Liebe führt, auch in Russland, zu Dummheiten von Lyndis ================================================================================ Kapitel 1: Betreff unbekannt ---------------------------- Hallo Kai,   ich habe mir jetzt ungefähr eine halbe Stunde lang überlegt, wie ich dich in dieser E-Mail ansprechen soll. Nachdem ich die Ansprache ungefähr 50 Mal geändert habe, habe ich mich dazu entschlossen, es einfach bei einem 'Hallo Kai' zu belassen und abzuwarten, wie du reagierst.   Wie du dir sicherlich denken kannst, sitze ich an dem Laptop, den du mir hast 'zukommen' lassen. Ein anderes Wort fällt mir dafür beim besten Willen nicht ein. Du hast das absichtlich gemacht, oder? Du musstest es so machen, nicht? So und nicht anders, denn alles andere wäre ja normal gewesen und du bist bekanntermaßen ja nicht normal und hütest dich davor, auch nur im entferntesten so zu erscheinen als seist du normal. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie du das gemacht hast. Ich fliege Samstag in zwei Wochen. Waren neben 'Nach Moskau' die einzige Information, die du hattest. Keine Uhrzeit und nicht einmal der genaue Flughafen und auch nicht die Airline. Du wusstest nichts sonst und dennoch hast du es verdammt noch mal geschafft, das Ding bei mir ankommen zu lassen. Und oh, wie es angekommen ist! Weißt du eigentlich wie das ist, wenn man plötzlich von einem Zollbeamten auf einer Sprache angesprochen wird, die man kaum je gesprochen hat und nur einige Vokabeln geübt hat? Ich dachte der Kerl vermutet Drogen bei mir oder so was! Und wie meine Eltern erst geschaut haben. Jedenfalls sind wir dann in so ein Hinterzimmer gegangen. Nachdem ich alle Sprachen, die ich kann, durchgegangen bin, haben wir uns auf einen Mischmasch aus Englisch und Russisch geeinigt. Das war echt nicht einfach. Nach einigem hin und her, hat er mir dann den Laptop gegeben, mit dem ich absolut nichts anfangen konnte. Er hat mir einen Zettel unter die Nase gehalten, den ich unterschrieben habe und dann durften wir weiter. Himmel! Gibs zu, das war deine volle Absicht!   Wie kommst du überhaupt auf die glorreiche Idee mir einen Laptop zu schenken?! Und dann auch noch so ein hochmodernes Teil! Was soll ich denn damit, außer dir E-Mails zu schreiben? Oder vielleicht Takao. Aber sonst? Das ist total verschwendetes Geld, mal abgesehen davon, dass ich dir das niemals danken kann. Oh Mann Kai, so was kannst du mir doch nicht antun! Andererseits ist es mal wieder so typisch du, dass ich dir nicht einmal böse sein kann. Und praktisch ist es ja schon, so kann ich mit dir und allen anderen besseren Kontakt halten. Briefe brauchen immer so ewig und ich denke, E-Mail-Adressen wechselt man weniger häufig als seinen Wohnort oder seine Telefonnummer, oder? Ach, keine Ahnung, ich werde es ja sehen.   Woher ich weiß, dass der Laptop von dir ist? Tja... ich hab mich ja kaum getraut ihn an zu machen, weil ich dachte er explodiert vielleicht oder so was, aber abgesehen davon, dass ich niemanden in meinem Freundeskreis habe, der so irre ist, mir einen Laptop zu schenken (ja, das kriegst du noch etwas länger von mir vorgehalten), hat mich dein Gesicht begrüßt, als ich auf dem Desktopbildschirm angekommen bin. Und eine ganze Menge weiterer Bilder von dir, die im Hintergrund immer durchwechseln. Ich frage mich wirklich, wann und wie du die gemacht hast und wie du darauf gekommen bist. Die sind echt toll geworden und ich habe mich wirklich gefreut, als ich sie gesehen habe! Wow. Ich glaube, das ist das einfallsreichste und süßeste Geschenk, was ich jemals bekommen habe! Ich werde es auf jeden Fall in Ehren halten, auch wenn es total irre ist. Erst war ich etwas enttäuscht, dass keine etwas delikateren Bilder dabei sind, aber dann dachte ich wiederum, dass es vielleicht unpraktisch wäre, wenn andere die versehentlich zu Gesicht bekämen. Ich bin jetzt schon unsicher, ob ich die Diashow so belasse, weil ich Angst habe, dass meine Eltern das irgendwann mal sehen und dann komische Rückschlüsse ziehen. Die Fragerei würde ich mir gerne ersparen. Aber andererseits bringe ich es nicht wirklich übers Herz.   Ich kann übrigens nicht wirklich sagen, was mein Lieblingsbild ist. Ich mag sie alle, aber ich glaube, das, auf dem du an einen Baum gelehnt, mit verschränkten Armen stehst und mit ausdruckslosem Gesicht in den Sonnenuntergang schaust, mag ich ein bisschen mehr als die anderen. Deine Augen haben da so einen schönen goldenen Schimmer. Habe ich dir eigentlich je erzählt, dass mir deine Augen als erstes an dir aufgefallen sind? Es war tatsächlich das Erste, was ich von dir gesehen habe... eh, nein nicht ganz. Ich hab dich von unten auf dem Ast liegen gesehen, aber du weißt schon, was ich meine. Ich bin gerade am überlegen ob ich den Absatz hier wieder lösche, aber ich denke ich mache es wie mit der Begrüßung, ich schaue einfach, wie du reagierst.   Jetzt aber mal weg von dir und hin zu mir. Wir wohnen jetzt seit einer Woche hier in Moskau und wie immer ist es erst einmal ziemlich viel Arbeit und sehr chaotisch. Aber ich mag die ersten Wochen in den neuen Städten immer sehr, weil meine Eltern dann non-stop da sind. Das ist schon ziemlich cool, wo ich sie sonst doch fast nie sehe. Gerade sind sie einkaufen gefahren und ich habe die Gelegenheit genutzt, dir zu schreiben. Mein Zimmer ist ungefähr genauso groß wie mein altes in Japan. Bisher habe ich es nur geschafft das Bild von Byakko auf zu hängen. Du weißt schon, das von dem weißen Tiger. Ansonsten lebe ich momentan noch aus dem Koffer und aus Kisten. Ich habe immer noch kein richtiges Bett, sondern schlafe auf einer Matratze und die ganze Wohnung riecht nach nasser Farbe. Irgendwie mag ich es. Es geht mir immer ziemlich auf die Nerven eigentlich, aber auf der anderen Seite ist es auch aufregend und spannend. Ich bräuchte das nur nicht mindestens einmal im Jahr.   Meine Eltern haben mir übrigens versprochen, dass ich hier in Ruhe meinen Abschluss machen kann. In einer Woche fahren wir kurz zu der neuen Schule, damit ich mir etwas Material zum durcharbeiten mitnehmen kann, damit ich auf den aktuellen Stand hier komme. Ich bin mal gespannt. Mit der Sprache komme ich ganz gut zurecht denke ich. Die Schrift macht mir noch ein wenig zu schaffen, aber ich denke das kommt mit der Zeit. Im Moment reicht es aus, um mich einigermaßen zu verständigen.   Ab und an war ich schon in der Stadt und habe mich umgesehen. Für Juli ist es hier echt.. kühl. Man friert zwar nicht, aber so richtig warm ist es auch nicht. Ist aber nichts, woran ich mich nicht gewöhnen kann. Ich habe nur irgendwie Angst vor dem Winter. Hab gehört es kann hier ziemlich kalt werden. Moskau ist echt abgefahren! Ich benutze so ein Wort ja wirklich nur selten, aber ich bin ziemlich überwältigt und dabei habe ich bisher kaum was gesehen. Wir wohnen wegen der hohen Miete eher so irgendwo zwischen dem begehrten Rand der Stadt und der noch begehrteren Innenstadt. Aber wir waren schon Mal in besagter Innenstadt und haben uns etwas umgesehen. Moskau ist echt riesig und ganz anders als Tokyo oder New York. Ich mag diese Mischung aus alt und neu. Es gibt hier so viel Tradition und so viel Modernes gleichzeitig, das ist krass!   Ich kann es wirklich kaum erwarten, bis ich mir das alles genauer ansehen kann. Aber noch weniger kann ich es erwarten, bis ich dich wieder sehe. Ich habe tagsüber kaum Zeit dich oder jemand anderen zu vermissen. Aber nachts, wenn ich alleine auf meiner Matratze liege, da muss ich an dich denken. Ich freue mich auf die über 100 Parks in dieser Stadt, aber es wird einsam werden, ohne dich, der bei mir sitzt. Noch habe ich mich nicht daran gewöhnt, dass du nicht mehr da bist und ich weiß auch nicht, ob ich will, dass ich mich irgendwann daran gewöhne. Ich will nur aufhören mich einsam zu fühlen...   Bevor ich jetzt vollkommen theatralisch werde, mache ich lieber Schluss. Ich glaube meine Eltern sind auch wieder da.   Ich hoffe dir geht es gut und ich hoffe, dass wir uns bald wieder sehen können.     Bis dann (<- Dumme Abschlussformel, ich weiß schon wieder nicht was ich schreiben soll!)   Rei   ~*~   Rei,   wenn du Zeit hast, eine halbe Stunde lang über eine Grußformel, die niemanden interessiert, nachzudenken, kann dein Leben in Russland nicht wirklich aufregend sein. Denkst du, ich sitze hier und analysiere, wie du mich angesprochen hast? Lächerlich. Allerdings würde es mich doch interessieren, aus reiner Neugierde, was du vorher an Grüßen ausprobiert hast. So wie ich dich kenne, hast du zuerst mit 'Liebster' begonnen, hast es als zu persönlich und zu kitschig abgetan, dich dafür geschämt, dass du überhaupt daran gedacht hast und es dann eilig wieder gelöscht. Und danach hast du sicherlich 'Lieber' geschrieben und es auch gleich wieder gelöscht, weil das zu kindlich und klischeehaft klingt. Wie du siehst.. ich analysiere weniger was du geschrieben hast, sondern was nicht, aber das nur nebenbei.   Glücklicherweise bist du in der Lage dazu, ordentliche E-Mails zu schreiben. Viele verbinden ja alles, was mit dem Internet zu tun hat, mit einem Haufen Smileys und ätzender Abkürzungen. Gut, dass du das nicht machst.   Es erfreut mich, dass der Laptop gut bei dir angekommen ist und dass du dich darüber gefreut hast. Da ich dich nie mit mehr als einer Fernbedienung und einem alten Handy in der Hand gesehen habe, war ich mir nicht ganz sicher, ob du mit einem umgehen kannst, aber auch das scheinst du gemeistert zu haben. Nun, warum auch nicht, schließlich ist Technik kein Hexenwerk, auch wenn viele das anders sehen mögen.   Du wünschst dir also delikate Bilder? So so. Du hast aber recht. Es wäre unpraktisch, würde die jemand entdecken. Du wirst doch also mit deiner Fantasie begnügen müssen. Außerdem wäre es doch schade um den schönen Laptop, wenn er voll mit weißen Klecksen wäre, oder?   Es freut mich, dass es dir in der neuen Stadt gefällt. Ich würde dir gerne etwas empfehlen oder darüber erzählen, aber ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich je in Moskau war.   Die neue Schule wird sicherlich kaum anders werden wie deine Alte, nur eben mit einer anderen Kultur. Menschen sind von Grund auf recht ähnlich, nur die Erziehung variiert. Du solltest also auf keine allzu große Überraschung treffen. Es ist unwahrscheinlich, dass du auf noch jemanden wie mich triffst oder, Gott bewahre, auf jemanden wie Takao. Wobei du eine gewisse Anziehung auf ungewöhnliche Menschen zu haben scheinst. Sollte es also irgendwo an dieser Schule jemanden geben, der ungewöhnlich ist, wirst du in den ersten Tagen in ihn hinein laufen. Nun, du brauchst schließlich auch ein neues Projekt, nicht wahr? Ohne mich wird dir sonst wohl zu langweilig das Jahr über.   Hier ist alles soweit ruhig. Großvater ist anscheinend recht froh, dass du 'endlich' weg bist. Er scheint mitbekommen zu haben, dass ich häufig mit dir verkehrt habe. Die Wochen bevor du weg bist, war er recht angespannt und wir haben uns oft gestritten. Das hat sich mittlerweile wieder gelegt. Ich habe den ersten Platz in dem regionalen Kickbox-Turnier gemacht. Großvater will, dass ich unbedingt auch bei den Ausscheidungen für das Landesturnier mitmache, aber ich bin mir noch unsicher. So etwas interessiert mich nicht.   Momentan genieße ich noch die Ruhe. Die Übungen mit den Privatlehrern nehmen zwar viel Zeit in Anspruch, aber ich habe etwas mehr Freiraum, als während der Schulzeit. Ich sitze momentan oft am Klavier und auch am Schlagzeug. Öfter als sonst. Manchmal ist es so, als würdest du dann bei mir sitzen und mir lauschen. Meinen Glückwunsch, du hast aus mir einen gefühlsduseligen Idioten gemacht. Aus dem selben Grund meide ich derzeit auch den Park. Ich brauche jetzt einen anderen Platz, an dem ich den Samstag verbringen kann. Wunderbar. Apropos Samstag... Dein Laptop hat mobiles Internet. Nutze es, ich werde Samstag online sein. Die Kontaktdaten sind im Anhang. Dann können wir wenigstens die Samstage miteinander verbringen, sofern du Zeit hast. Gib nur vorher Bescheid, damit ich nicht umsonst warte. Es wird ein wenig schwierig, das mit dem Zeitunterschied von fünf Stunden zu koordinieren, aber es ist nicht unmöglich.   Mit Grauen sehe ich dem neuen Schuljahr entgegen. Glücklicherweise ist es noch etwas hin, aber dank dir habe ich ab dann Kinomiya am Hals. Ich muss mir noch überlegen, wie ich ihn loswerde. Ai ist wenigstens so taktvoll mir aus dem Weg zu gehen, wobei gesagt werden muss, dass ihre Anwesenheit im Allgemeinen angenehmer ist als die von Kinomiya. Aber das ist redundant... schließlich ist selbst die Anwesenheit eines tollwütigen Waschbärs angenehmer. Wie auch immer... ich muss wohl noch ein Jahr mit der Nervensäge leben, danach kann er bleiben, wo der Pfeffer wächst.   Mich würde es interessieren, was du einen Eindruck von deiner neuen Schule hast, also schreibe ruhig ausführlicher darüber.   Ich freue mich auf weitere Nachrichten, aber erwarte nicht, dass ich von mir aus schreibe. Du kennst mich.     Kai   P.S.: Hör auf dir solche Gedanken um deine Wortwahl zu machen. Das steht dir nicht.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)