Liebe führt, auch in Russland, zu Dummheiten von Lyndis ================================================================================ Kapitel 18: Die Ruhe vor dem Sturm ---------------------------------- Kai   Die Sonne ging gerade unter und tauchte die Umgebung in ein skurriles Blutrot. Es lag Schnee überall und heute war einer der wenigen vollkommen klaren Tage gewesen. Absurde Schatten schienen über die nahezu unberührte weiße Decke zu huschen, als Kai langsam zum Rand des Internats schritt. Sein Ziel war die Mauer, wie so oft in den letzten Wochen. Heute würde es das letzte Mal sein.   Er fühlte sich wie ein Soldat der in den Krieg zog und wusste, dass er nicht zurückkommen würde. Es war ein merkwürdiges Gefühl und er konnte nicht recht erklären, woher es kam. Natürlich konnte er sich nicht vollkommen sicher über den Ausgang des morgigen Tages sein, doch er zweifelte nicht daran, dass sie gewinnen konnten. Dennoch war sein Plan fragil. Selbst wenn sie gewannen, gab es keine Garantie dafür, dass die anderen Kinder ihnen folgen würden. Es könnte alles schief gehen und wenn auch nur eine Sache nicht so lief wie sie sollte, könnte er wirklich nicht mehr lebend zurück kommen. Er war schon so gut wie enterbt. Wenn sein Großvater auch noch mitbekam, was er hier versuchte und er zu allem Überfluss auch noch scheiterte, dann würde er ihn garantiert verstoßen. Wenn er aber Erfolg hatte, brauchte er sich darum absolut keine Gedanken zu machen. Und eines war definitiv sicher: Kein Hiwatari war ein Verlierer.   Dennoch war er nervös. Ein Gefühl, das er so gar nicht kannte. Es war wohl normal, wenn man sein Leben riskierte. Ironischerweise kämpfte er nicht für sich. Ein Fakt, der ihn selbst überraschte und wohl auch jeden überraschen würde, der ihn je länger als 5 Minuten kannte. Gleichzeitig war es wiederum so typisch für ihn, dass er ob der Ironie fast lachen musste. Jetzt wo er seine Erinnerungen zu einem großen Teil wieder hatte, erkannte er die Zusammenhänge.   Yuriy war nicht immer so eiskalt und psychopathisch gewesen. Natürlich war er das nicht. Niemand von ihnen war so geboren worden. Kai befürchtete allerdings, dass Yuriy hauptsächlich wegen ihm so geworden war. Sie hatten das ein oder andere Jahr miteinander verbracht und waren bald bekannt dafür gewesen, dass sie die schwächeren auch mal beschützten. So jemanden wie Yuuya zum Beispiel. Es war nie etwas Offizielles, immer nur Gerüchte und es war das Beste Training gewesen, das sie hätten bekommen können. Sie hatten sich mit jedem angelegt, der die weniger Starken oder einfach Friedfertigeren ausnutzte und schikanierte. Es war egal wie alt sie waren und egal wie stark oder wie viele. Sie hatten sie besiegt. Yuriy aber hatte das als Schwäche angesehen. Kein Wunder, so oft wie sie dafür bestraft worden waren, hatte er auch ab und an seine Zweifel gehabt. Zusätzlich verstand sein damaliger bester Freund nicht, was es brachte die Unterlegenen zu schützen. Er befürchtete, dass die es nie schaffen würden, für sich selbst einzustehen. Etwas, was in ihrer Welt einfach unabdingbar war. Aber im Gegensatz zu Yuriy, hatte Kai niemals vergessen, wie die wahre Welt, die normale Welt war und da waren die Schwachen genauso wertvoll wie alle anderen auch. Jeder Mensch war es Wert, beschützt zu werden. Als Kai dann allerdings versagt hatte und an Yuuyas Tod fast zugrunde gegangen wäre, muss das der Beweis für Yuriy gewesen sein, dass Emotionen und Mitleid gar nichts brachten. So muss er die Lehren, die er eingetrichtert bekommen hat, vollkommen angenommen haben und muss zu dem Psychopathen geworden sein, der er heute war. Eine Sache die sich niemals rückgängig machen ließ. Einmal derart verkümmert, kamen Emotionen nur schwer wieder zurück. Er würde Yuriy morgen zeigen, was es bedeutete, für andere zu kämpfen. Vielleicht würde ihn das genug beeindrucken, um den Willen aufzubringen, sich verändern zu wollen. Auch wenn er da wirklich wenig Hoffnung sah. Glücklicherweise war das aber nichts, worüber sich Kai Gedanken machen musste. Das war wahrlich nicht seine Schuld, sondern die von Volkov. Es gab allerdings etwas, was definitiv seine Schuld war.   Kais Schritte stoppten vor dem Grabstein und er blickte hinab. Auch eine Sache, die er nie mehr richten konnte, aber morgen würde er dafür sorgen, dass Yuuya endlich ruhen konnte. Er würde ihn, genau wie all die anderen verstorbenen und noch lebenden Kinder, befreien. "Nur noch ein Tag, Yuuya. Hab noch einen Tag Geduld. Danach ist alles vorbei. Danach wird aus diesem Ort das, was es schon immer hätte sein sollen: Ein Zufluchtsort und eine Bildungsstätte für Kinder, die nirgendwo anders hin können. Ich werde es zu etwas machen, worauf du Stolz gewesen wärst. Hab nur noch ein wenig Geduld."   Rei   Er wusste nicht wohin mit sich. Sollte er raus oder doch drin bleiben? Er hätte seine Eltern gerne noch einmal gesehen, doch die würden erst in zwei Wochen wieder kommen. Er würde gerne mit seiner Mutter reden und ihr sagen, was sie vor hatten. Sie würde versuchen ihn aufzuhalten und vielleicht wollte er auch aufgehalten werden. Natürlich wollte er das, schließlich war es Wahnsinn, was sie da taten. Sie legten sich mit dem Sporteliteinternat schlechthin an und kämpften dazu einen Kampf auf Leben und Tod. Ihm war das nur zu bewusst. Wenn sie verloren würde sie nichts in der Welt mehr schützen. Mit der Anmeldung zu dem Turnier waren sie auf eine Stufe mit den Heimkindern gerutscht. Das einzige was sie derzeit noch schützte, war Volkovs Angst, dass etwas an die Öffentlichkeit dringen würde und eventuell seine Hoffnung, dass er sie unter Kontrolle hatte. Wenn der Plan aber schief ging, würde Volkov sie aus dem Weg räumen, so viel war sicher.   Er wollte jetzt eigentlich wirklich nicht allein sein, aber Kai hatte sich geweigert den Abend mit ihm zu verbringen. Es war typisch, dass er allein sein wollte und Rei hatte das akzeptiert, auch wenn er das gerade wirklich bereute. Er wusste wirklich nicht wohin mit sich und fand keine Ruhe. Hoffentlich würde er schlafen können. Er musste morgen ausgeruht sein. Es war doch wirklich zum Haare raufen! Worauf hatte er sich da auch eingelassen? Warum tat er das? Eigentlich ging ihn diese ganze Sache doch gar nichts an! Und trotzdem tigerte er jetzt durch die Wohnung wie ein Irrer, weil er morgen einen Lebensgefährlichen und auf jeden Fall lebensverändernden Tag vor sich hatte. In seinen Händen lagen die Leben von Dutzenden Kindern. Wahrscheinlich sogar von noch viel mehr, denn das Ganze würde ja nicht aufhören. Alle zukünftigen Kinder waren ebenso in Gefahr und somit lagen auch ihre Leben in seinen Händen. Das war eine Last die er nicht imstande war zu tragen und nur Kai wusste von alledem. Warum tat er das? Rei verstand es selbst nicht. Tat er das für Kai? Oder für sich selbst? Tat er es für die Kinder? War er wirklich so selbstlos?   Er kam in seinem Zimmer zum stehen und starrte an die Wand, an der das Bild von Byakko hing. "Es ist absurd, oder? Ich bin ein guter Mensch, ja. Aber so gut? Ich hätte mich nie für einen Märtyrer gehalten." Nun, Märtyrer starben für gewöhnlich auch und er hatte wirklich nicht vor das zu tun. "Es ist richtig, oder? Es ist richtig diesen Kindern helfen zu wollen, auch wenn der Preis für den Versuch groß sein könnte." Eigentlich war er mehr als überzeugt davon, aber wie konnte man sich bei so etwas sicher sein, wenn man sein eigenes Leben aus Spiel setzte? War es wirklich das richtige? "Ich vertraue Kai. Er hat gesagt, dass alles nach Plan laufen wird. Wir müssen nur gewinnen. Aber bin ich stark genug dafür? Wir haben zwar pausenlos trainiert, aber das werden die anderen auch gemacht haben. Besonders Yuriy. Kai hat gesagt, dass ich so weit bin und ich glaube ihm, wenn er das sagt.. aber... wir reden hier vom amtierenden Weltmeister. Und er kämpft irgendwie auch um sein Leben, nicht wahr? Er hat die gleiche Motivation wie ich... wobei, nein. Ich kämpfe nicht um mein Leben. Ich kämpfe für das Leben der anderen. Macht mich das vielleicht letztendlich stärker? Vielleicht..." Rei seufzte ob seiner eigenen wirren Gedanken und setzte sich vor sein Bett auf den Boden. Die Knie mit den Armen umschließend, starrte er weiter das riesige Bild an. "Es ist keine Zeit und kein Platz für Zweifel. Trotzdem sind sie da. Byakko... ich habe dich noch nie mehr gebraucht als jetzt. Ich brauche deine Hilfe. Bitte beschütz' mich, damit ich die schützen kann, die selbst nicht für sich einstehen können."   Yuriy   Es fühlte sich merkwürdig an. Alles war so intensiv und wirkte gleichzeitig so weit weg. Selbst das Wasser auf seiner Haut. Es war, als wenn er alles gleichzeitig auch von außerhalb seines eigenen Körpers erfahren würde. Er war sich nicht einmal sicher, ob das Wasser warm oder kalt war. "Du benimmst dich seit heute morgen ganz schön komisch, Yuriy. Was haben die die Nacht über mit dir im Labor gemacht?" Er antwortete nicht auf Sergeis Frage. Er durfte sowieso nicht und wäre auch nicht imstande gewesen, in Worte zu fassen, was passiert war. Sie hatten ihn verändert. "Dafür bist du beim Training heute aber ganz schön zur Sache gegangen." Er sah keinen Sinn darin, auf diese Feststellung von Ivan zu antworten. Überflüssig. Boris schien auch anders. Seine Augen waren düsterer als sonst gewesen. Ob sie das selbe mit ihm gemacht hatten? Er war sich nicht sicher. "Morgen ist dann also der große Tag, huh?" Wieder Ivan. Der Kleinste und Vorlauteste aus der Gruppe war schon immer ein wenig nervös gewesen. Yuriy hatte ihm meistens ein warmes Wort geschenkt, aber er sah heute keinen Sinn darin. Er sah in ziemlich wenig einen Sinn heute. Er fühlte sich merkwürdig fremd in seinem Körper. Irgendetwas war anders, aber er konnte nicht sagen was genau. Hoffentlich wäre das morgen besser. Wenn er so merkwürdige Dinge empfand, könnte ihn das ablenken. Das war absolut inakzeptabel. Vielleicht hätte er nicht zu den Ärzten gehen sollen, mit der Angabe, er wäre krank. Das war zwar schon über 4 Monate her, aber wer wusste schon, wie die das aufgefasst hatten? Oder war das eine verquere Strafe von Volkov? Es war egal... er sollte sich darum keine Gedanken machen. "Du und Boris, ihr seid beide furchtbar ruhig heute. Ist alles in Ordnung?" Sergeis Stimme klang tatsächlich leicht besorgt. Warum? Seiner Meinung nach tat er nichts wirklich anderes als sonst auch. Er hatte nie viel geredet und Boris schon gar nicht. Wahrscheinlich war Sergei auch aufgeregt. Wie unnötig. "Habt ihr beiden euch gestritten?" "Mach dich nicht lächerlich." Die leichte Trägheit seiner Zunge signalisierte ihm, dass das die ersten Worte waren, die er heute gesprochen hatte. Egal.   Er stellte die Dusche ab und begann sich abzutrocknen. Seine Haut war stark gerötet, was darauf hin wies, dass das Wasser doch ziemlich heiß gewesen musste. Er wartete nicht einmal auf sein Team, zog sich einfach an und ging dann. Er sah keinen Sinn darin auf sie zu warten. Zeitverschwendung.   Irgendwas in ihm sagte ihm, das etwas nicht stimmte, aber er konnte sich nicht wirklich dazu bringen, sich Sorgen zu machen. Was Volkov tat war schon richtig so. Darauf vertraute er. Warum sich also Sorgen machen? Schließlich musste er sich auf ein Turnier konzentrieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)