Liebe führt, auch in Russland, zu Dummheiten von Lyndis ================================================================================ Kapitel 4: Herausforderung -------------------------- "Verzieht euch!", zischte es dunkel zu dem Tisch, an dem die Außenseiter mittags saßen. Alle schauten kurz erschrocken auf, auch Rei. Als er Yuriy sah, legte er kurz skeptisch die Stirn in Falten, nahm dann aber, wie alle andere auch, sein Tablett und stand auf. Nein, er fand es ganz und gar nicht gut, dass der Russe sich so aufspielte, aber sich mit ihm anlegen? Das würde nicht einmal etwas bringen. Er hasste diese Art von Machtlosigkeit, aber er war nicht dumm. Er hatte keine Lust, sich die nächsten Monate terrorisieren zu lassen, nur um jetzt seinen Stolz zu schützen.   "Du nicht!" Erst hatte er sich nicht wirklich angesprochen gefühlt, bemerkte dann aber, dass die Augen des anderen ihn fixierten. Jetzt wurde ihm wirklich etwas mulmig zumute. Auch wenn er es selbst kaum glauben konnte, hatte er sich die Worte von Kai in seiner gestrigen E-Mail wirklich zu Herzen genommen. Ja, er spielte gerne mit dem Feuer, aber er verbrannte sich nur sehr ungern. Das Jahr einfach abzusitzen, schien ihm wirklich die bessere Variante. Nun, scheinbar hatte er schon zu viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Stumm setzte er sich wieder und fühlte gleichzeitig wie sämtliche Augen der gesamten Mensa auf ihm lagen. Wo hatte er sich hier nur rein geritten? Nun, ruhig bleiben, war jetzt die Devise.   "Was kann ich für dich tun?" Eigentlich war das eine seiner Standard Antworten, aber gerade erschien ihm die Wortwahl doch etwas zu unterwürfig. Hoffentlich hatte er nicht jetzt schon einen Fehler gemacht. Kurz schweifte Yuriys Blick durch die Halle, sein Ausdruck ermahnend und kalt, wie ein tyrannischer Herrscher, der sich sein Volk besah, das ihm offensichtlich auf die Nerven ging. Als alle sich von ihnen abgewandt hatten und die Gespräche langsam wieder in Gang kamen, setzte sich auch der Russe. Danach sah er ihn einfach nur an. Musterte ihn, als würde er auf irgendetwas warten.   "Du sprichst gutes Russisch für einen Ausländer.", durchbrach Yuriy schließlich die angespannte Stille zwischen Ihnen. "Danke.", antwortete Rei etwas unbeholfen, wusste nicht, was er sonst sagen wollte. "Willst du nicht weiter essen? So lang ist die Pause nicht mehr und du brauchst doch Kraft für den Unterricht." Auf eine seltsame Art und Weise fühlte er sich schikaniert und er konnte nicht einmal sagen warum. Es sprach kein Hohn aus dem Anderen und seine Augen, sowie seine Stimme, zeigten ausschließlich Desinteresse. Vielleicht war es pure Paranoia, aber Rei ahnte, dass gerade mit ihm gespielt wurde. Er wusste, dass er sich zurückhalten sollte, aber das war nicht seine Art. "Was ist passiert, dass es dir nicht reicht, mich auf die Bretter zu schicken und du jetzt her kommst und offensichtlich dein Revier markieren musst? Liegt es daran, dass ich mich tatsächlich getraut habe gegen dich anzutreten?"   Vielleicht war er ja doch dumm... und lebensmüde. Wie sollte er es Kai nur erklären, wenn der ihn im Januar nicht in der Wohnung, sondern im Krankenhaus besuchen käme? Warum kamen diese Typen eigentlich immer, wenn er gerade beschlossen hatte, seine Ruhe haben zu wollen? Was war das nur immer? Doch Yuriy blieb still, rührte sich keinen Millimeter. Ok, das wurde jetzt gruselig. "Was willst du? Na los, spucks schon aus. Wärst du hier um mich fertig zu machen, wärst du jetzt bereits aufgesprungen und hättest mir eine rein gehauen." Ein leichtes Grinsen bildete sich auf dem Gesicht seines Gegenübers. Ein Grinsen, das Rei kalt erschauern ließ. Dieser Kerl vor ihm war so viel irrer und gefährlicher als Kai, das wurde ihm jetzt mehr denn je klar. "Intelligent bist du also auch noch. Du gefällst mir", säuselte der Russe plötzlich, was Rei fast zum Aufspringen gebracht hätte. Vor Schreck oder Ärger, konnte er nicht sagen. Er stocherte nur verärgert in seinem Mittagessen herum und zischte: "Ich bin nicht schwul!" Und mit einem Mal war der komplette Saal still und Rei verstand nicht einmal wieso. Was war denn jetzt los? Verwirrt warf er einen Blick umher und musste mit Schrecken feststellen, dass alle Blicke vollkommen entsetzt auf ihm lagen. Was... was war das denn? War es so ungewöhnlich, dass jemand Yuriy ablehnte? Durfte man das hier vielleicht gar nicht? War er so berüchtigt, dass jeder gemeuchelt wurde, der sich ihm entzog? Im nächsten Moment wurde er aber schon vom Stuhl gerissen und an einen Körper gezerrt. Wutverzerrte, eisige Augen starrten ihn: "Hast du mich gerade schwul genannt?" Die gefauchten Worte brachten Rei die Erkenntnis, die er gebraucht hatte. Erschrocken riss er die Augen auf, als er sich seinem Fehler gewahr wurde. Scheiße. Er war es so sehr gewohnt, mit Leuten umgeben zu sein, die kein Problem mit jeglicher Art von Sexualität hatten (Kai ausgeschlossen, aber vor dem konnte er da auch frei sprechen), dass er vergessen hatte, dass das auf dieser Welt noch immer ein großes Problem war. Ungewollt hatte er den kühlen Russen gerade tatsächlich als schwul bezeichnet. Doch im nächsten Moment wurde er einfach fallen gelassen und ein kaltes Lachen erfüllte den Raum. Er stolperte zurück, fiel über den umgestürzten Stuhl und kam hart auf dem Boden auf. Als das freudlose Lachen wieder verstummte, hatte er eine Hand vor der Nase, mit der er erst einmal nichts anfangen konnte, bis ihm dämmerte, dass da jemand versuchte ihm hoch zu helfen. Er ergriff die Hand und sah seinen Gegenüber deutlich verwirrt an, als er wieder stand. "Mut hast du wirklich, Kleiner. Aber arbeite an deiner Mimik, die verrät dich." Yuriy beugte sich etwas zu ihm vor, so, dass ihre Gesichter nur noch ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren. "Hast ausgesehen wie ein kleines, verängstigtes Kätzchen."   Rei wusste nicht wirklich, was er dazu sagen sollte. Und so schwieg er einfach, stellte stattdessen den Stuhl wieder aufrecht. Langsam begann wieder Leben in die Halle zu kommen, die Aufmerksamkeit von ihnen zu verschwinden. Als er sich wieder zu Yuriy umwenden wollte, saß der bereits erneut auf dem Stuhl ihm gegenüber. Verwirrt legte Rei kurz die Stirn in Falten, ehe er sich wieder setzte. Er hatte nicht bemerkt, dass der Andere sich überhaupt bewegt hatte. "Dein Kampfstil hat mich auch sehr an eine Katze erinnert. Geschmeidig und kraftvoll." "Ehm.. danke.", brachte er etwas unsicher hervor.   Sie schwiegen wieder, was Rei dazu veranlasste seinen Gegenüber zu mustern. Irgendwie sah er anders aus, als an dem Tag, an dem sie gegeneinander gekämpft hatten. "Ist alles in Ordnung?", fragte er, was den anderen eine schlanke Augenbraue heben ließ. "Du siehst müde aus."     ~*~   Hallo Kai,   ich hatte heute eine Begegnung dritter Art mit Yuriy. Krass ist der Kerl gruselig und irre und unberechenbar! Und nein, ich habe es nicht darauf angelegt. Ich habe einfach nur am Mittagstisch gesessen und er kam zu mir. Nach einem sehr verwirrenden Gespräch (oder wie auch immer man das nennen kann) hat er mir dann gesagt, ich solle kurz vor der Wettkampfsaison im Frühjahr an dem Wettbewerb hier an der Schule teilnehmen, er wolle noch einmal gegen mich kämpfen, wenn ich in Topform sei. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber eines weiß ich: offensichtlich habe ich versehentlich mehr Aufmerksamkeit auf mich gezogen als gewollt. Es juckt mir ja schon in den Fingern, noch einmal gegen ihn anzutreten. Aber ich bin mir noch unsicher. Mal sehen, was die nächste Zeit noch so passiert. Scheint nicht einmal im Ansatz so langweilig zu werden, wie es schien. Der Kerl ist dennoch gruselig... Ich hatte noch nie mit einem Menschen wie ihm zu tun. Es ist beängstigend und spannend zugleich. Aber keine Sorge, ich passe schon auf mich auf. Er kann mich ja kaum umbringen oder zum Krüppel machen, nicht?   Grüße Rei   *   Kai faltete den E-Mail Ausdruck wieder zusammen und steckte ihn sich in die Hosentasche. Nachdenklich sah er in den Himmel, während er auf dem Ast auf 'Seinem Baum' lag. Er machte sich Sorgen, ernsthafte Sorgen. Russland war ihm im Allgemeinen nicht geheuer, was bei dem, was er dort erlebt hatte, wohl auch kein Wunder war. Schon als er erfahren hatte, wohin Rei zog, hätte er ihn am liebsten aufgehalten, aber er hatte nicht gewusst wie und außerdem ging es ihn überhaupt nichts an. Eine Beziehung berechtigte ihn nicht dazu, sich in das Leben seines Partners einzumischen. Zusätzlich hätte es wohl außer einem Streit sowieso nichts gebracht, denn Rei liebte seine Eltern viel zu sehr, als dass er sich gegen sie auflehnen würde. Es wäre also sowieso sinnlos gewesen.   Das änderte aber nichts daran, dass er sich jetzt sorgte. Seit Rei von dem Internat erzählte, fühlten seine Briefe sich kalt an. Natürlich hatte sich die Herzlichkeit seines Partners nicht verändert, aber es schien, als würde er immer wieder einen Teil des Internats mit seinen Briefen mit schicken und dieser Teil fühlte sich kalt an. Kalt und dunkel. Seit er diese Briefe erhielt, hatte er vermehrt Alpträume. Diese Art der Alpträume, die ihn schon seit seiner Ankunft in Japan verfolgten und langsam musste er sich wohl eingestehen, dass ihn irgendetwas von Reis Schilderungen an seine Vergangenheit erinnerte. Er konnte nur nicht sagen was es war. Es war noch nicht greifbar. Neben der Tatsache, dass ihm das Angst machte, schürte das nur seine Sorge. Am liebsten wäre er nach Russland geflogen und hätte den Chinesen wieder nach Japan geholt. Zu ihm - da hin, wo er hin gehörte. Er wollte ihn bei sich haben um auf ihn achten zu können und um ihn um sich haben zu können. Er vermisste ihn mehr, als er jemals gedacht hätte und mehr, als er sich selbst eingestehen wollte. Aber er würde nicht beginnen sich selbst zu belügen, nur, um seinen Stolz zu wahren und so lange es andere nicht mit bekamen, war ihm das herzlich egal.   "Hey Kai!" Wo er gerade bei 'anderen' gewesen war. Er ignorierte Kinomiya, so wie er es die ganze Zeit schon tat. Allerdings fing er das Päckchen, das ihm empor geworfen wurde und begann gewohnheitsmäßig den Inhalt zu essen, während der Japaner sich unter den Baum setzte und geräuschvoll selbst zu essen begann. Er war sich nicht sicher, warum er das Essen noch immer an nahm, es war einfach zur Routine geworden und er mochte das selbstgemachte Frühstück von Kinomiyas Mutter oder wem auch immer.   Er fragte sich, was für ein Gespräch Rei mit diesem Yuriy geführt hatte. Das klang irgendwie bedrohlich, auch wenn der Chinese versucht hatte, das alles runter zu spielen. Allerdings zeigten allein die fehlenden Details, dass da irgendetwas gewesen sein musste. Warum erzählte er es ihm nicht? Hatte er Angst vor seiner Reaktion? Angst, dass er sauer war, dass er mit dem Russen geredet hatte? Unwahrscheinlich. Rei war nicht der Typ Mensch, der davor zurückschreckte, seine Taten auch vor anderen zu vertreten und im schlimmsten Fall auch zu verteidigen. Nein, das konnte es nicht sein. Aber was dann? Was war da los? Und warum zum Teufel lud dieser Yuriy ihn zu diesem Ausscheidungsturnier ein? Was hatte der vor? Kai wusste viel zu wenig, er würde recherchieren. Eigentlich hatte er sich ja raus halten wollen, aber das war jetzt nicht mehr möglich. Er würde recherchieren und wenn er auf das dunkle Geheimnis stieß, dass er vermutete, dass er fürchtete, dann würde er Rei da wieder raus holen. Dann war es ihm auch egal, dass er kein Recht dazu hatte, dann konnten ihn die Regeln der Gesellschaft mal kreuzweise. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass er sich über das hinweg setzte, was andere als normal bezeichneten. Er hatte bis zum Frühjahr Zeit. Bis zu diesem Turnier. Und er hatte nur die Winterferien, um vor Ort zu recherchieren. Das war ein knappes Zeitfenster, aber es musste reichen.   ~*~   Du siehst müde aus   Immer wieder spukten ihm diese Worte durch den Kopf.   Du siehst müde aus   Und immer wieder schürten sie von neuem unbändige Wut. Wie konnte dieser Wurm es wagen, ihm solche Schwäche zu unterstellen und dabei auch noch so mitleidig zu klingen? Wie hatte er das überhaupt bemerken können? Er war perfekt darin, jedwede Schwäche zu verbergen, selbst vor sich selbst wenn es sein musste! Dieser elende, kleine Wurm! Er war nicht schwach!   Du siehst müde aus   Graaa! Sein nächster Schlag traf seinen Gegner direkt am Brustbein und er konnte das Knacken der Knochen sowohl hören als auch spüren, doch sein Kontrahent gab keinen Ton von sich, schwankte nicht einmal. Der packte ihn nur am Handgelenk und versuchte ihn über seine Schulter zu werfen, doch Yuriy reagierte schneller, nutzte die Gelegenheit, dass der andere mit dem Rücken zu ihm stand, und trat ihm direkt in die Kniekehle.   Du siehst müde aus   Als sein Kontrahent in die Knie ging, stoppte er nicht, setzte stattdessen einen gezielten Tritt direkt in die Niere, was den anderen endlich aufschreien ließ. Genugtuung machte sich in ihm breit, doch er war noch lange nicht fertig.   Du siehst müde aus   Während der andere sich vor Schmerzen krümmte, setzte er einen Fuß in dessen Nacken, drückte so lange zu, bis dessen Stirn den Boden berührte. "Sag es!", zischte er gefährlich.   Du siehst müde aus   Er drückte noch fester zu, was dem anderen ein leichtes Winseln entlockte. "Na los! Sag es!" Doch kein Wort war zu hören. Stattdessen bemerkte er eine leichte Bewegung unter sich und schaffte es mehr instinktiv als gewollt, dem nächsten Angriff auszuweichen.   Du siehst müde aus   Als sein Kontrahent wieder auf den Beinen stand, sah er das Messer, dass ihm gerade noch fast die Achilles-Sehne durchgeschnitten hätten. Yuriy blickte gar nicht erst zu dem Trainer, der würde nichts dagegen tun. Wenn er nicht gegen einen Gegner ankam, der eine Waffe in der Hand hatte, konnte er sich gleich selbst wieder auf die Straße setzen, das wäre die harmlosere Strafe dafür, wenn er den Kampf denn überhaupt überlebte.   Du siehst müde aus   Mit einem kräftigen Schlag gegen das Handgelenk, hatte er seinen Gegner entwaffnet, stoppte allerdings da auch nicht. Er ergriff den Arm, kickte nebenbei das Messer beiseite, damit es für sie beide außer Reichweite war, drehte den Arm auf den Rücken und kugelte ihm mit einem gezielten Ruck die Schulter aus. Das alles passierte so schnell, dass der Andere mehr vor Verwunderung, statt vor Schmerz aufschrie. "Sag es!", keifte Yuriy wieder, doch wieder kam keine Antwort.   Du siehst müde aus   Ein weiterer Tritt in die Kniekehle des anderen brachte den wieder zu Boden und Yuriy wusste, dass er die erwarteten Worte von ihm nicht mehr hören würde. Sein Kontrahent war zu stolz und zu verzweifelt. Er würde bis zum letzten Atemzug kämpfen, wenn es sein musste.   Du siehst müde aus   ICH BIN NICHT MÜDE! Schrie er in Gedanken, als er den Ellbogen seines freien Arms in den Nacken des anderen rammte und der Körper dann in sich zusammensackte. Er hatte nichts knacken gespürt, war sich aber nicht sicher, ob sein Kontrahent je wieder aufstehen würde. Es interessierte ihn auch nicht. Ein Blick zu seinem Trainer zeigte ihm, dass der nicht zufrieden war. Es hatte zu lange gedauert, er hatte seinem Gegner zu viele Möglichkeiten zur Aufgabe gegeben, hatte sich mit dem Messer zurück drängen lassen, statt ihn sofort zu entwaffnen. Er würde heute wieder Extrastunden einlegen müssen. Der Verlierer wurde von ein paar anderen weg gebracht. Wohin wusste er nicht und er wollte es auch niemals erfahren. Wahrscheinlich ins Labor, aber es war ihm gleich.   Du siehst müde aus   Ohne noch irgendetwas abzuwarten drehte er sich um, verschwand aus dem Trainingsraum und knallte lautstark die Tür hinter sich zu, die geräuschvoll aus den Angeln sprang. Zu dumm, dass er einem Lichtkind nichts antun durfte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)