Dead Man Walking von thelastbird (Totgeglaubte leben länger) ================================================================================ Kapitel 2: Zurück in die Zukunft. --------------------------------- "I don't want to wait anymore I'm tired of looking for answers Take me some place where there's music and there's laughter"   First Aid Kit, "My Silver Lining"     "Wir sind fast da." Ich hebe den Kopf, aus meinen abschweifenden, verwirrenden Gedanken gerissen und betrachte mit gerunzelter Stirn Frankys selbstsicheres Gesicht. Kurz frage ich mich, woher er das wissen will, denn wir laufen nun seit einigen Stunden durch diesen dicken Nebel, ohne auch nur mehr als ein paar Grashalme und ebene Erde gesehen zu haben, doch ich zweifle seine Aussage nicht an. Wir haben den Rest unserer Reise in einvernehmlichem Schweigen verbracht und ich hatte eindeutig zu viel Zeit, um nachzudenken. Jede Antwort, die ich mir geben kann, wirft mindestens zwei neue Fragen auf, und das ist kein wirklich angenehmes Gefühl. Mein Verstand will sich gegen die neuen Eindrücke und gegen instinktive Wahrnehmungen wehren, will nicht glauben und nicht begreifen, dass ich nicht nur 'nicht zu Hause' bin, sondern verteufelt weit entfernt davon zu sein scheine. Örtlich, zeitlich, dimensional – einfach in jeder Hinsicht. Das hier ist nicht nur nicht meine Welt, es ist auch nicht meine Epoche. Das spüre ich, ohne es aus dem Mund von jemandem gehört haben zu müssen. Es fühlt sich einfach falsch an, als wäre ich ein Störkörper im großen Gefüge. Vielleicht bilde ich mir das hier alles nur ein? Vielleicht träume ich tatsächlich und kann einfach nicht erwachen? Ich kann zwar ganz deutlich den Wind auf meiner Haut und die Kälte unter meinen Kleidern spüren, aber ist das wirklich ein Indikator für Realität oder nur für einen ziemlich lebhaften Verstand?   Ich höre eilige Schritte hinter mir, Sanji schließt zu mir auf, das erste Mal seit unserer gemeinsamen Reise, und betrachtet mich interessiert aus den Augenwinkeln. Ich fühle mich unwohl unter seinen forschenden Augen, gestatte es mir aber nicht, das nach außen zu tragen. "Erzähl mir von diesem Ort." Ich blinzle verwirrt. "Welchen Ort meinst du?" "Dieses ... dieses Eng-land, von dem du gesprochen hast." "Oh." Die Betonung in Sanjis Stimme bringt mich kurz zum Schmunzeln, bevor ich überlege, wie ich einem völlig Unwissenden ein ganzes Land näherbringen kann, ohne mich in Einzelheiten zu verlieren. "Also. England ist ... erst einmal eine Insel. Eine ziemlich große Insel. Also, eigentlich ist England nur ein Teil einer großen Insel. Sie ... sie liegt im atlantischen Ozean und ..." "Ozean?" "Vielleicht würdet ihr das als 'großes Wasser' bezeichnen." "Ah." "Ich bin mir nicht ganz sicher, was du von mir hören willst. Man sagt, dass es dort sehr viel regnet, und die Menschen seien schlecht gelaunt und hätten einen seltsamen Geschmack." "Gibt es Städte dort?" "Klar. Eine ganze Menge. London zum Beispiel, die Hauptstadt." "London ... ist das groß?" "Mhm. Oh, es gibt eine Königin dort. Eine königliche Familie, besser gesagt. Es gab eine Zeit, da hatte sie das Sagen über England und alle Kolonien ... aber das ist lange vorbei. Mittlerweile herrscht dort die Demokratie, wie fast überall in ... in ... also, in der neuen Welt." Ich habe wirklich keine große Lust, Sanji erklären zu müssen, was ich mit 'Europa' meine. "Demokratie?" Oh verdammt. Nicht nur ich scheine gerade eine völlig neue Welt zu entdecken und seltsame Worte zu hören. Sanji sieht mich an wie den Stein der Weisen. "Äh, ja. Das bedeutet, dass das Volk entscheidet, was passiert. Indirekt. Man ... man wählt quasi ein Oberhaupt, okay? Man stimmt ab, und der mit den meisten Stimmen gewinnt. So ungefähr. Und der entscheidet dann, was gemacht werden soll." Sanji runzelt die Stirn und legt den Kopf auf die Seite, was ihn wie einen nachdenklichen Schuljungen wirken lässt. "Klingt irgendwie ziemlich gefährlich.", murmelt er schließlich. "Ich meine ... woher weiß man, dass der, den man wählt, auch das Richtige tut?" Die Frage finde ich so klug, dass ich den Blonden verblüfft mustere und schließlich grinsen muss. "Tja, das weiß man eigentlich nicht so genau. Das ist ja das Problem an der Sache." "Hm." Damit scheine ich ihm genug zum Nachdenken gegeben zu haben. Sanji wendet den Blick ab, starrt zu Boden und wirkt tief in Gedanken versunken – aber das ist mir nur Recht. Ich hätte vielleicht noch gern gefragt, wie hier in Nowhere geregelt wird, wer das Sagen hat, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich dann in neue Informationen eingeweiht werde, die mich komplett überfordern würden. Außerdem tut es gut, an dem festzuhalten, was ich weiß. Es ist tröstlich.   Ich wende mich gerade vom grüblerischen Gesicht meines Nebenmannes ab und betrachte wieder Frankys Rücken, als dieser einen zufriedenen Laut von sich gibt und die Magnetnadel, die er während all der Zeit nicht losgelassen hat, in seinem Mantel verschwinden lässt. "Home sweet home. Willkommen in unserem Unterschlupf, Zoro." Ich will gerade fragen, wo er denn bitte sein angepriesenes zu Hause sieht, ich sehe nichts weiter als graue Schwaden, da lichtet sich der Nebel so plötzlich, als hätte ein starker Windhauch ihn einfach bei Seite gepustet. Und was ich zu Gesicht bekomme, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Vor uns, sich weit erstreckend und in einiger Entfernung wieder im Nebel verschwindend, liegen Ruinen. Ruinen, die schon so unfassbar alt und zerfallen sind, dass man sie fast nur noch als Unebenheiten im Erdboden ausmachen kann. Hier und da ragen noch Mauerteile in die Luft und wenn man genau hinsieht, kann man grobe Umrisse von ehemaligen Bauten erkennen, doch es ist verdammt schwer, überhaupt etwas in diesem Gewirr aus Erde, Stein und altem Holz auszumachen. Knochige, blätterlose Bäume stehen auf der Fläche verteilt, doch Gras und etwas, das ich entfernt als Efeu bezeichnen möchte, ranken und wuchern auf allem, was einmal von Menschenhand erbaut worden sein könnte. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und sehe mich mit großen, ungläubigen Augen um. Während Franky fröhlich plappernd weiter marschiert, bleibt Sanji neben mir stehen und sieht zu mir auf. "So hattest du es dir nicht vorgestellt, oder?" "Nein, ich ... ich hatte mir gar nichts vorgestellt.", murmle ich langsam. "Das ist es nicht. Was ... was war das hier mal?" "Keine Ahnung. Eine Stadt vielleicht?" "Es war schon so, als ihr hier ankamt?" "Es ist schon immer so gewesen. Wir wissen nichts von diesem Ort, zumindest nichts von seiner Vergangenheit. Diese Ruinen gibt es überall in Nowhere. Man stolpert förmlich darüber, egal wo man hingeht. Aber sollte es Aufzeichnungen geben, können wir sie nicht lesen, und sollte es einmal Geschichten gegeben haben, sind sie lange vergessen. Diese Ruinen sind älter als jedes Gute-Nacht-Märchen, das hier kursieren könnte." Ich nicke langsam. Die Beschaffenheit und die Rückeroberung durch Natur und Wetterumstände lassen darauf schließen, dass Sanji durchaus Recht haben könnte. Dieser Ort ist uralt, älter als jede menschliche Lebensspanne. "Komm." Ich spüre die Finger des Blonden, die sich auf eine seltsam sanfte Weise um mein Handgelenk schließen, bevor er nach vorne deutet und mich wieder loslässt. "Wir sind noch nicht ganz da." Wie durch ein unsichtbares Band verbunden folge ich dem Kleineren, vorbei an Steinresten und über Platten hinweg, die ganz entfernt an ein Straßenpflaster erinnern könnten, wären sie nicht aufgeplatzt und uneben. Eiskalte Schauer jagen mein Rückgrat hinab. Es kommt mir vor, als würde ich in meinen eigenen, zerbrochenen Erinnerungen stehen, als würde mich jeder künstlich geformte Stein leise auslachen, meinen Verstand verhöhnen. Franky hat gar nicht gemerkt, dass wir uns entfernt haben. Er erzählt gerade freudestrahlend von einem köstlichen Abendessen, das er sich einverleiben möchte, als wir ihn wieder aufholen. Bei unseren schnellen Schritten dreht er sich stirnrunzelnd um, blickt uns kurz in die Gesichter, dann zuckt er nur mit den Achseln und deutet auf etwas, das für mich nach einem Loch im Boden aussieht. "Da ist es." Je näher wir kommen, desto deutlicher kann man erkennen, dass das vermeidliche Loch vielmehr ein Eingang ist. Steinerne Treppen unbestimmbaren Alters führen hinab in eine Dunkelheit, die mich unwillkürlich an mein Grab erinnert, dem ich vor nicht all zu langer Zeit entstiegen bin. Kurz sträubt sich mein Innerstes, auch nur einen Fuß dort hinein zu setzen, doch mein Verstand siegt. Franky beginnt schon mit dem Abstieg, als ich den Treppenabsatz erreiche. "Wohin führt dieser Tunnel?", frage ich an Sanji gerichtet. Der wirft mir einen Blick zu, als wäre ich dümmer, als er gedacht hätte. "Zu unserem Versteck, du Schnelldenker. Denkst du, wir campen hier oben zwischen den Ruinen? Da müssten wir uns ja nur Äpfel zwischen die Zähne schieben, um vollends wie auf dem Präsentierteller zu wirken." Er macht eine ungeduldige Bewegung hinab. "Na los. Keine Angst, ich bin direkt hinter dir.", feixt er grinsend, als ich die Stufen hinab nehme. Mein vernichtender Blick sorgt nur dafür, dass sich sein gehässiger Ausdruck vertieft. Ich weiß absolut nicht, was ich über diesen Kerl denken soll. Es ist seltsam, denn so schnell wie ich Franky durchschauen konnte, umso schlechter kann ich es bei dem Blonden. Er ist ein Buch mit sieben Siegeln, und je wütender mich seine Aussagen machen, desto interessierter bin ich daran, zu erfahren, was er wirklich ist.   Tatsächlich ist der Tunnel gar nicht so dunkel, wie ich gedacht habe, denn er endet recht schnell in einem matt erleuchteten Raum. Kleine Öllampen dienen dazu als Lichtquelle, hängen an den steinernen Wänden. Ich lege eine Hand auf eine der Gemäuer und ertaste Kälte und Nässe. Moosiger Pilz wächst in den Ecken, vermutlich Schimmel oder etwas Ähnliches. Die Luft ist abgestanden, es riecht nach feuchtem Holz und muffigem Keller. Ein steinerner Bogen, der wohl einmal der Rahmen einer Tür gewesen ist, führt ins nächste Gewölbe. Während das erste Zimmer noch recht klein und vollkommen leer gewesen ist, trifft mich im zweiten fast der Schlag. Er ist nicht nur deutlich größer, er ist gigantisch. Dicke, schwere Metallverstrebungen reichen vom Boden bis zur Decke, halten das Gewicht des Gemäuers und schützen vor einem Einsturz der steinernen Decke. Bis zum anderen Ende sind es mindestens 50 Schritte, und an jeder Stütze hängt eine kleine Öllampe, die alles erhellt. Die Decke ist nicht besonders hoch, Franky kann mit seiner hünenhaften Gestalt mit ausgestreckten Armen hinaufreichen, aber das sorgt für keinen Abbruch der unfassbaren Atmosphäre. Der eigentliche Hammer aber ist, dass an jeder Wand und zwischen vielen Verstrebungen, groß und schwer und in ein geisterhaftes Licht getaucht, Regale stehen. Sie bestehen aus dunklem Holz, wirken massiv, fast schon wie für die Ewigkeit. Viele sind völlig leer, werfen riesige Schatten zwischen die Öllampen und haben augenscheinlich keinen wirklichen Sinn mehr. Aber in einigen finden sich, fein säuberlich aufgereiht und teilweise sogar nach Größe oder Farbe sortiert, Bücher. Ich habe auf viele Teile des Raumes keinen Einblick, da die vorderen Regale den Blick versperren, doch je weiter ich in das Gewölbe eintauche, desto klarer wird das Bild. Das hier war einmal eine Bibliothek. Vielleicht nur der Keller davon, aber hier wurden Schriftstücke aufbewahrt. Bei näherer Betrachtung erkenne ich, dass das Holz der Möbel stark angegriffen ist. Die Nässe, die im Vorraum herrscht, setzt sich hier fort und frisst sich in die Substanz. Vermutlich würden die meisten Bretter nicht einmal mehr leichtem Druck standhalten. Doch gerade die, die weiter mittig stehen, an denen ich vorbeigehe, als ich Franky und Sanji weiter nach hinten folge, sind recht gut erhalten und gefüllt. Mein hektischer Blick tastet eilig die Buchrücken ab, die ich erkennen kann, doch viele sind verblichen und lassen kaum eine Ahnung darauf zu, was sie beinhalten.   Im hinteren Teil des Raumes, der deutlich länger ist als er in die Breite geht, stehen nur noch Regale an den Wänden entlang, das Innere wurde freigeräumt oder war vielleicht auch nie möbliert. Auf dieser Fläche, auf dem kalten Boden sitzend, umzingelt von noch mehr dieser seltsamen Öllampen, hocken einige Gestalten, die aufmerksam den Blick heben, als Franky und Sanji vor mir die Szene betreten. Zuerst bleibt es völlig still, und ich halte gespannt den Atem an, während viele fremde Augenpaare auf uns ruhen. Ich zähle drei Männer und im hinteren Teil der Fläche, an einem komplett aus Metallschrott zusammen gezimmerten Ofen stehend, in dem ein kleines Feuer flackert, zwei Frauen. Rostige, alte Rohre führen von der Wärmequelle ausgehend an der Wand hinauf und verschwinden im Gemäuer. Die Temperatur hier ist deutlich angenehmer als oben, und ich kann spüren, wie meine Haut kribbelt, als würde das Leben in jede Zelle zurückkehren. Es vergehen vielleicht 3, vielleicht 4 Sekunden, dann erhebt sich ein schwarzhaariger Junge mit einer gut erkennbaren Narbe unter seinem linken Auge, während die Anderen ihre Blicke nun auf ihn richten, als wäre seine nächsten Schritte ausschlaggebend für die ganze Gruppe. Kaum einen Augenblick später bin ich mir sicher, dass dem auch so ist. Er tritt an Franky heran, verzieht den sowieso schon breiten Mund zu einem noch viel breiteren Grinsen und schließt seinen Kameraden fest in die Arme. Er wirkt unfassbar kindlich auf mich – er hat die unbedarften und offenen Bewegungen eines Heranwachsenden, der noch nicht so viel von der Welt gesehen hat, um darauf zu achten, wie es seine Füße setzt. Sein Lächeln hat diesen unvergleichlich unverwüstlichen Charakter, als wäre die Welt ein einziger Spielplatz, doch seine Augen leuchten wissend. Wer auch immer er ist und was er hier für eine Stellung hat, sie wird hoch angesehen sein. Er weiß, wer er ist, und er weiß, worauf er sich verlassen kann. Und das macht ihn verdammt stark. Vermutlich stärker als jeden einzelnen hier von uns. "Franky. Sanji." Nun wird auch der Blonde einmal umarmt, der das sichtlich trotzig über sich ergehen lässt, als wäre die körperliche Nähe wie eine Stelle, an der man sich nicht kratzen kann. Es stört, aber man kann es eben nicht ändern.   Dann legen sich die aufmerksamen Augen des Jungen unverblümt auf mich und er mustert meine Statur einmal von oben bis unten. "Und ihr habt einen Gast mitgebracht.", entkommt es ihm unbekümmert. Auch mir schenkt er dieses Lächeln, das ich zögerlich erwidere. Die Stimmung im Raum kann man förmlich schneiden, so dick ist sie. Anspannung knistert in der Luft, stellt die kleinen Härchen auf meinen Armen auf. Ich fühle mich unter all den Blicken immer unwohler, versuche es aber so gut wie möglich zu verbergen. Ich weiß immer noch nicht, wo ich hier hinein geraten bin, und offen Schwäche zu zeigen ist vielleicht nicht direkt der beste Weg, um einen Haufen sichtbar bewaffneter Obdachloser zu begegnen. Ich straffe die Schultern und will zu einer Antwort ansetzen, da erhebt Franky die Stimme. Im krassen Gegensatz zur erschreckend guten Laune des Schwarzhaarigen klingt er unruhig und kleinlaut. "Das ist ... also, das ist Zoro. Wir haben ihn auf dem Friedhof gefunden, eine Spanne von hier entfernt. Er lag vergraben in einer Kiste, er ... wir, also ich ... habe ihn befreit. Er sagt, er kann sich nicht daran erinnern, wer er ist und wo er herkommt. Den Namen haben wir ihm gegeben." Im Hintergrund beugt sich ein gebräunter Kerl mit breiten Lippen und einer unfassbar langen Nase zu dem Jungen, der neben ihm sitzt, und flüstert ihm hektisch etwas ins Ohr. Der Zuhörer, klein wie ein Zwölfjähriger, aber mit wilden hellbraunen Haaren und einem ungepflegten Bart, der im verrückten Gegensatz zu seinem sonst so jugendlichen Aussehen steht, nickt hektisch. Am Ofen regt sich eine der Frauen, eine Rothaarige, tritt einen Schritt vor und fixiert mich mit ärgerlich verzogenem Gesicht. "Ah ja. Und da dachtet ihr, ihr bringt ihn einfach mal mit, ja?" Ihre Stimme ist schneidend, fast schon herrisch, und sie verschränkt die Arme vor ihren ziemlich großen Brüsten. Franky sinkt in sich zusammen, was bei seiner Größe noch viel mehr auffällt. Hinter mir murmelt Sanji ein leises "Meine Rede ..." "Also, ich dachte, dass-" "Ach, du hast also GEDACHT. Ist ja wirklich erstaunlich. Hast du dir sehr weh getan dabei?" "Hör zu Nami, er-" "Er ist vor allem eins – eine Gefahr. Ihr wisst nichts über ihn und schleift ihn einfach her, präsentiert ihm unser Versteck?! Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?! Er könnte ein Späher der Raider sein! Ein Informant des Commonwealth! Ein Plünderer!" "Wir haben ihn durchsucht, er hat nichts bei sich, und-" "Ach, und deswegen ist er jetzt harmlos? Habt ihr euch diesen Kerl mal angesehen? Der steht verdammt gut im Futter dafür, dass ihr ihn in einer ... einer Kiste vergraben gefunden habt! Und verletzt scheint er auch nicht zu sein! Da frage ich mich doch – wie ist der in die Kiste gekommen? Und wieso hat er verdammt nochmal grüne Haare?!" Das nächste Wort, ein verdutztes "Was?", entkommt nun mir, als ich mir in meine eigene Mähne packe. Sanji, der neben mich getreten ist, sieht verwirrt zu mir auf. "Das weißt du nicht?", fragt er mich leise. "Woher denn?!", zische ich ihn wütend an, dann zupfe ich mir eines meiner Haare vom Kopf und halte es zweifelnd vor mich. Tatsache. Dunkelgrün. Also das wird ja wirklich immer verrückter hier. "Nami, jetzt hör mir doch erst einmal zu, er-", versucht es Franky erneut, doch die Rothaarige unterbricht ihn wieder mit einer abschneidenden Handbewegung. "Ich werde dir sicher nicht zuhören! Ihr bringt uns hier alle in Gefahr! Wir werden umziehen müssen, und ihr wisst genau, wie schwer es war, diesen Ort zu finden! All das nur, weil ihr gehirnamputierten Vollpfosten GEDACHT habt -" "Er kann lesen!"   Erneut kehrt diese mächtige, knisternde Stille ein, und nun scheine nicht nur ich, sondern alle Anwesenden die Luft anzuhalten. Einzig der Schwarzhaarige, der sich während des ganzen Streits nicht bewegt hat und mich weiterhin so unverhohlen ansieht, lässt sich nichts anmerken. Er fasst sich kurz in den Nacken, als müsste er einen Moment nachdenken, dann überbrückt er den Abstand zwischen uns und stellt sich direkt vor mich. Seine Augen liegen fest und furchtlos in meinen und ich kann nicht anders, als eine große Portion Respekt für ihn zu empfinden. Während die Anderen, ausgenommen Franky und vielleicht Sanji, mich für eine reale Bedrohung halten, scheint er einen völlig anderen Blick auf mich und die Welt zu haben. Und das imponiert mir sofort. Er hüllt sich noch einen Moment in undurchschaubares Schweigen, dann lächelt er plötzlich. "Hallo.", entkommt es ihm, als wären nur er und ich hier im Raum. Ich straffe erneut meine Schultern und nicke knapp. Wenn ich hier jemanden wirklich überzeugen muss, dann ihn. Soviel ist sicher. "Hallo.", antworte ich so klar und ruhig, wie es mir möglich ist. "Du kannst dich an nichts erinnern?" "Nein." "Nicht mal an deinen Namen?" "Richtig." "Aber du kannst lesen." "Ich denke schon. Nicht jede Sprache, aber ... ich kann lesen." "Beweise es." Diese zwei Worte reichen aus, um die zweite Frau im Raum, eine Dunkelhaarige mit rabenhaften Augen und einer zierlichen Gestalt, von ihrem Platz zu lösen. Mit schnellen Schritten durchquert sie den freien Platz, tritt an eines der gefüllten Regale heran und zieht ein schwarz gebundenes Buch heraus, ziemlich groß, was mich zuerst auf ein Sachbuch schließen lässt. Sie tritt an mich heran, starrt mir erst in die Augen, spricht eine wortlose Drohung aus, die ich nicht ganz verstehe, dann legt sie den Einband in meine ausgestreckten Hände. Bevor ich hinunter sehe, atme ich einmal tief durch. Das hier ist meine Feuerprobe. Sollte ich nicht lesen können, was auf diesen Seiten geschrieben steht, darf ich vermutlich gleich wieder gehen – oder Schlimmeres. Im Endeffekt würde es wohl so oder so meinen Tod bedeuten. Ich kenne diese fremde Welt nicht, in die ich hinein gestolpert bin, aber unbewaffnet und allein ist es selbst in vielen Teilen meiner eigenen Realität ziemlich gefährlich. Wie das hier aussieht, möchte ich mir gar nicht so genau ausmalen. Den vielen seltsamen Worten der Rothaarigen nach zu urteilen gibt es hier ja mehr als genug Gefahren, die auf einen lauern könnten. Ich sehe also hinab, muss aber gleich feststellen, dass auf den Einband nichts gedruckt wurde. Einfach nur schwarze, verstärkte Pappe, wirklich erstaunlich gut erhalten für die Zustände hier unten. Ich klappe das Buch auf, betrachte die erste Seite – und lese. "Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste, und der Revolvermann folgte ihm."   Worte. Buchstaben. Arabische Schrift. Mein Herz beginnt vor lauter Aufregung und Überforderung gegen meine Rippen zu donnern, während ich mit bebender Stimme fortfahre. Gedanken schießen wie Blitze durch meinen Schädel, doch jeder einzelne Satz nimmt mich auf einmal gefangen. "Die Wüste war der Inbegriff aller Wüsten; sie war riesig und schien sich in alle Richtungen Parseks bis zum Himmel zu erstrecken. Weiß, grell, konturlos, abgesehen vom schwachen, dunstigen Schimmer der Berge -" Plötzlich umfassen die langen Finger der Dunkelhaarigen die Seiten und sie entreißt mir das Buch so heftig, als wäre ich im Inbegriff gewesen, es ihr zu stehlen. Ihre Augen sind schmal, unsicher, suchend. "Du lügst.", zischt sie, und ihre Stimme trieft nur so vor Wut. "Du lügst!" Neue Bewegung kommt in die Gruppe. Franky und Sanji starren erst mich, dann mein Gegenüber mit überraschtem Blick an, die Rothaarige wirft stöhnend die Hände in die Luft und die beiden am Boden sitzenden jungen Männer rücken unmerklich nach hinten. Ich dagegen starre immer noch auf meine Hände hinab und kann nicht glauben, was gerade passiert ist. Natürlich habe ich gehofft, lesen zu können. Aber dass ich hier, an diesem Ort, in den Ruinen einer alten Bücherei mitten im Nirgendwo, irgendwo in einer verdrehten Dimension meiner eigenen, gerade dieses Buch finde, das kommt mir nicht wie ein Zufall, sondern wie Schicksal vor. "Er lügt?", fragt Franky nun vorsichtig nach. "Was meinst du damit, Robin?" "Das kann nicht sein!", faucht die Angesprochene nun lauter und drückt den Einband an ihre Brust, als müsse sie ihn schützen. "Das ist eine lang verlorene Sprache! Niemand kann sie lesen!" "Ich ... ich kenne das Buch." Meine Worte durchschneiden den neu aufkommenden Konflikt wie mit einem Messer. Sofort drehen sich alle Köpfe wieder zu mir. Nur sehr langsam kann ich den Blick von meinen leicht zitternden Fingern lösen. Vorbei ist es damit, keine Schwäche zeigen zu wollen. Ich bin komplett überfordert. Aber Tatsache bleibt Tatsache. "Es ... es heißt 'Schwarz'. Ein Mann namens Stephen King hat es geschrieben. Es geht um ... um Roland von ... Roland von Gilead. Einem Revolvermann, der den Traum verfolgt, irgendwann einmal den-" Die Ohrfeige, die mich völlig unvorbereitet trifft, hallt laut an den Wänden wieder und klingt so, als wäre eine ganze Kaskade von Schlägen auf mich nieder geprasselt. Die fremden Adleraugen vor mir schwimmen in Tränen, dann dreht sich die Frau mit einem Ruck von mir weg und eilt davon, vorbei an den Regalen und verschwindet im Vorraum. Mit geöffnetem Mund packe ich mir an die pochende Wange. Ich verstehe nicht, womit ich sie so unfassbar verletzen konnte. Ich kann lesen, ja. Aber während Franky das noch in faszinierte Plapperstimmung versetzt hat, scheine ich hier eine echt große Ader getroffen zu haben. Und ich weiß nicht einmal, wieso. Ich kämpfe noch mit Überraschung, Verwirrung und dem Gefühl, hier und jetzt einfach ohnmächtig zu Boden fallen zu müssen, damit ich die Frage wo, wann und wie ich hier eigentlich bin nicht mehr beantworten brauche, da schiebt sich wieder der Junge mit der Narbe unter dem Auge vor mich und betrachtet meine immer noch leicht schmerzende Wange, die ich mir weiterhin halte, mit bedauerndem Blick. "Tut mir Leid, Zoro. Robin kann ziemlich temperamentvoll werden." Anstatt etwas zu erwidern, nicke ich nur blinzelnd. Zu mehr bin ich gerade nicht in der Lage. "Aber offenbar hast du nicht gelogen. Du kannst lesen." Einen kurzen Augenblick fragt sich ein noch einigermaßen aktiver Teil meines Hirns, wie Robins Wutanfall diese These denn nun untermauert hat – schließlich hat sie mich der Lüge bezichtigt – aber auch das kann ich gerade nicht klären. Noch einen Moment mustert mich der Schwarzhaarige, dann grinst er zufrieden und macht eine einladende Handbewegung hinter sich. "Willkommen bei der Strohhutbande, Kumpel." Es ist schon dunkel, als ich aus dem schmalen Tunnel hinaus an die frische Luft trete. Ruffy, so stellte sich der Anführer der Gruppierung schließlich vor, hatte gleich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mich als neues Mitglied der Bande nahtlos einzugliedern. Ich bekam einen Schlafsack, der ein wenig nach Schweiß roch, aber seinen Dienst tat, einen Platz an dem ich ihn ausbreiten konnte zwischen Franky und Sanji und einen alten Metallbecher. Dieser wurde kurz darauf von der Langnase, der mir mit zitternder Stimme verriet, dass er Lysob heiße, mit einem auf dem Ofen erwärmten Getränk gefüllt, das schmeckte wie mehrfach ausgekotzt, aber so viel Alkohol enthielt, dass ich ein wenig aus meiner Schockstarre erwachte. Robin kehrte erst deutlich später zurück zur Gruppe, sah mich aber weder an noch kam sie mir zu nahe. Sie verschwand nachdem sie ihren Becher gefüllt hatte, in eine der Regalreihen und tauchte nicht wieder auf. Ich wagte es nicht, sie anzusprechen, und niemand schien mir den Vorfall erklären zu wollen. Es bildete sich ein Kreis um mich, selbst Nami wurde nach einiger Zeit zutraulicher, auch wenn sie weiterhin misstrauisch blieb, und man versuchte mich zum Reden zu bringen, doch recht schnell merkten alle, dass da nicht besonders viel zu holen war. Meine Sätze blieben knapp und ungenau. Ich war einfach noch zu sehr gezeichnet von dem, was mir langsam klar wurde, als dass ich mich jetzt auf eine fröhliche Geschichte über mich und meine Welt einlassen konnte. Schließlich entschuldigte ich mich mit dem Wunsch nach frischer Luft – und diese ziehe ich nun dankbar tief in meine Lungen. Ob ich all das hier träume? Liege ich vielleicht im Koma, gefangen in meinem eigenen Kopf? Oder ist das hier wirklich alles real? Ich weiß es nicht. Ich weiß im Grunde gar nichts mehr. Ich weiß nur, dass ich ein Buch von Stephen King im Keller einer verfallenen Bibliothek gefunden habe. Sicherlich kann das einiges bedeuten und muss nicht darauf hinaus laufen, was mir gerade im Kopf schwebt, aber mit meinem zugegebenermaßen sehr beschränkten Vorstellungsvermögen kann ich einfach nicht daran glauben, dass es eine Parallelwelt gibt, direkt neben der meinen, in der es ebenfalls einen Mr. King gibt, der Geschichten über Roland und den dunklen Turm schreibt. Die Ruinen. Die Bücher. Die Worte. Vielleicht liege ich wirklich grandios daneben, aber so langsam kommt mir der Verdacht, das ich irgendwie ... in die Zukunft gereist bin. Schade nur, dass mir kein Marty McFly mit seinem Professorkumpel zur Seite steht, der mir mal eben die Lage erklärt. Ich lasse mich mit einem lauten Seufzen auf den Hosenboden sinken, drehe meine mitgebrachte Tasse zwischen den Fingern und sehe hinauf zum nun klaren Himmel. Sterne blitzen mir entgegen und ich betrachte einen Moment mit leerem Kopf diese zeitlose Schönheit, als ich Schritte höre. Ich brauche einen Moment, bis ich die Gestalt, die aus dem Tunnel in die Dunkelheit tritt, als Sanji erkenne. Der Blondschopf hebt eine mitgebrachte Lampe zu seinem Gesicht, lächelt kurz, dann sinkt er neben mir in den Schneidersitz. "Schmeckt's dir?" "Hm?" "Der Stoff." Er tippt mit einem Finger gegen meinen Becher. "Oh. Hm. Nein. Aber es tut seinen Dienst." "Wohl wahr." Wir schweigen einen Moment, und es ist nicht schneidend, nicht drückend oder angespannt, sondern ruhig und einvernehmlich. Nach einiger Zeit räuspere ich mich leise. "Wieso hat sie mich geohrfeigt?" "Robin? Tja, wie erkläre ich dir das ... Du hast gerade mit ein paar Sätzen ihren Traum zerstört." "... Wie bitte?" Sanji seufzt zischend. "Sie kommt aus Hundsfeuer. Hat dort jahrelang die verlorenen Sprachen erforscht. Schon als Kind hatte sie den Wunsch, irgendwann einmal das Geheimnis der Worte zu entschlüsseln. Als wir diesen Ort fanden, glaubte sie, endlich ihrem Ziel näher gekommen zu sein. Tag und Nacht versucht sie, den Büchern ihren Sinn zu entlocken. Aber ich sagte ja bereits – keiner von uns kann lesen. Ich weiß nicht einmal, ob es noch jemanden auf der Welt gibt, der es überhaupt kann. Jedenfalls kann es wohl niemand hier in Nowhere. Sie wollte die Erste sein. Sie wollte der Menschheit das Wissen wiederbringen, das so lange verloren war. Und dann kommst du durch die Tür, ein völlig Fremder, und liest ihr einfach mal ein paar Zeilen vor. Das muss ziemlich heftig für sie gewesen sein." "Oh." Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ein diffuses Mitleid erfüllt mich. "Ja. Aber du hast es ja nicht mit Absicht getan." "Nein, bestimmt nicht." Wir sehen wieder gemeinsam hinauf in die Sterne, die Stille um uns legt sich sanft auf alles nieder, und es dauert lange, bis Sanji erneut das Wort ergreift. "Du kennst das Buch also?" "Ja." "Schwarz. Klingt ziemlich düster. Worum geht es?" "Um einen Revolvermann. Roland von Gilead. Sein ganzes Leben lang versucht er, den sagenumwobenen dunklen Turm zu finden. Die komplette Geschichte dreht sich darum, aber sie ist verdammt lang. Eigentlich sind es 6 Bücher, nicht eines. Ich habe sie gelesen ... glaube ich. Jedenfalls konnte ich mich gleich daran erinnern, als ich den ersten Satz las." "Das ist doch gut. Dass du dich erinnerst, meine ich." "Ja. Ich denke schon." "Wie endet die Geschichte denn?" Ich werfe meinem Nebenmann einen belustigten Blick zu und ziehe eine Augenbraue in die Höhe. "Gute Geschichten werden nur schlechter, wenn man das Ende erzählt, bevor man überhaupt angefangen hat." "Ach, glaubst du, ich könnte vorhaben, sie noch zu lesen?", antwortet Sanji feixend und wir sehen uns einen Moment in die Augen, bevor ich ob dieser wunderbaren Selbstironie auflachen muss. "Nein. Trotzdem kommt es mir falsch vor." "Du könntest mir die ganze Geschichte erzählen." "Jetzt? Aus dem Kopf?" Sanji verdreht gekonnt die Augen. "Nein. Aber wir haben dieses eine Buch. Vielleicht finden wir ja noch die weiteren, die dazu gehören. Du ... du könntest sie mir vorlesen. Ich meine ... wenn du magst." Für einen Moment weicht das Mitleid, das ich immer noch für Robin empfinde, einem sehr warmen, mein Innerstes erfüllenden Gefühl, bevor ich es mehr erschrocken als wirklich beschämt bei Seite schiebe. "Äh, tja. Klar, das kann ich machen." "Echt?" "Mhm. Wieso nicht." "Cool." Es dauert ein wenig, bis Sanji mich wieder ansieht – und mir das erste Mal ein ehrliches, breites Lächeln schenkt.   "Danke. Vielleicht bist du doch nicht so ein großer Idiot, wie ich dachte." Und das ist ja wirklich fast schon sowas wie ein Kompliment. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)