Dead Man Walking von thelastbird (Totgeglaubte leben länger) ================================================================================ Prolog: Ich bin das A und das O. --------------------------------   "Ich bin das Alpha und das Omega der Anfang und das Ende der Erste und der Letzte." Offenbarung 22:13   Als ich die Augen öffne, bin ich in Dunkelheit gehüllt wie in eine warme Decke. Kein Licht, keine Geräusche, nur die tiefe, undurchdringliche Schwärze einer himmelslosen Nacht. Mein Herz schlägt nur sehr langsam in meiner Brust, scheint einen neuen Takt finden zu müssen, erhöht träge seine Geschwindigkeit. Mein erster Atemzug schmerzt in meiner Brust, in meinem Bauch, meine Rippen wehren sich erbost gegen den plötzlichen Druck. Dünne, nasskalte Haut spannt sich um meinen reglosen Körper und ich kann spüren, wie das Blut in meinen Venen und Arterien zu zirkulieren beginnt. Es ist, als wäre ich aus einem sehr tiefen, traumlosen Schlaf erwacht. Nach und nach gewinnt mein Innerstes an Wärme, und die Kälte um mich herum wird deutlicher. Ich bin so sehr damit beschäftigt, das Atmen nicht einzustellen, dass ich erst recht spät bemerke, dass ich auf einer harten und unebenen Unterlage liege. Ich spreize meine Finger, die rechts und links neben mir ruhen, und ertaste raues, sprödes Holz. Die Luft, die ich meinen Lungen entlasse, wird von irgendetwas zurück geworfen und fällt schwer auf mein Gesicht.   Kaum ein Gedanke schafft es, meinen Kopf zu erobern. Weißes Rauschen erfüllt meine Ohren, ein tiefes, allgegenwärtiges Flüstern und Raunen und Zischen, das aus mir selbst zu kommen scheint. Ich hebe meine linke Hand und drücke sie gegen den Widerstand über mir. Noch mehr Holz, alt und wellig, in Planken aneinander gereiht, und die Stille um mich wird mit einem ersten Geräusch, einem leisen Knacken erfüllt, das nichts Gutes verspricht. Etwas rieselt auf mich hinab und mit meiner zweiten Hand ertaste ich Erde auf meinem Oberkörper. Sie ist nass und klumpt leicht, wenn ich sie zwischen Zeigefinger und Daumen zerreibe. Ich kann spüren, wie erste Emotionen ihren Weg zu meinem Denkzentrum finden. Dumpfe Angst vergräbt ihre Zähne in meinen Nacken. Meine Augen wandern hektisch umher, können aber auch weiterhin nichts als Schwärze ausmachen. Mit allen Fingern beginne ich nun, die hölzerne dünne Wand über mir sanft abzutasten, instinktiv wissend, das zu viel Druck mein jähes Erwachen schnell wieder beenden kann. Bin ich erblindet? Wieso liege ich in einer Holzkiste, und wieso befindet die sich auch noch unter der Erde? Ist das hier mein Grab? Aber wenn das hier mein Grab ist, wieso lebe ich dann noch? ... Wer zum Teufel bin ich? Die plötzliche Flut an Gedanken überschwemmt mich und lässt mich völlig überfordert zurück. Ich habe nicht eine einzige Erinnerung, nichts kommt mir in den Sinn, keine Bilder, keine Namen, keine Zahlen, keine tieferen Bedeutungen. Mit wachsender Verzweiflung beginne ich mein plötzlich auf Hochtouren arbeitendes Hirn zu durchkramen, versuche wenigstens Bruchstücke zu finden, die ich wie ein Puzzle zusammen fügen kann, doch Null plus Null bleibt Null. Mein Atem wird hektischer, fällt immer wärmer und schneller auf mein Gesicht zurück. Erde rieselt durch kleine Risse im Holz zu mir herein, es raschelt und rauscht über mir, als wäre alles in Bewegung. Aus Angst und Verzweiflung werden pure Panik. Erste Laute entkommen meiner Kehle, ein ersticktes Keuchen, dann ein leises Wimmern.   Ich will leben. Ich balle meine Hände zu Fäusten und donnere sie mit all der Kraft, die ich aufzubringen im Stande bin gegen das Holz, das mich vor dem Erdreich schützt. Die komplette Kiste erzittert, und das, obwohl ich wirklich nicht besonders viele Energien sammeln kann. Mein Brustkorb brennt, meine Lungen krampfen. "... Hilfe." Meine Stimme klingt unglaublich rau, viel zu leise, als dass mich jemand hören könnte. Wie tief bin ich begraben? Wenige Zentimeter oder einige Meter? Was, wenn die Wand über mir bricht und ich unter tonnenschwerem Gestein begraben werde? Nein. Nein, schießt es mir durch den Kopf, das ist nicht logisch. Das Holz ist spröde, nicht brüchig, aber vermutlich alt. Wären über mir wahre Erdmassen, wären diese schon längst auf mich nieder gestürzt. Entweder, ich liege noch nicht besonders lange hier – oder ich habe eine Chance. So oder so sterbe ich, wenn ich nichts tue. Ob ich nun bei dem Versuch umkomme, mich zu retten, oder dabei, es nicht zu tun, macht keinen besonderen Unterschied. Also kann ich alles auf eine Karte setzen – auch wenn mir das nicht wirklich klug vorkommt, denn ich würde mich in meiner Lage nicht gerade als Glückskind bezeichnen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das nur einbilde, aber die Luft in meinem Sarg scheint dünner zu werden, je mehr ich atme. Das trägt nicht gerade dazu bei, dass ich mich beruhige. Meine Muskeln und Sehnen beginnen, alle Kräfte, die tief in mir schlummern, zu mobilisieren. Die Angst davor, zerquetscht zu werden, weicht der Angst, zu ersticken, und Letzteres kommt mir tatsächlich weniger erstrebenswert vor. Ich hämmere meine Fäuste gegen die Bretter, einmal, zweimal, dreimal. Die Luft, die mir noch bleibt, will ich sinnvoll nutzen. "Hilfe!" Meine Stimmbänder scheinen ebenfalls aus einem tiefen Schlaf zu erwachen, werden aber zunehmend kraftvoller. "Hilfe! Bitte!" Ich kratze mit den Fingernägeln, spüre den ziehenden Schmerz, als sich ein Splitter in meine Haut rammt, habe aber keine Reserven, um ihm weiter Beachtung zu schenken. Ich hole tief Luft, vielleicht ein letztes Mal, ich weiß es nicht, vielleicht ist das hier nun wirklich mein Ende, vielleicht fügt sich nun alles so, wie es sein sollte, und meine Finger graben sich tief in die Maserung, als ich alle noch übrigen Kräfte in meine Stimme investiere. Wenn das hier mein endgültiger Tod sein sollte, kann ich mir wenigstens nicht vorwerfen, es nicht versucht zu haben. Auch wenn das natürlich rein gar nichts ändert.   "HILFE!"   Die Antwort darauf ist ein Beben, das die Erde um meine Kiste herum erzittern lässt. Ein Grollen erfüllt die Luft, als würde Donner über mich hinweg rollen, und es wiederholt sich, immer und immer wieder. Zuerst nur sanft und weiter entfernt gewinnt es an Kraft und Lautstärke, scheint sich meiner Position zu nähern. Neue Panik will mich bewegungsunfähig machen, doch plötzlich wird mir klar, das etwas – oder jemand! - über mir ist. Irgendetwas bewegt sich. Vielleicht nur ein Tier. Aber vielleicht auch meine Rettung. Mein Atem ist mittlerweile nur noch ein schnelles Hecheln und mein Brustkorb fühlt sich an, als wollte er einfach implodieren, doch auch Hoffnung keimt in mir auf. "Hier! Hier!", jappse ich so laut wie möglich. "Hier! Hier unten!" Plötzlich dröhnt es über mir, als wäre nichts als Watte zwischen mir und dem, der die Erde erzittern lässt. "Hörst du das?!" Eine Stimme. Eine menschliche Stimme. Tränen treten mir in die Augen. Ich hole laut Luft. Dankenswerterweise ist davon doch noch mehr da, als ich dachte. "Hier! Hier unten!", wiederhole ich gebetsmühlenartig, nicht fähig in meiner allumfassenden Angst andere Worte zu finden. Die Schritte über mir brechen ab, und nun kann ich hören, wie die Erde über meinem Körper mit viel Kraft bei Seite gescharrt wird. Ich lege die Finger auf die Kistenwand über mir und starre mit aller Macht dagegen, und plötzlich bricht ein nur sehr matter Lichtstrahl durch eine der Ritzen im Holz und fällt auf meinen Körper. Dann noch einer, und noch einer, bis ich mit Lichtflecken besprenkelt daliege. Unglaubliche Erleichterung sorgt dafür, dass ich völlig unkontrolliert zu lachen beginne. Adrenalin flutet meine Adern. "Ach du scheiße." Die Stimme über mir ist männlich, dunkel und energisch. Durch die kleinen Risse kann ich nun Schatten ausmachen, die sich zu bewegen scheinen. Die plötzliche Helligkeit um mich blendet, doch ich kann mir gerade nichts Wunderbareres vorstellen. "Ach du scheiße, da ist einer drin." Ich nicke hektisch, als könnte mich jemand sehen. Frische, kalte Luft zieht zu mir herein. Meine Lungen scheinen vor Freude zu jubeln. "Bitte.", entkommt es mir matt. All die Stärke, die ich in meine Rettung investiert habe, scheint verbraucht. Auf einmal muss ich mich wieder auf so essentielle Dinge wie atmen und blinzeln konzentrieren. "Wer bist du?", schallt es nun zu mir herein. "Zu wem gehörst du?" Die Fragen kommen mir abwegig und ganz nebenbei noch ziemlich unwichtig vor. Kann man mir die nicht stellen, wenn ich endlich im Freien stehe – oder in meinem Zustand eher liege oder knie? Doch als ich nicht antworte, scheint sich über mir auch nichts weiter zu regen, die Schatten scheinen abzuwarten. Ich keuche leise. "Ich ... ich weiß es nicht.", wispere ich in der Hoffnung, laut genug zu sein. Vermutlich würde ich gerade jeden Mord und Totschlag zugeben, nur um endlich meinem Gefängnis entkommen zu können. Erneute Bewegung über mir, leises Gemurmel. "Er weiß es nicht?!", wispert eine neue Stimme, die der Ersten in keinster Weise ähnelt. Sie ist heller, klarer und deutlich bissiger. "Will der uns verarschen?" "Keine Ahnung. Vielleicht weiß er es wirklich nicht. Schlag auf den Kopf oder so.", antwortet mein erster Gesprächspartner nun ebenso leise. Ich bekomme ein wenig das Gefühl in Vergessenheit zu geraten und klopfe träge mit einer Hand gegen das Holz. "Bitte ..." Mehr bringe ich nicht mehr zustande. Alles in mir schreit nach Freiheit. "Das riecht nach Ärger." "Wir können den Armen doch jetzt nicht hier in der Kiste liegen lassen, Sanji." "Und ob wir das können. Denk doch mal mit, Mann! Irgendwer wird ihn hier ja wohl eingebuddelt haben! Und der wird sich sicher nicht freuen, wenn er bemerkt, dass ich-weiß-es-nicht von den Toten wieder auferstanden ist! Wir lassen ihn hier." Oh Gott. Meine Hoffnung schwindet dahin. Ich habe keine Kraft, um eigenständig aus der Kiste zu kommen, selbst wenn sie nicht verschlossen sein sollte und sich die Planken ohne die drückende Erde leicht lösen lassen. Mein Körper will sich kein Stück mehr regen, und ich fürchte, sollte ich einschlafen, wird es das letzte Mal sein. Ich versuche mich zu konzentrieren, versuche zu erfassen, was gerade das Problem ist, neben der Tatsache das ich gerade dabei bin, in einer verdammten Holzkiste mein Ende zu finden. "Bitte.", wiederhole ich und sammle mühselig meine Gedanken. "Ich bin keine Gefahr." "Dass DU keine Gefahr für uns bist, davon gehen wir aus!", höhnt die hellere Stimme hörbar verärgert. "Verdammt Frankie, denk nicht mal daran, ihn raus zu holen!" "Halt die Fresse, Sanji. Hab ich was verpennt, bist du jetzt der Boss?" "Soll das ein Witz sein, du Höhlentroll? Ist das gerade wirklich dein verfickter Ernst?!" "Du kannst mir jetzt helfen oder weiter beleidigte Leberwurst spielen, ist mir scheißegal, klar? Los, geh zur Seite." Die Schatten bewegen sich noch einmal, einer entfernt sich eilig, dann scheint jemand mit purer Körperkraft an den Holzplanken zu ziehen. "Mach die Augen zu da drinnen!" Ich tue, wie mir geheißen, und unter lautem Fluchen und Verwünschungen der helleren, klareren Stimme bricht Brett um Brett über meinem Kopf. Späne und Splitter regnen auf mich hinab, und ich wage es erst, blinzelnd aufzusehen, als das Knacken und Brechen endet und ein Windhauch über meinen Körper fegt, der die feinen Härchen auf meinen Armen aufstellt. Zuerst ist da nichts als ein gleißend helles Licht, so grell, das meine Augen sofort zu tränen beginnen und ich sie immer wieder hektisch schließen muss. Unterbrochen wird diese Helligkeit nur von zwei Gestalten, weiterhin nicht mehr als Schatten für mich, die sich über mich beugen. Ihre Staturen hätten wohl nicht unterschiedlicher sein können. Während der Eine riesenhaft groß und breit ist und eine seltsame Kopfform zu haben scheint, ist der Andere eher zierlich und deutlich kleiner. "Ach du Scheiße.", entkommt es dem Ersten ein drittes Mal. Er klingt ungläubig, geschockt. Ob ich sichtbare Verletzungen habe, die mir noch gar nicht bewusst geworden sind? "Was zum Teufel ..." Eine gigantische Hand legt sich auf meine Stirn, macht aber den Eindruck als könnte sie meinen ganzen Kopf zwischen die Finger nehmen und einfach zerquetschen, wäre ihr danach. "Ich hab's gesagt. Ich hab's gesagt, verdammt." Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Lichtverhältnisse. Ich kann spüren, dass meine Sinne schwinden und versuche mit aller Macht, bei Bewusstsein zu bleiben. Die bissige Stimme gehört zu einem hinter einem dicken Schal verborgenen Gesicht. Blonde Haarspitzen stehen unter einer Wollmütze hervor. Ich kann nichts weiter als eisblaue, mich taxierende Augen und eine schmale Nase erkennen. Die mein Gesicht abtastende Hand gehört zu einem Hünen, der ein seltsam schmales Gesicht, dafür aber eine wilde Haartolle hat, die ich vorher fälschlicherweise als abstrakte Kopfform ausgemacht habe. Seine Arme wirken auf mich dick wie zwei Baumstämme. Meine Augen flattern. "He. He, wach bleiben, okay?" Ich versuche zu nicken, bekomme aber selbst das nicht mehr auf die Reihe. Jetzt, wo ich es aus der Erde heraus geschafft habe, scheint mein Körper der Meinung zu sein, dass ein wenig Ruhe nicht schaden könnte. Kurz umspült mich noch das unbestimmte Gefühl, dass meine Kraft mich normalerweise nicht so im Stich lässt – dann ist es vorbei. Die Dunkelheit hinter meinen Augenlidern ist fast so mächtig wie die einige Momente zuvor in meinem Grab, und ich höre noch ein leises "Komm schon, bleib bei uns!" -   Dann ist es still. 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