Liebe führt, auch in Russland, zu Dummheiten von Lyndis ================================================================================ Kapitel 13: Yuuya ----------------- Kai   "Kai, ich hab angst." Genervt seufzte der Angesprochene, blieb aber auf dem Ast seines Baumes liegen und starrte in den Himmel. Es war ein angenehmer, sonniger Tag und er hatte wenig Lust, den mit Babysitten zu verbringen. Er wollte seine Ruhe, schließlich bekam man die hier nicht oft. Es war der Tag vor dem Turnier, das bestimmen sollte, wer in das Weltmeisterschaftsteam vorrückte. Natürlich war er fest davon überzeugt zu gewinnen. Eine Alternative dazu gab es für ihn nicht. "Du bist gut in deiner Kategorie, also mach dir nicht ins Hemd." Seine Stimme klang genervt, wie immer, wenn er mit ihm sprach. Der Junge war wie eine Klette, dabei hatte er selbst genug eigene Probleme. Doch trotz aller Abweisung, hatte er es nicht geschafft den Kleinen zu vertreiben. In jeder freien Sekunde war er bei ihm, zumindest wenn Yuriy nicht in der Nähe war. Vor dem hatte er offensichtlich Angst. Er fragte sich wirklich, warum er dann ausgerechnet bei ihm herumhing. Als wäre er nicht mindestens genauso furchteinflößend wie Yuriy. Stärker war er allemal. "Aber ich will nicht kämpfen.", murmelte der Junge jetzt weinerlich und hilflos. Das würde noch eine Weile dauern. "Du hast keine Wahl, Yuuya." "Aber ich will nicht! Ich will auch gar nicht in das Nationalteam! Ich will... ich will einfach nur nach Hause." Ging das schon wieder los. "Yuuya", begann er ermahnend. "Du hast keine Wahl und du kannst auch nicht nach Hause. Deine Eltern sind tot, klar? Finde dich endlich damit ab. Und um hier zu Überleben und eine gute Position zu haben, musst du eben kämpfen. Und du bist gut. Also hör endlich auf rum zu heulen." Doch das brachte den Jungen immer noch nicht zum Schweigen. Im Gegenteil, es schien ihn noch mehr verzweifeln zu lassen. "Und was ist, wenn ich trotzdem verliere? Manche, die nicht die erwartete Leistung bringen, verschwinden plötzlich." "Mach dich nicht lächerlich. Die wurden adoptiert. Das hört man doch immer wieder. Das hat nichts mit ihrer Leistung zu tun. Vielleicht wurden ein paar auch raus geschmissen, wer weiß? Aber warum sollte das schlimm sein? Du willst doch sowieso nicht hier sein." Er brauchte nicht zu sehen, dass der Kleine in sich zusammensank, um zu wissen, dass er es tat. Dieses Weichei würde es hier niemals zu etwas bringen. "Draußen ist es noch schlimmer... die anderen Menschen auf der Straße sind.... sind..." Kai erfuhr niemals, was die anderen waren, denn Yuuya brach einfach ab und verstummte. Wenigstens hatte er jetzt endlich seine Ruhe. Solange die Nervensäge still war, konnte er wenigstens so tun, als wäre er allein.   Kai fiel es schwer, sich von dieser Erinnerung loszureißen, doch er musste, bevor er darin vollkommen versackte. Er war auf die Knie gesunken, ohne es zu merken und auch jetzt änderte er nichts daran und starrte nur auf das Behältnis vor ihm und den Körper, der darin schwamm. Er war sich nicht sicher, warum er den Jungen erkannte, denn eigentlich war der Körper bis zur Unkenntlichkeit zerfallen. Hier und da, löste sich die Haut vom Knochen, der Bauch war aufgebläht und die Haare komplett ausgefallen. Die Augenhöhlen hinter den Lidern waren eingefallen, als wären die Augen selbst gar nicht mehr vorhanden. Nur das leise Piepsen des Monitors zeigte überhaupt noch, dass er am Leben war. Dennoch war er sich sicher, dass das Yuuya war. Er fühlte es. Das war einmal das Kind gewesen, das ihn mit seiner Anhänglichkeit schier in den Wahnsinn getrieben hatte und das er trotz allem, irgendwie gemocht hatte. Kurz nach dem Verschwinden des Jungen, war Souichirou aufgetaucht. ... Nein... nicht Verschwinden... da war etwas anderes gewesen.   "Erinnerst du dich, Kai?" Volkov war neben ihn getreten und betrachtete den Jungen hinter dem Glas vollkommen gelassen. "Er ist ausrangiert und ausgeschlachtet. Wir müssen ihn bald entsorgen." Ausrangiert... ausgeschlachtet... entsorgen... Wie ein Auto, das seinen dienst getan hatte. Wie ein Ding ohne Seele. Wie konnte er nur so von einem menschlichen Wesen sprechen? Einem Wesen, das einmal sein Freund gewesen war. "Was schaust du so entsetzt? Er hat mir gute Dienste geleistet und das habe ich allein dir zu verdanken." Ihm? Was hatte er damit zu tun? Yuuya war einfach verschwunden, das war nicht seine Schuld gewesen. ... Oder?   Wieder und wieder schrie sein Verstand, sein Unterbewusstsein, sein Geist, ja, sein ganzes Selbst, dass er aufstehen und verschwinden sollte. Dass er weglaufen und all das hier einfach vergessen sollte. Aber er war nicht dazu in der Lage sich zu rühren. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Nichts an ihm gehorchte ihm noch. Er war vollkommen machtlos und eingenommen von der Szenerie. Vollkommen entsetzt und unfähig, irgendetwas zu ändern. Er konnte nicht weg. Er konnte nicht mehr zurück. Es war zu spät. Die Zeit, die er zum Weglaufen gehabt hatte, war abgelaufen und er Vollidiot war zurückgekehrt. Er hätte weg bleiben sollen.   Verdrängte Erinnerungen konnten nur von einem Hirnschaden oder einem Trauma hervorgerufen werden. Das war ihm schon immer klar gewesen. Er war nicht mit besonderen Verletzungen zu seinem Großvater gekommen, also war ihm schon immer bewusst gewesen, dass es ein Trauma hatte sein müssen. Er hatte angenommen, es wäre die Erziehung gewesen. Diese Einrichtung.. sein Leben hier. Die Summe an kleinen, furchtbaren Ereignissen, die immer wieder aufgetreten waren und ihn allmählich zermürbt hatten, bis sein Geist sich in Unwissen geflüchtet hatte. Er hätte wissen müssen, dass dem nicht so war. Schon immer war er stark gewesen und das nicht nur körperlich. Er hielt einiges aus, hatte all die Jahre mit so vielen Lasten gelebt, die ihn oft versucht hatten zu erdrücken, doch er war immer stärker gewesen. Er hätte wissen müssen, dass es etwas viel, viel furchtbareres gewesen sein musste. Er hätte es wissen müssen...   Stumm saß er da und spürte die Tränen, die ihm die Wangen hinab rannen. Es war ihm egal. Das Erste Mal, dass er weinte, seit dem Streit mit Souichirou. Es war ihm egal. Es war ihm egal, denn das was er gerade empfand, drohte ihn vollkommen zu zerfressen. Es drohte ihn zu verschlingen und niemals wieder los zu lassen. Wie sollte er das nur ertragen? Wie sollte damit fertig werden? Wie sollte er jemals damit leben können? Er hatte einen Menschen getötet.   Das Turnier damals war gut für sie alle gelaufen. Gut für ihn, Yuriy und sogar für Yuuya. Sie alle gewannen in ihrer Kategorie, wurden ins Nationalteam aufgenommen. Und so wie es Tradition war, kämpften die Sieger gegeneinander um den Teamcaptain auszuwählen. Yuuya hatte gegen ihn antreten müssen und wollte freiwillig aufgeben. Doch weder Kai noch die Schiedsrichter noch Volkov hatten ihm das erlauben wollen. Kai hatte ihn angefahren, ihn beleidigt, was für ein Schwächling und Feigling er doch sei. Er hatte den Jungen anstacheln wollen, denn nichts war schlimmer für ihn, als kampflos zu gewinnen. Er hatte nicht gewusst, dass Yuuya verletzt war. Niemand hatte das. Seine Milz war angerissen und nach einem gezielten Tritt, war er einfach zusammengebrochen. Später hatte Kai erfahren, dass Yuuya verstorben war. Nun, wohl nicht gänzlich. Schließlich wurde er hier von dieser abartigen Maschinerie noch am Leben erhalten. Tag für Tag... Jahr für Jahr...   "Du siehst Kai: Nicht nur ich habe Blut an meinen Händen. Du hast es auch, genau wie jeder andere an diesem Institut"   Rei   "Wo ist Kai!?", zischte Rei aufgeregt dem Russen entgegen, der ihm gerade den Weg in das Zimmer seines Freundes versperrte. "Er ist nicht zu sprechen." Das ging jetzt schon mehrere Minuten so und er verstand nicht warum. Heute hätte Kai zum Training auftauchen müssen, aber das ist er nicht. Außerdem hatte er ihn die letzten Tage nicht einmal in der Schule gesehen. Auch wenn sie da nicht miteinander sprachen, zumindest hatte er ihn da immer gesehen! Und jetzt wo er die Verabredung nicht eingehalten hatte, hatte sich seine Sorge nur bestätigt. Irgendetwas war passiert. Kai war nie unzuverlässig gewesen, allein schon, weil er selbst nicht mit derartiger Zurückweisung leben konnte. Zu lebhaft konnte sich Rei noch an das eine Mal erinnern, als er seinem Freund nicht gesagt hatte, dass er die Verabredung im Park nicht einhalten konnte. Was das ein Drama gewesen war. Kai würde also niemals ohne Grund einfach nicht auftauchen. Er würde absagen! "Lass mich durch! Ich will zu ihm!" "Er ist krank und braucht Ruhe." Graaa! Das war zum Haare raufen! Was bildete sich dieser Russe eigentlich ein? Er hatte jedes Recht, seinen Freund zu sehen. "Rei, verschwinde oder ich tue die weh. Das ist mein Ernst." "Denkst du das juckt mich!? Es geht hier um Kai! Also lass mich durch oder ich tue dir weh!" Doch zu der Auseinandersetzung kam es nicht, denn in diesem Moment wurde die Zimmertür aufgedrückt und Kai erschien auf der Bildfläche. Geschockt sah Rei seinen Geliebten an. Er bot ein furchtbares Bild. Seine Augen waren wie vom weinen vollkommen verquollen und rot, darunter tiefe, schwarze Ränder. Sein Gesicht wirkte eingefallen und die Haut so blass, dass sie fast durchscheinend wirkte. Er wirkte krank und abgemagert und vollkommen fertig. Er sah ihn einfach nur an, schien dabei aber keinesfalls wach oder lebendig. Als wäre er geistig in einer vollkommen anderen Welt gefangen und käme nicht mehr heraus.   Was Rei aber fast noch mehr schockierte, war der erschrockene, besorgte Blick von Yuriy, der sich sofort zu Kai umgewandt hatte. "Was machst du hier?", zischte er vorwurfsvoll. "Geh wieder ins Bett!" Doch Kai rührte sich kein Stück. "Was... was ist passiert?", war das einzige, was Rei heraus brachte. "Nichts", feixte Yuriy. "Und jetzt verschwinde!" Und damit drehte der Russe seinen Geliebten einfach um und schob ihn wieder ins Zimmer zurück. Ein leises Klicken verriet Rei, dass er abgeschlossen hatte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als einfach da zu stehen und zu versuchen, das eben Gesehene irgendwie zu verarbeiten. Was war nur passiert, was Kai so aus der Bahn geworfen hatte? Warum ließ Yuriy ihn nicht zu ihm? Er konnte ihm sicherlich helfen! Schließlich war Kai doch auch an die Tür gekommen, oder? Sicherlich hatte seine Stimme ihn angelockt. Sicherlich wollte er ihn sehen! Dann aber erinnerte er sich unwillkürlich an seinen Gesichtsausdruck und war sich nicht sicher, ob er überhaupt etwas mitbekommen hatte. Ob er einfach nur dem Lärm gefolgt war? Was sollte er jetzt tun? Einfach gehen? Das konnte er nicht... er konnte ihn nicht einfach alleine lassen. Nicht, wenn es ihm offenbar so schlecht ging. Aber was blieb ihm anderes übrig?   Seufzend setzte er sich an die Wand gegenüber der Tür. Irgendwann musste einer von beiden wieder aus dem Zimmer kommen und dann würde er sich nicht wieder abschütteln lassen. Egal wie lange es dauerte. Er würde warten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)