after Weiß von KarliHempel ================================================================================ Kapitel 19: Akt XIX ------------------- „Wie immer einer der ersten“, kam es Ran bereits entgegen, als er ins Büro seiner Chefin trat, um seine Abrechnung abzugeben. „Auf sie ist wirklich Verlass.“ Schwärmte sie etwa auch vor anderen so von ihm? Das war doch peinlich. Sie war eine Geschäftsfrau. Er erwiderte nichts, setzte sich auf einen der Stühle und reichte seine Papiere weiter. „Das mit 379 tut mir leid“, sagte sie plötzlich und Ran schluckte hart. Wie viel wusste sie? „Dass er für längere Zeit ins Ausland muss. Wirklich schade.“ Das war auch gut so, dachte Ran düster. In den letzten zwei Wochen hatte er bei jedem einzelnen Brief Herzrasen bekommen. Was sollte er tun, wenn er wieder so eine karte im Briefkasten hatte? „Ich steige aus“, hörte er sich selbst sagen und der Blick seiner Chefin wurde ungläubig. „Wie bitte?“ Ran wiederholte seine Entscheidung und holte einen Brief aus seinem Mantel und legte ihn der Frau vor. Auf Yojis Geburtstagsfeier hatte er es entschieden. Das hier konnte er nicht mehr. Nicht einen einzigen Tag lang mehr. Die Frau sah sich den Zettel an und dann enttäuscht zu Ran. „Ist etwas vorgefallen?“ Oh sie war wirklich klug. Ein mattes Lächeln war seine Antwort, ehe er sich erhob und sich mit einem letzten Blick verabschiedete. Als er das Gebäude verließ, fühlte er sich seltsam erleichtert. Er würde 379 nicht wieder sehen. Es tat weh, aber so war es besser. Für sie beide. Ran konnte ihm nicht geben, was er wollte und dieser Mann konnte Ran nicht geben, was er sich wünschte. „Na?“ Ran sah auf Tammy, die mit dem Seven vor dem Gebäude auf ihn wartete. Sie waren sich in den letzten Tagen näher gekommen und allmählich glaubte Ran, in ihr eine echte Freundin gefunden zu haben. Sie war eine von ihnen. Zusammen stiegen sie in den Wagen und fuhren los. Der März lockte bereits mit warmen Tagen. Der Fahrtwind schnitt jedoch noch immer im Gesicht. Er sah auf den Fußweg, der an ihm vorbeizog. Die Menschen und ihre Geschäftigkeit waren für Ran so weit weg. Er fühlte sich wie ein Außenseiter, war es wahrscheinlich auch. An Yojis Büro angekommen stieg er aus dem Wagen und wartete auf Tammy, damit sie zusammen das Gebäude betreten konnte. Yoji saß an seinem Schreibtisch, hatte tiefe Augenringe und war offenbar bemüht ein Überwachungsvideo zu sichten. „Der Typ ist gut“, murmelte er und wischte sich schnaufend über die Augen. „Vielleicht solltest du einfach mal eine Pause machen“, meinte Tammy und ging in die Küche, um Tee zu brühen. „Vielleicht hats du recht. Ich muss mich dann auch unbedingt noch mal hinlegen, sonst schaffe ich die Observation heute Nacht nicht.“ „Dann lass mich gehen“, meinte Ran und sah seinen Freund ernst an. „Im Gegensatz zu dir bin ich ausgeschlafen und außerdem brauche ich einen Job.“ „Du hast es also wirklich durchgezogen?“ Er nickte und bedankte sich, als er den Tee bekam. „Würde ja gerne mal wissen, wer dieser Kerl war.“ Ran biss die Zähne aufeinander. Er wollte es eigentlich gar nicht wissen, wollte lieber in sein einsames Leben zurück, als so einem in die Finger zu fallen. „Denkst du bitte nächste Woche an unseren Termin“, hörte er Tammy und sah auf den Kalender. Nächsten Mittwoch würde sie ihm noch einmal Blut abnehmen und nach Antikörpern suchen. Ran war angespannt. Zwar hatte Yoji ihm versichert, dass er ihr nichts erzählt hatte, doch wenn sie die Ergebnisse bekam und etwas fand, würde sie es ohnehin wissen. „Ich bin pünktlich hier“, murmelte er und nippte an dem Tee. „Gut. Wo wir das jetzt geklärt haben und ich gleich im Stehen einschlafe. Ich gebe dir mal ein paar Infos“, erhob Yoji die Stimme und winkte Ran müde zu sich, um ihn auf seine Observation vorzubereiten. Kaum zehn Stunden später saß Ran in seiner dunklen Missionskleidung auf dem Dach gegenüber der Spielhalle, im Schutz des abgebrochenen Schornsteins, und wartete auf sein Ziel. Dabei war nicht einmal klar, ob der Mann heute wirklich kommen würde. In Gedanken ging Ran alles noch einmal durch. Der Mann, auf den er wartete war ein Stammspieler in der Spielothek. Seit drei Wochen jedoch räumte er bei verschieden Spielen ab. Ein Gerät zur Manipulation der Automaten waren aber weder bei ihm noch an den Automaten gefunden worden. Das legte die Vermutung nahe, dass es noch eine weitere Person gab, die in die Sache verwickelt war. Vielleicht sogar der Drahtzieher. Auf den Überwachungsvideos sah es so aus, als würde der Mann mit jemandem außerhalb des Bildausschnittes reden. Wenn das stimmte, wusste die andere Person sehr genau, wo die Kameras hingen und wo ihre toten Winkel waren. Vielleicht sogar ein Insider. Aufmerksam sah er auf die Straße, suchte mit den Blicken die Ecken der Gasse ab, die die Kameras nicht erfassten. Eine Person sah sich um, als sie in die Gasse trat und weckte Rans Neugier. Er beugte sich weiter über das Dach, erkannte sein Ziel. Der Mann wirkte nervös, die Kapuze seiner Jacke versteckte zwar einen Teil seines Gesichtes, aber nicht seine Angst. Er holte etwas aus seiner Jacke, sah es kurz an und steckte es wieder ein. Es war zu klein, als das Ran es hätte erkennen konnte. Dann ging der Mann in die Spielhalle. Ran verließ seinen Posten, kletterte vom Dach und schob sich außerhalb der Kameras durch die Schatten an ein präpariertes Fenster. So konnte er in das Innere des Gebäudes sehen und den Mann weiter beobachten. Dieser setzte sich an einen Automaten, warf Geld ein und spielte. Das Etwas in seiner Tasche blieb unberührt. Die Stunden zogen sich in die Länge und der Mann wechselte zwischen den Automaten, ohne dass Ran ein Muster erkennen konnte. Dann ging er wieder und Ran folgte ihm ungesehen ein Stück. An der Wohnung des Ziels brach er seine Verfolgung ab und kletterte auf das nächste Dach, um den Mann in seiner Wohnung zu beobachten. Zumindest in seinem Wohn- und Schlafzimmer. Doch auch hier tat sich nichts Auffälliges und als der Mann gegen sechs Uhr früh ins Bett ging beendete auch Ran seine Nacht. Er fuhr zu Yoji und erstattete ihm Bericht. Tammy, die neben Yoji saß, störte ihn schon nicht mehr. Während er sprach, sog er diverse Messer aus seinen Stiefeln und den Mantelinnenseiten. Sein Katana wäre einfach zu auffällig gewesen. „Vielleicht trägt er auch ein Gerät bei sich, dass per Funk die Rhythmen der Automaten ausließt“, überlegte Yoji und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Dann ruf doch mal bei Omi an, der wird dir da sicher weiterhelfen können. Außerdem wollte er dir eh noch nachträglich zum Geburtstag gratulieren“, meinte Ran, als sich ein Gähnen verkneifen musste und sich dann verabschiedete. Fast war er der Meinung, dass er sein Bett bis zu Yojis Büro rufen hören konnte. Aber nun war er ja auf dem Weg. Zuhause angekommen holte er seine Post und ging in die Wohnung. Die Post landete ungesehen auf der Kommode neben der Tür, ebenso sein Schlüssel. Nur noch waschen und unter die Decke. Das war ein guter Plan. Gesagt, getan. Wenige Minuten später ließ er sich tief in die Matratze sinken und schnaufte angetan, als es langsam warm unter der Decke wurde. Eigentlich war er niemand, der gern warm schlief, doch in letzter Zeit konnte er nur noch so einschlafen. Warum auch immer. Ran verschob alle Grübeleien auf nach dem Aufstehen und zog die Decke bis zu den Ohren hoch, rollte sich darunter ein und sank in einen erschöpften Schlaf. Irgendwann wurde er wieder wach. Es war dunkel in seiner Wohnung, also musste es bereits spät sein. Da klingelte es an seiner Tür. Mürrisch stand er auf, zog sich etwas über und öffnete die Tür, gewillt, sie gleich wieder zuzuschmeißen, wenn ihm der Besuch nicht gefiel. „Ken!“, entfuhr es ihm und der Brünette grüßte lächelnd. „Hi. Tut mir leid, wenn ich so unangemeldet komme, aber ich hatte heute eher Schluss und dachte, ich versuch mal mein Glück.“ Ran wurde ruhiger. Das war wirklich eine schöne Überraschung und er bat Ken hinein. „Schön hast du es dir gemacht. Ich kenn die Wohnung ja nur mit Kisten und sonst leer“, scherzte der Fußballer und Ran schnaufte. Nie hätte er geglaubt, wie sehr er seine Chaotentruppe mal vermissen würde. Vor einigen Monaten noch war er froh gewesen, wenn das Haus mal leer war und er seine Ruhe hatte. Jetzt begann er es zu vermissen. Alles! Selbst die Streitereien. Vielleicht konnten wenigstens sie drei sich wieder zusammen finden, auch auf die jagt nach dem Abschaum der Menschheit begeben und ... Ran schüttelte den Kopf. Das würde keinem von ihnen gut tun. Ken war nach Weiß so labil, dass Ran sich angefangen hatte, ernsthaft Sorgen zu machen. Yoji hatte jetzt Tammy und auch, wenn sie es verstehen würde, wusste sie doch nicht, ob ihr Freund jedes Mal wieder heil zurückkam. Diese Angst sollte sie nicht durchstehen müssen. Und er selbst? Er stand wieder bei Null. Kein Job, keinen Partner, keine Familie. Nur eine beschmutzte Seele in einem ebenso beschmutzten Körper. „Du bekommst ja seltsame Post.“ Ran stutzte. War er gerade wieder so tief in seinen Gedanken verschwunden? Er wandte sich zu Ken um, der eine kleine Karte in den Fingern hielt. Sein Atem stockte. Nein! Das durfte nicht sein! „Wo hast du das her?“, fragte er und war um eine ruhige und wenig zittrige Stimme bemüht. Langsamer, als er es wollte, trat er an Ken heran und nahm ihm die kleine Karte aus den Fingern. „Schuldige. Ich wollte nicht spionieren, aber das lag hier auf dem Boden und ich dachte, vielleicht ist es aus dem Poststapel gefallen.“ Er nickte verstehend und sah auf die Karte. Sie war schlicht. Pastellenes Beige mit einem schwarzen Pin. Rans Herz raste und das Atmen fiel ihm schwer. Zitterte er etwa? „Ist alles ok, Ran?“, hörte er Kens Stimme wie aus weiter Ferne und drehte die Karte um. Ein Datum. Rans Blick huschte auf seinen Kalender und auf das rot eingekreiste Datum. Nächsten Mittwoch. Sein Blick huschte auf die Karte und wieder auf den Kalender. Der Mann wurde ihm unheimlich. Das Datum lag genau zehn Tage nach seinem nächsten Test. Bis dahin würde er auch das Ergebnis haben. Wusste der Fremde etwa, dass er sich untersuchen ließ? Ahnte er es? Oder hatte er selbst schon genug Erfahrung mit diesen Tests? Wenn ja, was sagte das dann über Mister X aus? „Ran?“ Er sah zu Ken, der ihn irritiert ansah. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Oh ja. Das hatte er. Hieß es nicht, 379 wäre für etliche Monate im Ausland? Wie konnte er ihm dann eine solche Karte zukommen lassen? War sie vielleicht gefälscht? Ran schwirrte der Kopf. „Ich hole dir erst mal ein Wasser“, holte ihn die Stimme zurück und er sah Ken nach, wie dieser in seine Küche ging. „Nein!“, hielt er ihn auf und erntete Kens volle Aufmerksamkeit. „Im unteren Schrank. Bring gleich die ganze Flasche mit“, meinte er und Gin zu seiner Couch, holte noch zwei Whiskeygläser aus der Vitrine und setzte sich in das weiche Polster. In seiner Hand hielt er noch immer diese schlichte Karte. Sie wirkte so anders. Die Karten davor hatten etwas Extravagantes. Sie changierten oder waren mit Gold geschrieben. Nur die ersten Karten waren ebenso schlicht. Fast etwas schüchtern, wenn Ran so darüber nachdachte. Sollte diese Karte etwa Mister Xs Reue ausdrücken? Tat es ihm leid? „Bist du sicher?“, fragte Ken, als er sich mit der halbvollen Flasche neben ihn setzte. „Ganz sicher“, gab er als Antwort und nahm seinem Freund die Flasche ab, schraubte sie auf und goss ihnen ein. Sein Glas füllte er mehr als üblich und kippe den ganzen Inhalt hinunter. Es brannte in seiner Kehle und Ran schüttelte sich. Dann wieder ein Blick auf die Karte. Und noch ein Glas. „Sag nicht, die ist wegen dir allein halbleer.“ Ran schwieg. Was sollte er schon sagen? Nachdem er von Yoji und Tammy nach Hause gegangen war, hatte sein Weg ihn noch durch das kleine Geschäft an der Ecke geführt. Besser, er verriet Ken nicht, dass er zwei Flaschen gekauft hatte. „Und das nur wegen einer Visitenkarte?“ Er nickte. Wozu sollte er Ken mit den unschönen Einzelheiten belasten. „Ein Stalker?“ Ein Kopfschütteln und noch ein Glas. „Ein unliebsamer Verehrer?“ Erneut eine Verneinung und ein neues Glas. „Mann, Ran! Machs nicht so spannend.“ Ran sah das Glas in seiner Hand an. Das Wievielte war das jetzt? Das Dritte? Das Vierte? Es spielte keine Rolle. Das drückende Gefühl in ihm würde auch der ganze Alkohol nicht wegspülen. „Ein Unfall? Ein Verrat? Ich weiß es nicht“, gab er schließlich zu verstehen, sah Ken an und erkannte dessen Sorge. „Sonst war es immer Yoji, der sich wegen irgendwelcher Frauen betrunken hat. Und jetzt bist du es?“, wollte er wissen, doch Ran wusste keine Antwort. Betrank er sich, weil er abgewiesen wurde? Der Blick auf die Karte sagte ihm etwas anderes. War er etwa wirklich unglücklich verliebt? „Ich habe es bald durchgestanden“, sagte er kryptisch, leerte sein Glas, stellte es weg und sah noch einmal auf die Karte, drehte sie und starrte auf den kleinen Pin. Mit einer schnellen Bewegung hatte er die dünne Kartonage in zwei Teile gerissen und warf diese nun auf den Tisch. War das seine Antwort? Er wusste es nicht, aber es tat gut. „Du solltest dich vielleicht ausruhen“, meinte Ken, als er sich erhob. „Und lass den Alkohol weg. Der bringt dir gar nichts!“ Wie, um seine Worte zu unterstreichen, nahm er die Flasche an sich, schraubte sie zu und verstaute sie wieder im Schrank. Ran beobachtete alles schweigend. Offenbar hatte Ken nicht den Mut, ihm die Flasche ganz zu entziehen. Oder er hoffte auf Rans Verantwortungsgefühl. Er schnaufte und stand auf. Hätte er Verantwortungsgefühl, hätte er nicht in wenigen Tagen seinen nächsten Bluttest. „Tut mir leid, dass es so gelaufen ist“, meinte er, als Ken seine Jacke überwarf und ihn matt anlächelte. „Wir haben alle unsere Probleme, Ran. Auch du. Pass einfach etwas auf dich auf.“ Er nickte und hielt die Tür, bis Ken gegangen war. Dann ging er wieder zu dem Schrank und holte sich die Flasche zurück, setzte sich auf die Couch und goss sich ein. Na, solange er noch nicht aus der Flasche trank, konnte es doch nicht so schlimm um ihn stehen, oder? Sein Blick fiel auf die zerrissene Karte. Lange starrte er ihre Überreste an und schnaufte dann ergeben, griff nach ihnen und hielt sie aneinander, sodass er das Datum lesen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)