Die Ash Connection von nacrate ================================================================================ . Teil I: Die Versammlung . . Kapitel I: In dem Ash nach Hause zurückkehrt . .   16. Dezember 2001. Später Morgen. Oliviana City.   Maike Maple war keine Frühaufsteherin. Wenn sie könnte, würde sie bis zum Mittag im Bett herumliegen; ab dieser Zeit könnte sie dann aufstehen und während eines schönen Mittagessens mit ihren Pokémon spielen. Aber leider verlangte das Leben als Koordinatorin die Teilnahme an Wettbewerben um neun Uhr morgens und Trainingseinheiten am frühen Morgen, solange die Sonne noch nicht am stärksten und austrockendsten schien. Es war noch einfacher gewesen,als sie ihre Reise angefangen hatte, da Max oder Ash ein Kissen nach ihr schmeißen konnten, wenn sie noch nicht aufwachen wollte. Abgesehen davon hatte es der Geruch von Rockos ausgezeichneten Kochkünsten immer geschafft, sie an kühleren Morgen aus ihrem Schlafsack zu locken. Jetzt, wo sie allein war, musste sie selbstdisziplinierter sein. Nichtsdestotrotz hatte sie am vorherigen Abend entschieden, dass ihr verfrühtes Weihnachtsgeschenk an sich selbst aus Ausschlafen bestand. Das Sonnenlicht drang durch die offenen Fensterläden in ihr Zimmer und in ihr Gesicht. Die junge Trainerin öffnete die Augenlider, setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie blickte zur digitalen Uhr auf dem Nachttisch und lächelte. Es war nicht allzu spät am Tag, aber sie hatte trotzdem die Freuden einiger zusätzlicher Stunden Erholung genossen. Wahrlich ein tolles Geschenk an sich selbst. Maike erhob sich von ihrem Bett und wühlte in ihrer Tasche nach frischen Klamotten. Sie zog sich schnell an, wusch sich das Gesicht, putzte sich die Zähne und band sich die Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz bevor sie nach unten ging. Ihre Rivalen, Harley, Solidad und Drew, saßen alle an einem Tisch in der Lobby nahe des erkalteten Kamins. Zufällig waren sie alle hier in Oliviana City, da sie vorhatten, mit dem Schiff zurück nach Hoenn (oder, in Solidads Fall, nach Kanto) zu reisen, um während der Feiertage Zeit mit ihren Familien zu verbringen. Naja, mit Ausnahme von Drew; er hatte ein paar Tage zuvor erklärt, er würde zu Weihnachten in Johto bleiben. Solidad stellte diese Entscheidung nicht infrage, und Harley war es sowieso egal, aber Maike konnte nicht anders, als neugierig zu sein. „Wie kannst du nicht nach Hause nach La Rousse wollen?", hatte sie gefragt. „Das ist doch deine Heimatstadt, oder?" Er schnippte seine Haare zur Seite. „Ja, na und?" „Möchtest du nicht deine Familie sehen?" „Ich möchte eher nicht darüber reden." Der Blick, den sie daraufhin von Solidad zugeworfen bekam, verhieß ihr, es sein zu lassen, und das tat sie. Allerdings sorgte Maike sich um ihn. Drew redete sehr selten über seine Familie, und ebenso selten über seine Kindheit. Er hatte ihnen längst klargemacht, dass das Thema tabu war. Jedes Mal, wenn sie die Sache ansprachen, unterbrach er sie entweder mit einem neuen Thema, oder beendete die Unterhaltung irgendwie. Nichtsdestotrotz hatte Maike aus den paar Malen, an denen er sein Zuhause erwähnt hatte, geschlossen, dass seine Beziehung zu seinem Vater bestenfalls angespannt war. Seine Mutter schien nicht da zu sein, da er nie irgendetwas über sie sagte, und Maike war sich ziemlich sicher, dass er keine Geschwister hatte. In Wahrheit fand Maike seine Situation (auch wenn sie nur ein vages Bild von ihr hatte) ziemlich traurig. Weihnachten alleine zu verbringen ging gegen alles, worum es bei dem Feiertag ihrer Meinung nach wirklich ging. Sie hatte ihm angeboten, ihn nach Blütenburg City mitzunehmen und darauf bestanden, dass es ihrer Familie rein gar nichts ausmachen würde. Aber er hatte abgelehnt und ihr kaum die Gelegenheit gegeben, weiter darüber zu diskutieren. Sie war jedoch noch längst nicht bereit, aufzugeben. Maike rutschte auf den Stuhl neben Drew und lächelte ihn gewinnend an. Drew hob die Augenbrauen und nippte an seinem Kaffee, aber er sagte nichts und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. „Guten Morgen", grüßte sie fröhlich und starrte ihn träge mit halb geöffneten Augen an. Sie legte das Kinn in ihre offene Handfläche. „Morgen", antwortete er. „Du hast ziemlich lang ausgeschlafen." Maike zuckte die Achseln. „Das Schiff fährt erst heute Nachmittag, also dachte ich, ich verwöhne mich mal", erklärte sie. „Egal, wie geht's dir?" Er antwortete nicht und musterte sie kurz. Maike war sowieso schon freundlich (außer er gab ihr einen Grund, sich anders zu verhalten), aber er merkte ihr an, dass sie etwas wollte. Er vermutete, dass er schon wusste, was das war, und er stieß einen Seufzer aus. „Gut. Eigentlich sogar mehr als gut", entgegnete er. „Große Neuigkeiten: Sie haben endlich diese Katastrophe mit dem Sponsoren des Großen Johto Festivals geregelt." Maike richtete sich plötzlich mit einem ehrfürchtigen Blick auf. „Soll das ein Witz sein?" „Nein." Er schob ihr die Zeitung zu, damit die die Schlagzeile auf der Titelseite sehen konnte. „Sie haben es auf den 12. Januar in Ebenholz City gelegt." Maike stieß ein begeistertes Lachen aus und klatschte in die Hände. Johtos Großes Festival hätte eigentlich vor Monaten stattfinden sollen, aber einige Wochen vor den Eröffnungsfeiern wurde bekanntgegeben, dass der größte (allerdings nicht namentlich benannte) Sponsor in letzter Sekunde ausgestiegen war. Wegen der wenigen finanziellen Mittel war das Festival auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Diese Aktion hatte viele Koordinatoren verärgert, die sich für die Teilnahme qualifiziert hatten, da die Verspätung wahrscheinlich in die nächste Saison hineinreichte und den Koordinatoren so einen Nachteil beim rechtzeitigen Sammeln ihrer fünf Bänder für das Große Festival einer anderen Region verschaffte. Sie hatten Recht behalten; als die Zeit verging und sich kein zweiter Sponsor fand, machten viele der Sache ein Ende und verließen die Region. Sogar Drew war nervös geworden und hatte erwägt, das Gleiche zu tun, aber Solidad hatte es geschafft, ihm das auszureden. „Siehst du? Ich hab' dir gesagt, sie würden es klären", sagte Solidad lächelnd. „Ja, hat auch lange genug gedauert", spottete Harley. „Ich glaube, es sind so viele Koordinatoren ausgestiegen, dass es sehr viel weniger Konkurrenz geben wird." „Dann macht es aber keinen Spaß." Maike runzelte die Stirn. „Ich mag es, Konkurrenz zu haben." „Es bedeutet höhere Chancen, das ganze Ding zu gewinnen, Zuckerzwetschge", erinnerte Harley sie. Er stutzte und fragte, dann plötzlich das Thema wechselnd, „Warte, kein Kopftuch?" Maike blinzelte. „Nee, ich hab' heute Morgen beschlossen, mal was Anderes auszuprobieren", sagte sie, während sie eine lose Haarsträhne um den Finger wickelte. Sie hielt inne und machte ein ausdrucksloses Gesicht. „Wieso, sieht es komisch aus?" „Es ist bloß anders." „Ist anders gut?" Sie schien ehrlich besorgt. „Maike, hör auf mit der Panik", fiel Drew ihr trocken ins Wort. „Ich persönlich mag es. Es sieht gut aus." Solidad und Harley tauschten einen verstohlenen Blick und Harley hob kurz die Augenbrauen. Solidad konnte einem kurzen Lachen nicht widerstehen. „Ähm, danke", sagte Maike mit rosa erröteten Wangen. Drew gab selten Komplimente (und sie waren sogar noch seltener, wenn sie ihr Aussehen betrafen) – also wusste sie, dass er es ernst meinte, wenn er es dann doch tat… auch falls sie unter einer Schicht Sarkasmus verborgen waren. „Wie auch immer", fuhr Drew fort, „Ich denke, ich werde heute Nachmittag nach Ebenholz losgehen." Maike wurde plötzlich daran erinnert, warum sie heute überhaupt angefangen hatte, mit ihm zu reden. „Aber, Drew-", fing sie an. „-Die Antwortet lautet nach wie vor nein, Maike", sagte er, da er genau wusste, in welche Richtung das Gespräch sich entwickelte. Maike schnaubte. „Wieso nicht?", schmollte sie. Drew stellte seinen Kaffee ab und sah sie direkt an – seine durchbohrenden, grünen Augen ließen sie zurückweichen. „Hör zu, Maike", fing er an, „Ich weiß das Angebot wirklich zu schätzen. Aber ich kann mich nicht einfach einmischen." „Was für ein Angebot?", fragte Solidad plötzlich nach. Drew schürzte die Lippen und wollte nicht antworten. Maike dagegen beantwortete die Frage nur zu gern. „Da er nicht daran interessiert ist, zu Weihnachten nach La Rousse zu gehen und weil er mir keinen guten Grund dafür gegeben hat, hier zu bleiben, anstatt nach Hoenn zu gehen, dachte ich, dass er mit zu mir nach Hause kommen sollte", erklärte sie. Sie redete so schnell, dass sie stotterte und ihre Wörter miteinander verschmolzen, aber Solidad schien zu verstehen, was sie meinte. „Ach ja?", fragte die pinkhaarige Koordinatorin. „Ja", warf Drew ein. Er klang noch genervter, jetzt, wo Solidad mit in die Diskussion hineingezogen worden war. „Danke, Maike, aber es ist für mich wirklich in Ordnung, in Johto zu bleiben und nach Ebenholz zu gehen. Ich kann dort trainieren." „Also, Ich denke, du solltest mit Maike mitgehen", sagte Solidad. Drew blickte sie finster an, sagte aber nichts. Sie lächelte und fuhr fort: „Was denn? Du hast keinen guten Grund, hier zu bleiben. Wegen der Verspätung des Festivals trainierst du schon seit Monaten, und außerdem könntest du immer mit Maike in Blütenburg üben. Wenn ihre Eltern einverstanden sind, warum nicht?" „Maike hat ihre Eltern noch nicht mal gefragt", grummelte Drew als Ausrede. Maike strahlte und zückte ihr PokéNav. „Das kann ich ja jetzt gleich erledigen", zwitscherte sie. „Maike", warnte er, aber sie bedeutete ihm, still zu sein. Sie hatte schon die Nummer eingegeben und es klingelte. Drew sank in seinem Stuhl zusammen. Das passierte wohl immer. Normalerweise gewann er den Streit des Tages, wenn nur er und Maike daran beteiligt waren, aber sobald Solidad beschloss, einzuschreiten und für Maike Partei zu ergreifen, war er erledigt. Caroline nahm den Anruf an und ihr Gesicht erschien auf dem winzigen Bildschirm des PokéNavs. „Hi, Mama", begrüßte Maike sie lächelnd. „Ach, hallo, Schatz!", sagte Caroline. „Was veranlasst dich, um diese Zeit hier anzurufen? Ich habe vom neuen Datum von Johtos Großem Festival gehört. Du kommst aber trotzdem nach Hause nach Blütenburg, oder?" „Ja, natürlich", erwiderte Maike. „Ich habe eigentlich nur eine Frage." „Ich habe eine Antwort." „Also..." Maike griff mit beiden Händen nach Drews Arm und zog näher ihn zu sich heran, sodass Caroline ihn durch den Bildschirm des PokéNavs sehen konnte. Drews Gesicht erhitzte sich bei der plötzlichen Nähe zwischen ihm und seiner Rivalin, und sein Erröten war ziemlich offensichtlich für die Anderen am Tisch. Harley erstickte ein Lachen, und sogar Solidad sah so aus, als müsste sie ein Kichern unterdrücken. Drew starrte beide wütend an, während Maike das Ganze überhaupt nicht mitbekam. „...Du erinnerst dich doch an Drew, oder?", fuhr Maike fort. Caroline lächelte wissend. „Natürlich", antwortete sie. „Maike", zischte Drew leise, aber sie ignorierte ihn. „Okay! Also, er weiß nicht wirklich, wo er zu Weihnachten hingehen kann", erklärte Maike. „Na ja, tut er schon, aber er will nicht hingehen, und er sagt mir nicht, warum, aber das ist nebensächlich. Ich finde, es ist schade, dass er niemanden hat, mit dem er Weihnachten feiern kann, also habe ich mich gefragt, ob er heute Nachmittag mit mir das Schiff nach Hoenn nehmen und Weihnachten bei uns verbringen kann!" Maike schweifte schon wieder aus, aber auch Caroline verstand, was ihr Tochter meinte, und ihr Lächeln wurde breiter. „Aber natürlich kann er das! Wir würden uns freuen, dich zu Besuch zu haben, Drew", sagte sie. „Eigentlich-", begann Drew, aber Maike fiel ihm ins Wort. „In Ordnung, dann sehen wir uns in ein paar Tagen, m'kay? Danke, hab dich lieb, tschüss!", sagte sie schnell und beendete somit den Anruf, ohne Drew eine Chance zu geben, sich wieder herauszuwinden. Dann stand sie mit einem triumphierenden Lächeln auf und sagte: „Gut, ich gehe mal schauen, ob die Cafeteria noch Pfannkuchen übrig hat." Sie wandte sich an Drew. „Du solltest wohl lieber packen. Das Schiff fährt heute um 15 Uhr los." Und mit diesen Worten ging sie hinaus. „Nun, das war auf jeden Fall unterhaltsam", schaltete Harley sich ein, als Maike weg war. „Oh, sieh es positiv, Drew. Wenn du Glück hast, wird es im Maple-Haushalt irgendwo einen Mistelzweig geben. Das wäre die perfekte Gelegenheit, sie zu küssen und ihr zu sagen, wie unsterblich du in sie verliebt bist." „Halt den Mund, Harley", fuhr Drew in an. Er war nicht in der Stimme für seine unerträglichen Sticheleien. „Im Ernst, es ist eine gute Möglichkeit, Maike abseits von Wettbewerben und Kämpfen kennenzulernen", sagte Solidad. „Nicht auch noch du, Solidad", sagte Drew entnervt. Solidad zuckte mit den Achseln. „Wir sind nicht blind", sagte sie nur. „Es ist ziemlich offensichtlich, dass du Gefühle für Maike hegst." Der junge Koordinator stöhnte und legte seinen Kopf auf dem Tisch ab. „Ich gehe dann packen", gab er sich geschlagen.   16. Dezember 2001. Später Nachmittag. Alabastia.   „Schau mal, Pikachu! Wir sind schon fast zu Hause!" „Pika!" Ash rannte zum Rand der Klippe und atmete die frische, ländliche Luft der kleinen, weiter unten gelegenen Stadt ein, während er sich am leicht angerosteten Geländer festhielt. Der Flug war lang und ungemütlich und die kurze Reise vom Flughafen von Vertania City nach Alabastia langweilig und ereignislos gewesen – besonders, weil er sich dazu entschieden hatte, die geradlinige Handelsstraße anstelle des längeren, aber malerischen Trainerwegs zu nehmen. All das war jetzt allerdings egal, denn nun war er zu Hause. Mutig sprang er über das Geländer und schlitterte den steilen Abhang auf den Füßen hinunter. Pikachu krallte sich verzweifelt an der Schulter seines Trainers fest, und auf halbem Weg verlor Ash komplett das Gleichgewicht, stolperte, stürzte zu Boden und schlug mit einem lauten, schmerzhaften Bumms unten auf. „Pika Pi!", rief Pikachu, der sich bei dem Sturz nichts getan hatte, besorgt. Er stupste den Jungen an der Schulter an. „Mir geht's gut", versicherte Ash seinem Partner mit einem gezwungenen Lächeln. Er setzte sich auf und staubte sich ab, allerdings blieb eine dünne Dreckkruste an ihm. „Wow, das war vielleicht eine Landung", sagte eine bekannte Stimme in der Nähe. Ash sah auf, um seinen alten Rivalen aus Alabastia auf sich zukommen zu sehen. „Gary!", rief Ash aus. Gary schmunzelte. „Schön, dich zu sehen, Ashy-Boy", grüßte er, Ashs alten Spitznamen verwendend. „Ich wusste nicht, dass du hier in Alabastia bist", sagte Ash, während Gary ihm auf die Füße half. „Na, was denkst du denn, ich wohne hier." Ash lächelte verlegen und sagte, „Es ist nur, das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, hast du Forschung in Sinnoh betrieben." Gary zuckte mit den Schultern. „Genau wie du habe ich mich dazu entschieden, über die Feiertage nach Hause zu kommen. Außerdem habe ich sowieso ein bisschen Ruhe gebraucht", erklärte er. „Wie auch immer, alle warten schon auf dich drüben im Haus deiner Mutter. Sie ist über deinen Besuch zu Hause so aufgeregt, es wird ihr wahrscheinlich nicht mal was ausmachen, dass du aussiehst wie ein dreckiger Penner." Ash hob den Kopf. „Ist Misty schon da?", fragte er. „Nee, nur ich, Tracey, Opa und deine Mutter. Misty wird bestimmt in ein paar Tagen auch da sein", entgegnete Gary. „Super!", rief Ash aus. „Mann, ich brenne darauf, alle zu sehen, ich kann's kaum erwarten!" Dann rannte er los, den Pfad in die Stadt entlang. Gary blinzelte und blickte ihm ungläubig hinterher. „Hey, warte mal!", rief er. Gary musste allerdings nicht rennen, um aufzuholen, denn Ash stolperte über einen großen Stein und klatschte mit dem Gesicht voran auf die Straße. Gary kicherte. Manche Dinge würden sich wohl nie ändern. Er schlenderte an Ashs Seite, beschloss aber, ihm dieses Mal nicht seine Hilfe anzubieten. „Wie wäre es damit, nicht nach Hause zu rennen, denn ich will nicht, dass mir die Schuld daran gegeben wird, wenn du auftauchst und so aussiehst als kämst du geradewegs aus einem Straßenkampf." Gary hielt inne. „Oh, warte, zu spät." „Ich komme sehr gut ohne die spöttischen Kommentare zurecht", murmelte Ash in die Erde. „Bitte, Ash, du machst es mir zu einfach." Gary lachte, als Ash auf seine Füße wankte, und sie gingen den Rest des Weges. Die Unterhaltung entspannte sich sichtlich, und Gary hörte auf, Ash wegen seiner beiden Missgeschicke aufzuziehen. Sie verbrachten die zehnminütige Strecke damit, sich gegenseitig über die zwischenzeitlichen Ereignisse zu informieren – neu gefangene Pokémon zu beschreiben, neue Rivalen, neue Freunde, neue Abenteuer – und ehe sie es sich versahen, waren sie an der Türschwelle des Hauses der Ketchums angekommen. Bevor Ash auch nur nach dem Türknauf greifen konnte, schwang die Tür auf, und Delia warf ihre Arme um ihren Sohn, wobei sie ihn praktisch erdrückte. „Oh, Ash!", rief sie. „Ich bin so froh, dass du zu Hause bist!" Auf einmal verfinsterte sich ihr Gesichtsausdruck, als sie bemerkte, dass er völlig verdreckt war. Sie ließ ihn los. „Was ist passiert?", fragte sie und warf Gary einen fragenden Blick zu, der mit einem Schulterzucken antwortete. „Nicht einmal ich kann ihn vor sich selbst beschützen, Frau Ketchum", erwiderte Gary gelassen. „Hey, Ash, schön zu sehen, dass du zurück bist!" Ash grinste, als er die Stimme wiedererkannte, und schob sich nach drinnen. Sein alter Reisegefährte, Tracey, saß neben Professor Eich auf dem Sofa. „Froh, wieder hier zu sein, Tracey!", antwortete Ash. „Ash, mein Junge, warum bist du voller Schmutz?", fragte Professor Eich, nachdem er sah, in was für einem dreckigen Zustand der Trainer sich befand. Ash kratzte sich beschämt am Hinterkopf. „Heh. Ich hatte einen kleinen Unfall auf dem Weg hierher", sagte er. „Wohl eher zwei Unfälle", fügte Gary hinzu. Ash starrte ihn böse an. „Nun, warum duschst du nicht schnell, um alles abzuspülen, und ziehst dich um? Du kannst deine alten Sachen im Wäschekorb lassen, dann wasche ich sie heute Abend", schlug Delia vor. Dann hob sie Pikachu von der Schulter ihres Sohnes herunter und umarmte ihn fest. „Pikachu kann mir dabei helfen, das Abendessen vorzubereiten, während du dich fertig machst." „Cha!" Pikachu schmiegte sich liebevoll an die Wange der Mutter. „In Ordnung", lachte Ash. Er winkte seinen Freunden zu und stapfte summend die Treppe hinauf. Was ihn betraf, gab es nichts, was die Freude des Moments jetzt zerstören könnte. Er war zu Hause, das Abendessen seiner Mutter stand auf dem Herd und Weihnachten stand vor der Tür. Dann stolperte er auf dem Weg nach oben.   16. Dezember 2001. Abend. Azuria City.   „Misty! Es ist nach 21 Uhr, kannst du bitte die Arena abschließen?", fragte Lilly, die plötzlich im Türrahmen des Zimmers ihrer jüngeren Schwester auftauchte. Misty, die gemütlich in ihrem Bett lag und Azurill glücklich auf dem Bauch hielt, schien genervt von der Aufforderung. Der Rotschopf ließ das Buch, das sie gerade gelesen hatte, auf ihre Brust sinken, um direkter mit ihrer Schwester sprechen zu können. „Du bist sehr wohl dazu in der Lage, die Tore selbst zuzuschließen, Lilly", sagte sie. „Aber Misty", begann Lilly mit einem leichten Wimmern in der nasalen Stimme, „meine Nägel trocknen gerade, und ich möchte sie nicht ruinieren, indem ich mit diesen rostigen, alten Schlüsseln hantiere! Außerdem, wenn du es nicht tust, wirst du diejenige sein müssen, die den einen Anfängertrainer abweist, der denkt, er könnte um diese Uhrzeit für einen Kampf herkommen." Misty seufzte. Sie wusste, dass sie diese Diskussion verloren hatte. Die einzige Waterflower zu sein, die sich überhaupt für die Arena interessierte, bedeutete, dass sie das Kämpfen und die Verwaltung übernehmen musste. Die Jüngste der Familie zu sein bedeutete auch, dass sie diejenige war, die die ganze Zeit herumkommandiert wurde. „Gut, in Ordnung", entgegnete Misty eingeschnappt. Lilly lächelte. „Danke, Schwesterchen", antwortete sie, bevor sie verschwand. Misty setzte sich mit einem leisen, genervten Grummeln auf. Sie markierte ihre Seite im Buch und setzte Azurill auf ihrem Kissen ab. Sie verließ das junge Feenpokémon mit dem Versprechen, dass sie in ein paar Minuten wieder da sei. Die Arenaleiterin machte sich auf den Weg die Treppe herunter, ging am Durchgang zum großen Indoor-Pool im ersten Stock vorbei und steuerte auf den Eingang zu. Sie öffnete die Flügeltüren und spähte nach draußen, um sicherzugehen, dass niemand wartete. Sie war nicht wirklich in der Stimmung für einen Kampf, aber wenn jemand tatsächlich stur genug war, um so spät in der Nacht nach draußen zu gehen (und überraschenderweise war das tatsächlich schon ein paar Mal passiert), wollte sie ihm oder ihr keine Abfuhr verpassen. Die ganze Gegend war jedoch leer, was ziemlich ungewöhnlich war, wie Misty auffiel. Normalerweise sah man hier immer einen oder zwei Passanten, auch noch um diese Uhrzeit. Die Arena befand sich in der Nähe des Stadtzentrums, darum hingen immer einige Leute hier herum. Misty tat es mit einem Achselzucken ab. Sie nahm an, dass es den Leuten wohl zu kalt war, um nach draußen zu gehen. Es gab zwar nicht das kleinste bisschen Schnee, aber die Luft war kühl, und Misty erschauderte, als sie von einer besonders kalten Winterbrise gestreift wurde. Die Wassertrainerin schloss umgehend die riesigen Türen und griff nach links, um die Schlüssel vom Haken zu holen. Sie schloss die Türen schnell und leise ab und löschte alle Lichter. Dann schlenderte sie durch die Dunkelheit, ohne in irgendetwas hinein zu rennen. Sie hatte das oft genug gemacht, um zu wissen, wo sich all die spitzen Ecken und überraschenden Tische befanden. Trotzdem stolperte sie aus Versehen über ein Bamelin, das am unteren Ende der Treppe herumlungerte. „'Tschuldigung!" rief Misty und warf dem Meerwiesel ein entschuldigendes Lächeln zu. Bamelin winkte ab, und Misty ging weiter die Treppen hinauf zu ihrem Zimmer, wo Azurill immer noch geduldig genau dort saß, wo seine Trainerin ihn gelassen hatte. Misty lächelte, hob das kleine Pokémon hoch und umarmte es fest. „Danke für's Warten", sagte sie. „Azurill!" Misty begab sich wieder in ihre vorherige Position auf dem Bett und nahm das fröhliche Azurill auf den Schoß. Die Trainerin lächelte noch einmal, während sie die glatte, gummiartige Haut des Pokémons streichelte. Sie konnte es kaum erwarten, für ein paar Tage aus Azuria City herauszukommen, um Alabastia zu besuchen. Sie wusste zwar, dass man Weihnachten eigentlichs mit der eigenen Familie verbrachte, aber sie hatte das Gefühl, Ash seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen zu haben. Sicher hatten sie oft über Videotelefon miteinander gesprochen, während er in Sinnoh und Einall gewesen war, aber es war nicht dasselbe wie ihn neben sich stehen zu haben, mit diesem idiotischen Grinsen auf seinem dümmlichen Gesicht. Außerdem hatte Daisy (die Erträglichste ihrer Schwestern) erwähnt, dass sie überlegte, mitzukommen. Misty zählte das als 'Zeit mit der Familie verbringen', sodass sie kein schlechtes Gewissen deswegen haben musste, Violett und Lilly zurückzulassen (beiden wäre es, wie Misty dachte, sowieso egal, ob ihr jüngstes Geschwisterkind zu Hause war oder nicht). Misty kicherte, als sie sah, dass Azurill eingeschlafen war, und merkte dann, dass sie selbst auch müde war. Es war ein wenig früh, um ins Bett zu gehen, aber sie dachte, je früher sie einschlafen konnte, desto früher konnte sie morgens aufstehen und nach Alabastia aufbrechen. Die Arenaleiterin langte herüber und machte das Licht auf ihrem Nachttisch aus. Dann zog sie die Decke über sich und Azurill und bewegte sich noch etwas, um es sich bequem zu machen. Sie hatte kaum die Augen geschlossen, als sie eine Explosion hörte.   16. Dezember 2001. Abend. Alabastia.   „Oh, Panti, bitte lass mich dir beim Ausräumen helfen", sagte Ash, als er bemerkte, dass das Pokémon Schwierigkeiten dabei hatte, die höheren Regalbretter in der Küche zu erreichen. Das Pantimos sah den Trainer argwöhnisch an, als dieser ihm den Teller aus der Hand nahm und ihn auf das höchste Regalbrett legte, aber er widersprach nicht. „Wie wär's, wenn du die Töpfe und Geräte nimmst, die in die niedrigeren Schränke gehören, und ich nehme die Teller und Tassen und das Zeug das in die Regale gehört?", schlug Ash freundlich vor. „Pant!" Das Barrierenpokémon schien ihm zuzustimmen. Folglich räumten Ash und Pantimos den Geschirrspüler in Teamarbeit aus und hatten alles in Minutenschnelle weggeräumt. Als sie fertig waren, grinste Ash Pantimos an, welcher zurückzulächeln schien – wenn auch nur ein wenig. „Gute Arbeit", bestärkte der Trainer. „So, warum machst du nicht den Rest des Abends Pause? Du hilfst meiner Mom immer im Haushalt, da hast du dir etwas Ruhe verdient." Panti hob die Nase hoch zu ihm, und schaute mit verschränkten Armen in die andere Richtung. „Panmostimos!", sagte er empört. Ash seufzte. Er vermutete, dass Panti sich immer noch nicht an ihn gewöhnt hatte, auch nach mehreren Jahren. Die einzige Person, der Pantimos jemals zu gehorchen schien, war Delia. Ash beschwerte sich nicht wirklich. Er war wirklich dankbar dafür, dass Panti bei ihnen war. Er leistete seiner Mom Gesellschaft, während er selbst auf Reisen war, und Ash wusste das zu schätzen. Obwohl im Ketchum-Haushalt nie darüber geredet wurde, hatte Ash das Gefühl, dass seine Mutter oft einsam war, besonders weil sein Vater nicht da war. „Panti, Ash hat Recht", sagte Delia, die gerade in die Küche eintrat. „Du verdienst eine Pause, besonders nachdem du uns dabei geholfen hast, das große Abendessen für Professor Eich und Co zuzubereiten!" Pantimos gab nur allzu gern nach, jetzt, wo er ihre Erlaubnis hatte. „Pant! Pantimos!", rief er glücklich und band sich die Schürze ab. Delia nahm sie ihm ab mit der Absicht, sie zusammen mit Ashs schmutzigen Klamotten von vorhin zu waschen. Ash grinste und folgte dem Pokémon hinaus ins Wohnzimmer, wo Pantimos sich zu Pikachu setzte. Die beiden schienen in ein aufgeregtes Gespräch verwickelt zu sein, dessen Inhalt Ash nicht ganz verstehen konnte. Der Junge nahm auf dem gegenüberliegenden Sofa Platz und sah ihnen dabei zu, wie sie zusammen in Pokésprache lachten. Sein Vater... Ash hatte ihn nie kennengelernt. Seine Mutter hatte eine sehr lange Zeit darauf bestanden, dass der Grund dafür war, dass sein Vater selbst auf einer Pokémon-Reise war. Mit 10 schien das eine glaubwürdige Geschichte zu sein. Fast fünf Jahre später hatte er sich selbst zusammengereimt, dass es wahrscheinlich etwas war, das seine Mutter sich ausgedacht hatte, damit er nicht traurig war, weil sein Vater sie verlassen hatte. Es war keine plötzliche Erkenntnis an einem Tag auf seinen Reisen durch Kanto oder Hoenn oder Sinnoh oder wo auch immer gewesen; es war einfach etwas, das er, mit der Zeit, eingesehen und akzeptiert hatte. Nun ja, er hatte es noch nicht vollständig akzeptiert. Da war immer noch dieser kindliche Teil von ihm, der glauben wollte, dass sein Vater ein fantastischer Trainer war, der tückische Meere überquerte oder auf der Suche nach neuen Pokémon durch gefährliche Wälder streifte. Er wollte daran glauben, dass er eines Tages nach Hause kommen würde. „Ash, Liebling?", fragte Delia, die neben ihrem Sohn saß. Ash riss sich selbst aus seinen Gedanken und lächelte seine Mom an. „Ja?" „Ist mit dir alles in Ordnung? Du siehst so abgelenkt aus", sagte Delia, mit offensichtlicher Sorge in ihrer Stimme. Ash machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mir geht's gut, mach dir keine Gedanken", sagte er. „Hab' nur nachgedacht." „Worüber?" Ash zögerte. Er wollte dieses Gespräch nicht wirklich führen. Zumindest noch nicht. „Ich...ähm..." Ash suchte verzweifelt nach einem Thema. „...hatte diesen echt komischen Traum vor ein paar Nächten. Bevor ich aus Einall hergekommen bin." „Worum ging es?", fragte Delia. Ash lachte nervös in sich hinein. „Ich kann mich nicht...wirklich erinnern. Ich weiß nur, dass er komisch war, weil Benny und Lilia mich aufwecken mussten, weil ich mich im Bett herumgewälzt und -gedreht hab'", erklärte Ash. Als er die Beunruhigung im Gesicht seiner Mutter sah, fügte er hinzu: „Aber mach dir keine Sorgen! Es war sicher nur irgendwas, was ich an dem Abend gegessen hatte. Benny kann ziemlich tolle Sachen zaubern. Aber natürlich nichts so Gutes wie du." Delia verdrehte ihre Augen, lächelte aber. „Nun", fing sie an, „Ich glaube, ich weiß, was dich aufheitern könnte." „Was denn?" „Ein Weihnachtsfilm." Delia hielt inne, bevor sie hinzufügte: „Vielleicht 'Das Botogel, das Weihnachten stahl'? Das war dein Lieblingsfilm, als du klein warst." „Ha! Ja, an den kann ich mich erinnern", sagte Ash. „Okay, lass uns den gucken." Delia stand auf und ging zum kleinen Fernsehschrank. Sie hockte sich hin und öffnete den Schrank, um dann darin zu stöbern, bis sie schließlich die alte VHS Kassette herauszog. Dann schaltete sie den Fernseher ein. Der erste Kanal war zufällig der Napaj Interregionale Nachrichtensender, auf dem geradeeine Eilmeldung lief. Die Azuria City Arena stand in Flammen.   16. Dezember 2001. Später Abend. Ebenholz City.   „Weißt du, du solltest mich wirklich öfter besuchen", bemerkte Sandra, während sie ihrem Cousin und sich selbst vorsichtig ein Glas Wein eingoss. „Ich sehe dich kaum noch, außer wenn du geschäftlich hier in Ebenholz bist. Als wir Kinder waren, waren wir jeden einzelnen Tag zusammen." Siegfrieds dunkle Augen schnellten zu ihr herüber. Seine Miene war ruhig, berechnend, aber ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen, als er sich an seine Kindheit zurückerinnerte, bevor er zum Top Vier Mitglied und später Champion der Indigo Liga geworden war. Es war eine einfachere Zeit gewesen, obwohl das im Nachhinein nur schwer zu glauben war, wenn man bedachte, dass er und seine Cousine Sandra die meiste Zeit mit rigorosem Training unter seinem Vater (ihrem Onkel) verbracht hatten. „Du weiß, dass ich beschäftigt bin." „Und ich nicht?", scherzte Sandra, als sie ihm das Glas reichte. „Natürlich bist du das", sagte Siegfried, dankend den Drink annehmend, „nur nicht so beschäftigt wie ich. Du leitest eine Arena. Ich leite zwei Regionen." Sandras Augenbrauen zogen sich zusammen. „Richtig...na ja, jetzt wo du und Gerhard endlich Johtos Großes Festival wieder auf den richtigen Weg gebracht habt, hoffe ich doch, dass du wenigstens über die Feiertage hierbleiben kannst?" „Solange nichts Anderes dazwischen kommt", meinte Siegfried scherzhaft, aber diese Worte würden ihm letztendlich zum Verhängnis werden. Das schrille Klingeln des Telefons zerriss die Luft, und Sandra runzelte die Stirn, während sie ihr Glas absetzte. „Ich gehe ran", sagte sie in der Annahme, dass es einer der angehenden Drachenmeister war, die sie unter ihre Fittiche genommen hatte. Sie stand auf und ging nach nebenan, wo sie das kabellose Telefon von der Gabel nahm. „Hallo? Hier spricht die Arenaleiterin Sandra", meldete sich die Blauhaarige, etwas verärgert klingend. Sie war einige Momente lang still und hörte sich die Notlage des Anrufers an, als Siegfried sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck sichtlich verhärtete. „Mew...", fluchte sie und ließ das Telefon sinken. „Officer Rocky aus Azuria City ist dran, es ist für dich. Die dortige Arena hat Feuer gefangen." „Was?" Siegfried stand auf und nahm Sandra schnell das Telefon aus der Hand. „Hallo? Hier ist Siegfried. Geht es den Waterflower-Schwestern gut?" Sandra schnappte sich währenddessen die Fernbedienung vom Mahagoni-Kaffeetisch und schaltete den Flachbildfernseher an der Wand an. Dann zappte sie durch die Kanäle und fand den Nachrichtensender, die, wie sie es erwartet hatte, über die Krise in Azuria berichtete. Die Flammen waren schon gelöscht worden, aber nur eine verkohlte Hülle war von dem Gebäude übrig geblieben. Siegfried gesellte sich nach Beendigung des Telefonats zu ihr. „Ist mit ihnen alles in Ordnung?", fragte Sandra und drehte ihm den Kopf zu. „Den Waterflowers?" „Ja", antwortete Siegfried kurz, während er eine andere Nummer eingab. „Kennst du sie?" „Ich habe die Jüngste, die Rothaarige, vor ein paar Jahren kennengelernt. Sie war zusammen mit einem Jungen namens Ash auf Reisen. Er hat mich zu einem Kampf um den Drachenorden herausgefordert und gewonnen." „Du hast ein erstaunlich gutes Gedächtnis." „Ich erinnere mich immer an die Leute, gegen die ich verliere." Siegfried hob die Augenbrauen, aber er hatte keine Zeit, zu antworten, da die Person am anderen Ende der Leitung den Anruf annahm. „Leaf? Tut mir Leid, falls ich dich aufgeweckt habe. Mir ist klar, dass es spät ist, aber du musst so schnell wie möglich runter zur Azuria City Arena gehen." Eine Pause. „Hast du die Nachrichten gesehen? … Ich bin gerade in Johto, bei Sandra. Gut. Ruf mich an, wenn du dort bist. Danke." Sandra ergriff wieder das Wort, sobald er den Anruf beendet hatte, „Also ist Agentin Greene jetzt deine erste Wahl?" „Sie hat ihren Nutzen", erklärte Siegfried ohne nähere Ausführung. „Ah", grübelte sie. „Also, wieso schickst du sie nach Azuria City?" Der Champion zuckte die Achseln. „G-Men-Protokoll", sagte er. „Wir müssen den Schauplatz überprüfen, um sicherzugehen, dass nichts Kriminelles passiert ist." „Kriminelles?" „Etwas Ähnliches ist vor einigen Jahren schon einmal passiert, damals 1997", klärte Siegfried sie auf. „Ein paar untergeordnete Team Rocket Rüpel haben eine Bombe in der Prismania Arena gelegt, wodurch das ganze Gebäude in Flammen aufgegangen ist." Sandras Augen weiteten sich. „Also glaubst du, dass Team Rocket dahinter steckt?" „Unwahrscheinlich", brummte Siegfried. „Die Organisation ist jetzt schon seit Jahren inaktiv. Meine Vermutung ist, dass das, was in der Azuria Arena passiert ist, nur ein unglücklicher Zufall war." Sandra setzte sich wieder, bevor sie ihr Weinglas wieder aufnahm und einen Schluck trank. „Hoffen wir's."   16. Dezember 2001. Später Abend. Azuria City.   Misty schwirrte der Kopf. Alles war so schnell passiert, zu schnell. Die Explosion, oder was auch immer es war (keine der Azuria-Schwestern wusste, woher sie gekommen war oder warum sie stattgefunden hatte), hatte auf irgendeine Weise etwas entzündet, wodurch letztendlich das Dach Feuer gefangen hatte. Und obwohl sie in einer Arena voller Wasserpokémon wohnten, waren die Flammen schnell viel zu überwältigend geworden, als dass die Familie sich selbst um sie hätte kümmern können. Zum Glück war die Azuria Feuerwehr gekommen, um das Inferno zu löschen. Alle sechsunddreißig Pokémon in der Arena waren zum örtlichen Pokémon-Center gebracht worden, um untersucht zu werden, während Lilly, Violett und Daisy aus ähnlichen Gründen ins Krankenhaus gingen. Der Rettungssanitäter hatte darauf bestanden, dass Misty ihre Schwestern begleitete, aber der Rotschopf hatte darauf sich nicht ausreden lassen, zuerst nach den Pokémon zu sehen. Der Sanitäter wollte erst noch weiter diskutieren, aber dann kratzte er sich nach einem kurzen Zögern am Kopf und sagte: „So spricht eine wahre Arenaleiterin." Dann ließ er sie gehen. Aus diesem Grund war sie also hier, saß am Videotelefonstand in der leeren Lobby von Azurias Pokémon-Center, und sprach mit ihrer ältesten Schwester Daisy, während sie auf Neuigkeiten von Schwester Joy wartete. Mistys Schwestern ging es wohl allen gut, wie Daisy ihr erzählte, aber Violett und Lilly waren ziemlich aufgewühlt (und mit 'aufgewühlt' meinte Daisy, dass sie heulten. Misty konnte sie im Hintergrund hören). „Ich glaube, sie werden uns bald entlassen, also kann ich dort hingehen, um zu warten, und du kannst herkommen, um dich untersuchen zu lassen", sagte Daisy, aber Misty schüttelte den Kopf. „Nein, ich will vorher sichergehen, dass alle Pokémon gesund sind", beharrte sie. „Außerdem geht's mir gut. Ich atme noch, oder nicht?" Daisy seufzte. „Du bist dickköpfiger, als es gut für dich ist", stöhnte die Blondine durch den Videobildschirm. „Mit der Einstellung kriegst du nie einen Freund." Ein tiefes Grummeln drang aus Mistys Kehle. „Wirklich? Jetzt?", fragte sie genervt. „Stimmt, schlechter Augenblick", entschuldigte sich Daisy. „Nun, ich komme trotzdem rüber. Wir sehen uns dann so bald wie möglich." Dann legte sie auf. Misty seufzte und legte den Hörer zurück in die Gabel. Sie stand langsam auf und nahm drüben im Wartebereich Platz. Sie hatte allerdings nicht viel Zeit, um es sich bequem zu machen, denn in dem Moment kam Schwester Joy durch die Flügeltüren, gerade noch dabei, sich die Gummihandschuhe abzustreifen. Misty sprang sofort wieder auf die Füße und ging zügig auf sie zu. „Wie geht's ihnen?", fragte sie mit offensichtlicher Sorge in der Stimme. Schwester Joy lächelte. „Alle sind wohlauf", versicherte sie. „Einige kränkeln noch etwas wegen des Raucheinatmens, aber sie werden alle wieder gesund. Ich konnte auch keine Verbrennungen finden. Ihr hattet alle sehr viel Glück dabei, mehr als dreißig Pokémon unbeschadet aus einem brennenden Gebäude herauszubekommen..." Misty nickte. „Ja, wir haben sehr viel Glück gehabt", stimmte die Arenaleiterin zu. „Wissen Sie, wie das Feuer zustande gekommen ist?", fragte Schwester Joy neugierig. Misty schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung", sagte sie. „Etwas ist in die Luft gegangen, vielleicht ein alter Wasserboiler. Das ist aber nur meine Vermutung. Eigentlich ist es mir egal. Ich bin einfach froh, dass es allen gut geht." „Was ist mit dem Zustand der Arena?" „Zurzeit unbrauchbar, da bin ich sicher", antwortete Misty. „Aber die Feuerwehr hatte es fast vollständig gelöscht, als wir gegangen sind." „Nun, ich hoffe, dass Sie Glück haben und sie wieder repariert werden kann, trotz des Feuerschadens", sagte Schwester Joy. „Es ist wirklich eine Schande, es war ein sehr hübsches Gebäude. Das strahlende Juwel von Azuria City. Und dann auch noch direkt vor Weihnachten." Misty nickte wieder, nur schaute sie jetzt noch etwas ernster. Sie war sicher, dass die nette Frau es nicht absichtlich machte, aber dieses Gespräch bereitete ihr Schmerzen in der Seite. Die Azuria Arena war der ganze Stolz ihrer Familie, aus leicht verschiedenen Gründen, je nachdem, mit welchem Familienmitglied man sprach. Für Misty ging es um die starken Gegner, die sie bei Arenakämpfen kennenlernte, während ihren älteren Geschwistern die fantastischen Wassershows und Theaterstücke, die sie als die Bezaubernden Schwestern aufführten, besonders viel bedeuteten. Nichtsdestotrotz war es eine der beliebtesten und bekanntesten offiziellen Liga-Arenen aller Regionen. Aber vor allem war sie ihr Zuhause. „Ich muss einige Telefonate erledigen", sagte Misty und brach somit die Konversation ab. Schwester Joy lächelte verständnisvoll und ging hinaus, um sich um die anderen Pokémon im Center zu kümmern. Misty kehrte zum Videotelefon-Stand zurück und gab eine Nummer ein. Das Telefon klingelte nicht lange, bevor abgehoben wurde. „Tracey!", rief Misty lächelnd, als Professor Eichs Assistent sich meldete. „Meine Güte, Misty", fing er an, „Was für eine Erleichterung, dich zu sehen. Wir haben alle gehört, was in der Arena passiert ist." Misty schien verwirrt von seiner Aussage. „Was? Wie?", fragte sie, eine Augenbraue hebend. „Es kam in den Nachrichten." „Oh..." Das ergab Sinn, vermutete sie. Sie war nicht achtsam genug gewesen, um die Nachrichtenwagen zu sehen, als sie den Ort des Geschehens verließ, aber sie erinnerte sich, wie der Brand der Prismania City Arena vor ein paar Jahren nationale Schlagzeilen gemacht hatte. „Sind alle in Ordnung? Geht es Daisy gut?", fragte er in besonders besorgtem Ton. Misty unterdrückte das Bedürfnis, mit den Augen zu rollen. Es war ihr bewusst (und entsetzte sie), dass Tracey sich für ihre ältere Schwester interessierte. Sie hatten mehrere Dates gehabt, nachdem Daisy ihm zum ersten Mal versprochen hatte, mit ihm auszugehen, falls er ihr beim Saubermachen und Reparieren des Rohrleitungssystems in der Azuria Arena half. Es war bei ihrer Beziehung noch nichts Ernsthaftes herausgekommen, und Misty bezweifelte, dass es das je tun würde. Daisy war noch nie ernsthaft mit jemandem zusammen gewesen. Obwohl, und das musste Misty zugeben, sie sich ziemlich sicher war, dass Tracey der Grund war, weshalb Daisy darauf bestanden hatte, zu Weihnachten nach Alabastia zu gehen. „Ja, alle sind wohlauf", antwortete Misty. „Daisy ist auf dem Weg hierher." „Schön zu hören", sagte Tracey mit einem entspannten Lächeln. „Wie auch immer, ich nehme an, du willst mit Professor Eich sprechen?" „Ja." „Opa schläft", tönte eine nur zu bekannte Stimme aus dem Hintergrund. „Lass mich mit ihr reden." Tracey reichte das Telefon niemand anderem als Gary Eich. „Schön zu sehen, dass du nicht im Feuer verbrutzelt bist", begrüßte Gary sie. „Danke, das weiß ich zu schätzen", entgegnete Misty sarkastisch. „Im Ernst, bin froh, dass es dir und allen anderen gut geht", sagte Gary und hörte sich plötzlich etwas ehrlicher an. „Gut, du musst mir nicht sagen, was du willst. Ich kann's erraten: Du willst die Pokémon von dir und deinen Schwestern hierher in's Labor transferieren, richtig?" „Du hast es erfasst", antwortete Misty, nicht überrascht. „Natürlich nur, bis wir die Arena repariert haben. Oder bis wir eine Neue gebaut haben, falls die Aktuelle sich nicht reparieren lässt." „Nun, ich weiß, wie das Transfersystem des Labors funktioniert, also schick sie mir einfach rüber, wenn du bereit bist", sagte Gary. „Wie viele denn?" „Sechsunddreißig." Sie hielt inne, bevor sie hinzufügte: „Aber ich werde eins oder zwei für mich behalten, für die Reise nach Alabastia." „Du kommst nach wie vor?" „Ich muss hier jetzt nur noch dringender wegkommen." „Gut, kann ich verstehen. Bis in ein paar Tagen dann." Er sah aus, als würde er gleich auflegen, aber Misty hielt ihn davon ab. „Warte, bevor du gehst...", begann Misty. „Ja?" „Kannst du Ash anrufen und ihm sagen, dass es mir gut geht? Und dass ich immer noch vorhabe, zu Weihnachten zu kommen?", fragte Misty. „Ich würde's selbst tun, aber ich habe hier drei Dutzend unglückliche Pokémon, die ich in ihre Pokébälle rufen und durch die Transfermaschine schicken muss." „Die Aufgabe gebe ich mal an dich weiter, Tracey", sagte Gary mit einer wegwerfenden Handbewegung. Er verschwand vom Bildschirm und Tracey nahm seinen Platz ein. „Ja, ich werd's ihm sagen", antwortete Tracey seufzend, als Gary außer Hörweite war. „Danke", sagte Misty. „Ist kein Problem", sagte Tracey. „Mach's gut." Hier endete das Gespräch. Der Bildschirm wurde schwarz, doch Misty umklammerte immer noch den Hörer. Ihre Augen wurden glasig, und sie stand dort einen Augenblick lang in einer Art fassungsloser Stille, als die Wirklichkeit ihrer Situation erst richtig bei ihr ankam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)