. Eine Sache die in einem Wettkampf absolut verboten wäre, aber hier war es notwendig um sicherzustellen, dass sein Gegner nicht noch einmal aufstand. Das tat er auch nicht, nachdem er sich übergeben hatte. Wie seine vorigen Kontrahenten, wurde auch er weg geschafft. Sicherlich in die Labore... Er musste das hier alles beenden, bevor die Forscher genug Zeit gehabt hatten, die aussortierten zu präparieren. Natürlich wurden nicht alle Verlierer aussortiert. Das wären zu große Verluste und viel zu auffällig. Dennoch würden die Schwächsten und am stärksten Verletzten heute in die Labore kommen.   Aber das durfte für den Moment nicht wichtig sein. Er musste sich jetzt auf die finale Runde konzentrieren. Sie würden gewinnen, da war er sich sicher.     Rei   Er hoffte wirklich, dass Kai besser dran war, als er. Rei war es gewohnt in Wettkämpfen zu kämpfen, aber das hier war kein Wettkampf und auch wenn Kai ihn davor gewarnt hatte, hatte ihn das vollkommene Fehlen von Regeln sehr überrumpelt. Dadurch hatte er in den ersten Runden einiges einstecken müssen. Gerade bei Karate war es so, dass in Wettkämpfen viele Techniken verboten waren, weil sie unter anderem lebensgefährlich waren. Karate war für gewöhnlich eine Kampfkunst und nicht für Wettbewerbe gemacht. Das sah man hier allerdings gänzlich anders. Seine Gegner kamen mit voller Härte und so hatte Rei sehr schnell lernen müssen, dass er mit Freundlichkeit und ehrbarem Kampf hier nicht weit kam. Das ging ihm eigentlich gehörig gegen den Strich, denn das hatte nichts mehr mit dem ursprünglichen Gedanken von Karate zu tun. Dieses Turnier hier ging gegen alles, was er gelernt hatte. Aber er musste gewinnen, auch wenn er dafür einen Teil seines Ehrgefühls aufgeben musste. Rei vermied trotzdem die gefährlichsten Techniken. Etwas, was schon den ein oder anderen Gegner zum abfälligen Schmunzeln gebracht hatte, aber bisher hatte er damit zumindest immer gewonnen. Die heftigen Sachen musste er sich sowieso für Yuriy aufheben. Glücklicherweise hatte er keinerlei Zeit um über den bevorstehenden Kampf nachzudenken. Gerade hatte er seinen Gegner in einer Fußschere und drückte ihm damit die Luft ab. Eigentlich sollte der andere abklopfen, damit er nicht irgendwann ohnmächtig wurde, aber er tat es nicht. Er gab nicht auf, im Gegenteil. Er biss ihm sogar in die Wade, was Rei einen kurzen Schrei entlockte, ihn aber nicht dazu brachte, locker zu lassen. Diese verdammten Kinder! Aber er konnte sie ja verstehen. Auch sie kämpften um ihr Leben. Sie konnten nicht wissen, dass er versuchte ihnen zu helfen und da war es nur logisch, dass sie mit allen Mitteln versuchten zu gewinnen. Er würde wahrscheinlich nicht anders handeln.   Langsam merkte er, wie sich der Kiefer wieder entspannte und der gefangene Körper langsam erschlaffte. Zur Sicherheit und aus der Angst heraus, der andere könnte nur so tun, als sei er ohnmächtig, hielt Rei die Schere noch einige Sekunden aufrecht, ehe der Schiedsrichter den Kampf beendete. Erst dann entspannte auch er sich und ließ von dem Jungen ab. Es tat ihm leid, dass er so weit hatte gehen müssen, aber letztendlich war es nur zu deren Besten. Er durfte keine Zweifel haben. Er musste gewinnen, auch wenn ihm das nicht gefiel.   Ein hörbares Knacken ging durch die Halle, die ansonsten vollkommen ruhig war. Er sah herüber zu dem Ort, an dem die anderen beiden Halbfinalisten kämpften oder zumindest bis eben gekämpft hatten. Einer der Kontrahenten krümmte sich auf dem Boden vor Schmerz und hatte sichtlich Mühe nicht zu schreien. Der Gewinner stand über ihm, das Schiedsrichter hatte bereits den Kampf beendet, doch dem Überlegenen war das wohl nicht genug. Er trat noch einmal nach, man hörte es wieder knacken, dann erst wurde der Junge von dem nun regungslos am Boden liegenden weg gezogen und der schlaffe Körper nach draußen geschleift. Rei schluckte. Das war also sein Gegner?   Es dauerte nur wenige Minuten ehe es weiter ging. Sie stellten sich einander gegenüber und verbeugten sich in einem absurden Versuch das ganze hier doch noch wie einen ehrenvollen Kampf aussehen zu lassen. Schon in dem Moment, in dem der Schiedsrichter den Kampf freigab und sie beide eigentlich noch halb verbeugt voreinander standen, hatte Rei ein Knie im Gesicht. Vollkommen überrumpelt und geschockt taumelte er rückwärts um Abstand zu nehmen. Er hatte nicht einmal Zeit das Blut seiner Nase zu stoppen, denn sein Kontrahent setzte sofort nach. Geradeso konnte er eine Abfolge von Schlägen und Tritten abfangen und versuchte verzweifelt wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Alles drehte sich und er bekam keine Luft durch die Nase. Stattdessen schmeckte und schluckte er Blut. Instinktiv duckte er sich unter einem Tritt weg. Er musste einen Gegenangriff starten, sonst fing er sich bald den nächsten Treffer und er war sich nicht sicher, ob er dann noch aufstehen konnte. Wenn er doch wenigstens eine Sekunde Ruhe bekommen würde um sich zu erholen! Aber sein Gegner setzte ständig nach und ließ ihm keine Möglichkeit zum Durchatmen. Verdammter Mist!   Der nächste Schlag ging ins Leere, was Rei dazu nutzte um einen gezielten Tritt in die Magengrube zu setzen. Der Schwindel nahm zu, aber wenigstens hatte er jetzt kurz Zeit, um das Blut abzuwischen und sich kurz zu sammeln. Für mehr reichte es allerdings wirklich nicht. Zäh waren die Burschen hier, das musste er ihnen lassen. Diesmal setzte Rei nach, ehe sein Gegner sich vollkommen erholt hatte und übernahm somit die Offensive. Er stellte schnell fest, dass die Stärke des anderen darin lag, den Kampf zu dominieren. Einmal in die Defensive gedrängt, war es relativ einfach, einige gute Treffer zu setzen. Sein Kontrahent versuchte noch ein paar Mal wieder die Führung zu übernehmen, doch jetzt, wo Rei die Oberhand hatte, ließ er sich die nicht mehr entreißen. Als der Junge am Boden lag und wieder aufspringen wollte, setzte der Chinese einen Schlag direkt zwischen die Schulterblätter des anderen und sorgte so dafür, dass der liegen blieb. Einmal versuchte er wieder hoch zu kommen, dann sackte er aber zusammen und gab sichtlich auf. Er hatte es geschafft. Jetzt fehlte nur noch Yuriy.     Kapitel 20: Der letzte Kampf ---------------------------- Kai   Die Endrunde sah ein wenig anders aus, als er es in Erinnerung hatte. Er war sich aber auch nicht sicher, ob die Erinnerungen vollkommen korrekt waren. Es war etwas unerwartet, dass nur die besten vier überhaupt in die letzte Runde kamen, denn die Bewertung der 'Besten', war ohne einen ordentlichen Wettkampf mit Punktesystem doch ein wenig schwierig. Aus diesem Grund musste Kai annehmen, dass sie die Regeln dieses Jahr ein wenig geändert hatten. Volkov schien also zu ahnen, dass etwas nicht stimmte und stellte ihm und Rei jetzt die stärksten seiner Schüler gegenüber, um sie ein für alle Mal auszuschalten. Normalerweise bestand das Finale noch einmal aus mehreren Stufen, in denen die Gewinner der Kategorien gegeneinander antraten. Nun, so war es einfacher und schneller. Es war sowieso schon enorm spät, was ihm allerdings sehr in den Kram passte.   Wie bereits erwartet wurde ihm Boris gegenüber gestellt. Yuriy würde dann gegen Rei kämpfen. Kai hatte seinen Freund bisher nicht wirklich ausmachen können, was ihn ein wenig beunruhigte, aber gleichzeitig auch entspannte. Wenn er irgendetwas Ungutes an Rei sehen würde, seien es nun übermäßige Verletzungen oder sonst irgendwas, was ihren Sieg gefährden könnte, würde er jetzt nur nervös werden und er musste sich dringend konzentrieren. Die Kämpfe würden gleichzeitig stattfinden, in unterschiedlichen Teilen der Halle.   Er machte sich bereit, stellte sich, wie ihm gesagt wurde und sah dabei zu, wie Boris sich vor ihm aufbaute. Volkov war nicht blöd, Boris war der einzige, den er nicht schon kannte. Er war der gewesen, der nach ihm ins Internat kam und damit kannte er auch seine Schwachstellen nicht. Nun, dem wäre zumindest so, wenn er nicht recherchiert hätte. Kai trug eine Trainingshose mit Hosentaschen und darin versenkte er ganz entspannt seine Hände. Zufrieden sah er, wie Boris verärgert die Augen verengte. Er hatte das Signal also verstanden. Natürlich tat man das in einem Wettkampf nicht. Das war respektlos und zeigte, dass man den anderen nicht ernst nahm. Aber das hier war nichts ehren- oder respektvolles und deshalb konnte er das tun. Er selbst war natürlich nicht so locker, wie er nach außen hin gab, aber Boris hatte eine herausragende Schwäche: Er war viel zu leicht reizbar. Natürlich war er auch in einem wütenden Zustand kein leichter Gegner, doch Wut führte schneller zu Fehlern und Unkonzentriertheit und gab Kai so eine bessere Chance. Allerdings musste er dann doppelt so vorsichtig sein, denn Wut ließ auch die Angriffe stärker werden. Wenn er auch nur einmal richtig getroffen wurde, war es aus, das wusste er. Was er aber auch wusste war, dass Boris hauptsächlich Faustkämpfer oder eher Boxer war und deshalb eher selten seine Beine einsetzte. Das würde er sicherlich zu seinem Vorteil nutzen können. Es war alles geplant, jetzt musste es nur auch funktionieren. Der Schiedsrichter gab den Kampf frei doch Kai blieb weiterhin locker stehen, was Boris eindeutig verwirrte. Zum ersten Mal wurde in diesem Turnier wirklich geredet: "Was machst du da, Hiwatari? Willst du mich verarschen?" Doch Kai antwortete nicht einmal. Er stand nur weiter da, mit den Händen in der Hosentasche und wartete darauf, dass Boris angriff. "Du nimmst mich nicht ernst, hm? Na warte, das treibe ich dir noch aus!" Jetzt schon gereizt, schnellte Boris auf Kai zu und versuchte einen Schlag mitten in sein Gesicht zu platzieren. Er verfehlte, als Kai gekonnt auswich.   Er hatte es mit Rei geübt. Ein ganz besondere Technik, von der er bis dahin noch nicht gehört hatte. Es war die Fähigkeit sich selbst zu vergessen und sich vollkommen auf seinen Gegner zu konzentrieren, um letztendlich die Bewegungen voraus ahnen zu können. Natürlich konnte niemand das in 4 Monaten meistern, aber solange Boris gereizt genug war, war er für Kai vorhersehbar. Zumindest glaubte er das.   Schon nach wenigen Augenblicken hatte Boris seine Strategie geändert und somit bewiesen, warum er zu den gefährlichsten Kämpfern im Institut zählte. Kai steckte einen Schlag mitten in die Magengrube ein und krümmte sich zusammen, obwohl sein Geist schrie, dass er in Bewegung bleiben musste. Es ging nicht, er hatte es übertrieben. Ein Schlag in den Rücken drückte ihn förmlich zu Boden und nur das Adrenalin in seinem Körper sorgte dafür, dass er sich zur Seite drehen konnte, um dem Kampfstiefel zu entkommen, der auf ihn zugeschossen kam.   Als er sich wieder aufrichtete, hatte er seine Hände längst aus den Taschen genommen und fixierte Boris, der herablassend grinste. "Kommt davon, wenn man mich unterschätzt." Ego war auch ein großer Feind von erfolgreichen Kämpfen. Vielleicht war noch nicht alles verloren. Es wurde Zeit, die gesamte Technik anzuwenden. Das allerdings war leichter gesagt als getan. Boris konnte unglaublich schnell sein. Etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er sah die Angriffe nicht kommen und hatte so Mühe sie abzuwehren. Einige wirklich fatale Schläge musste er einstecken, denn sein Gegner schien von überall zu kommen.   Hilflosigkeit und Überforderung erfassten ihn, als er Blut schmeckte. War er tatsächlich nicht gut genug? Hatte er sich übernommen? War er zu übermütig, sich selbst zu sicher gewesen? War alles umsonst? In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so schwach gefühlt, wie in diesem Moment und zum ersten Mal, wusste er nicht, was er tun sollte. Die Schläge kamen zu schnell und zu sicher. Er fand keine Lücke oder Schwachstelle, ja nicht einmal eine Möglichkeit selbst anzugreifen. Immer dann, wenn Boris aus seinem Sichtfeld verschwand, tauchte er danach an einer vollkommen unvorhersehbaren Stelle wieder auf und landete meistens einen Schlag. Was sollte er tun? War das so nicht sinnlos?   In einem Moment in dem sein Gegner nicht direkt vor ihm war, erhaschte Kai einen kurzen Blick in die Menge. Für einen Moment dachte er, Yuuya dort stehen zu sehen, der ihm zulächelte und ihn stumm anfeuerte. Auf seiner Schulter ruhte eine Hand, die zu Rei gehörte, der ihn aus funkelnden Augen ansah, sich dann entspannte und die Augen schloss.   Das Bild war nur eine Sekunde da, aber es hatte gereicht, um ihm neuen Mut zu schenken. Er konnte es schaffen, er musste. Es stand zu viel auf dem Spiel. Es wurde Zeit, dass er seine eigenen Dämonen endlich bezwang. Ich bin kein erbärmlicher Straßenköter!   Er entspannte sich und ließ die Geräusche seiner Umgebung auf sich wirken. Es dauerte nur einen Atemzug lang, dann schien alles langsamer zu laufen. Plötzlich schien er mehr Zeit für alles zu haben und so sah er auch endlich die Hand auf sich zukommen. Er konnte es sehen und spüren. Schnell hob er die Hand, entspannte seinen Arm an den richtigen Stellen und fing den Schlag einfach mit der hohlen Hand ab. Sein Unterarm bewegte sich dabei gerade einmal einen Zentimeter in Richtung seines Gesichtes, mehr nicht. Es hatte funktioniert. Er hatte den Schlag eines Boxers abgefangen. Einfach so, ohne Schmerzen.   Mit neuem Mut sah er Boris entgegen, der zu irritiert von der Tatsache war, dass seine Schlagkraft einfach verpufft war. Er holte mit der anderen Hand auch aus, doch das Ergebnis war das Gleiche. Frustriert versuchte er seine Hände wieder zurückzuziehen, scheiterte aber kläglich. Stattdessen ging Kai jetzt endlich in den Angriff über. Eine Hand löste er von seinem Gegner um mehr Bewegungsfreiheit zu haben, die andere behielt er, wo sie war, um Boris in seiner Bewegung zu blockieren. Es folgten einige gezielte Tritte, doch die entlockten dem Anderen kaum ein Keuchen. Dennoch war das mehr als nichts, denn Boris schaffte es jetzt nicht mehr, ihn wirklich anzugreifen. Als Kai die andere Hand von ihm dann endlich los ließ, war der so überrumpelt, dass er den Kinnhaken nicht kommen sah. Er konnte so zäh sein wie er wollte, das knippste sogar ihm die Lichter aus.   Ein Raunen ging durch die Menge, als Boris nicht mehr aufstand und Kai schwer keuchend und deutlich angeschlagen als Sieger aus dem Kampf hervor ging. Kurz darauf war es totenstill im Raum, doch der Schiedsrichter kam nicht einmal dazu, das Ergebnis zu verkünden, als sich alle umher Stehenden plötzlich umwandten und ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenkten. Alarmiert kämpfte sich Kai durch die Menschenmassen, bis er zu deren Zentrum kam. Geschockt blieb ihm der Atem stehen, als er zu den anderen beiden Kontrahenten kam. Rei war blutüberströmt, wobei Yuriy nicht viel besser aussah. Aber sein Freund stand am Rand des Platzes, die Kinder um ihn herum nur darauf wartend, dass er einen Schritt zu viel nach hinten tat, um ihn dann festzuhalten oder zu Fall zu bringen. Etwas, was in diesem Stadium des Kampfes fatal wäre. "Gib auf, Rei. Bevor ich dir wirklich weh tun muss.", hörte Kai Yuriy zischen. Zwischen den beiden waren kaum zehn Zentimeter platz. Wenn der Russe Rei einfach nur ein wenig schubsen würde, wäre alles aus. Scheinbar schwach hatte Rei eine Hand gegen die Brust des anderen gestemmt. Er hatte nicht genug Bewegungsfreiheit um noch zu einem richtigen Schlag ausholen zu können. Kai grinste.   Rei   Yuriy war ein Monster. Ein Monster, das weder Rücksicht noch Schmerzen kannte. Rei hatte gewusst, dass es nicht einfach würde, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es so brutal wäre. Während seine vorherigen Gegner meist auf Nummer sicher gegangen waren, und seinen Körper angegriffen hatten, zielte Yuriy ständig auf seinen Kopf und riskierte damit aktiv auch selbst einige Treffer. Durch das Training mit Kai hatte er einige Techniken zum Abwehren von solchen Schlägen erlernt, aber es kostete all seine Konzentration, nicht von so einem Schlag erwischt zu werden. Dennoch ging gerade der Anfang des Kampfes nicht gerade glimpflich für sie beide aus. Normalerweise hieß 'sich gegenseitig Abtasten', bei einem Kampf, dass man erst einmal vorsichtig ran ging und erforschte, was der Kontrahent konnte. Sie machten es anders. Abtasten in ihrem Kampf hieß, dem Gegner erst einmal die heftigsten Sachen um die Ohren zu hauen, ohne Rücksicht auf Verluste, und dann zu sehen, was der andere daraus machte. Eine Taktik die Rei wirklich nicht lag und die er auch als vollkommen unsinnig empfand, aber Yuriy hatte ihm keine Wahl gelassen. Das Resultat war, wie nicht anders zu erwarten, dass sie nach den ersten Minuten bereits ziemlich am Ende waren, wobei Yuriy noch fitter aussah. Jetzt aber wurde der Kampf plötzlich langsamer. Sein Gegner schien es gewohnt zu sein, seine Kontrahenten sehr für auf die Bretter zu schicken und musste jetzt die Situation erst neu einschätzen. Eigentlich hätte ihm Rei diese Möglichkeit gar nicht geben dürfen, aber es ging nicht anders. Er brauchte diese Ruhephase. Es folgte das, was gemeinhin als 'Abtasten' galt. Sie probierten einfache, sichere Techniken aus und schauten, wie weit sie kamen. Das machten sie tatsächlich so lange, bis die Massen um sie herum begannen unruhig zu werden.   Niemand von ihnen beiden landete jemals auf dem Boden oder führte Bodennahe Techniken aus. Das war zu gefährlich. Rei wusste noch von ihrem damaligen Trainingskampf, wie schnell Yuriy sein konnte. Glücklicherweise hatte Kai ihm helfen können, die gefährlichsten Angriffe in diese Richtung abzuwehren.   Aber er ließ langsam nach. Er wurde müde. Das hier musste so schnell es irgendwie ging beendet werden. Sein Körper schrie trotz des Adrenalins nach einer Pause, was ihn höchst alarmierte. Die Verletzungen mussten schlimm sein und er hatte einiges an Blut verloren. Lange würde er nicht mehr durchhalten. So griff er zu einer Notfalltechnik. Sie war riskant, denn durchschaute sein Gegner sein Vorhaben, wäre alles aus. Aber er vermutete stark, dass Yuriy zu sehr im Angriff und dem Vernichten seines Kontrahenten spezialisiert war, dass er solche Möglichkeiten nicht kannte.   Als die Versuche des anderen wieder ernsthafter wurden, ging Rei ins ausweichen über. Er ließ sich über den Ring jagen, steckte sogar noch den ein oder anderen weiteren Schlag und Tritt ein. Er musste sich konzentrieren, damit nichts schlimmeres passierte, sonst wäre alles aus. Schließlich war er da, wo er hin gewollt hatte. Ein Raunen ging durch die Menge, als Yuriy ihn an den Rand des Rings gedrängt hatte. Rei wusste, wenn er noch weiter nach hinten gedrückt würde, würden die Kinder, die um sie herum stehen 'versehentlich' dafür sorgen, dass er diesen Kampf verlor. Unehrenhaft, aber hier wahrscheinlich normal. Yuriy zögerte aber tatsächlich kurz, was Rei verwunderte. Es wurde totenstill im Saal. Bedrohlich stand er vor ihm und sah ihn aus eisigen Augen an: "Gib auf, Rei. Bevor ich dir wirklich weh tun muss." Es erstaunte Rei, dass er ihm tatsächlich die Möglichkeit gab, aufzugeben. Aber das würde er niemals tun. Mit festem Blick schüttelte er den Kopf nur um im nächsten Moment den Schlag abzufangen, ohne sich einen Millimeter nach hinten zu bewegen. Er hatte jetzt die perfekte Ausgangsposition. Mit seinem ganzen Körper schlug er Yuriy mit der Faust gegen die Brust. Er musste nicht ausholen dafür, brauchte keinen Platz. Ein Schlag, der aus nur wenigen Zentimetern Entfernung ausgeführt wurde und so viel Kraft hatte, wie ein gewöhnlicher Fausthieb. Er kannte die Schritte die Yuriy zurücktaumeln musste und folgte ihm, den Arm des anderen immer noch abgewehrt nach oben haltend. Mit dem selben Arm konnte er nun ebenso kurze aber Kräfte Schläge gegen dessen Hals setzen, der vollkommen offen vor ihm lag. Yuriy konnte sich nicht mehr wehren, denn er hatte zu viel damit zu tun, sein Gleichgewicht zu halten. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: Fallen oder die Schläge zu lassen. Rei brauchte ein paar Schläge, traf dann aber endlich den richtigen Punkt und spürte wie Yuriys Körper erschlaffte.   All das war so schnell geschehen, dass die meisten keine Ahnung hatten, was eigentlich passiert war.   Doch das interessierte Rei wenig. Er durchkämmte die Menge nach Kai. Als sich ihre Augen trafen, erfasste ihn unendliche Erleichterung. Sie hatten es geschafft. Kapitel 21: Befreiung --------------------- Allgemeine Sicht   Rei sah schlimm aus, weshalb Kai, nachdem der Kampf endgültig entschieden war, sofort zu ihm kam, um ihn möglichst unauffällig zu stützen. Wenn er jetzt umkippte, wäre das unpraktisch, mussten sie doch Stärke demonstrieren. Sie wurden von den Kindern unschlüssig angestarrt. Niemand konnte wirklich glauben, was sie gerade gesehen hatten. Neben ihnen öffnete Yuriy gerade wieder seine Augen, aber er blieb liegen. Mit leerem Blick starrte er an die Decke und rührte sich nicht. Die beiden gingen zu ihm und musterten ihn besorgt.   Yuriy   Er konnte es nicht fassen. Er hatte verloren. Hatte verloren gegen ein verdammtes Lichtkind. Gegen einen Weichling und das nur, weil er einen Moment nachgelassen hatte. Wie hatte das passieren können? Was war überhaupt genau passiert? Plötzlich hatte Rei zugeschlagen ohne je zu einem Schlag ausgeholt zu haben. Wie hatte er das gemacht? Und was war danach passiert? Er erinnerte sich nicht mehr richtig. Es war alles plötzlich einfach schwarz geworden.   Er wusste nicht was er jetzt tun sollte. Was jetzt geschah. Es war eine Situation, für die es kein Protokoll gab. Er hatte versagt, natürlich gab es dafür kein Protokoll. Würde Volkov ihn jetzt verstoßen? Zusammen mit Boris? Würde er sie umbringen? Angst setzte sich in seiner Brust fest und umschloss sein Herz mit brutaler Gewalt. Sollte es so also zu Ende gehen, nach allem, was er bis jetzt durchgemacht hatte? War es das jetzt? Wäre er in der Lage dazu gewesen, hätte er wahrscheinlich begonnen zu weinen wie ein kleines Kind und es wäre ihm vermutlich egal gewesen. Was interessierte es jetzt auch noch? Er war ein Versager! Er hatte gegen ein verdammtes Lichtkind verloren! Das durfte nicht sein!   Als Schatten sich über sein Blickfeld legten, riss er sich zusammen und brachte seine Augen dazu, sich zu justieren. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er die beiden Gesichter erkannte. Was wurde das jetzt? Wollten sie ihn auslachen? Ihm seine Niederlage vorhalten? Ihn bemitleiden? War das alles nicht schon Hohn und Spott genug?   Rei war es, der ihn einfach nur anlächelte und ihm eine Hand entgegenhielt: "Gut gekämpft. Das sollten wir irgendwann mal unter anständigen Voraussetzungen wiederholen." Die Worte klangen aufrichtig und ehrlich, aber er konnte nichts damit anfangen. Dieser Mistkerl verstand doch gar nicht, was er da gerade getan hatte! Er hatte sein Todesurteil unterschrieben! Und wofür? Er verstand es nicht! Warum hatten die beiden das gemacht? Keiner von ihnen wollte wirklich an den Weltmeisterschaften teilnehmen. Sie interessierten sich für so etwas gar nicht! Was sollte das also?   Wütend schlug er die Hand weg, die ihm dargeboten wurde und brachte sich mühsam in eine sitzende Position. Dann stand er auf. Seine Beine zitterten leicht, doch das ließ er sich nicht anmerken. Wo war Boris? Angespannt überflog er die Menge und wollte schon in Richtung des anderen Kampfplatzes gehen, als er ihn entdeckte. Scheinbar ging es ihm gut.   "Was ist hier los!?" Die polternde Stimme ließ ihn leicht zusammenzucken. Volkov war das Turnier über nicht anwesend gewesen, aber es musste ihm gerade jemand gesagt haben, was passiert war. Die Menge spaltete sich um ihm einen Durchgang zu bieten und er hielt genau auf ihn zu. War es jetzt schon so weit? Yuriy straffte seine Haltung. Wenigstens seinem Untergang wollte er mit Würde entgegentreten. "Du!", zischte Volkov und hatte schon die Hand erhoben, da war er noch nicht einmal bei ihm. Er sah den Schlag kommen, er sah nicht weg, er versuchte nicht abzuwehren und nicht zurückzuschrecken. Er spannte sich nur an, in Erwartung der Schmerzen, die garantiert kommen würden. Doch es geschah nichts. Einige Zentimeter vor seinem Gesicht hing die Faust einfach in der Luft und zitterte. Erst einen Augenblick später begriff er, dass Kai die Hand abgefangen hatte. "Was tust du da?", keifte er erbost. "Lass das gefälligst und misch dich nicht ein!" "Nein", war Kais kühle Antwort und zu allem Überfluss, stellte sich Rei ebenfalls schützend vor ihn. Was fiel diesen Bastarden ein!?   "Es ist vorbei Volkov. Ich lasse dich keine Sekunde länger diese Kinder hier misshandeln." Das Gesicht des Heimleiters wurde augenblicklich rot vor Wut. "Und wie willst du mich aufhalten? Du bist nur ein Kind! Du hast nichts vorzubringen!" Doch Kai lachte nur. Der Rest des Raumes war totenstill. Nicht einmal das Rascheln von Kleidern war zu hören. "Ich habe nichts vorzubringen? Ich habe bewiesen, dass du im Unrecht bist! Das reicht doch vollkommen!" "Im Unrecht? Wie kannst du es wagen! Du Bengel hast doch keine Ahnung!" "Wir haben gewonnen Volkov! Wir haben gewonnen gegen sämtliche Methoden die du aufzuwarten hattest! Es waren alles Lügen! Es ist eine Lüge, dass Lichtkinder zu verweichlicht sind. Es ist eine Lüge, dass man nur mit Härte gewinnen kann. Es ist eine Lüge, dass nur deine Methoden zum Erfolg führen. Diese ganze Welt die du hier aufgebaut hast, besteht einzig und allein aus Lügen! Nichts ist wahr! All die Qualen die diese Kinder hier durchlitten haben, waren umsonst! Wir haben bewiesen, dass es anders besser geht!"   Kais Worte trafen Yuriy wie einen Schlag. Er hatte Recht. Fast ihr ganzes Leben lang hatten alle von ihnen immer nur gehört, dass man nur mit Härte weiter kam. Dass Lichtkinder verweichlicht wären und nicht wüssten, wie man kämpft. Dass nur der Weg von Volkov sie alle davon abhalten würde, auf der Straße zu verhungern. All die Jahre war das wahr gewesen. Niemand hatte sie schlagen können. Niemand hatte ihnen das Wasser reichen können. Aber hier waren sie nun. Hier waren die beiden Lichtkinder, beide selbst vollkommen verweichlicht und hatten es innerhalb eines verdammten Jahres geschafft, die Elite des Internats zu schlagen. Warum sie das konnten war vollkommen irrelevant. Sie hatten es geschafft, das war was zählte.   Yuriy konnte in den Gesichtern um ihn herum sehen, dass alle ähnliche Gedanken hatten. Sie alle hatten Angst, aber sie erkannten die Wahrheit in Kais Worten. Hinzu kam der antrainierte Respekt den jeder vor dem Sieger hatte. Volkovs Macht fiel gerade vor ihrer aller Augen.   "Du kleiner Wurm!", schrie der ausgediente Herrscher. "Das wirst du noch bereuen! Wachen! Aus den Augen mit ihm und dieser chinesischen Ratte!" Sofort hörte man herannahende Schritte, doch sie verhallten auch genauso schnell wieder. Die Kinder um sie herum machten keinen Platz, ließen die Wachen nicht durch. Und da alle in diesem Raum hervorragend im Kampfsport ausgebildet waren, kamen die Männer selbst mit Schlagstöcken und Messern nicht durch. Ein paar Minuten lang herrschte ziemliches Chaos, dann war alles wieder ruhig. Die Kinder wandten sich wieder Volkov zu, der es jetzt auch langsam mit der Angst zu tun bekam. "Was tut ihr da, ihr Ungeziefer! Habt ihr vergessen wer euch von der Straße geholt hat? Ohne mich seid ihr gar nichts!"   "Falsch!", hörte Yuriy sich plötzlich selbst sagen. Er spürte wie all die Wut und der Frust in ihm aufkam, der sich die letzten Jahre angesammelt hatte. All der Schmerz und das Leid. Die Angst. Alles kam hoch und entlud sich in seinen folgenden Worten: "Ohne UNS bist DU nichts!"   Volkov erbleichte als auch sein loyalster Soldat sich gegen ihn aussprach. In schierer Panik drehte er um und rannte zum nächstmöglichen Ausgang. "Lasst ihn gehen!", rief Kai, als er sah, wie einige Kinder ihn aufhalten wollten. "Er wird nicht weit kommen."   Volkovs Schritte verklangen irgendwann in der endlosen Weite der Nacht und hinterließen erdrückende Stille. Der resolute Geist der Masse schien sich damit ebenfalls zu verflüchtigen und Unsicherheit machte sich in der großen Halle breit. Das Gefühl wuchs an, bis es nahezu greifbar war und auch Yuriy fragte sich: Was jetzt? Volkov war weg. Sie hatten ihn vertrieben in einem merkwürdigen Anflug von Eintracht und Mut. Würden sie jetzt alle wieder auf der Straße landen? War es das Wert gewesen? Angst erfasste ihn plötzlich wieder. Wie sollten sie jetzt zurecht kommen? Würde Hiwatari, der Besitzer des Internats, jetzt jemand neuen schicken? Jemanden, der noch brutaler war? Oder würde das Internat einfach dicht gemacht? Was hatten sie da gerade getan?   Ein Piepton ließ den ganzen Raum zusammen fahren. Danach lagen alle Augen auf Kai, der sein Handy in der Hand hielt und mit einem kurzen Druck den Ton wieder abstellte.   Kai   "Na, das hätte ich besser nicht planen können." Vorsichtiges Murmeln brach in der Halle aus. Doch Kai unterbrach das mit einem Räuspern. Sofort war es wieder still. "Da wir die Machtverteilung glücklicherweise klären konnten..." und er hatte tatsächlich den Nerv eine kleine Kunstpause zu machen "... darf ich jetzt verkünden, dass ich soeben Besitzer des Internats geworden bin." Verwirrung brach in der Halle aus und das Gemurmel setzte jetzt wieder ein. Ihm war bewusst, dass er das jetzt klären musste, bevor Panik entstand. "Beruhigt euch doch bitte." Er musste die Stimme nicht einmal wirklich heben um die Aufmerksamkeit wieder zu bekommen. Auch wenn die Hintergründe äußerst traurig waren, war es gerade doch sehr angenehm, dass die Kinder so diszipliniert waren. "Es ist alles in Ordnung. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Ab jetzt bin ich der Leiter hier, wenn auch nicht auf ewig. Es wird ein paar Umstrukturierungen geben, aber ich bitte euch, euch keine Sorgen zu machen. Für euch bedeutet das nur Positives, auch wenn die Umgewöhnung wahrscheinlich erst einmal schwierig wird. Ich werde euch morgen früh alles genauer erklären, aber ihr solltet jetzt erst einmal schlafen. Der Tag heute war für alle anstrengend. Geht schlafen, das habt ihr euch verdient." Es herrschte einige Momente lang Verwirrung und Unwillen, aber nach und nach setzte wohl die Erziehung ein und sie gehorchten. Langsam leerte sich die Halle. Am Ende waren nur noch er selbst, Rei, Yuriy und Boris übrig. Die beiden letzteren sahen ihn abwartend an. Nun, zumindest ihnen sollte er es wohl erklären.     Einige Monate zuvor   "Was soll das heißen, du bist in Russland!?", schrie sein Großvater am anderen Ende der Leitung. Es fiel Kai schwer Ruhe zu bewahren, aber er wusste, dass er sich jetzt zusammenreißen musste. "Du kannst nicht einfach mitten im Schuljahr nach Russland! Was hast du dir dabei gedacht?" "Ich bin hier um einem Freund zu helfen, Großvater. Ich gehe hier weiter zur Schule. Du kennst doch sicherlich das Internat, das Volkov leitet?" Er hielt seine Stimme unter allen Umständen ruhig. Ausfallend zu werden, würde nichts nutzen, im Gegenteil. "Kai, du wirst dich auf der Stelle in einen Flieger hierher zurück setzen! Haben wir uns verstanden? Das geht wirklich zu weit! Du kannst nicht ohne meine Erlaubnis die Schule wechseln." Er musste ja nicht unbedingt erwähnen, dass er das schon längst getan hatte. Das würde den alten Mann nur noch mehr aufregen. "Nein." "Wenn du nicht auf der Stelle zurück kommst, wirst du das bereuen, Kai!" Er hatte es geahnt. Sein Großvater drohte ihm damit, ihn zu verstoßen. Er schloss kurz die Augen um sich zu sammeln und die Panik herunter zu schlucken, die ihn überkam. "Großvater, ich..." "Wag es bloß nicht mich so zu nennen! Bis du wieder hier bist, kannst du dir das 'Großvater' sonst wo hin stecken!" Ihm wurde übel. War er gerade tatsächlich dabei, sein einziges Familienmitglied zu vergraulen? "Ich komme nicht zurück." Ja, genau das tat er. Und er legte einfach auf, noch ehe Souichirou irgendetwas erwidern konnte. Danach betätigte er die Enter Taste auf seinem Laptop und bestätigte damit eine Zahlung. Es war das letzte Geld gewesen, was er noch gehabt hatte. Er mochte bald kein Erbe des Hiwatari Imperiums mehr sein, aber das hieß nicht, dass er es nicht dennoch haben konnte. Was er gerade los gesendet hatte, war eine enorme Anzahlung an eine Firma, die er übernommen hatte. Nun, noch nicht gesetzeskonform, aber er stand schon länger mit dem Leiter in Kontakt. Der Vertrag war unterschrieben, der besagte, dass er mit Abschluss seines 18. Lebensjahres, die Firma übernahm. Die Anzahlung war etwas Kleingeld, damit die Firma Aktienanteile des Hiwatari Imperiums kaufen konnte. Natürlich war sie nicht die einzige, die anderen Firmen brauchten nur keine Anzahlung, um diese Käufe zu tätigen.   Schon seit er damals nach Japan gekommen war, hatte er Furcht, dass sein Großvater ihn verstoßen würde, weshalb er sich einen Notfallplan zurecht gelegt hatte. Er hatte gehofft, dass er ihn niemals einsetzen musste, aber sicher war sicher. Da er all die Firmen noch nicht offiziell besaß, würde niemand etwas ahnen. Schon gar nicht sein Großvater. Aktienkäufe waren normal und notwendig, dass etwa ein Dutzend der Firmen ihm gehörten, konnte keiner wissen. Am Tag seines achtzehnten Geburtstages war er offizieller Besitzer von Hiwatari Enterprises, was dann auch gleich um ein Dutzend aufstrebender und vielversprechender Firmen erweitert wurde. Interessanterweise war er dann auch Besitzer des Internats. Aber ehrlich gesagt, fühlte sich das gerade ziemlich beschissen an.   Zurück in der Gegenwart   Yuriy   "Und was hast du jetzt vor?", fragte Yuriy misstrauisch. Kai war offenbar gerade 18 geworden und hatte damit das Imperium übernommen. Aber das interessierte ihn eigentlich herzlich wenig. "Ich werde hieraus eine normale Schule machen. Natürlich bleibt das Heim ebenfalls. Aber niemand wird hier mehr kämpfen müssen um zu überleben. Genauere Pläne gibt es noch nicht." Skeptisch und innerlich entsetzt hob Yuriy eine Augenbraue: "Bitte? Du hast hier geputscht, aber hast keine Ahnung, was du hiermit anfangen willst? Du kannst uns nicht den Kampfsport wegnehmen! Das ist unser Leben!" Kai verzog keine Miene. "Ja habe ich. Aber das war reine Kalkulation. Du und dein Team werdet mir natürlich bei der Umstrukturierung helfen. Ihr kennt euch am besten aus." "Natürlich.", knurrte Yuriy sarkastisch ehe er inne hielt. "Moment, was?" Ein etwas überhebliches Grinsen legte sich auf Kais Züge: "Was, jetzt schon überfordert Ivanov? Gewöhn' dich dran. Die nächsten Monate werden nicht einfach. Ich brauche Berater die mir hierbei helfen. Außerdem kann ich nicht alles allein machen. Ich habe ein Imperium zu führen." "Heißt das....?" "Ja. Das heißt, dass ich euch die Führung hier auf kurz oder lang überlassen werde." Yuriy und Boris fielen beiden die Kinnlade herunter. Sie sollten das Internat übernehmen?   ~*~   Rei   Kai hatte noch lange mit Yuriy und Boris diskutiert, aber schließlich hatten die beiden sich auch verabschiedet um sich schlafen zu legen. Nun waren sie beide allein in der riesigen Halle. "Du warst die ganze Zeit so still. Geht es dir gut?" Kais Stimme klang plötzlich schwer und leicht zurückhaltend. Er konnte es verstehen. Ihm war es auch irgendwie unangenehm allein mit ihm zu sein. "Ich sollte wohl zu einem Arzt, aber bisher hat das Adrenalin noch nicht nachgelassen." Und das obwohl die Kämpfe schon seit gut eineinhalb Stunden 'rum waren. Nun ja, es war danach ja auch nicht wirklich ruhiger geworden. "Happy Birthday, Kai." Reis Stimme zitterte leicht und sie beide sahen sich nicht an. Er hatte Angst vor dem Moment gehabt, in dem sie allein sein würden und alles geklappt hatte. Absurderweise hatte er hiervor weit mehr Angst gehabt, als vor dem Turnier. "Danke." Er schluckte hart und zwang sich dazu, Kai anzusehen. Die erste Träne fiel, ohne, dass er sie aufhalten konnte. Er hasste Abschiede.   Sanft strich Kai ihm die Nässe aus dem Gesicht, was nur dazu führte, dass mehr davon nach kam. Hatte er wirklich die richtige Entscheidung getroffen? Aber jetzt wäre auch nicht der richtige Zeitpunkt um eine Beziehung aufzubauen. Es nutzte nichts. "Wir haben wohl einfach ein schlechtes Timing, huh?" Seine Stimme brach fast. Er hatte wirklich Mühe, nicht zu schluchzen. Vorsichtig wurde er in die Arme seines Ex-Freundes gezogen. "Manche Dinge sollen einfach nicht sein, Rei. Kein Grund traurig zu sein. Es hat eben nicht gepasst. Wir beide werden jemand anderen finden." Es tat weh diese Worte zu hören. Er wollte andere hören. Er wollte hören, dass sie es doch noch versuchen sollten. Dass sie es jetzt schaffen könnten, wo alles vorbei war. Aber das konnten sie nicht und das wussten sie beide. Das hier war ein Abschied. Er hatte alles bereits mit seinen Eltern geklärt. In einigen Wochen würde er auch 18. Bis dahin hatte er sich unabhängig erklären lassen und würde nach Amerika ziehen und dort seinen Abschluss machen. Das würde stressig werden, aber machbar sein. Er konnte nicht hier in Russland bleiben. "Ich liebe dich, Kai." "Ich dich auch, Rei."   Noch einmal drückte Rei sich an ihn, flüsterte ihm etwas ins Ohr und löste sich dann von ihm. Sie sahen sich noch einmal kurz an, dann ging er. Draußen befanden sich einige Polizeiautos und Krankenwagen. Sie holten die Kinder aus den Laboren, ließen den Rest aber schlafen. Es war alles abgesprochen. Als er an einem der Krankenwagen vorbei ging, sah er Sergei und Ivan, die beide merkwürdig apathisch wirkten. Ein Sanitäter versuchte mit ihnen zu reden, doch sie antworteten nicht.   Natürlich hätten sie das auch alles in die Wege leiten können, ohne das Turnier zu gewinnen, aber dann hätte es innerhalb des Internats wohl ein Massaker gegeben. Die Kinder hätten sich für Volkov eingesetzt, statt ihn zu vertreiben. Außerdem brauchten sie jetzt einen Anführer, dem sie vertrauen konnten und wer war da besser geeignet, als der Stärkste unter ihnen?   Leise Tränen flossen Reis Wangen hinab, als er sich in die Obhut eines Arztes begab und sich voller Wehmut an das Gespräch an diesem einen ungemütlichen Januartag zurück erinnerte.   - Kai?   - Hm?   - Ich denke, das mit uns hat nicht mehr wirklich einen Sinn, oder?   - ... ja.   - Dann... war es das?   - So ist es wohl. Epilog: Epilog -------------- Allgmeine Sicht   "Ich habe vor die Maßnahmen in dieser Einrichtung zu verschärfen. Es ist erschreckend, dass zwei Außenseiter die Elite dieser Schule schlagen können. Wir müssen hier definitiv mit härterem Geschütz ran." Der Mann vor Kai wurde bleich und gleichzeitig verdunkelte sich sein Blick. "Herr Hiwatari, ich denke..." "Was interessieren mich ihre Gedanken? Wenn Sie ihren Job behalten wollen, dann tun sie gefälligst was ich sage! Ich bin nicht so weich wie Volkov!" "Aber..." "Nichts aber!", zischte Kai erbost, beruhigte sich dann aber wieder. "Ich verstehe... Ihnen ist Ihr Gehalt zu niedrig? Das kann ich ändern." "Was? Nein!" Doch der neue Internatsleiter hatte bereits sein Scheckbuch gezückt und eine Zahl mit erstaunlich vielen Nullen aufgeschrieben. Er schob es dem Mann vor sich zu: "Ich denke das entspricht Ihrer Qualifikation. Sind wir uns jetzt einig?" Deutlich bildeten sich Schweißtropfen auf der Stirn des Lehrers, als er die enorme Summe sah. Das konnte nur ein schlechter Traum sein. "Sie zögern immer noch? Wie dumm von Ihnen. Ich habe mehr als genug andere Lehrer, die Ihre Stelle und vor allem Ihr Gehalt wollen." "Herr Hiwatari... sehen Sie... ich..." "Ja?", fragte angesprochener mit einem Hauch Hoffnung in der Stimme.   Doch der Mann schob des Scheckbuch wieder zu seinem Besitzer zurück und stand auf. "Nein, ich kann das nicht! Das ist Unrecht und wenn Sie das wirklich durchziehen, werde ich Sie melden!" Kai sah ihn nur teilnahmslos und kalt an. "Setzen!", zischte er. Der Mann zögerte. "Setzen habe ich gesagt!" Der Mann saß, deutlich nervös. "Sie sind eingestellt, aber wagen Sie es nie wieder, so mit mir zu reden." Mit riesigen Augen sah der Mann den Jungreichen an: "Aber ich sagte doch..." "Ich habe gehört was Sie gesagt haben. Gut gemacht. Ich kann keine Lehrkräfte hier gebrauchen, die auch nur im entferntesten denken, dass das, was Volkov getan hat, sinnvoll war. Oder eine, die für Geld alles macht. Gehen Sie jetzt. Ihr ursprüngliches Gehalt bleibt selbstverständlich das selbe."   *   Kreidebleich verließ der Mann das Büro. Boris und Yuriy standen draußen um eingreifen zu können, falls es Probleme gab. Kai hatte ihnen von dem kleinen Test erzählt und beide fanden es amüsant zu beobachten, wie die verschiedenen Menschen auf ihn reagierten. Nebenbei merkten Sie sich die, die gefeuert wurden, für später.   Es hatte bereits einige positive Veränderungen im Internat gegeben. Die Leute, die direkt an allem beteiligt waren, waren am nächsten Tag festgenommen worden, nachdem den Kindern alles erklärt wurde und sie alle in einen abgetrennten Bereich des Internats gebracht wurden, damit sie nicht alles mitbekamen. Vor allem Yuriy, aber auch andere seines Teams und sogar einige seines Alters, haben enorm dabei geholfen alle Forscher ausfindig zu machen und Beweismaterial zu lokalisieren. Andere haben randaliert, weil sie trotz allem der Meinung waren, Volkovs Pläne verteidigen zu müssen oder einfach aus Angst davor, ihr zu Hause zu verlieren. Jetzt war einige Tage lang Ruhe eingekehrt und Kai begann die Lehrer auszusortieren. Yuriy konnte es immer noch nicht fassen, dass alles einfach so vorbei sein sollte. Immer, wenn er an die Zukunft dachte, in der er all das hier leiten sollte, legte sich eine Schwere auf seine Brust, die ihn schier am atmen hinderte. Er ignorierte es so gut es ging und machte weiter, so wie immer eben. Wenn er eines hier in diesem Internat gelernt hatte, dann, dass man immer weiter gehen musste. Ein Stillstand war nicht möglich und zurück konnte man ebenfalls nicht mehr. Als sie Volkov vertrieben hatten, hatten sie alle gemeinsam eine Entscheidung getroffen und mit der mussten sie jetzt alle leben. Aber sie lebten nicht alleine damit. Sie alle zusammen wurden gemeinsam mit den neuen Umständen fertig. Das war ungewohnt, ergab aber einige neue Möglichkeiten.   "Ich kann ihn dennoch nicht leiden.", grummelte Boris nur genervt. "Du bist nur sauer, weil er dich geschlagen hat." "Tze, das war reines Glück und hat hiermit überhaupt nichts zu tun." "Glück, hm?" Yuriy musterte sein Teammitglied eindringlich. Da war etwas, was ihm schon lange auf der Zunge brannte. War er überhaupt noch sein Teammitglied? Wieder fühlte er sich unsicher, bei den Gedanken an die ungewisse Zukunft. Es würde alles anders werden und auch wenn er wusste, dass das gut und nötig war, sträubte sich sein Geist enorm dagegen. Was, wenn alles schlimmer werden würde? Was, wenn es ihm eigentlich gefallen hatte, wie es gewesen war? Was, wenn er genau das gebraucht hatte? Was, wenn Volkov recht behielt und sie alle für nichts anderes zu gebrauchen war?   Yuriy musste kurz durchatmen um sein rasendes Herz zu beruhigen. Er durfte nicht daran denken. Wenn die anderen bemerkten, dass er angst hatte, würden auch sie unsicher werden und dann könnte es zu Problemen kommen. Er musste stark sein damit das hier alles funktionierte. Also konzentrierte er sich weiter darauf Boris zu ärgern. Ein wenig Aggressivität würde ihn ablenken. Ob er ihn so weit reizen konnte, dass er eine Prügelei mit ihm begann? Nein, sie mussten wachsam sein. Der nächste Lehrer betrat gerade Kais Zimmer.   "Du hast seine Schwäche nicht ausgenutzt." Damit spielte er auf den langen und sicherlich schmerzhaften Schnitt an, der Kai in den ersten Runden zugefügt worden war. Doch entgegen seiner Vermutung, schaffte Yuriy es nicht, Boris damit aus der Fassung zu bringen. Stattdessen warf der ihm einen Blick zu, der ihn stumm fragte, ob diese Frage tatsächlich sein Ernst war. "Natürlich nicht." Der Unterton in Boris' Stimme erschien ihm beleidigt. "Ihr habt mir gesagt, dass er jeden in jeder Disziplin hatte schlagen können. Ich wollte wissen, ob ich ihn schlagen kann. Was hätte mir ein Sieg genutzt, wenn ich so etwas ausgenutzt hätte? Außerdem hätte ihn das sowieso maximal nur kurz abgelenkt." Und sie beide wussten, dass das den Kampf hätte entscheiden können. Jede noch so kleine Unaufmerksamkeit konnte das Ergebnis vollkommen verändern. "Aber warum fragst ausgerechnet du das? Du hast auch nicht einmal versucht gezielt auf die Stelle zu gehen, die mal die Stichwunde gewesen war. Kann mir nicht vorstellen, dass die gut genug verheilt ist, dass sie einen gezielten Angriff verwunden hätte." Yuriy musste schmunzeln. Wo er recht hatte. "Da haben die beiden wohl unabsichtlich unseren Ehrgeiz und Kampfgeist geweckt, was?"   Rei   Hallo Takao,   es ist unglaublich viel passiert in den letzten Monaten und es tut mir unheimlich leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich bezweifle, dass Kai dich auf dem Laufenden gehalten hat. Aus gewissen Umständen, die ich dir gerne einmal via OnlineTelefonie erläutere, lebe ich mittlerweile in Amerika. Die genaue Adresse habe ich der E-Mail angehängt.   Kai und ich haben uns getrennt, weil eine Beziehung keinen Sinn mehr gemacht hat. Wir haben viel zusammen erlebt und müssen das erst einmal verarbeiten. Wir müssen beide unsere Leben auf die Reihe kriegen und dafür brauchen wir Abstand. Ich bin mir noch unsicher, wie es danach für uns weiter geht, aber rein vom Gefühl her würde ich sagen, dass es das war. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass wir es schaffen Kontakt zu halten, auch wenn ich das versuchen werde.   Ob ich traurig bin? Ja. Ich bin immer noch verliebt in ihn und er wohl auch in mich. Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass wir einen Fehler machen und dass es funktioniert hätte. Aber das ist vollkommen unsinnig. Das hält mich aber nicht davon ab, mich jede Nacht bitterlich in den Schlaf zu weinen. Ich fühle mich einsam und allein gelassen, dabei war ich es, der zuerst vorgeschlagen hat, dass wir uns trennen sollten. Ist schon seltsam manchmal, oder? Ich frage mich selbst ständig, wie es dazu gekommen ist, aber ich kann die Frage nicht beantworten. Wir haben uns auseinander gelebt, was bescheuert ist, wenn man bedenkt, dass wir nicht mal richtig zusammen waren. Wahrscheinlich war das das Problem. Wir waren nie richtig zusammen und haben viel zu wenig Zeit miteinander verbracht, bevor ich nach Russland gezogen bin. Und in Russland ist dann auch viel zu viel passiert. Ich könnte ein ganzes Buch darüber schreiben und auch dann ist noch nicht alles erzählt. Mir schwirrt noch immer der Kopf wenn ich daran denke und ich glaube, dass ich es auch noch nicht ganz verstehe. Es sind noch so viele Fragen offen und dann wiederum wache ich manchmal morgens auf und habe das Gefühl, das alles nur ein Traum war. Es ist seltsam.   Aber kommen wir doch zu den erfreulicheren Dingen! Ich bin zwar erst seit ein paar Wochen hier, aber ich habe schon einige Bekannte gefunden! Ich mag Amerika einfach! Da ich mitten im Schuljahr gewechselt habe um meinen Abschluss hier zu machen, kann ich jetzt auch noch einige Gleichaltrige kennenlernen. Alles hier ist voll mit verrückten Leuten, es macht einfach nur Spaß! Jeden Tag entdecke ich etwas neues und lerne neue nette, merkwürdige, abgefahrene oder einfach nur tolle Menschen kennen. Ich fühle mich wohl hier und ich denke, ich könnte hier bleiben. Endlich kann ich zur Ruhe kommen und mir ein Leben aufbauen! Du musst mich unbedingt einmal besuchen kommen und lade den Austauschschüler von dem du erzählt hast auch gleich mit ein! Er ist ja auch Amerikaner und lebt vielleicht in der Nähe. Und vergiss Ai nicht!   Ich hoffe ich höre bald von dir. Ich vermisse deine positive, mitreißende Art. Das fehlt mir wirklich sehr.   Sonnige Grüße aus Amerika!   Rei Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)