Liebe führt, auch in Russland, zu Dummheiten von Lyndis ================================================================================ Kapitel 14: Vergangenheit ------------------------- Rei   "Du bist echt die Pest. Dich wird man auch nicht los, ehe man dich verbrennt." Rei sprang auf, etwas erschrocken, denn er war eingenickt. Es war mitten in der Nacht und er hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass noch etwas passieren würde. Jetzt stand Yuriy vor ihm und er wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte. Der Russe wirkte müde und abgeschlagen und das machte Rei angst. Es war das dritte Mal, dass ihm auffiel, dass Yuriy sich etwas aus seinem Freund machte. Jemanden, der sonst vollkommen desinteressiert war, so besorgt zu sehen, konnte nichts gutes bedeuten. "Was ist passiert?" Entgegengesetzt zu dem vergangenen Mittag, versuchte er es jetzt mit Ruhe, auch wenn ihn die kühlen Augen, die frostig auf ihm ruhten, nervös machten. Er wollte einfach nur zu Kai und ihm beistehen, egal was passiert war. Er wollte nur für ihn da sein dürfen. Es machte ihn schier wahnsinnig, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Doch er schien nicht zum dem Russen vor ihm durchdringen zu können: "Das geht dich nichts an." Auch diese Worte kamen ruhig, aber mit einer Endgültigkeit, die ihn erschreckte. "Yuriy, ernsthaft..." Doch weiter kam Rei gar nicht. "Nein! Es geht dich nichts an. Da kannst du mit ihm verbandelt sein so viel du willst. Ich bin nicht in der Position dir irgendetwas zu erklären." War es tatsächlich freundschaftliche Loyalität, die ihm da demonstriert wurde? Was war nur in den letzten Wochen zwischen den beiden passiert, dass sie plötzlich so eng miteinander waren? Warum hatte Kai ihm nicht erzählt, dass sie sich so gut verstanden, ja sogar befreundet waren? Was hatte er da verpasst? Aber das war gerade nicht wichtig. Sauer darauf zu sein, dass sein Freund ihn weiterhin so aus seinem Leben ausschloss, konnte er auch später noch. Erst einmal musste es dem wieder gut genug für einen Streit gehen...   "Dann lass mich zu ihm, damit er es mir erklären kann." "Ich denke nicht, dass er momentan dazu in der Lage ist." Warum nur, war der Kerl so stur? "Dann lass mich zu ihm, damit ich einfach bei ihm sein kann. Ich bin sein Freund Yuriy! Denkst du nicht, es würde ihm gut tun, jemanden bei sich zu haben, dem er vertrauen kann?" Irgendetwas in dem Gesicht des Russen veränderte sich kurz. Eine Emotion huschte darüber, die Rei nicht bestimmen konnte. Hatte er da etwas getroffen? "Yuriy...", zischte er finster, als er Begriff, worauf sein Gegenüber reagiert hatte. "Was hast du getan?" Bei dem Wort 'Vertrauen' war er fast zusammengezuckt. Er musste etwas getan haben. Etwas schreckliches. Etwas, was Kai offensichtlich zerstört hatte. Aber das war unlogisch. Wenn Yuriy diesen Zustand ausgelöst hatte, warum nur war er dann so besorgt um Kai? Das ergab keinen Sinn. "Das ist alles deine Schuld!", brach es dann aber plötzlich aus dem Russen heraus. Wesentlich emotionaler als Rei das je erwartet hätte. Es waren nicht direkt greifbare Emotionen, aber der Druck der hinter diesen Worten steckte, sagte viel aus. "Bitte was!?" Das war ja wohl die Höhe! Er hatte Kai seit über einer Woche nicht gesehen und noch viel länger nicht mit ihm gesprochen und dann sollte plötzlich er Schuld sein!?   Doch noch ehe Rei in Wut verfallen konnte, wandte sich Yuriy ab. "Komm mit." Verdutzt blieb er erst einmal an Ort und Stelle stehen und sah seinem Gesprächspartner einfach nur hinterher, bis der fast in der Dunkelheit des Flurs verschwunden war. Erst dann entsann er sich, dass er sich in Bewegung setzen musste, um folgen zu können.   Erst als sie weit genug von allem weg waren, was irgendwie ihr Treffen mitbekommen könnte, blieb Yuriy stehen und wandte sich wieder an ihn. Sein Blick wirkte merkwürdig abwesend und er schien zu zögern. Rei wartete, aus Angst, wenn er etwas sagte, könne Yuriy es sich anders überlegen. Es dauerte ein wenig, aber dann schien er sich endlich gesammelt zu haben: "Ich habe dir gesagt, du sollst ihn nach Japan zurück schicken! Aber dich hat nur interessiert, was ich für eine Beziehung zu ihm habe! Du hast mir nicht einmal richtig zu gehört. Jetzt siehst du, was wir davon haben!" Verwirrt und etwas erschrocken über den Ausbruch, trat Rei einen Schritt zurück, fasste sich dann aber schnell wieder. "Man kann Kai zu nichts überreden! Du warst die ganze Zeit bei ihm, warum hast du nichts getan!?" "Als ob ich eine Wahl hatte!" Das Gespräch der beiden mochte energisch sein, aber weil sie nicht erwischt werden wollten, sprachen sie weiterhin sehr leise. "Man hat immer eine Wahl! Egal was los war, du hättest ihm helfen müssen!" "Eine Wahl? Ja, zu sterben! Das wäre meine Wahl gewesen! Und das auch nur, wenn ich Glück gehabt hätte. Hör auf von Dingen zu reden, von denen du keine Ahnung hast!" "Ich habe nur keine Ahnung, weil weder du noch Kai noch sonst wer irgendetwas erzählt! Woher soll ich also etwas wissen? Ich kann wohl kaum hellsehen!" "Du bist nur ein erbärmliches, verweichlichtes Lichtkind. Das hier geht dich nichts an!"   In diesem Moment wurde es Rei zu viel. All der Frust und die Angst und die Sorge brachen aus ihm heraus, als er seine Faust ballte und nach seinem Gegenüber schlug. Doch er kam nicht weit, da hatte Yuriy seine Hand abgefangen und hielt sie in einem eisernen Griff fest. "Siehst du? Du hast nicht einmal Ahnung vom Kämpfen. Du warst noch nie hier. Du bist ein Außenseiter und wirst es auch immer bleiben. Du..." Der zweite Versuch saß. Yuriy musste vollkommen übermüdet sein, dass er das nicht kommen gesehen hatte, aber das war Rei herzlich egal. Er genoss den kurzen Moment in dem seine Faust schier mit dem Gesicht seines Gegenübers verschmolz und genoss noch mehr, als selbiger zurücktaumelte und ihn verwirrt anblickte. Dann aber fasste er sich wieder und keifte wütend zurück: "Du mieser.. kleiner.." "Halt's Maul!", unterbrach ihn Rei zischend und tatsächlich kehrte kurz Ruhe zwischen den beiden ein. Er holte kurz Luft um sich wieder etwas zu beruhigen, ehe er den entstandenen Abstand wieder schloss und sogar noch etwas näher an den Anderen heran trat. "Ich will dir mal was sagen du aufgeblasener Kotzbrocken", begann er finster. Seine Stimme zitterte leicht vor unterdrückter Wut. "Ich habe vielleicht nicht das durch gemacht, was du oder Kai durchgemacht haben, aber ich habe auch schon genug Scheiße in meinem Leben gefressen. Ich bin immer und immer wieder verlassen worden. Ich war immer wieder allein, musste immer wieder von vorne anfangen. Jeder in meiner Nähe, jeder meiner Freunde, jeder der sich noch mit mir abgibt ist mir wichtig, also glaub ja nicht, dass ich Kai einfach allein lasse, nur weil du Arschloch denkst, mit irgendwelchen Vorurteilen daher zu kommen, die dir von einem noch größeren Arschloch eingebläut wurden! Vergiss es! Du wirst mich nicht los, also lass mich zu Kai oder ich verschaffe mir gewaltsam Zutritt!"   Und plötzlich entspannte sich Yuriy und schien ruhig zu werden. Vergessen schien die Wut und er schien akzeptiert zu haben, dass er gerade nicht gewinnen konnte. Dieses eine Mal wenigstens hatte Rei sich durchsetzen können. Wie auch immer er das geschafft hatte. "Volkov hat ihn daran erinnert, warum Kai damals nach Japan ist." Und dann pausierte er wieder, als müsse er abwägen, was er sagte. Schließlich wandte er seinen Blick gen Himmel und schien sich in der dunkeln Nacht zu verlieren. Es kostete Rei einiges an Überwindung einfach den Mund zu halten, doch er wusste, dass einfach nur zuhören, gerade das Beste war. "Es passiert jedem von uns früher oder später. Es ist hier nichts besonderes. Es ist fast wie ein Aufnahmeritual in diese Welt, in der kein Platz für Außenseiter ist. Jeder hier will dazu gehören, denn ihm bleibt nichts anderes. Es gibt für uns nur dieses Internat... wir haben sonst nichts mehr. Wer diese Prüfung übersteht gehört dazu und dann gibt es auch kein zurück mehr. Kai hat nicht bestanden und wurde dann von Souichirou weg geholt. Jetzt wurde er erneut vor die Prüfung gestellt. Ich schätze Volkov denkt, dass er ihn so manipulieren kann und damit die Gefahr, die von ihm ausgeht, auslöschen kann. Wenn einen so etwas zusammen hält, dann ist man nicht gerade gewillt, den, der es weiß, an den Pranger zu stellen." Rei war sich nicht sicher, ob er wirklich wissen wollte, was los war. Nicht nach dieser kleinen Ansprache, in der der Russe ihn nicht einmal angesehen hatte. So kühl der auch war, es schien ihm dennoch etwas aus zu machen. Vielleicht weil er wusste, dass Rei schockiert sein würde? Oder weil er wusste, dass es für die Außenwelt im Allgemeinen nicht normal war? Es war aber auch möglich, dass Yuriy gerade einfach nur zu verdrängen versuchte, dass er sich und die anderen Heimkinder gerade verriet. "Ich bereue nicht, was ich getan habe. Versteh mich also nicht falsch. Ich habe nie einen zweiten Gedanken daran verschwendet. Nur, dass Kai so sehr deshalb mit sich hadert, macht mir Sorgen." Endlich wandte er seinen Blick wieder Rei zu. Die Augen glühten förmlich vor Entschlossenheit, als sich ein wenig Mondlicht darin fing. "Ich habe mindestens einen meiner Kameraden umgebracht. Genau so wie jeder andere in diesem Internat. Es war mir egal. Es ist mir heute noch egal. Ich würde es wieder tun, denn es war notwendig. Kai hat es auch getan und das verkraftet er nicht."   Es zog Rei den Boden unter den Füßen weg. Er wusste nicht, was er fühlen sollte. Er wusste nicht, was er denken sollte. Er wünschte sich nur, dass er das nie gehört hätte. So stand er einfach nur da und rührte sich nicht. Yuriy gab ein abfälliges Geräusch von sich und sein Gesicht verlor jegliche Offenheit, die es gerade noch aufgewiesen hatte. "Ich wusste es. Du bist auch nur ein erbärmliches Lichtkind. Für ein paar Sekunden habe ich mich wirklich täuschen lassen." "Was soll ich denn tun? Mich darüber freuen?! Er hat jemanden umgebracht.. und du auch und..." Das waren so unglaublich viele Tote. Das mussten dutzende sein. Vielleicht hunderte. Wie konnte dieser Kerl da nur stehen und das so locker nehmen? "Habe ich etwa deine kleine, perfekte Welt zerstört, Kätzchen?", die Worte kamen abfällig und kalt. "Kai ist und war nie der nette Kerl den du versucht hast in ihm zu sehen. Er ist einer von uns und da du ihn hier nicht heraus geholt hast, wird er das auch immer bleiben." Rei wusste wirklich nicht, was er dazu sagen sollte und diesmal war es Yuriy, der eindeutig in die Offensive ging: "Na, wo sind deine großen Worte jetzt? Ist dir Kai jetzt nicht mehr wichtig? Passt er jetzt nicht mehr in die Welt, die du dir wünschst? Tze... ihr seid doch alles Heuchler."   Rei wusste nicht genau wieso, aber als Yuriy energisch versuchte an ihm vorbei zu kommen, hielt er ihn am Handgelenk fest. Sie beide wandten sich nicht zueinander und für einen kleinen Augenblick schien die Welt still zu stehen. "Wie kann ich ihm helfen?", hauchte Rei in die Stille der Nacht hinein. "Mach dich nicht lächerlich. Was dich jetzt treibt ist dein schlechtes Gewissen, weil ich dich beim heucheln erwischt habe. Lass ihn in Ruhe, ich regle das." Rei verstand es immer noch nicht. Er konnte es nicht nachvollziehen. "Warum ist dir Kai so wichtig?" "Fängst du schon wieder damit an?" Kurz spürte er einen Ruck an seiner Hand, doch er ließ nicht los. Er würde nicht aufgeben. Das hier war zu wichtig. Es stand für ihn und auch für Kai zu viel auf dem Spiel. "Natürlich tue ich das!", antwortete er mit Nachdruck. "Wie soll ich Kai auch helfen können, wenn ich von allem nur die halbe Wahrheit weiß?" Und wieder kehrte Stille ein. Langsam wurde das zur Zerreißprobe für Reis Nerven. Alles was er wollte, war, endlich die Wahrheit zu erfahren! "Hör mal...", setzte er dann fort, als auch nach einer halben Ewigkeit keine Erwiderung kam. Langsam hatte er für all das wirklich keine Kraft mehr. "Yuriy, ich bitte dich. Ich mache mir Sorgen um Kai und ich will ihm helfen. Er hat etwas grausames getan aber... aber darum muss ich mich kümmern, wenn es ihm wieder besser geht." Wenn er sich überhaupt je darum kümmern würde. Vielleicht würde er einfach ignorieren, dass er das wusste. Wenn er es verdrängte, konnte er sicherlich besser damit leben. "Und ich habe es so satt immer ausgeschlossen zu werden. Verstehst du? Ich bin ein Teil seines Lebens, aber jeder, inklusive ihm selbst, behandelt mich, als wäre ich einfach nur ein teilnahmsloser Zuschauer. Wie soll das je mit uns beiden funktionieren, wenn ich gar nichts weiß? Ich will endlich wissen, mit wem ich zusammen bin!" "Funktionieren? Ihr seid zwei Männer, wie soll das je funktionieren?" "Yuriy!" Verdammt nochmal er hatte jetzt keine Zeit für diese Grundsatzdiskussion! Gerade in dem Moment, als er den Griff um das Handgelenk des Anderen lockern wollte, ließ ihn ein genervtes Seufzen aufhorchen. "Ich werde dich vorher ja doch nicht los, oder?" Er antwortete darauf nicht. Zu groß war die Gefahr, dass seine Stimme die Lüge verriet. Schließlich war er gerade kurz davor gewesen aufzugeben. "Schön, aber lass mich endlich los." Als er dem Wunsch nachkam, lehnte Yuriy sich mit dem Rücken an die Mauer, die das Internat umgab. Ob das hier eine Art toter Winkel war? Hier schien niemand vorbei zu kommen. Vielleicht genoss der Russe vor ihm aber auch eine Art Sonderstatus als Weltmeister und er wurde einfach in Ruhe gelassen. Mit verschränkten Armen sah ihn jener Weltmeister jetzt eindringlich an. Diesmal wandte er seine Augen nicht ab, aber er schien nachdenklich.   "Zu beschreiben, was Kai und ich waren, ist schwierig. Wir waren Zimmergenossen und so etwas wie Freunde. Hätte man uns gefragt, hätten wir aber beteuert, dass wir uns nicht leiden können. Dennoch waren wir viel zusammen unterwegs. Im Nachhinein betrachtet, waren wir öfter beieinander, als voneinander getrennt. Ich kann nicht einmal sagen wieso genau. Dieses Internat kann seltsame Bindungen knüpfen..." Abermals legte sich Stille über die beiden, doch diesmal war es nicht schwer für Rei einfach abzuwarten. Endlich erfuhr er etwas und er war gewillt, sich dafür in Geduld zu üben. "Wir haben uns viel gestritten, aber ich schätze, wir hätten alles füreinander getan. Ich denke.. diese eine Geschichte zeigt sehr gut, was wir waren..."   Yuriy   "Ich hasse dich! Ich wette deine Eltern sind gar nicht Tod, sondern haben dich einfach ausgesetzt, weil sie dich auch hassen!" Volltreffer! Die Hände von Kai ballten sich zu Fäusten. Gleich würde er zuschlagen und sie sich dann prügeln. Yuriys Körper bebte vor Aufregung, bei dem Gedanken seinen ewigen Rivalen wieder einmal herausfordern zu können. Doch es kam ganz anders als erwartet. Plötzlich sammelte sich Flüssigkeit in den roten Augen und das Kind vor ihm begann zu zittern. "Das ist nicht wahr." Wahrscheinlich hatte Kai das energischer aussprechen wollen, doch es kam nur als ersticktes Flüstern bei ihm an. Zu groß schwer wohl das Schluchzen zurückzuhalten, das den kleinen Körper durchschüttelte. Das hatte er nicht erreichen wollen. Was war denn los? Sonst war es ihm doch egal, was er über seine Eltern sagte. Sonst schlug er ihn einfach, wenn ihm etwas nicht passte. Warum weinte er denn jetzt? "Kai?" Doch der drehte sich nur weg, kreuzte die Arme vor der Brust und versuchte weiterhin kein verräterisches Geräusch von sich zu geben. "Kai, was ist los?" "Lass mich!" Als würde er jetzt locker lassen. Genervt verdrehte er die Augen und legte eine Hand auf die Schultern des anderen. "Red' mit mir. Du weißt sowieso, dass ich nicht aufhöre mit fragen." Noch einen Moment lang blieb der Sturkopf vor ihm standhaft, dann gab er auf und ließ die Arme wieder fallen. "Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern." "Woran?" "An meine Eltern! Vielleicht... haben sie ja wirklich..." "Unsinn!", unterbrach Yuriy ihn, ehe er noch weiter in Selbstmitleid versinken würde. Gott, wenn das einer der Wachleute das mitkriegen würde, dann wäre hier die Hölle los. Sie beide waren diese Woche schon bestraft worden, weil man sie bei einer Rauferei erwischt hatte. Rumheulen war noch so viel schlimmer. "Woher willst du das wissen, Yuriy? Ich hab nicht mal was, was mich an sie erinnert! Ich weiß kaum noch wie sie aussahen." Als wäre das so was schlimmes. Er selbst hatte seine Eltern nie kennengelernt. Sie waren bei seiner Geburt verstorben. Sollte Kai doch froh sein, wenn er langsam die Erinnerungen verlor. Das machte vieles hier einfacher. Aber so unlogisch er seinen Gefühlsausbruch auch fand, ihm war zumindest bewusst, dass es ihm schlecht ging. Und das wollte er nicht. Er wollte seinen Rivalen wieder und zwar in voller Stärke! Also musste er etwas tun.. aber was? Hmm... wenn er ein Erinnerungsstück wollte, aber sich kaum noch an seine Eltern erinnern konnte... ja, wahrscheinlich würde das gehen. Innerlich grinste Yuriy für diese äußerst geniale Idee. "Schwachkopf. Du bist echt vergesslich." Damit ging er zu dem Schrank, in dem ihre Anziehsachen verstaut waren und riss den auf. Er suchte etwas bestimmtes, aber es dauerte etwas, bis er es fand. Schließlich zog er einen weißen Schal heraus. Es war nichts besonderes. Er hielt recht warm, aber da sie nach Möglichkeit keine Schwäche zeigen durften, verzichteten sie auf alles, was sie aktiv unterstützte. Nur normale Kleidung, nichts besonders warmes. Beim Kämpfen keine Handschuhe oder Messer oder sonst was. Immer nur das aller Nötigste und dazu gehörte nun einmal kein Schal. Er war sich nicht einmal sicher, woher dieses Exemplar kam. Wahrscheinlich eine Spende zu Weihnachten, die dann zufällig bei ihnen gelandet war. Aber jetzt gerade war es perfekt ihn zu haben. "Du hast doch ein Erinnerungsstück du Idiot." Damit legte er Kai das Kleidungsstück um. "Erinnerst du dich echt nicht mehr?" Natürlich sah ihm nur Verwirrung entgegen, doch er machte unbeirrt weiter. "Ganz am Anfang als du her kamst, hast du mir erzählt, dass deine Mutter ihn dir geschenkt hat. Sie hat ihn dir so umgelegt wie ich jetzt. Weißt du nicht mehr?" Zufrieden bemerkte er, dass die Fantasie des Jüngeren langsam in Gang kam. Die Tränen waren längst gestoppt und als er kurz die Nase in dem Stück Stoff vergrub, begannen seine Augen zu leuchten. "Er riecht sogar noch nach Mama." Was für ein Idiot. Der Schal roch nach irgendwelchen Lagerräumen oder Waschmitteln. Aber wenn es ihm half. "Siehst du? Und jemand der dich hasst würde dir doch so was nicht schenken, oder? Also krieg dich wieder ein. Und vergiss es vor allem nicht wieder."   Er hatte damals nicht ahnen können, dass Kai diesen Schal niemals wieder ablegen würde. Das war das einzige, was gleich an ihm geblieben war. Selbst über den Gedächtnisverlust hinweg. Es war sein Geschenk an ihn gewesen. Er hatte ihm eine falsche Erinnerung verschafft, damit er die Kraft besaß, das furchtbare Leben in dem Internat zu überstehen. Der Schal war letztendlich auch das gewesen, was ihn vor Wochen dazu veranlasst hatte Kai die Hand zu schütteln, als er sein neuer, alter Mitbewohner wurde. Dass er diesen Schal noch trug hatte ihn hoffen lassen, dass der alte Kai, sein Freund und Rivale, noch am Leben war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)