Liebe führt, auch in Russland, zu Dummheiten von Lyndis ================================================================================ Kapitel 11: Grau ---------------- Rei   Es war Montagnachmittag und er schlenderte gerade durch einen der unzähligen Parks. Es war kalt, aber er hielt sich an dem heißen Becher mit Tee fest, der ihm ein wenig Wärme spendete. Ihm war die Decke zu Hause mal wieder auf den Kopf gefallen und er hatte raus gemusst. Seine Eltern waren schon länger nicht mehr zu Hause gewesen und jetzt, da er Kai nicht einmal mehr erreichen konnte, wenn er wollte, fühlte er sich einsam. Das Umherwandern in der Natur lenkte ihn ein wenig davon ab. Es war merkwürdig, dass, jetzt wo Kai hier war, er sich noch weiter von ihm entfernt fühlte, als vorher. Hoffentlich würde sich das legen, wenn sie beide zusammen für das Turnier trainierten. Wenn nicht... er wusste wirklich nicht, ob er das so weiterhin konnte. Ja, er liebte Kai, aber wenn sie sich nie sahen und kaum miteinander redeten, dann würde das nicht mehr lange anhalten. Das konnte ein Paar nicht überstehen, oder? Nun, vielleicht war es ja noch zu retten. Er wollte diese Beziehung nicht aufgeben, auch wenn die Tage, in denen sie glücklich zusammen waren, immer mehr verblassten. Es war eine traurige Tatsache, aber es war nichts anderes als ein weiterer Abschied. Eigentlich hätte er das vorhersehen müssen. Kai war nicht der Typ, der sich voll auf so etwas emotionales einlassen konnte. Eine richtige Beziehung war einfach nichts für ihn, aber Verliebtheit machte eben blind. Er hatte es versuchen wollen und jetzt war der Aufschlag auf den Boden der Tatsachen umso härter. Als hätte er seine Lektion nicht schon gelernt. Aber es wäre nur ein Jahr gewesen, das sie getrennt waren. War es so verrückt, auf ein gutes Ergebnis zu hoffen? Dass es zwei Menschen schafften, sich ein Jahr kaum oder gar nicht zu sehen und dennoch eine ausgewogene Beziehung zu führen? Wenn er jetzt so darüber nachdachte, klang das ziemlich utopisch und naiv.   "Du musst Kai da raus holen." Vor Schreck hätte er sich fast den Tee über geschüttet. Schnell wirbelte er herum und ignorierte dabei das unangenehme Ziehen, das von der Stichwunde ausging. Verwirrt fixierte er den Rotschopf, der ganz locker an einen Baum gelehnt da stand. Wie zum Teufel hatte er das geschafft? Die feuerroten Haare waren eigentlich zu auffällig, als dass man sie einfach in einem sonst leeren Park übersehen konnte. War er selbst so tief in Gedanken gewesen? Dann aber realisierte er, was Yuriy ihm gerade gesagt hatte. Geschockt riss er die Augen auf: "Wo raus? Ist er eingesperrt? Was ist passiert?" Kurz sah sein Gesprächspartner so aus, als wolle er wütend oder frustriert - oder was auch immer - abziehen, aber er blieb da. "Du musst ihn davon überzeugen, wieder zurück nach Japan zu gehen. Kai gehört hier nicht her und er steckt seine Nase in Angelegenheiten, die ihn nichts angehen." In einem ersten Impuls wollte er Yuriy tatsächlich angehen und ihm sagen, er solle sich da raus halten, aber er hielt inne, als er die Botschaft hinter den Worten zu begreifen begann. Yuriy machte sich Sorgen um Kai, wollte ihm helfen, hatte angst, ihm würde etwas passieren. "Du magst Kai." Was für eine interessante neue Entwicklung. Wie war das denn passiert? Doch Yuriy gab nur ein zischendes Geräusch von sich und wandte sich ab: "Zeitverschwendung" Doch ehe sein Gegenüber auch nur einen Schritt tun konnte, war er bei ihm und packte ihn am Handgelenk. Nur seine Jahrelange Erfahrung und ein wenig Glück, ließen ihn den leichten Zug bemerken, der eine Abwehrattacke andeutete, und noch ehe Yuriy die Bewegung ausführen konnte, hatte er ihm bereits die Beine weg geschlagen. Eine Welle von Schmerz durchzuckte seinen Körper und ließen ihn auf keuchen, aber er nahm sich zusammen, um nicht in die Knie zu gehen. Der Russe war ein paar Schritte weg gestolpert. Zu dumm, eigentlich hätte er fallen müssen. "Bist du eigentlich irre!?", polterte Rei los, musste sich aber die Seite halten. Die plötzliche Bewegung hatte ihm wirklich nicht gut getan. Dumme Stichverletzung. "Wenn du mich zu Boden wirfst, könnte die Verletzung wieder aufgehen! Willst du mich umbringen!?" "Tz... selbst Schuld wenn du dich mit jemandem anlegst, mit dem du nicht mithalten kannst." Obwohl er sonst nicht auf den Mund gefallen war, wusste er nicht wirklich, was er darauf antworten konnte. Die schiere Gleichgültigkeit und Überheblichkeit, die Yuriy da an den Tag legte, warf ihn einfach aus der Bahn. "Ich habe mich nicht 'mit dir angelegt'. Ich habe versucht dich vom gehen abzuhalten." Das Schnauben, das er daraufhin als Antwort bekam, signalisierte ihm, dass es für den Russen schlicht und ergreifend das selbe war, ob er ihn angriff oder schlicht und ergreifend anfasste. Diese Waisenkinder hier waren doch alle irgendwie irre. Innerlich seufzte Rei. Das hatte er eigentlich nicht denken wollen. Aber war das denn so verwunderlich? Man hatte ihn hier abgestochen und alle, die er hier kennenlernte, verhielten sich merkwürdig und bedrohlich. Das war wirklich nicht normal. Aber er schätzte, dass die Kinder hier am wenigsten dafür konnten und einfach nur versuchten zu überleben. Wie deprimierend und angsteinflößend. Aber er sollte sich auf das wesentliche konzentrieren: "Egal ob du Kai magst oder nicht... warum soll ich ihn aus dem Internat holen? Und vor allem wie? Kai ist niemand, der sich was sagen lässt. Und ehrlich gesagt, kann er auch ziemlich gut auf sich selbst aufpassen." Aber alles was er als Antwort bekam, war eine weitere kalte Schulter. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn Yuriy drehte schon wieder ab und war dabei zu gehen. "Hey, jetzt warte doch mal verdammt!" Gott war das frustrierend, sollte er etwa Gedanken lesen? Wer wusste schon, was man den Kindern hier über andere Kulturen beibrachte. Vielleicht hielt der Kerl Chinesen tatsächlich für fähig so etwas zu tun. Irre, sagte er doch!   "Warum sagst du ihm das nicht selbst? Warum sagst du ihm nicht, dass er sich raus halten soll und dass es gefährlich ist?" Aber schon als Rei das ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, dass das seinen Freund nur dazu bewegen würde, noch tiefer zu graben, statt die Flucht zu ergreifen. Flucht.. pfft. Das war ein Wort, das im gleichen Satz mit 'Kai' nicht existieren konnte. Wahrscheinlich stoppte Yuriy deshalb auch nicht und ging einfach weiter, bis er in der grauen Einöde verschwand. War Russland so deprimierend grau oder kam ihm das nur so vor? Selbst die feuerroten Haare waren ihm seltsam blass und farblos erschienen. Wahrscheinlich bildete er sich das nur ein. Resigniert seufzend hob er den Teebecher wieder auf, dessen Inhalt sich nach der kurzen Kampfsporteinlage auf dem Boden verteilt hatte. Auch das noch. Zusammen mit dem grauen Schleier der über allem zu liegen schien, fühlte sich alles auch noch zunehmend kalt an. Langsam begann er wirklich Antipathien gegen dieses Land zu hegen.   ~*~   Manchmal waren ihm die Götter wohl hold, so wie heute. Denn nur zwei Stunden nach der seltsamen Begegnung mit dem Anführer der Borg saß er mit Kai in einem kleinen, wirklich gemütlichen Café und nippte an einem Kakao. Das war das erste Date, das sie seit sie beide hier in Russland waren, hatten und es tat seiner Seele unglaublich gut. Nun ja.. Date konnte man das vielleicht nicht nennen, aber sie unternahmen zumindest etwas zusammen. Wenn er wieder zu Hause war, würde er Byakko, seinem Schutzgeist, ausgiebig danken. Aber erst einmal von vorne. Kai hatte ihn kurz nach der Begegnung angerufen und ihn um ein treffen gebeten. Worum es ging, hatte er nicht wirklich verlauten lassen. Umso neugieriger war er jetzt. Natürlich würde er seinem Freund einen solchen Wunsch niemals abschlagen, auch wenn er zu bedenken gegeben hatte, dass er ja eigentlich Training hätte. Das war Kai allerdings herzlich egal gewesen. Er hatte nichts von seiner leicht rebellischen Seite verloren, das war angenehm. Jetzt jedenfalls saßen sie zusammen in diesem Café und schwiegen sich an, während Rei fast vor Neugier platzte, aber mit mäßigem Erfolg so tat, als wäre er ganz ruhig. Ihm war klar, dass, sobald er Kai in irgendeiner Weise drängen würde, das nie etwas gäbe. Nur die Götter wussten, wie froh er war, dass sich für einen Moment wieder alles anfühlte, als wäre es normal. Kurz überschwemmte ihn diese Erleichterung so sehr, dass er Kai am liebsten genommen und ihn nach Hause geschleppt hätte, wo er ihn eine ganze Weile lang nicht aus seinem Zimmer lassen würde. Leider war das eine sehr unangebrachte Reaktion darauf, dass seinem Freund eindeutig etwas auf dem Herzen lastete. Und eigentlich sollte er sich auch darauf konzentrieren, ob sein Liebster etwas sagte. Wenn er das verpasste, wäre das das Todesurteil für ihre Beziehung.   Allerdings dauerte es noch einige weitere Minuten, bis er endlich einen Ton hörte: "Ich denke ich war als Kind hier." Prompt hätte Rei fast den Kakao über dem Tisch verteilt. Glücklicherweise wirklich nur fast, aber es brauchte Kraft um das zu bewerkstelligen. Danach brauchte er einen Moment um wirklich sacken zu lassen, was er da gehört hatte. Er hatte das doch richtig verstanden, oder? "Du denkst du warst in dem Internat hier!?" Ein sehr schwaches Nicken ließ ihn nahezu mit einem Schock zurück. "Wie kommst du denn darauf?" Ja, wie so plötzlich? Rei hatte sein Verhalten durchaus das ein oder andere Mal mit dem von Yuriy verglichen, aber das hieß ja noch lange nicht, dass sie die gleiche Erziehung genossen hatten, oder? Es gab viele Menschen die sich zu einem Teil oder auch ganz wie ein Psychopath verhielten und ehrlich gesagt war Yuriy eher davon betroffen als sein Freund, aber das hieß ja auch nicht, dass all diese Menschen hier aufgewachsen waren. Kai hingegen schien sich dem aber relativ sicher zu sein, was ihn wieder zu der Frage brachte, wie er darauf kam. Doch bevor der ihm antwortete, warf er ihm einen mahnenden Blick zu. Ja, gut, das hatte er verdient. Er hatte so ungläubig gewirkt, dass sein Gegenüber leicht denken konnte, dass er ihn nicht ernst nahm. Darauf sollte er achten. Kai fiel es so schon schwer überhaupt darüber zu reden, er sollte ihn nicht noch weiter verunsichern.   "Yuriy hat sie auch...", begann er dann, nachdem er die zweite Hälfte seines Kaffees getrunken und einen neuen bestellt hatte. Die Antwort warf aber nur noch mehr Fragen auf. Doch noch ehe er laut aussprechen konnte, dass er nicht verstand, was er meinte, verdrehte Kai genervt die Augen und deutete möglichst unauffällig auf seinen Unterarm. Verwirrt folgte er seinem Fingerzeig und suchte nach etwas ungewöhnlichem, fand aber nichts. Nach einem Augenblick stellte er selbst fest, dass er den Anblick der Narben auf dem Arm seines Freundes als so normal empfand, dass er sie mittlerweile übersah. "Die Narben?", fragte er dennoch sicherheitshalber leise nach und bekam ein Nicken als Antwort. Das war tatsächlich ein auffälliges Merkmal, aber das sagte eigentlich noch nichts. "Kai... ich weiß, dass man gerne denkt, dass es maximal einen Ort auf der Welt gibt, an dem Schlimmes passiert, aber das ist leider nicht so. Die Narben könnten überall her kommen." Er versuchte nicht zu behutsam zu wirken, aber auch nicht zu sicher. Mann, war das schwer. Er fing sich dennoch einen genervten Blick ein. Wie frustrierend. Wusste Kai nicht, wie schwer es war, mit ihm umzugehen? "Er hat es als normal empfunden. Das deutet darauf hin, dass es anderen in dem Internat auch so geht. Aber das ist noch nicht alles." Er bekam endlich seinen neuen Kaffee und nahm einen Schluck. Reis Kakao war nicht einmal zur Hälfte getrunken und mittlerweile wahrscheinlich kalt. "Mir kommt vieles irgendwie bekannt vor und irgendetwas in mir warnt mich ständig davor weiter zu suchen. Außerdem..." Und er machte schon wieder eine Pause. Er war sonst immer sehr rational und direkt, das hier musste also enorm schwer für ihn sein. Es löste ein warmes Gefühl in ihm aus, dass er sich ausgerechnet ihm öffnete, auch wenn das unangebracht war. "Ich hatte heute Nacht einen Traum. Es war eine Erinnerung, da bin ich mir sehr sicher. Es war nicht in dem Internat.. sondern in einem Keller. Er war voll mit Maschinen und merkwürdigen Körpern und Schreien. Ich bin mir sicher, dass es eine Art Erinnerung war. Ich träume für gewöhnlich nicht so klar."   "Deshalb also!", das platzte eher aus ihm heraus, als dass es beabsichtigt war. Es brachte ihm einen verwirrten Blick ein und irgendwie tat es gut, mal kurz der zu sein, der dieses Gespräch in der Hand hatte. Aber im Gegensatz zu Kai, wollte er die Konversation nicht in die Länge ziehen: "Entschuldige. Kurz bevor du angerufen hast, war ich im Park spazieren und Yuriy hat mich abgefangen. Er hat mir gesagt, ich solle dich davon überzeugen, dass du das Internat verlässt. Kurz danach ist er dann wieder verschwunden." Kai musste nicht wissen, dass es eine kleine Auseinandersetzung gegeben hatte. Doch die einzige Reaktion die er bekam, war, dass Kai den brühend heißen Kaffee herunter kippte und aufstand, nachdem er viel zu viel Geld auf den Tisch geknallt hatte. Was hatte er denn jetzt wieder getan!? Konnte der Kerl nicht vernünftig mit ihm reden? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)