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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Eine schreckliche Vorahnung...

Natürlich kam es genau so, wie Carina befürchtet hatte. Okay, sie hatte gewusst, dass die Suche nach dem Bestatter alles andere als leicht werden würde, aber sie hatte Erfahrung im Suchen, sie würde das schon irgendwie hinkriegen.
 

„Weit gefehlt“, ging es ihr durch den Kopf, während sie in ihrem Hotelzimmer am Schreibtisch saß und sich über eine Karte von Baden-Baden mitsamt der näheren Umgebung beugte. Überall waren rote Kreuzchen verteilt, die die Orte markierten, die sie bereits überprüft hatte. Mittlerweile war die Schnitterin schon 13 Tage hier und immer noch hatte sie keinerlei Fortschritte bei ihren Ermittlungen erzielt. Zuerst hatte sie den Marktplatz aufgesucht, wo sich der Zwischenfall mit der Bizarre Doll zugetragen hatte. Relativ schnell hatte sich dabei herausgestellt, dass die betroffene Frau nicht mehr dort arbeitete und auch nicht für Gespräche zur Verfügung stand. Carina hatte daher die Idee gehabt sich mit den anderen Standbesitzern zu unterhalten, ob sie vielleicht an diesem Tag etwas Ungewöhnliches bemerkt hatten.
 

Diese Idee endete jedoch in einer Totalkatastrophe.
 

Der erste Mann, den sie fragte, bekam einen Schweißausbruch vom allerfeinsten und wischte sich ständig mit seinem Taschentuch das Gesicht ab, während er immer wieder das ganze Blut am Boden erwähnte.

Der zweite Mann – ein nett aussehender Verkäufer, der allerlei Sorten Gemüse aus der Region anbot – begann so sehr zu stottern, dass Carina ihn gar nicht verstehen konnte.

Und die Dritte im Bunde, eine Frau Mitte 40 mit stämmiger Figur und einer langen, weißen Schürze, kam gerade einmal dazu der Seelensammlerin von den qualvollen Schreien ihrer Kollegin zu erzählen, als sie plötzlich kalkweiß im Gesicht wurde und anschließend in Ohnmacht fiel.
 

An diesem Punkt hatte Carina dann eingesehen, dass diese Strategie wenig Sinn machte. Also hatte sie damit begonnen nach dem Totengräber selbst zu fragen. Doch niemand auf diesem Marktplatz konnte sich an einen Mann mit langen, silbernen Haaren erinnern. Sie hatte die Suche die darauffolgenden Tage hin ausgeweitet, aber es war vergebene Liebesmüh. „Was, wenn er gar nicht so aussieht wie sonst? Was, wenn er sich in eine andere Person verwandelt hat?“, ging es ihr zwischendurch mehr als nur einmal durch den Kopf, was sie aber eigentlich für ziemlich unwahrscheinlich hielt. Cedric hatte sich nie groß darum geschert, was die Menschen um ihn herum von seinem Aussehen hielten und vor den Shinigami hatte er auch niemals nur einen Funken Angst verspürt. Dennoch, die Option war nicht ganz auszuschließen. Aber das war leider ein Risiko, was sie eingehen musste.
 

Als Nächstes war es ihr in den Sinn gekommen alle Bestattungsunternehmen nach und nach abzuklappern. Immerhin hatte der Totengräber ein Faible dafür sich als jemand anders auszugeben und was konnte er besser, als Leute zu bestatten? Sie traute es ihm glatt zu, dass er einen der hiesigen Bestatter in Urlaub geschickt hatte, um für einige Zeit seinen Platz einzunehmen. Doch auch hier war Fehlanzeige angesagt. Kein einziges der Bestattungsunternehmen war auffällig gewesen, nicht einmal die kleinste Spur deutete darauf hin, dass sich ein Shinigami dort aufgehalten hatte oder aufhielt. Ihre Frustration wuchs von Tag zu Tag, doch dann war ihr doch noch eine letzte Idee eingefallen. Carina erinnerte sich daran, dass Ciel damals immer zu dem Undertaker gegangen war, um Informationen von ihm zu erhalten. „Er war sein Informant…Eine seiner Verbindungen zur Unterwelt.“ Was, wenn er einfach dazu zurückgekehrt war?
 

Die Seelensammlerin konzentrierte sich somit auf Gerüchte, die sich die Leute in Baden-Baden erzählten. Sie horchte die Polizei aus, beobachtete Drogendealer bei ihrer Arbeit, verfolgte unbemerkt Schmuggler, Geldfälscher und Diebe. Sogar Mörder und Brandstifter ließ sie nicht aus den Augen. Jedoch schienen hier die meisten Fälle tatsächlich eher uninteressant zu sein und schienen nicht in der Verbindung mit einem übernatürlichen Wesen zu stehen. Nach wie vor blieb der Undertaker wie vom Erdboden verschluckt.
 

„Verflucht“, zischte sie wütend und machte ein weiteres rotes Kreuz auf der Karte. So langsam gingen ihr wirklich die Optionen aus. Hatten sie sich vielleicht getäuscht? War der Shinigami vielleicht gar nicht mehr hier in Deutschland? Aber warum sollte er seine über alles geliebten Puppen hier gelassen haben? Nein, das ergab keinen Sinn. „Was habe ich übersehen? Woran habe ich noch nicht gedacht?“ Nachdenklich tippte sie immer wieder mit der oberen Seite ihres Stiftes auf den Tisch. Auch Grell und Alice schienen keine wirkliche Ahnung zu haben, was sie jetzt noch unternehmen sollte. Die Lage in der Shinigami Welt schien sich nach wie vor nicht verändert zu haben und das war somit das Einzige, um das sich Carina momentan keine Sorgen machen musste. „Und ich hab gedacht die Suche nach meiner Death Scythe wäre schwierig gewesen. Was für ein fataler Irrtum“, dachte sie genervt und erhob sich von dem harten Stuhl, als ihr Magen anfing zu knurren. Seufzend begab sie sich in den Essbereich des Hotels und bestellte sich das heutige Mittagessen, Spätzle mit einer Pilzsauce und Salat. Deutsches Essen war tatsächlich etwas, was ihr mit am meisten in London gefehlt hatte. Zum Nachtisch gab es Schwarzwälder Kirschtorte und für einen Moment konnte Carina ihre ganzen Gedanken bezüglich der Erfolglosigkeit ihrer Suche vergessen, als die Mischung aus Sahne und Schokolade auf ihre Zunge traf. Es gab doch einfach nichts Besseres als Schokolade…
 

„Na? Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragte 10 Minuten später die Frau des Hotelbesitzers, als sie die leeren Teller vom Tisch nahm. „Nein, sonst platze ich“, lächelte Carina und nahm einen Schluck von ihrem Wasser. „Aber das Essen war absolut himmlisch.“ „Ich gebe es gerne an unseren Koch weiter. Und wie bereits gesagt, falls Sie einmal außerhalb der Essenszeiten Hunger haben, sagen Sie einfach Bescheid. Immerhin müssen Sie ja auch noch jemand anderen mitversorgen.“ Sie zwinkerte einmal kurz und ging dann mitsamt den Tellern zurück in die Küche. Die 19-Jährige grinste leicht. Keine Frage, es war ein Schock gewesen, als die nette Frau Anfang 30 sie vorgestern gefragt hatte, ob sie bezüglich ihrer Schwangerschaft etwas bräuchte. Carina war die Wölbung ihres Unterleibs zwar schon länger aufgefallen, aber nun begannen auch die Leute um sie herum sie wahrzunehmen, wenn sie nicht ihren Mantel trug. Kein Wunder, mittlerweile befand sie sich in der 16. Woche und ihr Körper begann sich der Schwangerschaft anzupassen. Sogar die ersten Bewegungen ihres Babys hatte sie inzwischen spüren können. Es waren noch keine Tritte oder Boxhiebe, ganz im Gegenteil. Es fühlte sich mehr wie ein leichtes Anstubsen unter der Haut an, als würde jemand von innen Seifenbläschen gegen ihren Bauch pusten und zum Platzen bringen.
 

Carina waren die Tränen in die Augen geschossen, als sie zum ersten Mal kapiert hatte, was dieses seltsame Flattern zu bedeuten hatte. Und Grell war am Telefon natürlich in Tränen ausgebrochen und hatte lautstark verkündet, dass er der beste Patenonkel werden würde, den die Welt je gesehen hatte. In solchen Momenten wünschte sich die junge Frau, sie wäre wieder in ihrer Zeit. Dort gab es bereits Ultraschall. Sie hätte sich beim Frauenarzt Bilder ausdrucken lassen können. Wüsste jetzt sicherlich schon, was für ein Geschlecht ihr Baby hatte. Oder sie hätte im Internet nachlesen können, was ihr Kind schon alles in ihrem Bauch machen konnte, wie weit es bereits entwickelt war. Ob es ihm oder ihr gut ging. In dieser Zeit konnte sie nur darauf hoffen, dass die Schwangerschaft gut verlief und alles in Ordnung war. Allerdings gab es bisher keinerlei Anzeichen, dass etwas nicht in Ordnung war und daher konnte sie ohne Probleme weiterhin Baden-Baden durchkämmen. Doch zuerst musste ihr eine neue Idee einfallen, eine neue mögliche Spur.
 

Noch ein weiteres Mal ließ sie sich alle Dinge durch den Kopf gehen, die sie über Cedric wusste. Die Tatsache, dass er Bestatter war, hatte sie schon abgehakt. Ebenso den Fakt, dass er sich in der Unterwelt auskannte und die Bizarre Dolls hergestellt hatte. Er hatte anscheinend einiges mit der Familie Phantomhive zu tun gehabt und… Mit einem Mal stutzte sie. Ein neuer Gedanke war ihr soeben in den Sinn gekommen. Ja, er hatte scheinbar schon sehr lange die Familie Phantomhive gekannt und dem Wachhund der Königin bei seiner Arbeit geholfen. Möglicherweise hatte er bei diesen Gelegenheiten ja auch andere Aristokraten kennengelernt. Vielleicht jemanden, der von hier kam oder zumindest hier wohnte?
 

„Entschuldigung?“, fragte sie daher die nette Frau von vorhin, als diese just in diesem Augenblick wieder an ihrem Tisch vorbeikam. „Gibt es hier in der Gegend zufällig adlige Familien, die eine Verbindung zu England haben? Wissen Sie etwas darüber?“ Die Frau wirkte verblüfft über diese Frage, schien jedoch angestrengt darüber nachzudenken. „Nun, da würde mir eigentlich nur das jetzige Oberhaupt der Familie von Weizsäcker einfallen. Ob er jetzt noch eine Verbindung zu England hat weiß ich nicht, aber in seiner Jugend hat er dort ein College besucht und auch nach seinem Abschluss noch einige Jahre in London gelebt.“ Carina bekam einen trockenen Mund. „Ein College?“, fragte sie nach und bekam eine dunkle Vorahnung, von welchem College hier die Rede war. „Ja, vielleicht habt Ihr schon einmal davon gehört? Das Weston College hat den besten Ruf in ganz England. Man sagt, dass dort die ganze zukünftige Elite ausgebildet wird.“
 

„Bingo“, schoss es Carina durch den Kopf. Das konnte alles sein, aber sicherlich kein Zufall. Endlich! Endlich hatte sie seine Verbindung zu Deutschland, zu Baden-Baden gefunden.
 

„Und wo lebt dieser von Weizsäcker?“, fragte sie auch sogleich, denn jetzt wollte sie keine Zeit mehr verlieren. „Er besitzt ein riesiges, schlossähnliches Anwesen am Rande der Stadt. Wenn Sie der Hauptstraße bis ganz zum Ende folgen, müssen Sie anschließend noch ein paar Kilometer durch den angrenzenden Wald gehen. Anschließend kommt eine etwas anstrengende Anhöhe und wenn Sie diese geschafft haben, dann befindet sich am Ende das Anwesen der Familie von Weizsäcker.“ Sie zögerte kurz. „Falls Sie allerdings vorhaben dort hinzugehen, sollte ich Sie lieber vorwarnen. Die Leute stehen der Familie eher mit Vorsicht gegenüber. Es gibt da gewisse Gerüchte…“ Carina hob eine Augenbraue. „Gerüchte? Was für Gerüchte denn?“ „Nun, es wird hier und dort darüber gesprochen, dass Diederich von Weizsäcker viele Verbrechen aufklärt, die die Polizei nicht lösen konnte. Und er soll dabei nicht gerade zimperlich vorgehen.“ Ein sichtbares Zittern durchfuhr sie und automatisch senkte sie die Stimme. „Mein Bruder arbeitet bei der Polizei und erzählte mir von äußerst unschönen Leichenfunden oder Verbrechern, die ganz plötzlich verschwunden sind, sobald der Herr von Weizsäcker sein Interesse an dem Fall beurkundet hatte.“
 

„Verstehe“, antwortete Carina und das tat sie tatsächlich. Anscheinend handelte es sich bei Diederich von Weizsäcker um die deutsche Version von Ciel Phantomhive. Der Kaiser hielt sich also ebenfalls einen Wachhund…
 

„Vielen Dank für die Auskunft, aber ich habe keinesfalls vor dort hinzugehen. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Die Lüge kam ihr mühelos über die Lippen und sie lächelte der Gastwirtin noch einmal freundlich entgegen, bevor sie sich erhob und zurück zu ihrem Zimmer ging. Dort schnappte sie sich allerdings nur ihren Mantel und ihr Katana, bevor sie das Fenster lautlos öffnete und sicher auf dem Boden der darunter verlaufenden Straße landete. Im gleichen Moment machte die Seelensammlerin sich für die Menschen unsichtbar und marschierte in Richtung Stadtrand davon. Es wurde Zeit, dass sie der Familie von Weizsäcker einen unangekündigten Besuch abstattete.
 

„Verdammt noch mal. Sie hat wirklich nicht übertrieben, als sie „anstrengende Anhöhe“ sagte“, stöhnte Carina und versuchte den aufkeimenden Schmerz in ihren Waden zu ignorieren. Schweiß stand auf ihrer Stirn, obwohl hier in Deutschland wahrlich keine Sommertemperaturen herrschten und es immerhin schon Juli war. Mit flinken Fingern knöpfte sie sich den dünnen Mantel auf, damit ein wenig Wind darunter fahren konnte. Warum zum Teufel konnte der Typ nicht einfach mitten in Baden-Baden leben? Nein, das wäre ja viel zu einfach! Anscheinend fanden Adelige es toll abgelegen zu wohnen und amüsierten sich darüber, dass Gäste und Besucher erst einmal einen langen Weg hinter sich bringen mussten, bevor sie sie mit ihrer Anwesenheit beehren konnten. Aber in diesem Fall lag der Grund wirklich auf der Hand. Wenn dieser Diederich wirklich als Wachhund des Kaisers fungierte, dann hatte er sicherlich so einiges, was er besser verbergen musste und da bot es sich logischerweise an, etwas weiter weg vom eigentlichen Treiben zu wohnen. Dennoch, wenn man hier zu Fuß hoch musste und leider Gottes keine Kutsche zur Verfügung hatte, dann war das wirklich eine einzige Unverschämtheit!
 

„So langsam könnte ich aber mal da sein. Im Dunkeln würde ich ungern noch hier draußen rumlaufen“, schnaufte sie gedanklich und bemerkte wieder einmal, wie vorsichtig sie durch ihre Schwangerschaft geworden war. Vor ein paar Monaten wären ihr solche Nebensächlichkeiten wie Tages- und Nachtzeiten noch vollkommen egal gewesen. Tja, als Shinigami wurde man wohl doch relativ schnell übermütig, war sich seines Lebens nicht mehr so sehr bewusst wie einst als Mensch.
 

Doch zu ihrer großen Erleichterung kamen nun tatsächlich die ersten Türme des Anwesens in Sichtweite. Carina ging noch einige Schritte und mit jedem weiteren klappte ihr der Mund ein wenig mehr auf. Schließlich blieb sie stehen und betrachtete etwas fassungslos das riesige Gebilde vor sich. „Von wegen „schlossähnlich“. Das Ding ist ein verdammtes Schloss.“ In der Tat ähnelte das Anwesen mehr einem Schloss als einer Villa. Es hatte viele kleine Türme mitsamt Zinnen, mehrere Balkone und eine ziemlich breite Eingangstür, die fast schon einem Tor ähnelte. Umschlossen wurde das Anwesen von einer groß erbauten Mauer, an dessen südlicher Seite eine lange Treppe nach oben führte. Zurechtgeschnittene Bäume und Büsche um die Mauer herum gaben dem Ganzen den letzten Schliff.
 

Carina wollte es nicht zugeben, aber sie war schon ein wenig beeindruckt. Die von Weizsäckers mussten ja Geld ohne Ende haben. Aber das passte genau ins Bild. Sicherlich verdiente man als Wachhund alles andere als schlecht und die Phantomhives hatten immerhin auch nicht am Hungertuch genagt, ganz im Gegenteil sogar. Die Schnitterin setzte sich wieder in Bewegung, doch irgendetwas war seltsam. Je näher sie dem Grundstück kam, desto sicherer war sie sich, dass ein weiterer Shinigami in der Nähe war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich ganz automatisch. Konnte es wirklich sein, dass Cedric hier war? Konnte sie wirklich so viel Glück haben?
 

„Zeit, es herauszufinden“, murmelte sie, atmete innerlich noch einmal tief durch und ging dann mit lautlosen Schritten näher an die Mauer heran, um anschließend mit Leichtigkeit auf sie hinauf zu springen. Ihre Augen glitten ein weiteres Mal über das gesamte Erscheinungsbild des Anwesens. „Am einfachsten wäre es wohl, wenn ich versuche über den Balkon hineinzukommen“, dachte sie und schwang sich noch im gleichen Augenblick mithilfe ihrer Shinigamikräfte nach oben. Der Balkon war nicht sonderlich groß, diente wohl eher nur dazu, um zu rauchen oder ab und zu frische Luft zu schnappen. Schwere Vorhänge vor den Fenstern verdeckten den Großteil des dahinterliegenden Zimmers, doch als Carina näher trat bemerkte sie, dass der Stoff der beiden Hälften nicht richtig zusammengeschoben worden war. Ein schmaler Spalt tat sich in der Mitte auf, war jedoch breit genug um in das Haus hineinschauen zu können. Es schien sich um ein Arbeitszimmer zu handeln. Wie bereits das Anwesen war es prunkvoll eingerichtet. Carina erkannte einen großen Kamin, ein darüberliegendes Ölgemälde, Schränke voller Bücher, einen weich aussehenden Teppich auf dem Boden und einen breiten Schreibtisch, der wenige Meter von den Balkonfenstern entfernt stand. Hinter dem Schreibtisch auf einem gut gepolsterten Bürostuhl saß ein schwarzhaariger Mann, der ihr den Rücken zuwandte.
 

Seine Haare waren dicht an seinen Kopf heran gegelt, ein schwarzer breiter Schnurrbart zierte sein Gesicht und dichte, dunkle Augenbrauen spannten sich unterhalb seiner Stirn. Er war äußerst kräftig gebaut, kleine Fältchen waren hier und da bereits in seinem Gesicht zu sehen. Schätzungsweise war er bestimmt Ende 30, vielleicht auch älter. Seine Pupillen wirkten seltsam klein in seinem breiten Gesicht. Carina konnte sein Profil zwar größtenteils nur von der Seite sehen, jedoch schlich sich sofort eine gehörige Portion Skepsis in ihr Gesicht. „Der sieht ja fast aus wie…Wenn er etwas dünner wäre, dann…“ Sie schüttelte den Kopf. Hatte sich die Autorin des Manga da vielleicht einen kleinen Spaß zulasten der deutschen Geschichte erlaubt? „Tja, ich schätze den Stempel bekommen wir Deutschen nie wieder los, da können wir uns anstrengen wie wir wollen.“ Dennoch, ihr Interesse war geweckt. War das hier vielleicht dieser Diederich von Weizsäcker? Momentan schien er jedenfalls über einigen Briefen zu brüten und verzog immer wieder missmutig das Gesicht, ganz so als ob er sich innerlich fragte, warum er den ganzen Mist überhaupt noch mitmachte.
 

Carina musterte das Zimmer erneut. Er war definitiv allein. Hatte sie sich vielleicht doch geirrt und Cedric war gar nicht- Ein Klopfen an der Tür des Arbeitszimmers unterbrach ihre Gedanken und auch der Kopf des deutschen Aristokraten schoss sofort in die Höhe. „Ja?“, fragte er und die Blondine war überrascht, dass seine Stimme fest und bestimmend klang. Ein älterer Mann, ganz klar der Butler des Hauses, öffnete die Tür und verbeugte sich kurz vor seinem Herrn. „Sir, ihr angekündigter Gast ist nun eingetroffen.“ Ein schweres Seufzen entfuhr dem Schwarzhaarigen. „Und ich hatte die Hoffnung, dass er sich nur einen Scherz erlaubt hat, als er mir dieses Brief schrieb.“ Genervt strich er sich seine glatten Haare noch glatter. „Nun gut, lass ihn herein, Heinrich.“ „Sehr wohl“, antwortete der Butler, verbeugte sich ein weiteres Mal und verschwand wieder aus dem Zimmer. Wenige Sekunden später ertönten Schritte auf dem Gang.
 

Mit wild klopfendem Herzen starrte Carina zur Tür, duckte sich jedoch gleichzeitig ein wenig mehr hinter die Vorhänge, um nicht entdeckt zu werden. Doch jegliches Herzklopfen konnte sie nicht auf den Moment vorbereiten, indem Cedric das Zimmer betrat. Er hatte sich nicht im Geringsten verändert und dennoch fühlte es sich plötzlich so viel intensiver an ihn zu sehen. Den Vater ihres Kindes. Ihre Augen fingen an zu brennen, ihr ganzer Körper wurde von einer einzigen Welle der Zuneigung überschwämmt. Automatisch legte sie sich eine Hand auf den Bauch, spürte sogleich wieder das leichte Flattern unter ihren Fingerspitzen. „Da ist er, dein Papa. Ich hab ihn gefunden. Ich habe ihn tatsächlich gefunden.“
 

Er trug wieder die Kleidung, die er als Bestatter getragen hatte. Der altbekannte Hut saß auf seinem Kopf und seine silbernen Haare verdeckten erneut seine Augen. Er trat dicht an den Schreibtisch heran, ein leicht spöttisches Lächeln auf den Lippen und fasste sich einmal höflichkeitshalber an den Hut. „Diederich, es ist lange her. Seit seinem Begräbnis, nicht wahr? Liegt das wirklich daran, dass der Earl nicht mehr ist, dass du nicht mehr über den Kanal kommst?“ Carina runzelte die Stirn. Begräbnis? Earl? Sprach der Totengräber möglicherweise von Ciels Vater, der vor einigen Jahren bei dem Brand der Villa Phantomhive ums Leben gekommen war? Es wäre immerhin nur allzu logisch, wenn sich der deutsche und englische Wachhund gekannt hätten. Vielleicht waren sie sogar Freunde gewesen? Schulkameraden? Das Alter könnte stimmen…
 

„Oder“, fuhr der Silberhaarige plötzlich fort, während sein Grinsen nun eine Spur gehässiger wurde. „Bist du nur zu fett zum Reisen geworden? Gniihihihii!!“, brach der Undertaker aus heiterem Himmel vollkommen unkontrolliert in lautes Lachen aus, hielt sich den Bauch und stammelte bereits nach einigen Sekunden etwas von „Ich kann nicht mehr!“ Carina verdrehte hinter dem Vorhang die Augen, konnte sich ein leichtes Schmunzeln jedoch nicht verkneifen. Der Bestatter war nach wie vor einfach unmöglich…
 

Logischerweise war der Deutsche alles andere als begeistert von dieser Begrüßung. „Du bist nur hier, um mir das reinzuwürgen, nicht?“, schnauzte er wütend zurück, woraufhin der Shinigami nur noch lauter lachte. „Ich erkenn dich kaum noch wieder! Gnihi!!“ Er griff nach einem Foto, das in einem runden Rahmen auf dem Kaminsims stand und hielt es Diederich vor die Nase. Vier Jungen waren darauf abgebildet, alle in der Uniform des Weston Colleges. „Menschen…Ein Wimpernschlag und schon seht ihr ganz anders aus. Schau, so sahst du mit deinem Idealgewicht mal aus.“ Carina blinzelte überrascht. Diederich von Weizsäcker war in seiner Jugend durchaus attraktiv gewesen, das konnte sie nicht leugnen. Sicherlich waren ihm die Mädchen massenweise hinterher gelaufen. Allerdings hatte er schon damals mit einem recht streng wirkenden Ausdruck in die Kamera geschaut. Neben ihm saß ein weiterer junger Mann auf einem Stuhl, bei dem es sich unverkennbar um Vincent Phantomhive handeln musste. Ciel war seinem Vater wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten.
 

„Sei still!!“, keifte Diederich, während das Wutkreuz auf seiner Stirn immer dicker und bedrohlicher anschwoll. Er wusste, dass das genau die Reaktion war, die sich sein Gegenüber erhoffte, doch er konnte sich nicht beherrschen. Der Aristokrat des Bösen hatte in seiner ganzen Seltsamkeit etwas an sich, was ihn ständig provozierte. Doch natürlich interessierte den Undertaker das nicht die Bohne. Ganz im Gegenteil, er setzte noch einen drauf. „Deinen Sarg solltest du rechtzeitig vor deinem Tod anfertigen lassen. Soll ich gleich mal Maß nehmen?“ „Danke, verzichte“, knurrte Angesprochener zurück und fuhr dabei fast sichtbar aus der Haut. Für einen kurzen Moment kam in Carina der Gedanke auf, dass sie bald auch alles andere sein würde, nur nicht mehr schmal. „Gott stehe ihm bei, wenn er es auch nur einmal wagt mich fett zu nennen.“
 

Doch ganz plötzlich durchfuhr die 19-Jährige ein seltsames Gefühl. Die Stimmung im Raum schien sich mit einem Mal irgendwie verändert zu haben. Der silberhaarige Totengräber hatte sich wieder dem Bild zugewandt und betrachtete es nun genauer; eindringlicher. „Bestimmt“, begann er und hielt sich das Foto näher vor das Gesicht, um trotz seiner Kurzsichtigkeit jegliche Kontur wahrnehmen zu können, „würde der Earl schmunzeln, wenn er uns so sehen würde.“ Diederich schien von der neuen Atmosphäre noch nichts mitbekommen zu haben, jedenfalls lehnte er sich entspannt in seinem Stuhl zurück und schloss mit einem Seufzer die Augen. „Darüber will ich gar nicht nachdenken. Unser Glück, dass er damals das Zeitli…!“, der Deutsche unterbrach sich abrupt selbst und Carina wusste warum. Er hatte ein Auge geöffnet und genau das gesehen, was auch der Schnitterin nicht entgangen war.
 

Tränen tropften auf das Bild, leise und beinahe ungehört. Das lange, silberne Haar hatte sich geteilt und darunter war eines seiner wunderschönen Augen sichtbar geworden, ob nun gewollt oder ungewollt konnte die junge Frau nicht sagen. Eine feine Tränenspur hatte sich auf seiner Wange gebildet, kleine Tröpfchen fielen von seinem Kinn und seiner Nase. Es war eine Szene, die es einem unmöglich machte den Blick abzuwenden. Doch für Carina war es wie ein Schock. Natürlich, Shinigami konnten weinen wie jeder normale Mensch auch, aber bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte sie seltsamerweise nicht einmal in ihren kühnsten Träumen daran gedacht, dass er weinen konnte. Er war doch immer dieser fröhliche, lachende Mann. Und selbst wenn er einmal schlecht drauf gewesen war oder sogar traurig, dann war er dennoch von Tränen weit entfernt gewesen. Nicht einmal, als er mit ihr über Claudia gesprochen hatte, war da der geringste Anflug von Tränen zu sehen gewesen. Was passierte hier gerade?
 

Carina konnte das Leid, den Schmerz in seinen Augen sehen. Es tat ihr beinahe selbst körperlich weh, ihn so zu sehen. Am liebsten hätte sie das Fenster eingeschlagen, die Vorhänge beiseite und ihn in eine Umarmung gezogen. Ihm gesagt, dass er aufhören sollte zu weinen. Ihn getröstet. Doch natürlich konnte sie da jetzt nicht so einfach hineinplatzen. „Armes Ding“, flüsterte der Bestatter plötzlich und strich sanft mit einem seiner langen Fingernägel über das Abbild des einstigen Earl Phantomhives. „Verbrannt bis auf die Knochen… Eine Art von Tod, die nicht…“, er sprach nicht weiter, doch Carina konnte sich den Rest auch so in ihrem Kopf zusammensetzen. Eine Art von Tod, die nicht rückgängig gemacht werden konnte. Vincent Phantomhives Leiche war zu Asche verbrannt, es gab somit keinen Körper, für den der Shinigami eine Seele erschaffen konnte. Nein, der Earl würde unwiderruflich tot bleiben.
 

Aber warum nahm ihn der Tod dieses Adeligen so mit? Warum weinte er sogar um ihn? Sicher, er hatte bestimmt mit ihm zusammengearbeitet, wie auch mit Ciel, aber das allein konnte doch nicht der Grund sein. Carina erinnerte sich plötzlich daran, was sie den Silberhaarigen damals in der Küche des Direktors gefragt hatte.
 

„Was für eine Beziehung hast du zu der Familie Phantomhive?“

„Sag ich nicht~“
 

Schon damals hatte sie es interessiert, warum die Phantomhives ihn so sehr interessierten und schon damals hatte er so ein Geheimnis daraus gemacht. „Dabei ist doch wohl die einzige Person, für die er sich wirklich interessiert, diese Claudia… Aber… Moment mal!“ Eine dunkle Vorahnung traf sie so unvermittelt wie ein Schlag mit dem Hammer. Die bloße Vorstellung erfüllte sie mit Schrecken.
 

Claudia…

Claudia P…

Stand dieses P. etwa für…
 

Sie wurde jäh aus ihren Gedanken herausgerissen, als der Undertaker sich im Arbeitszimmer plötzlich zum Gehen wandte. Anscheinend hatte er noch ein paar Worte mit Diederich gewechselt, die Carina entgangen waren. Doch kurz, bevor er endgültig durch die Tür verschwinden konnte, hielt der deutsche Aristokrat ihn noch einmal zurück. „Das war alles? Deswegen bist du extra zu mir gekommen? Um ein paar blöde Sprüche loszulassen, zu heulen und anschließend unverständliches Zeug vor dich hinzumurmeln?“ Angesprochener blieb stehen, gleich darauf konnte man ein leises Kichern vernehmen. Er drehte sich wieder um, eines dieser umwerfenden, zahnlosen Lächeln auf den Lippen. „Nein. Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.“ Diederich runzelte die Stirn. „Verabschieden? Wieso das denn?“ „Weil ich mir sehr sicher bin, dass du schon bald wieder mit dem kleinen Earl in Kontakt kommen wirst. Und glaub mir, hehe~, dann wirst du es verstehen.“ Mit diesen Worten senkte er noch einmal leicht seinen Kopf und verschwand ohne ein weiteres Wort aus dem Arbeitszimmer.
 

„Der wird auch von Jahr zu Jahr seltsamer“, hörte Carina Diederich noch murmeln, doch sie hatte keine Zeit sich eingehender mit ihm zu beschäftigen. Unter allen Umständen wollte sie es vermeiden, dass Cedric sie jetzt zu Gesicht bekam. Nicht, bevor sie nicht etwas ganz Entscheidendes herausgefunden hatte. Doch wenn sie den Weg nahm, den sie gekommen war, würde sie es nicht schaffen. „Dann halt anders“, dachte sie, konzentrierte sich auf ihr Hotelzimmer und dematerialisierte im nächsten Augenblick ihren Körper.
 

Der ehemalige Schnitter blieb mitten in der Empfangshalle der von Weizsäckers stehen, als er die beinahe unmerkliche Veränderung der Energie in der unmittelbaren Umgebung wahrnahm. „Ein Shinigami?“, schoss es ihm verwundert durch den Kopf und sogleich machte sich eine gewisse Besorgnis in seinem Gesicht breit, was allerdings aufgrund seiner Haare niemand sehen konnte. Was hatte ein Shinigami an einem Ort verloren, an dem niemand gestorben war? „Es sei denn natürlich Diederich bekommt wegen seines zu hohen Blutdrucks plötzlich einen Herzinfarkt“, kicherte er in die Stille hinein und ging nun durch das große Eingangstor nach draußen. Er ging ein Stück an der Mauer entlang, bis er den Punkt erreicht hatte, an dem die Energie noch am stärksten zu spüren war. Böses ahnend hob der Bestatter seinen Blick und schaute nun zum Balkon hoch, der zum Arbeitszimmer hinein führte. Seine Augen verengten sich. Diederich und er hatten zwar über keine wichtigen Details gesprochen, aber allein die Tatsache, dass jemand sie belauscht hatte, gefiel dem Undertaker ganz und gar nicht. Vor allem dann nicht, wenn es sich bei diesem Jemand auch noch um einen Shinigami handelte.
 

„Ich sollte dem wohl besser nachgehen. Wie heißt es doch so schön? Vorsicht ist besser als Nachsicht.“ Der Shinigami konnte noch nicht lange weg sein und sich auch nicht weit weg teleportiert haben, dafür waren die Rückstände der Energie zu gering. Der Silberhaarige schaute in Richtung Baden-Baden, deren ganzes Ausmaß von hier oben gut erkennbar war. Ein schmales Grinsen trat auf seine Lippen. Wenn dieser Todesgott wirklich dachte, dass er ihm so leicht entwichen konnte, dann hatte er sich aber gewaltig getäuscht.
 

Wenn man bedachte wie schwer ihr der Vorgang des Auflösens am Anfang gefallen war, dann konnte Carina nun wirklich stolz auf sich sein. Mittlerweile fiel ihr das Ganze so leicht wie das Atmen und daher kam sie auch Punktgenau in ihrem Zimmer aus. Allerdings beruhigte sie die plötzlich wieder gewohnte Umgebung dieses Mal kein bisschen. Nein, immer noch schossen Wellen der Beunruhigung durch ihren Körper, die sie unmöglich ignorieren konnte. „Ich muss es wissen. Bevor ich meine nächste Entscheidung treffe, muss ich es wissen!“
 

Mit hastigen Schritten lief sie zum Safe, drehte den Griff in die eingestellten Richtungen und holte gleich darauf ihr Kommunikationsgerät hervor. Hoffentlich hatte Grell gerade keine Schicht…
 

Es dauerte einige Minuten, bis das Rauschen auf der anderen Leitung verschwand und eine mehr als nur verschlafene Stimme ertönte. „Carina?“, gähnte der Rothaarige, woraufhin die Schnitterin irritiert die Stirn runzelte. „Jetzt sag bloß du schläfst noch, Grell. Es ist schon Nachmittag.“ „Ich hatte Nachtschicht. Und du weißt doch, ich hole jede Minute Schlaf nach. Warum glaubst du wohl sieht mein Gesicht so tadellos aus?“ Carina seufzte und ging ausnahmsweise einmal nicht auf seinen Kommentar ein. „Hör zu Grell, ich melde mich nicht ohne Grund. Du musst etwas für mich besorgen und es mir dann herbringen. Und zwar schnell.“
 

Sie konnte Grells verwirrten Gesichtsausdruck beinahe durch den Hörer hindurch sehen. „Ich soll nach Deutschland kommen? Ist das nicht ziemlich riskant?“ „Wenn dich einer entdeckt, dann sag eben du wolltest dich mal nach den Wellness Angeboten hier in Baden-Baden erkundigen. Glaub mir, das nimmt dir jeder ab.“ „Na schönen Dank auch“, echauffierte sich der Reaper. „Was soll ich dir überhaupt ach so Wichtiges bringen, dass du dich vorsätzlich in die Gefahr begibst entdeckt zu werden?“
 

Carina zögerte einen Moment, dann sagte sie: „Den Stammbaum der Familie Phantomhive.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  lula-chan
2017-09-25T14:05:21+00:00 25.09.2017 16:05
Ein tolles Kapitel.
Endlich hat sie ihn gefunden und dabei auch noch so etwas interessantes herausgefunden. Das verspricht auf jeden Fall spannend zu werden.
Ich freue mich schon auf das nächste Kapitel.

LG


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