Imperativ von -Zerschmetterling- (Kontrolle über deine Sinne.) ================================================================================ Kapitel 16: Sechzehn -------------------- -16-   Es war ein seltsames Gefühl, wenn das eigene Leben in den Händen einer anderen Person lag. Und noch viel seltsamer war es, wenn diese Person ausgerechnet Karin war. Sakura konnte noch immer nicht fassen, dass Sasuke sich für sie als ihre Partnerin entschieden hatte und noch viel weniger, dass Karin letztendlich ohne zu murren zugestimmt hatte. Sie könnte sich ungefähr einhundert Personen vorstellen, die sie in diesem Moment gerade lieber an ihrer Seite haben würde, und dazu zählte sogar ihr Chemielehrer aus der zehnten Klasse, was wirklich etwas heißen sollte. Doch im Endeffekt stand sie hier nun mit Karin und musste zusehen, wie sie das Beste aus der Situation machen konnte.   Stehen war in diesem Zusammenhang allerdings sowieso das falsche Wort. Vielmehr hing sie in der Luft, nur gehalten von einem dicken und dennoch elastischen Seil, das an den Gurten an ihrem Körper befestigt war. Karin stand oben auf der Tenchi-Brücke und sicherte sie, was ihr jedoch alles andere als ein sicheres Gefühl gab. Ein Fehler und sie würde ungebremst in die Tiefe stürzen. Und so einen Sturz konnte niemand überleben.   Sakuras Beine zitterten. Zum einen vor Angst und zum anderen, weil sie sich mit ihnen von der Betonwand der Brücke abdrücken musste, um nicht unkontrolliert durch die Luft zu schlingern. Sie war nicht besonders sportlich und hier waren bedauerlicherweise Muskeln gefragt. Es trennten sie nur noch wenige Meter von dem kleinen Vorsprung im vorderen Drittel der Brücke, den sie unbedingt erreichen musste, doch es kam ihr vor wie ein halber Marathon.   Zentimeter für Zentimeter schob sie sich vorwärts und klammerte sich dabei fast schon panisch an das raue Seil. Die Gurte schnitten in ihre Haut und in diesem Moment war das das schönste Gefühl, das sie sich vorstellen konnte. Auf diese Weise wusste sie wenigstens, dass die Gurte sie tragen würden. ‘Ein Ort, der schwer erreichbar ist‘, so hatte die Vorgabe gelautet und Sasuke hatte sich bei der Wahl des Ortes wirklich selbst übertroffen.   Während die Pfeiler der Tenchi-Brücke über und über mit Graffiti beschmiert waren, gab es genau einen Fleck, der noch immer in seinem ursprünglichen monotonem Grau glänzte. Niemandem war es bisher gelungen, an den kleinen Vorsprung zu kommen, um sein Zeichen zu hinterlassen. Aber wahrscheinlich war bisher auch niemand auf die Idee gekommen, sich in einer waghalsigen Aktion von der Brücke abzuseilen, um dann das letzte Stück zu klettern.   „Alles okay bei dir, Sakura?“   Karins Stimme durchschnitt die nächtliche Stille wie ein Schuss. Zum Glück war außer ihnen niemand hier. Das hatten sie mehrmals überprüft, denn andernfalls hätte man sie spätestens jetzt bemerkt.   „Ja, ich hab‘s gleich“, gab Sakura zwischen zusammengebissenen Zähnen zurück.   Sie war selbst überrascht davon, wie dünn ihre Stimme in diesem Moment klang. Wahrscheinlich lachte sich Karin da oben auf der Brücke gerade einen Ast ab, weil sie sich so ungeschickt anstellte und sich vor Angst fast in die Hosen machte, aber sollte sie erst mal an ihrer Stelle in knapp zehn Metern Höhe herumklettern.   „Wir sind noch im Zeitplan“, informierte Karin sie sachlich.   Als ob Sakura sich gerade irgendwelche Gedanken um den dummen Zeitplan machen würde. Sie war froh, wenn sie hier am Ende lebend wieder herauskam und dabei war es ihr vollkommen egal, ob sie noch genug Zeit haben würde, die anderen beiden Orte aufzusuchen. Sie wollte einfach nur überleben.   „Sakura, hast du gehört?“   Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, dass Karin fast schon ein wenig besorgt klang.   „Ja“, antwortete Sakura angespannt und zog dann einmal kurz am Seil, um zu signalisieren, dass Karin sie noch ein Stückchen weiter runterlassen sollte.   Es war nicht mehr weit bis zum Vorsprung und auch wenn sie dann irgendwann endlich angekommen war, hatte sie es noch lange nicht geschafft. Der zweite Teil der Aufgabe bestand darin, das Logo, das sie gemeinsam mit Sasuke entworfen hatte, möglichst präzise an die Betonwand zu bringen. Sie würde nicht viel Bewegungsfreiheit haben, was es ihr erschweren würde, die richtigen Sprühdistanzen einzuhalten und deswegen musste sie besonders aufpassen, was sie da tat. Sie durfte sich keine Fehler leisten.   Ihre Fußspitze berührte den kleinen Vorsprung und Sakura atmete erleichtert aus. Es tat gut, endlich wieder waagerechten Boden unter sich zu spüren. Sie gönnte sich eine kurze Verschnaufpause, bevor sie sich schließlich ganz auf den kleinen Vorsprung zog. Die Dosen klapperten leise in ihrem Rucksack, als sie ihn von ihren Schultern streifte und neben sich auf den Boden stellte. Sie hatte gerade mal knapp einen Quadratmeter Fläche, auf dem sie stehen konnte, aber aus der Nähe wirkte es zumindest deutlich großzügiger als vom Geländer der Brücke aus. Sakura hatte es sich schlimmer vorgestellt.   „Ich fang jetzt an“, verkündete sie laut genug, damit Karin sie hören konnte.   Das Seil war nun nicht mehr straff gespannt und baumelte lose an ihrer Seite, sodass sie davon nicht beim Arbeiten behindert wurde. Sie holte die Atemschutzmaske aus ihrem Rucksack und streifte sich dann die Kapuze von ihrem Kopf, um sie überzuziehen. Sowohl Karin als auch sie trugen komplett schwarze Kleidung, damit sie in der Nacht noch schwerer zu erkennen waren. Ein bisschen fühlte Sakura sich damit wie ein Ninja auf geheimer Mission, aber sie verstand die Notwendigkeit. Hier unten auf dem Vorsprung, der komplett im Schatten und verborgen vor sämtlichen Blicken lag, konnte sie zumindest auf die Kapuze verzichten.   Nachdem sie sich einen Überblick über die Fläche gemacht hatte, die ihr zur Verfügung stand, begann sie wie immer mit den Outlines. Obwohl sie zuvor die ganze Zeit über nervös gewesen war, fühlte sie sich nun plötzlich von einer inneren Ruhe erfüllt und hatte das Gefühl, dass sie es tatsächlich schaffen könnte. Der Entwurf war ihr vertraut. Sie hatte ihn gemeinsam mit Sasuke erarbeitet. Und auch wenn der Großteil des Logos auf seinen Ideen basierte, gingen ihr die Outlines von der Hand, als hätte sie jeden einzelnen Strich davon selbst entworfen.   Die Zeit verging wie im Flug und das Graffiti nahm langsam Form an. Auch wenn es nicht gerade einfach war, mit der begrenzten Fläche zum Stehen auszukommen, gelang es Sakura immer besser, sich damit zu arrangieren. Sie fühlte sich konzentrierter als je zuvor und all ihre Sinne waren geschärft. Vermutlich hing das mit dem Adrenalin zusammenhing, das ihr Körper ausschüttete, seit sie damit begonnen hatte, sich von der Tenchi-Brücke abzuseilen. Karin erkundigte sich zwischendrin immer mal wieder nach ihrem Fortschritt und gab ihr die Zeit durch, die ihnen noch blieb. Es würde eng werden, das war von vornherein klar gewesen, doch sie lagen gut im Plan.   Als Sakura die letzten Schattierungen vornahm, konnte sie kaum glauben, dass sie es tatsächlich geschafft hatte. Sie hatte etwas Illegales getan. Hatte eine Brücke besprüht und damit öffentliches Eigentum beschmutzt. Doch sie hatte auch etwas geschafft, was vor ihr noch niemandem gelungen war und dieses Gefühl erfüllte sie mit Stolz. Es war nochmal etwas anderes, hier draußen in der Öffentlichkeit zu sprühen, wo es theoretisch jeder sehen konnte. Jeder würde sehen, dass es ihr gelungen war, an diesen Ort zu gelangen. Den Ort, der schwer erreichbar war. Den Ort, den niemand vor ihr erreicht hatte. Sakura war wie berauscht.   Als sie schließlich fertig war, fiel es ihr schwer, sich von dem Anblick zu lösen. Doch sie hatten nicht mehr viel Zeit, bis sie am nächsten Ort sein mussten. Naruto war bestimmt so nervös, dass er schon seit Stunden am Treffpunkt herumlungerte und sie wollte ihn ungern noch länger warten lassen.  Eine Sprühdose nach der anderen wanderte wieder zurück in den Rucksack, wobei Sakura peinlich genau darauf achtete, nichts liegen zu lassen. Sämtliche Spuren und Fingerabdrücke könnten am Ende auf sie zurückzuführen sein und ihr somit das gleiche Schicksal bescheren wie Sai. Darauf konnte sie nun wirklich verzichten.   Zuletzt kramte sie ihr Smartphone aus der vorderen kleinen Tasche des Rucksacks. Ohne das Beweisfoto wäre die ganze Aktion hier vollkommen wertlos. Das Licht blendete sie, als sie das Display entsperrte und sie trat einen Schritt zurück um das Logo komplett ins Bild zu bekommen. Im Dunkeln war es schwer zu erkennen, ob sie nicht ausversehen doch die Ränder abgeschnitten hatte. Sakura achtete darauf, dass sie auch den Blitz eingestellt hatte und trat dann noch ein Stück zurück.   Zu weit. Sie merkte es daran, dass ihre Ferse plötzlich mitten in der Luft hing, doch da war es bereits zu spät. Sakura verlor ihr Gleichgewicht und kippte nach hinten. Erschrocken ruderte sie mit den Armen und versuchte sich irgendwie an der Betonwand festzuhalten, doch es gab nichts, wonach sie hätte greifen können. Mit einer Hand hielt sie noch immer das Handy und das Gewicht des Rucksacks zog sie zusätzlich in die Tiefe. Sie stieß einen knappen Schrei aus.   Das Bild vor ihren Augen kippte und statt dem Graffiti trat das Geländer der Brücke in ihr Blickfeld. Es waren bestimmt einige Meter, die sie schon nach unten geklettert war, aber sie wusste, dass es noch einige Meter mehr waren, die nun unter ihr lagen. Sie nahm alles wie in Zeitlupe war. Spürte, wie sich ihre Fußsohlen langsam komplett von der Kante es Vorsprungs lösten. Sah wie ihre linke Hand hilflos in die Luft griff. Das Seil, das sie eigentlich halten sollte, baumelte noch immer lose neben ihrem Körper und war dadurch vollkommen nutzlos geworden. Sakura kniff die Augen zusammen. Sie fiel.   Und dann war es, als hätte jemand die Vorwärtstaste eines Videorekorders gedrückt. Alles ging so schnell, dass die Eindrücke um sie herum zu einem bunten Strudel aus einzelnen Bilderfetzen wurden. Nichts davon war greifbar und selbst ihre Gedanken wirbelten wie wild durch ihren Kopf und weigerten sich, auch nur ansatzweise fokussiert zu bleiben. Sie vermischten sich mit ihren Gefühlen. Angst. Wut. Verzweiflung. Und das einzige, was sie noch wusste, war das zwischendrin immer wieder das Bild von Sasuke auftauchte. Was er wohl dazu sagen würde, dass sie letztendlich wieder versagt hatte?   Ein Ruck ging durch das Seil und Karins Stimme drang wie aus weiter Ferne an Sakuras Ohren.   „Sakura!“   Ihr Fall wurde abgebremst. Sie bewegte sich noch immer, aber nun schlingerte sie unkontrolliert durch die Luft und drehte sich dabei wieder und wieder um die eigene Achse. Ihr wurde schwindelig und sie verlor komplett die Orientierung. Geistesgegenwärtig schlang sie die Arme um ihren Kopf, um ihn davor zu schützen, irgendwo aufzuprallen, aber um sie herum war nichts, woran sie sich hätte stoßen können. Sie baumelte mitten in der Luft. Nur gehalten von dem Seil und von Karin, die offenbar schnell genug reagiert hatte.   „Sakura!“, rief Karin noch einmal. „Alles okay bei dir?“   Übelkeit kam in ihr hoch. Das hier hätte ganz leicht schief gehen können und das nur, weil sie einen Moment lang unaufmerksam gewesen war. Sie gab sich ein paar Sekunden, um halbwegs wieder runterzukommen und schluckte dann den dicken Klumpen an Speichel herunter, der sich in ihrem Mund gesammelt hatte. Seltsamerweise fühlte er sich trotzdem komplett trocken an.   „Ich bin okay“, antwortete sie dann mir krächzender Stimme.   Es war nicht besonders laut gewesen, aber Karin hatte sie wohl gehört.   „Ich zieh dich jetzt langsam hoch“, verkündete sie. „Versuch, dich mit deinen Beinen an der Brücke abzustützen sobald du sie erreichen kannst.“   Noch vor wenigen Minuten hätte Sakura niemals gedacht, dass sie irgendwann einmal dankbar dafür sein würde, dass sie Karin mit dabei hatte. Jetzt gerade wollte sie ihr am liebsten die Füße küssen. Während sich das Seil langsam auspendelte, spürte Sakura, wie sich ihr Puls langsam wieder beruhigte. Die Übelkeit allerdings blieb. Es hätte so leicht schief gehen können und noch hatten sie das Foto nicht, dass sie Orochimaru anschließend als Beweis vorlegen mussten.   Stück für Stück zog Karin sie wieder nach oben und jetzt erst merkte Sakura, dass sie deutlich weniger tief gefallen war, als es sich angefühlt hatte. Der Vorsprung befand sich nur wenige Meter über ihrem Kopf und sie konnte von hier aus bereits Teile des Graffitis sehen. Ihr Smartphone hielt sie zum Glück immer noch in der Hand, auch wenn diese ununterbrochen zitterte und sie konnte es kaum noch erwarten, das hier endlich hinter sich zu bringen. Sie wollte wieder festen Boden unter den Füßen haben.   Sobald der Vorsprung in Reichweite kam, streckte sie ihre Füße danach aus. Das Seil spannte ein wenig, aber sie erreichte ihn ohne Probleme und zog sich erleichtert auf die kleine Plattform. Ihre Hände zitterten noch immer, aber irgendwie gelang es ihr, ein halbwegs passables Foto von dem Logo zu machen. Wichtig war nur, dass man erkennen konnte, worum es sich dabei handelte. Orochimaru würde später sowieso nochmal ein paar von seinen Leuten vorbeischicken, um es sich genauer anzusehen.   Vor ihren Augen tanzten kleine Sternchen von dem grellen Blitzlicht und sie blinzelte ein paar Mal, bevor sie an dem Seil zog, damit Karin sie komplett hochholte. Alles in ihr sträubte sich dagegen, den sicheren Boden unter ihren Füßen wieder aufzugeben, aber andererseits wollte sie ja auch nicht die komplette Nacht auf dieser Brücke verbringen. Schlimmer als vorhin konnte es ja fast nicht mehr werden und diesmal würde sie einfach noch besser darauf Acht geben, wohin sie trat.   Ihre Füße lösten sich leicht vom Boden und sie klammerte sich fast schon paranoid am Seil fest.   „Sakura, du musst schon ein bisschen mithelfen“, schimpfte Karin von oben.   Es war nicht so, dass Sakura nicht wollte, aber ihr ganzer Körper war noch immer wie in Schockstarre und vollkommen verkrampft, so als hätte sie ihn seit Jahren nicht mehr bewegt. Schwerfällig spannte sie die Muskeln in ihrem Bein an und drückte sich dann mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Wand. Sie kamen nur sehr langsam voran. Sakura, weil sie nahezu durchgehend schreckliche Angst hatte abzurutschen und sich vor jedem Schritt genauestens absicherte, wohin sie trat. Und Karin, weil auch ihre Kräfte allmählich nachließen. Schließlich aber schafften sie es und als Sakura ihren müden Körper über das Geländer der Brücke schwang, hätte sie am liebsten losgeheult.   Sie ließ sich einfach auf den Boden fallen, wobei ihr der Rucksack von den Schultern glitt. Karin war sofort bei ihr.   „Geht es dir gut? Hast du dich verletzt?“   Ihr Blick glitt suchend über Sakuras Körper und als sie keine offensichtlichen Schrammen oder ähnliches entdecken konnte, atmete sie erleichtert auf. Man konnte auch in ihrem Gesicht deutlich die Anspannung erkennen und Sakura war ehrlich überrascht, dass es sie so sehr mitgenommen hatte. Bisher war sie davon ausgegangen, dass es Karin nicht besonders jucken würde, wenn ihr irgendetwas zustieß. Eher im Gegenteil. Aber das was sie nun sah, war eine vollkommen aufgelöste Karin, die sich tatsächlich Sorgen zu machen schien.   „Ich hab nur einen Schreck bekommen, sonst ist alles gut“, winkte sie schnell ab.   Es war ein komisches Gefühl, Karin plötzlich so anders zu erleben. Und mit einem Mal fühlte Sakura sich unglaublich schlecht und schuldig, weil sie so ein negatives Bild von ihr gehabt hatte. Im Grunde genommen wusste sie kaum etwas über Karin und doch hatte sie sich sofort ein Urteil über sie erlaubt.   „Hast du das Foto?“   Sakura nickte und streckte ihr zum Beweis das Handydisplay entgegen. Die Qualität war nicht unbedingt die beste, aber zumindest war das Foto nicht verwackelt und dank dem Blitz sogar ziemlich gut ausgeleuchtet, sodass man das Logo gut erkennen konnte.   „Verdammt, das ist gut“, murmelte Karin anerkennend. „Deidara sollte sich warm anziehen.“   Sie streckte ihr die Hand entgegen und Sakura ergriff sie, um sich aufhelfen zu lassen. Sie mussten dringend weiter, wenn sie den Zeitplan einhalten wollten. Wahrscheinlich hatten sie durch Sakuras Tollpatschigkeit schon viel zu viele kostbare Minuten verloren. Ihre Beine zitterten leicht, als sie wieder stand, doch sie schnappte sich wortlos den Rucksack und folgte Karin zu ihrem Wagen.   Sie hatte ihr Auto am einen Ende der Brücke direkt neben dem kleinen Waldweg geparkt. Wenn man nicht wusste, wo es stand, hätte man es leicht übersehen können, da es von mehreren dichten Sträuchern und kleinen Bäumen verdeckt wurde. Sakura verstaute den Rucksack auf der Rückbank und ließ sich dann auf den Beifahrersitz fallen. Sobald Karin den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, schallten die lauten Klänge von belangloser Popmusik aus den Boxen. Laut. Viel zu laut. Auf dem Hinweg hatten sie dadurch kaum ein Wort miteinander gesprochen, worüber Sakura mehr als nur dankbar gewesen war, aber gerade hatte sie das Bedürfnis, etwas zu sagen.   Entschieden regelte sie die Lautstärke herunter und öffnete den Mund. Ihr fiel nichts ein. Sie wusste nicht, was sie überhaupt sagen wollte. Karin hatte ihr das Leben gerettet. Was sagte man in so einem Fall?   „Wir können auch etwas anderes hören“, bot Karin schulterzuckend an, während sie den Motor anließ.   Offenbar hatte sie ihre Handlung komplett falsch gedeutet. Der Wagen rollte von dem kleinen Trampelpfad, der eigentlich viel zu schmal für die breiten Reifen war, zurück auf die Straße. Es knirschte laut unter den Rädern, was nun, da die Musik leiser gestellt war, nur viel deutlicher zu hören war.   „Nein, nein“, sagte Sakura schnell. „Ich wollte nur… ich wollte nur sagen, dass… Danke, Karin.“   Zu mehr war sie gerade nicht im Stande. Wahrscheinlich war in ihrem Gehirn immer noch viel zu viel Adrenalin, sodass sie nicht fähig war, auch nur einen zusammenhängenden Satz zu bilden. Alles was sie wusste, war, dass sie ohne Karin vermutlich nicht mehr am Leben wäre und dass sie sich unbedingt bei ihr bedanken musste.   „Dafür war ich doch da“, meinte Karin abwehrend.   Ihre Augen waren fest auf die Straße gerichtet, sodass sie Sakura nicht ansehen musste. Die Situation war ihr allem Anschein nach unangenehm. Sie schwiegen eine Weile und fuhren einfach nur den schlecht beleuchteten Weg entlang. Die Brücke verschwand immer weiter hinter ihnen und bald schon war sie nur noch ein dunkler Fleck, der im Rückspiegel kleiner und kleiner wurde. Die Dunkelheit und Stille um sie herum, tat Sakura gut. Es beruhigte sie und half ihr, nach und nach eine innere Distanz zu den Ereignissen aufzubauen. Trotzdem war da noch immer etwas, das sie aufwühlte.   „Es ist nur…“, setzte sie erneut an. „Ich dachte immer, du kannst mich nicht leiden. Jedes Mal, wenn wir uns begegnet sind, gab es Streit. Ich hatte das Gefühl, dass du mich unter keinen Umständen in der Organisation haben wolltest.“ Karin seufzte resigniert.   „Das wollte ich auch nicht. Aber das hatte nichts mit dir persönlich zu tun.“   Sakura sah sie verwirrt an.   „Wie meinst du das?“   Im Grunde genommen hatten sie sich vom ersten Moment an in den Haaren gehabt. Karin war ihr gegenüber mehr als nur gehässig aufgetreten und sie hatte dieses Verhalten ohne zu zögern erwidert. Und das sollte nichts Persönliches gewesen sein?   „Es geht um Sasuke“, begann Karin zu erklären. „Du kannst mich jetzt gerne auslachen, so wie Suigetsu und die anderen, aber er ist mir eben wichtig. Mehr als das. Seit ich ein Teil dieser Organisation bin, wünsche ich mir nichts mehr als seine Anerkennung. Und ich weiß, dass er ein richtiges Arschloch sein kann, aber es gibt nichts Schöneres, als wenn er dir sagt, dass du etwas gut gemacht hast. Wenn er zufrieden mit deiner Arbeit ist.“   Auch wenn Sakura das nur ungern zugab, kam ihr das durchaus sehr bekannt vor. Ihre eigenen Gefühle gegenüber Sasuke waren ebenfalls mehr als nur ambivalent. Die Faszination, die er auf einen ausüben konnte, diesen Drang, seine Anerkennung zu erhalten, war mit purer Logik nicht zu erklären. Dennoch hörte sie bei Karin noch eine weitere Nuance heraus. Während Sakura nahezu ununterbrochen gegen dieses Gefühl anzukämpfen versuchte, schien Karin geradezu süchtig danach zu sein.   „Es ist nicht so, dass ich mir einbilde, dass Sasuke irgendetwas für mich empfinden würde“, fuhr sie fort. „Aber zumindest hab ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es irgendwann einmal so sein könnte. Und solange ich noch die einzige Frau in seinem Leben war, war das gar nicht mal so abwegig.“   Also war sie tatsächlich in ihn verliebt. Sakura wollte sich gar nicht vorstellen, um wieviel schlimmer es für sie sein musste, seine Anwesenheit und seine Launen Tag für Tag zu ertragen, immer in der Hoffnung, dass er sie irgendwann einmal mit anderen Augen sehen würde. Die Sprüche zu ertragen, die Suigetsu ihr regelmäßig an den Kopf knallte. Denn dass sie noch Hoffnung hatte, war unverkennbar herauszuhören. Allerdings war es eine schmerzhafte Hoffnung und eine, die sie mit jedem weiteren Tag nur noch mehr vergiften würde. Sasuke war nicht dazu in der Lage zu lieben.   „Aber dann bist du gekommen. Aus heiterem Himmel. Er hat dich persönlich rekrutiert und ist ab diesem Zeitpunkt wie eine Glucke um dich herumgeschwirrt.“ Karin sah sie aus dem Augenwinkel heraus fragend an, fast so als erwarte sie von ihr eine Erklärung für sein Verhalten. „Er hat dich einfach so in die Organisation aufgenommen. Hat dich persönlich trainiert. Lässt dich sogar an dem verdammten Wettbewerb teilnehmen.“   „Ich bin nur eine Notlösung.“   Sakura wusste selber nicht, warum sie das sagte. Die Worte waren einfach so aus ihrem Mund gekommen. Vielleicht, weil der verletzte Ausdruck in Karins Augen auch ihr wehtat. Vielleicht, weil sie ihre ehemalige Feindin jetzt in einem ganz anderen Licht sah. Vielleicht aber auch einfach, um sich selbst noch einmal deutlich zu machen, was ihre Rolle in dem ganzen Drama war. Sasuke sah in ihr nicht mehr. Und das würde er auch nie. Sie war einfach nur die Notlösung, für die er sich gemeinsam mit Shikamaru entschieden hatte, nachdem Sai nicht mehr verfügbar gewesen war.   „Das bist du nicht“, widersprach Karin. „Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich Sasuke mittlerweile sehr gut kenne. Er würde sich niemals mit einer Notlösung zufrieden geben.“   Erneut wollte Sakura ihr widersprechen, doch sie konnte in ihrem Gesicht sehen, dass Karin ihr sowieso nicht glauben würde. Sie war verletzt. Sie war traurig. Aber wie sie gesagt hatte, handelte es sich nicht um etwas Persönliches.   „Er hat gesagt, dass er mich gehen lässt… wenn ich den Wettbewerb gewinne.“   Wieder wusste Sakura nicht, warum sie ihr das erzählte. Doch für den Bruchteil einer Sekunde sah sie tatsächlich ein hoffnungsvolles Schimmern in Karins Augen. Auch wenn es für den Moment vielleicht das Richtige gewesen war, würde er ihr am Ende das Herz brechen, da war Sakura sich sicher. Und wenn Karin schlau war, würde sie der Organisation ebenfalls so schnell wie möglich den Rücken kehren. Aber verliebte Menschen verhielten sich in den seltensten aller Fälle schlau.   „Wir sind da“, unterbrach Karin ihre Gedanken.   Der Wagen rollte auf einen kleinen Parkplatz in der Seitenstraße hinter dem Bahnhof und kam schließlich mit einem letzten Brummen des Motors zum Stehen. Damit war ihr Gespräch wohl beendet. Sakura stieg aus und schnappte sich den Rucksack von der Rückbank. Dann sah sie sich unauffällig um. Nicht weit von ihnen entfernt entdeckte sie eine unförmige Gestalt, die sich nervös im Schatten herumdrückte und ungeduldig auf etwas zu warten schien. Naruto. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)