Urlaubsreif^2 von flower_in_sunlight (auch ein Chef braucht mal Urlaub) ================================================================================ Prolog: 13.3. ------------- „Kommen wir nun zur nächsten Position.“ Seto Kaiba saß wie immer mit dem Rücken zum Fenster seines Büros. Es würde ihn nur ablenken, wenn er sich in der Betrachtung der Stadt draußen verlor, die allmählich aus ihrem Winterschlaf erwachte – er war auch ohne bereits abgelenkt genug. Die vergangenen drei Wochen hatte er wie gewohnt gearbeitet und versucht seine Routine wiederzufinden, die er während seines Urlaubs im Februar verloren hatte, doch immer wieder glitten seine Gedanken ungefragt dorthin zurück. Dafür, dass er eigentlich ereignislos verstrichen war, war einfach zu viel passiert. „Ja, der Zulieferer hat mir vertraglich versichert, dass er die Lieferfristen einhalten wird.“ Und so saß er nun wie gewohnt an seinem Schreibtisch und besprach via Telefon den neuesten Vertrag mit einem seiner Geschäftspartner. Aber auch wenn er gerade bei diesem sehr genau darauf achten musste, nicht übers Ohr gehauen zu werden, konnte er sich immer noch nicht wirklich konzentrieren. An dem Samstag, als er zurück nach Domino kam, hatte er sich seinem Bruder zu Liebe nicht mehr an den Computer gesetzt und weiter recherchiert, auch wenn es ihn brennend interessiert hatte, zu erfahren, was für ein Mensch dieser eine Kerl in Wahrheit war. Joseph Pegasus. Selbst die Zusammenstellung von Vor- und Nachname war so lächerlich, dass er kaum hatte glauben können, dass es sich dabei um eine reale Person handelte. Die leisen Stimmchen, die ihm ins Ohr flüsterten, dass es diese Kombination durchaus geben konnte und sie ihn tief in seinem Innersten verletzte, hatte er bereits am Sonntag zu überhören gelernt. Mittlerweile hatte er weiter nachgeforscht. Es existierte tatsächlich jemand mit diesem Namen, auch wenn es kaum Bilder zu ihm gab. Er hatte Zeugnisse der Hotelschule gefunden – Jahrgangsbester. Empfehlungen. Auszeichnungen als Sommelier. Ein kleiner Hinweis auf sein Hotel. Mehr schien es nicht zu geben. Bis vor acht Jahren konnte er keine Spuren von ihm finden. Und das war es, was ihn so beunruhigte. Was hatte er nur davor getrieben? Er hatte ihm von seiner Schulzeit erzählt und es hatte ganz normal geklungen. Ein durchschnittlicher Schüler. Aber er hatte kein einziges Zeugnis finden können auf diesen Namen, kein Eintrag in einem Schulregister. Seine Suche hatte selbst die USA nicht ausgelassen und war doch erfolglos geblieben. Er atmete einmal tief durch und wandte seine volle Konzentration wieder seinem Gesprächspartner zu, der gerade seine Sorgen bezüglich des Abschnittes mitteilte, der sich um das Marketing ihres neuen Produktes drehte. Ob er etwas wusste? Zu gerne hätte Seto gefragt, doch er wusste es besser, als ihm einen möglichen Angriffspunkt zu verraten. So versuchte er nur ihn zu beschwichtigen und nannte ihm die Namen der Agenturen, mit denen seine eigene Marketingabteilung zusammenarbeiten würde für dieses Projekt. Das schien ihn zu beruhigen. Seit über einer Stunde brüteten sie nun schon zu zweit über dem Vertrag, aber bis jetzt war es nur um Kleinigkeiten gegangen. „Dann zum nächsten Abschnitt. Ich bin der Meinung, dass unsere beiderseitigen Einnahmen dabei deutlich zu gering sind.“ Dieser Satz erstaunte Seto. „Inwiefern?“ Er hasste es, wenn man ihn auf Versäumnisse hinwies. „Meine Berater haben alles noch einmal durchgerechnet und kamen zu dem Schluss, dass für beide Seiten eine Steigerung um 10 Prozent möglich wäre – ohne, dass sich die anderen Positionen dadurch verändern würden.“ Seto knirschte mit den Zähnen. Sollte das wirklich stimmen, würden ein paar Köpfe rollen. „Ich werde das überprüfen.“ „Ich hatte nichts anderes von Ihnen erwartet. Wir müssen sowieso einen weiteren Termin ausmachen, um die Überarbeitung der anderen Punkte zu inspizieren. Dort könnten wir auch unsere Ergebnisse im Bezug darauf vergleichen.“ Ein leichtes Grummeln in Setos Bauch zeigte ihm, dass sein er schon wieder nicht richtig zu Mittag gegessen hatte. Leider hatte sich sein Körper viel zu leicht an die großen Mahlzeiten im Hotel gewöhnt und weigerte sich nun mit weniger auszukommen. Mit einer Hand suchte er in seinen Schreibtischschubladen nach einem Schokoriegel, während er weiter sprach: „Das wäre auch mein Vorschlag. Es wäre fatal, wenn uns an dieser Stelle ein Fehler unterlaufen würde.“ Seine Hand schloss sich um den Riegel. Schnell, aber leise riss er das Papier auf und biss hinein. Zu viel auf einmal konnte er nicht essen, falls er schnell kontern müsste, doch tat ihm der süße Geschmack gut. „Kommen wir also zum nächsten Punkt. Sind Sie mit dem Erscheinungstermin einverstanden?“ Doch statt einer Antwort hörte er plötzlich Kinderstimmen von der anderen Seite der Leitung, gefolgt von einer gedämpft klingenden Stimme eines Mannes, der ihnen etwas zurief. Sie kam ihm seltsam bekannt vor. Aber woher nur? „Entschuldigung? Sind Sie noch da?“, fragte er nach einer Minute der Stille. „Ja, natürlich. Wo waren wir? Erscheinungstermin, richtig?“ Sein Gesprächspartner wirkte leicht abgelenkt. Vielleicht konnte er das ja noch zu seinen Gunsten nutzen, obwohl sie nun fast durch den Vertrag waren. Wieso hatte die Störung nicht früher kommen können? „Richtig. Aber was war das gerade bei Ihnen?“, versuchte er den Status aufrecht zu erhalten. „Die Kinder meiner Schwester. Sie werden im Sommer sieben.“ Seto horchte auf. „Sie...Sie haben eine Schwester?“ Die Überraschung in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Aber davon steht in keinem Bericht über Sie etwas!“ „Wohlweislich. Dreimal dürfen Sie raten, woher ich vor zehn Jahren wusste, dass ich am Besten über Mokuba an Sie heran komme.“ Eine einfache klare Feststellung, so als sprächen sie über das Wetter. „Aber Martine hat zum Glück gelernt auch ohne unseren Familiennamen ganz gut klar zu kommen. Nur missbraucht sie mich immer als Babysitter, wenn sie längere Aufträge außerhalb hat.“ Plötzlich ging Seto ein Licht auf. Seine Erregung konnte er kaum verbergen, als er nun möglichst unbeteiligt fragte: „Und weitere Geschwister? Irgendein jahrelang verschollener Bruder oder eine weitere Schwester, von der die Welt nichts weiß?“ Pegasus lachte auf. „Bloß nicht! Ich denke mit einer Schwester bin ich schon genug gestraft! Aber ich würde vorschlagen, dass wir zum Geschäftlichen zurückkehren, bevor ich noch versucht bin, Ihnen den Titel meines Lieblingscomics zu verraten.“ „Natürlich.“ Seto räusperte sich. „Dann ist der Erscheinungstermin für Sie so in Ordnung?“ Keine weiteren Geschwister. Aber wie war er dann an den Nachnamen gekommen? Denn so einen Scherz würde er sich wohl kaum mit dem Nachnamen seines Geschäftspartners und Gönners erlauben, oder? Seto hatte viel überlegt, welcher amerikanischer Geschäftsmann dafür in Frage kommen würde, doch an Pegasus hatte er gar nicht gedacht. Das hatte sich nun mit der Offenbarung, dass er sehr wohl noch Familie hatte, geändert. Es musste doch einen Weg geben, um an weitere Informationen zu gelangen. Zum Glück war das Telefonat danach sehr schnell beendet. Sie legten den nächsten Termin fest und beschlossen, alles weitere dann zu klären, da im Hintergrund schon wieder aufgeregte Kinderstimmen zu hören waren. Kurz schloss Seto die Augen, nachdem er sein Headset losgeworden war. Maximillion Pegasus und Kinder. Irgendwie wollte das so gar nicht zusammen passen. Natürlich hatte er das Spiel des letzten Jahrzehnts entwickelt, doch hatte er ihn immer so eingeschätzt, dass Mütter ihre kleinen Kinder von ihm wegzogen oder gar die Straßenseite wechseln würden, wenn er ihnen entgegen kam. Was war seine Schwester nur für ein Mensch, dass sie ihm so blind ihre Kinder anvertraute? Es war Zeit es herauszufinden. Er ließ sich die Verbindung zu seiner Sekretärin aufbauen und fragte, ob Mokuba noch im Haus sei. Wenn ja, solle er im Lauf der nächsten Stunde zu ihm kommen. Seto Kaiba glaubte nicht an das Schicksal, aber genauso wenig an Zufälle, und momentan war das die einzige Spur die er hatte. Während er auf seinen kleinen Bruder wartete, aß er seinen Schokoriegel weiter und studierte noch einmal den Vertrag. Die Überprüfung der Berechnung würde er am Abend machen, wenn es in seiner Firma ruhiger war. Ohne zu klopfen streckte sich ein schwarzer Wuschelkopf durch die Tür. Er fand es immer noch schade, dass er seine Haare so stark gekürzt hatte. „Hallo, großer Bruder.“ Aber es stand ihm und Seto wusste genau, wie viele vergeblich versuchten die Art wie seine Haare einfach so fielen mit viel Aufwand nachzuahmen. Nun kam der Frauenschwarm seiner Firma auf seinen Schreibtisch zu und setzte sich in einen der Sessel, die davor standen. Er hatte sich irgendwann damit abgefunden, dass für die Damenwelt sein Bruder attraktiver geworden war als er – es ersparte ihm auch eine Menge Stress – selbst, wenn Mokuba offiziell noch studierte und nur gelegentlich in der KC arbeitete. „Was ist Seto? Du machst so ein ernstes Gesicht“, wollte er von seinem großen Bruder wissen. Irgendwie verhielt er sich in den letzten Wochen seltsam und er hatte keine Ahnung woran das liegen könnte. Er bestand plötzlich auf Frühstück – hatte sogar an den Wochenenden selbst ein traumhaftes Rührei zubereitet, das sogar ihre Köchin neidisch gemacht hatte - und schien plötzlich netter auch anderen gegenüber, aber dann waren da auch gleichzeitig die Momente, in denen er seltsam ernst und abwesend wirkte. „Diese Fotografin, die dir das Hotel empfohlen hat, in dem ich im Urlaub war...“ „Ja?“ Er hatte keine Ahnung, worauf er hinaus wollte. Würde nun endlich die Standpauke dafür kommen, dass er ihn wissentlich zwei Wochen von der Firma abgekapselt hatte? „Lade sie ein.“ Eine Augenbraue huschte nach oben unter die Haare, die ihm wirr in die Stirn hingen. „Wie bitte?“ „Lade sie zum Frühlingsball ein. Das wolltest du doch schon letztes Jahr machen. Ich hab darüber nachgedacht und es spricht eigentlich nichts dagegen, dass sie kommt.“ Die zweite Augenbraue folgte. Er hatte einst seinen besten Hundeblick eingesetzt, um das zu erreichen, was er soeben nebenbei hörte. Woher kam dieser unerwartete Sinneswandel nur? „Mach ich...Apropos Ball. Welchen Anzug willst du eigentlich anziehen? Die Reinigung hat mich heute Vormittag drauf angesprochen.“ „Noch keine Ahnung. Notfalls nehme ich einen von deinen. Schließlich passen sie mir mittlerweile, ohne dass man meine Socken sieht.“ „Das glaubst aber auch nur du. Du füllst definitiv nicht meine Jacketts aus. Entscheide dich einfach bis Sonntag, okay?“ Er stand auf. „Muss jetzt weitermachen. Der Caterer wollte mit mir noch die Vorspeise besprechen. Und außerdem muss ich jetzt ja noch versuchen, irgendwie Martine zu erreichen.“ Er streckte die Hand aus und wuschelte kurz durch Setos perfekt sitzende Haare. „Bis nachher zu Hause.“ Seto blickte ihm nach und richtete seine Frisur erst, als er bereits aus der Tür war. Wie viele Frauen konnte es schon mit diesem Namen geben? Und wieso musste er sich noch eine volle Woche gedulden, bis er endlich seine Antworten bekam? Erst jetzt fiel ihm das Datum auf und er wurde weiß. Kapitel 1: Mittwoch 18.3. ------------------------- Sie machte den Motor aus und stieg aus dem grauen Kombi. Gierig sog sie die Waldluft gemischt mit einem Hauch frischer Brise vom Meer ein. Jedes Mal, wenn sie hierher kam, hatte sie das Gefühl, ihr letzter Besuch wäre schon viel zu lange her gewesen. Aus dem Kofferraum schnappte sie sich ihre große Handtasche und trat von der schmalen asphaltierten Straße auf den Waldboden. Mal schauen, wenn sie finden würde. Matt blickte auf, als ihn etwas sanft an der Wange berührte. „Hallo, Matt“, begrüßte Martine ihn und ließ dem Küsschen eine Umarmung folgen, ungeachtet der Tatsache, dass die Gefahr bestand sich ihre Kleidung mit Blumenerde und Dünger zu versauen, da er sich gerade um die Frühjahrsbepflanzung kümmerte. „Ich hatte ganz vergessen, dass es schon wieder so weit im Jahr ist, dass du im Garten arbeitest.“ Er grinste sie an. „Und offensichtlich auch, dass wir einmal Französisch miteinander gesprochen haben, Petite?“ Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. „Das natürlich nicht“, wechselte die Sprache. „Nur war Englisch die letzten paar Wochen in Norwegen die bessere Wahl. Gibt's was Neues, das ich wissen sollte?“ „Wann hast du das letzte Mal hier angerufen?“, wollte er zuerst wissen. Für sie machte er zwar eine Ausnahme, aber er tratschte – wie sie genau wusste – nicht gerne. „Vor knapp einem Monat. Genauer gesagt hat mich Chef angerufen.“ Matts Blick wurde ernst. „Dann weißt du es noch gar nicht. Im Hotel ist alles in Ordnung, aber dein Lieblingsneffe verhält sich seltsam. Er kommt zu den Mahlzeiten, er arbeitet, aber dann ist er verschwunden. Cian hat letzte Woche herausbekommen, dass er sich immer ins Drachenzimmer zurückzieht. Du hast nicht vielleicht irgendeine Idee, woran das liegen könnte?“ „Nur einen Verdacht. Wenn überhaupt. Ich werde mal nach ihm sehen. Danke.“ Sie drückte ihn nochmal und er konnte in ihren Augen sehen, wie viel Sorgen sie sich tatsächlich machte, obwohl sie Chef noch nicht gesehen hatte. Er konnte nur hoffen, dass sie zu ihm durchkam. Denn sie selbst waren daran gescheitert. Jedes Mal, wenn Yuki zu ihm ging, um ihn zum Essen zu holen, hatte er sehen können, wir ihr Lächeln weniger wurde. Hans schickte Shin regelmäßig aus der Küche, weil er Angst hatte er könne sich selbst noch verletzen, nachdem er mit ihrem Vorgesetzten gesprochen hatte. Selbst Cians aufbrausendes Temperament entlockte ihm nicht mehr als ein kurzes Schulterzucken, bevor er sich wieder mit seiner Arbeit beschäftigte. Und er selbst blieb weiterhin der stumme Beobachter, hin und hergerissen zwischen seiner Loyalität ihm gegenüber und gegenüber der Familie Pegasus. Schnellen Schrittes ging Martine den Waldweg entlang. Unter anderen Umständen hätte sie sich über den leichten Schimmer frischen Grüns gefreut, wäre sogar stehen geblieben für ein paar Schnappschüsse. Doch nun achtete sie nur auf den Weg. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwarten würde. Er hatte, seit sie ihn kannte, immer wieder Phasen gehabt, in denen er sich von seinem Umfeld zurückzog, aber bis jetzt waren das nur Stunden gewesen, vielleicht mal ein Tag. Aber keine Wochen. Vor der Haustür nahm sie ihren Schlüssel aus der Hosentasche und schloss lautlos auf. Die Kinderzimmertür war nicht verschließbar, aber sie wusste sehr wohl, dass man sie von innen leicht versperren konnte. Etwas, das sie vermeiden wollte. Die Tasche ließ sie zurück und schlüpfte aus ihren Schuhen. Pantoffeln sparte sie sich, ohne war sie leiser. Auf Zehenspitzen durchquerte sie das Wohnzimmer und drückte sanft die Tür zum Drachenzimmer auf. An wie vielen Tagen hatte sie schon vergeblich versucht ihre Kinder aus diesem hinaus zu bekommen, weil sie lieber unter der wohlwollenden Aufsicht des weißen Drachen spielten, als unter dem strengen Blick ihrer Mutter. Sie hatte es immer wieder geschafft, doch das hier war von einem anderen Kaliber. Für einen kurzen Moment setzte ihr Herz aus. Sie hatte bewusst jeden Gedanken daran, was sie vorfinden könnte, unterdrückt, und dennoch stellte das hier alles in den Schatten, was sie sich hätte vorstellen können. Was hatte sie nur getan? Auf dem unteren Bett saß mit angezogenen Knien und darüber gezogenem grauem Pulli ihr Neffe. Die Arme hatte er um die Beine geschlungen und über allem thronte sein Kopf, wobei sie nur die wirr zu allen Seiten abstehenden Strähnen sah. Trotz seiner Körpergröße wirkte er wie ein kleines aufgeplustertes Küken, das vergeblich versuchte, sich gegen die ungewohnte Kälte der Welt zu schützen. Vorsichtig trat sie ein und machte den ersten Schritt auf ihn zu. Als er sich nicht regte, näherte sie sich ihm weiterhin, bis sie schließlich neben ihm auf dem Bett saß. Erst dann hob er den Kopf und blickte sie an, nein, durch sie hindurch, als könnte er nicht glauben, dass sie da wäre. „Du bist früh. Ich hatte dich erst in zwei Wochen erwartet“, brachte er mit rauer Stimme hervor. Nichts in seinen Augen deutete daraufhin, dass er es als Scherz meinte. „Aber ich hatte dir gesagt, dass ich heute kommen würde“, antwortete sie sacht. Wann hatte er das letzte Mal für länger als den kurzen Weg hierher das Sonnenlicht gesehen? Kraftlos schüttelte er den Kopf. „Nein, du sagtest 19. und heute ist erst der...“ - „18. Ich wollte die Strecke nicht an einem Tag fahren und hatte gehofft noch ein paar Aufnahmen vom Wald machen zu können.“ Irritiert wiederholte er: „18.? Aber … wir haben doch erst Anfang März und ...“ So wie er war schloss sie ihn in ihre Arme. Sie drückte ihn ein wenig fester als sie es sonst getan hätte, doch er ließ es ohne eine einzige Beschwerde zu. Seinen Kopf immer noch an ihrer Schulter fragte sie: „Was ist nach unserem Gespräch passiert?“ Ohne den Blick zu heben, flüsterte er: „Ich hab ihm die Nachricht geschrieben. Die Nachricht mit meinem Namen drin. Er hat mich die ganze Zeit danach gefragt und ich hatte es einfach … satt. Hab ihn damit vertröstet, es ihm bei seiner Heimkehr zu schreiben, in der Hoffnung, dass er von alleine drauf käme. Ein paar Mal hatte ich das Gefühl, er würde es schaffen. Ein anderes Mal, dass er … er Gefühle für mich hätte. Ich hab gedacht, dass ich es bei einem Spiel belassen könnte, dachte all meine Gefühle von damals wären tot. … Die ersten paar Tage danach war alles okay.“ Martine spürte, wie ihre Schulter langsam nass wurde. „Aber dann schlug alles über mir zusammen. Er hat sich nicht mehr gemeldet. Keine Reaktion, auf welche Art auch immer. … Hat mir noch einmal das Herz herausgerissen.“ Die nächsten Minuten war er nicht in der Lage, mehr zu sagen. Er brauchte einfach jemanden, der ihn fest hielt und nicht mehr losließ, bis er es wollte. Als sie spürte wie er sich etwas aufrichtete, lockerte sie die Umarmung, dennoch blieb er an ihre Schulter gelehnt. Allmählich passte sich sein unregelmäßiger Atem ihrem ruhigeren Rhythmus an. Vorsichtig strich sie ihm ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Wollte sie mehr wissen, so war es das Beste einfach zu warten, was er von sich aus erzählen würde. Und ihre Geduld wurde belohnt. Zaghaft fing er plötzlich an zu erzählen. Davon, wie er ihm eröffnete, dass er in den zwei Wochen auf dem Hotelgelände nicht würde arbeiten können, davon, wie er aus Sorge um ihn in den Wald ist, davon, wie sie gemeinsam mit dem Team den Valentinstag verbracht hatten und er nachts seine Lieblingsschokolade bekam, und dann schließlich von den Stunden, die nur ihnen allein gehört hatten. Während er sprach wechselte sein Gesichtsausdruck von neutral zu schelmisch und wieder zurück. Endlich war er wieder wie ein offenes Buch. Martine erfuhr so viel mehr als er wahrscheinlich beabsichtigte Preis zu geben und es half ihr zu verstehen. Joseph schwankte so stark zwischen seinen Gefühlen, dass er selbst kaum damit zurecht kam. Mal wollte er seine alte Liebe am Boden sehen, mal einfach nur in seine Arme schließen. Hass ist nicht das Gegenteil von Liebe, schoss es ihr durch den Kopf, sondern nur eine weitere, dunklere Facette von ihr. Chef endete mit seinem Hochgefühl nach dem Verschicken der E-Mail und löste sich von ihr. Seine dunkelbraunen Augen schienen in ihren Bestätigung zu suchen, während sie selbst immer noch darüber nachdachte, wie sie ihm helfen konnte. Bei ihrem letzten Gespräch hatte er gedacht, dass mit der Bekanntgabe seines Namens die Geschichte beendet war, doch sie wusste es besser. Sie waren gerade erst in der Ausgangsposition, um alles, was zwischen ihnen stand, aus dem Weg zu räumen. Die beiden mussten dringend miteinander reden und nach all den Jahren würden sie es endlich auf Augenhöhe tun können. Aber wie weit durfte sie selbst sich einmischen? Ihr letzter Beitrag hatte zu dem Häuflein Elend geführt, das nun vor ihr saß. Das Äußerste, das sie tun konnte, war dafür zu sorgen, dass sie die Chance auf ein Gespräch erhielten. Mehr nicht. Würden sie sich nicht in nächster Zeit endlich aussprechen, würde dies zumindest ihren Neffen von innen heraus zerstören – etwas, das sie nicht zulassen konnte. „Gefühle sind kompliziert“, fing sie vorsichtig an. „Es ist zwar wichtig, dass man versucht sie zu verstehen, aber man sollte sich nicht von ihnen beherrschen lassen. Es wird dir nicht viel bringen, wenn du dir nur Selbstvorwürfe machst - zu dieser Geschichte gehören nämlich zwei. Und ich verspreche dir, dass ich diesen Kerl ungespitzt in den Erdboden ramme, wenn er sich dir gegenüber weiterhin so benimmt und du dich deswegen einigelst.“ Die Vorstellung schien ihn zu erheitern, denn ganz kurz zuckten seine Mundwinkel nach oben, auch wenn sein Gesicht immer noch verquollen war von seinen Tränen. „Du bist einer der besten, nettesten und klügsten Männer deines Alters, die ich kenne, und wer das nicht erkennt, kann noch so oft als Genie betitelt werden, er bleibt ein Idiot.“ Sein Mund zitterte gefährlich, jedoch nicht, weil er gegen ein erneutes Weinen ankämpfte, sondern weil die Ernsthaftigkeit ihrer Worte einfach entwaffnend war. Zwei Augenblicke später kugelte er sich vor Lachen auf der Matratze und brachte etwas heraus, das klang wie „Martine, du bist klasse! Du würdest es auch fertig bringen …“. Doch der restliche Satz ging in seinem schallenden Lachen unter, das sie mit ihrem mädchenhaften Kichern begleitete. „Du solltest ins Bad gehen und dir das Gesicht waschen“, meinte sie nach einer Weile. Er hob die Hand und betastete es, bevor er ihr zustimmte: „Ja, sollte ich wirklich. Schlimm genug, dass du diesen Anblick ertragen musst, aber den anderen kann ich das wirklich nicht antun. Die kriegen noch den Schock ihres Lebens und sind die nächsten Tage arbeitsunfähig.“ Er stand auf und wechselte auf leicht wackeligen Beinen den Raum, während sie selbst zurückblieb und nun an seiner Statt auf den gemalten Drachen starrte. Er schien sich etwas gefangen zu haben, doch sollte sie darauf achten, wie er sich in den nächsten Tagen verhielt. Eigentlich hatte sie ihm von Mokubas E-Mail erzählen wollen, doch im Moment war es besser, diese Information vorerst für sich zu behalten. Seufzend stand sie auf und streckte sich. Chef sollte mittlerweile wieder akzeptabel aussehen und das leichte Knurren ihres Magens verriet ihr, dass es höchste Zeit fürs Abendessen war. Und selbst, wenn noch nicht, Hans würde ihr bestimmt was Kleines zubereiten. Der Blick in den Spiegel stellte ihn immer noch nicht zufrieden. Wie hatte er sich nur so hängen lassen können? Sein Spiegelbild wirkte zu dünn, seine Haare waren matt und unter den Augen lagen dunkle Schatten. Wenn er früher die Nächte durch gemacht hatte, hatte er danach deutlich besser ausgesehen. Er drehte den Wasserhahn noch einmal auf und hielt dann die Hände so darunter, dass das kalte Nass sich in ihnen sammeln konnte. Er klatschte sie sich ins Gesicht, bevor er mit noch feuchten Händen versuchte, seine Haare wieder nach hinten zu frisieren. Nur mäßig begeistert von dem Ergebnis rieb er das Waschbecken nach und trat hinaus ins Wohnzimmer. Martine saß nicht mehr im Kinderzimmer, hatte aber anscheinend die Bettdecke ausgeschüttelt und wieder ordentlich aufs Bett gelegt. Also war sie vermutlich schon im Flur. Fasziniert sah er ihr zu, wie sie sich ihre Stiefel wieder zu schnürte, bevor er selbst die Schuhe anzog. Er brauchte sie nicht fragen, er wusste es auch so. Sie würde Stillschweigen bewahren darüber, in welchem Zustand sie ihn gefunden hatte und was er ihr anvertraut hatte. Das war einer der wenigen Punkte bezüglich ihm selbst gewesen, bei dem er dem Eisklotz gegenüber vollkommen ehrlich gewesen war. Sie war seine Vertraute. Cian traute seinen Augen nicht, als die Tür zum Mitarbeiterraum aufschwang und hinter Martine sein Chef eintrat. Er wirkte immer noch erschöpft und etwas unsicher auf den Beinen, so wie die vergangenen Wochen, aber seine Augen funkelten wieder und das auf seinen Lippen sah sehr verdächtig nach einem Lächeln aus. Sie hatte es also geschafft - so wie immer. Martine bog gleich in Richtung Küche ab, während ihr Neffe etwas unschlüssig im Raum stehen blieb. Doch dann entdeckte er Cian und trat zu ihm. „Besser?“, fragte dieser schlicht und machte ihm etwas Platz auf der Bank. „Ein wenig“, kam die Antwort zurück, während er Platz nahm. „Ich werde morgen für eine Woche mit Martine nach Domino fahren. Es wird mir vermutlich gut tun, ein wenig hier raus zu kommen.“ Aus der Küche hörten sie Hans und Martine diskutieren. Anscheinend ging es darum, wann es Abendessen gab und ob er ihr vorher noch eine heiße Schokolade machen würde. „Privat oder hat sie einen Auftrag dort?“ Cian war bemüht, das Gespräch am Laufen zu halten. „Mehrere sogar. Ich werde also eine Menge Freizeit haben.“ Ein paar Minuten später fanden sich auch die anderen ein. Hans hatte sich wohl durchgesetzt und einfach das Abendessen ein wenig vorgezogen. Dem Chef entging der Blick, den Matt mit Martine wechselte, jedoch nicht die Freude, die sich auf Yukis Gesicht breit machte, als sie sich neben ihn auf die Bank zwängte. „Abend, Chef“, versuchte sie noch ein wenig mehr Platz zu erhalten, scheiterte damit aber bis Martine sich einmischte. „Rutscht du durch, Kleiner, damit ich mich auch setzen kann?“ „Wofür haben wir Stühle“, konterte er, gehorchte allerdings, als er sah, was Hans hereintrug. „Pfannkuchen zum Abendessen?“ „Wieso nicht? Matt hatte Martine bei mir angekündigt und sie hatte lange keine mehr.“ Grinsend wandte sich Chef seiner Tante zu. „Kannst du öfter vorbeikommen?“ Ihr Lächeln ließ ihre Augen aufblitzen. „Du willst doch nur noch mehr leckeres Essen!“ Daraufhin lehnte er sich schmollend zurück. „Gar nicht wahr.“ „Sehr wohl wahr.“ Während des Essens lachten und scherzten sie. Hans hatte genug gemacht, dass sie alle sich kugelrund danach fühlten und noch eine Weile sitzen blieben und weiter redeten. Martine ließ sich genau aufzählen welche Schokoladensorten Shin im Valentinstagsmenü hatte verschwinden lassen und erzählte ihrerseits dafür von Norwegen. Letzten Endes kam sie auch nicht drum herum mit Hans Notfallwhiskey zu demonstrieren, welche Trinksprüche sie gelernt hatte. „Wo schläfst du heute eigentlich?“, fragte Cian schließlich, der ebenfalls einen Whiskey ergattert hatte. „Nummer 3 ist zwar sauber, aber wir bekommen morgen Gäste dafür.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Macht nichts. Ich hatte eh vor, in meinem alten Zimmer zu schlafen.“ An dieser Stelle protestierte Chef: „Hey! Ich will meine Ruhe haben! Ich hab meinen letzten Übernachtungsgast gerade so überlebt, da brauch ich nicht auch noch meine verrückte Tante!“ Martine nahm noch einen Schluck und streckte ihm dann die Zunge raus. „Keine Angst. Ich meinte ganz oben. Und Cian...?“ „Ja.“ „Es reicht mir, wenn du mir einfach die Bettbezüge mitgibst. Musst also keinen Aufwand wegen mir betreiben.“ „Seit wann bist du Aufwand?“, wollte Shin wissen. „Sag ich doch. Aber momentan ist eh noch zu früh, um schlafen zu gehen. Haben wir noch was zu trinken da?“ Kapitel 2: Silvester -------------------- Er lief den langen Flur entlang, der das Wohnzimmer mit dem Rest der Villa verband. So wirklich würde er sich wohl nie daran gewöhnen, dass sie sein Elternhaus war. Schließlich war er hier nicht aufgewachsen und die Familie verbrachte den Großteil des Jahres in Japan. Aber sein Vater hatte darauf bestanden, Weihnachten und den Jahreswechsel in den USA zu verbringen, weil er mit der japanischen Version von Weihnachten nichts anfangen konnte – so als Witwer. Also hatte er sich gefügt, seinem Team frei gegeben, das Hotel dicht gemacht und war mit dem Rest der Familie über den Pazifik geflogen. Besagter Rest saß jetzt im Wohnzimmer und war zu seinem Glück noch immer mit den Geschenken beschäftigt, die es eine Woche zuvor gegeben hatte. Doch die eigentliche Hauptperson des Abends hatte sich zurückgezogen. Und so hatte er nach einer halben Stunde seine Cousine und seinen Cousin allein gelassen, um nach ihrer Mutter zu suchen, die sich vor dem Anschneiden des Kuchens aus dem Staub gemacht hatte. Eine Frechheit wie er fand. Er hatte immer noch Hunger und hätte sich sehr über ein großes Stück Torte gefreut. Auf der Höhe der siebten Tür, an der er vorbei lief, hörte er endlich etwas, das ihn optimistisch stimmte. Er hätte auch gleich wissen können, dass sie sich dort aufhielt. Sachte öffnete er die Tür zum Musikzimmer. Er liebte dieses Zimmer, das halb schon eine Bibliothek war. Eine Wand war vollkommen beherrscht von einem Regal vollgestopft mit Musiknoten für Klavier und Geige. Doch auch wenn es genug Möglichkeiten gab sich hinzusetzen, beherrschte doch ein großer Flügel den Raum und machte jedem Besucher sofort klar, welches Instrument eindeutig bevorzugt wurde. Auf dem Hocker davor fand er nun auch seine Tante, die verträumt vor sich hin klimperte. Noch hatte sie ihn nicht bemerkt und er konnte ihr einfach in Ruhe zuhören, während er in der Tür stehen blieb. Viel zu selten hörte er sie spielen. Mittlerweile hatte sie zu einem richtigen Lied gewechselt. Als sie geendet hatte, blickte sie zu ihm. „Erwischt“, lächelte sie ihn an. „Ja. Erwischt“, erwiderte er. „Wie kommst du nur darauf, dich an deinem 30. Geburtstag aus dem Staub zu machen?“ Er nahm sich einen weiteren Hocker und stellte ihn neben ihren, sodass er sich mit ihr angenehmer unterhalten konnte. „Nennen wir es Melancholie. Ich wollte einfach nur ein bisschen darüber nachdenken, wie sich mein Leben in den vergangenen zehn Jahren verändert hat. Und da kam einiges zusammen. Mein Leben im goldenen Käfig. Yugis Sieg im Königreich der Duellanten. Der Aufbau meiner Karriere. Meine Schwangerschaft. Du. Ethan und Clara. Die beiden werden so schnell groß. Und ich hab Angst etwas bei ihrer Erziehung falsch zu machen. Was wenn ich sie aus Versehen total verziehe, wenn sie später nicht selbstständig sind, wenn sie zu sehr nach ihrem Vater kommen, wenn ...“ „Du machst dir wirklich zu viel Sorgen. Die beiden sind wunderbar und sie haben eine ebenso wunderbare, wenn auch manchmal etwas sonderbare Mutter. Ich würde mir, ehrlich gesagt, eher wegen des Onkels Gedanken machen.“ Aufmunternd lächelte er sie an und wechselte dann das Thema. „Was war das eigentlich für ein Lied gerade eben?“ „Ach das. Nur eine kleine Phantasie, um den Kopf frei zu bekommen. Ich kann aber auch was Richtiges spielen, wenn du möchtest.“ „Gerne.“ „Wünsche?“ „Nein. Spiel einfach das, worauf du gerade Lust hast.“ Bereits nach dem ersten Takt erkannte er „Angels“ und summte leise an den Stellen mit, die mit Text versehen waren. Nach dem ersten Refrain sang er leise mit, während er sich von der Musik tragen ließ. Es war wirklich schade, dass sie nur im Privaten spielte. „Wusstest du, dass das eines von Ryans absoluten Lieblingsliedern ist?“, schlüpfte es ihm über die Lippen, nachdem sie geendet hatte. „Nein. Das hattest du aber auch nie erwähnt. Allgemein hast du vor allem in letzter Zeit wenig von ihm gesprochen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Gab ja auch nicht so viel zu erzählen. Wir sind nicht mehr zusammen. Was sollte ich da noch groß über ihn sprechen?“ „Du könntest mir erklären, weswegen. Den einen Tag schreibst du mir „Er hat ja gesagt“, den nächsten kommt ein „es ist aus“. Du hast es nie weiter kommentiert, sondern einfach weiter gemacht als wär nichts gewesen.“ „Wieso fängst du jetzt damit an? Das ist schon fast ein Jahr her!“ „Keine zehn Monate. Vor einem Jahr saßen wir in Japan und du wolltest von mir wissen, wie du möglichst unauffällig seine Ringgröße rausbekommen kannst. Nicht, dass ich wirklich Erfahrung damit gehabt hätte, aber du hast es trotzdem irgendwie geschafft – das hast du mir selbst im Februar gesagt. Also...“ Er verdrehte die Augen. Manchmal konnte sie wirklich direkt sein. Wer hatte nur behauptet sie wäre die Diplomatische in der Familie? Selbst ihr Bruder besaß mehr Fingerspitzengefühl in solchen Angelegenheiten. Trotzdem konnte er ihrem erwartungsvollen Blick nicht widerstehen. „Ich hab mit ihm diesen Ausflug gemacht. Den in die Berge. Bin mit ihm am späten Nachmittag zu dem Aussichtspunkt gewandert, von dem man das ganze Tal einsehen kann, und während er noch von der Aussicht gefesselt war, hab ich den Ring herausgeholt und hab mich hingekniet. Als er sich dann umdrehte, um nach mir zu sehen, habe ich ihn gefragt. Du hättest sein Gesicht sehen sollen! Selbst bei unserem ersten Kuss hat er nicht so überrascht geschaut, obwohl ich ihn da wohl ziemlich überrumpelt habe. Zu meinem großen Glück hat er aber die Sprache recht schnell wiedergefunden und meinen Antrag angenommen. Kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so glücklich gewesen war. Der restliche Tag war wunderschön und die Nacht...“ Plötzlich fiel ihm wieder ein, mit wem er eigentlich gerade sprach. Er räusperte sich kurz, doch der verträumte Ausdruck auf seinem Gesicht, den die Erinnerung zurückgebracht hatte, blieb. „Jedenfalls... Ich dachte, alles wäre perfekt. War es ja auch. Noch während er langsam in meinen Armen einschlief, flüsterten wir uns gegenseitig unsere Pläne zu und malten uns aus, wie ihr wohl darauf reagieren würdet... Ich hätte nicht gedacht, dass das alles so zerbrechlich war. Ich ...“, er schluckte schwer, „ich hatte in der Nacht einen Traum. Einen ziemlich lebhaften – allerdings nicht von Ryan.“ Zweifelnd blickte er zu seiner Tante auf. In den letzten Minuten hatte er ihren Blick gemieden aus Angst nicht den Mut aufbringen zu können, weiterzureden. Doch ihre Miene verriet keinerlei Gefühlsregung, die ihm weiterhalf. Noch schien sie über das Gesagte nachzudenken. „Das ist aber noch kein Grund gleich die Beziehung zu beenden. Es passiert eben mal, dass man von jemand anderem träumt. Natürlich war es bestimmt nicht der günstigste Zeitpunkt dafür, aber immer noch kein Weltuntergang und...“ „Ich hab im Schlaf geredet. Das hat Ryan aufgeweckt und er hat dann jedes einzelne Wort mitangehört! Ich selbst wusste am Morgen nicht mehr so viel davon, auch wenn es wohl ziemlich heiß hergegangen sein musste... Aber er wusste noch alles, besonders noch, dass ich an der Stelle „Ich freue mich so sehr, dass du endlich mit mir verlobt bist“ nicht seinen Namen gesagt habe, sondern...einen anderen. Genauer gesagt den letzten, den er in diesem Moment hören wollte. Verdammt!“ Er stütze die Ellenbogen auf die Oberschenkel und verbarg kurz das Gesicht in den Händen. „Wie oft hatte ich ihm beteuert, dass er für mich kein Ersatz für Seto war, und dann hab ich einen scheiß feuchten Traum von ihm in der Nacht nach unserer Verlobung! Und dann ausgerechnet davon, wie ich mich mit ihm verlobe, statt mit meinem über alles geliebten Freund.“ Unmerklich begann seine Stimme zu zittern. „Wir haben dann den Vormittag damit verbracht möglichst sachlich das Thema zu besprechen. Ich weiß gar nicht wie oft ich betont habe, dass ich ihn liebe und zwar nur ihn. Er sah so traurig aus. Das hat mich mehr verletzt, als der Moment, in dem er tatsächlich mit gepackten Sachen aus der Tür ist. Hat mir zum Abschied noch gesagt, dass er mich wohl noch eine ganze Weile lieben würde, aber er wünsche mir viel Glück dabei, endlich meine Dämonen loszuwerden und dabei stünde er nur im Weg. Meine Dämonen... ich hab mich seit Jahren nicht in ihre Nähe getraut – in seine Nähe. Wollte es nicht. War für einen Sinn hätte es gehabt? Unsere letzte Begegnung hatte mir mehr als deutlich gemacht, dass es für uns keine Zukunft gab. Und doch hat er es bis jetzt immer wieder geschafft, mir jede Beziehung zu zerstören, die mir halbwegs etwas bedeutet hat. Ich könnte Kaiba dafür den Hals umdrehen. Ich...“ „Kaiba? Seto Kaiba?“ Ihr Blick war Gold wert und still fragte er sich, ob es ihr wirklich nie in den Sinn gekommen war. Er schwieg eine Weile, während er versuchte ihrem prüfenden Blick stand zu halten. „Du könntest ihm nicht den Hals umdrehen. Denk mal genau drüber nach. Du würdest nicht denjenigen töten, den du all die Jahre über immer geliebt hast – wenn auch zwischendrin sehr unterbewusst.“ Stumm nickte er. Leugnen hatte an dieser Stelle keinen Zweck mehr. „Was würdest du tun, wenn du die Gelegenheit hättest ihn wieder zu sehen?“ „Wie? Ihn wiedersehen?“ „Naja, wenn du ihm zufällig begegnen würdest. Wie würdest du dich dann verhalten?“ Er überlegte kurz. Eigentlich hatte er schon Lust ihm den Hals umzudrehen. Aber ihre Argumentation war richtig. Er würde es nie fertig bringen ihn körperlich zu verletzen. Doch sich ihm so einfach in die Arme werfen würde er auch nicht, dafür hatte er ihm zu viel Schmerz zu verdanken. Schmerz. Auch wenn er ihn liebte – irgendwo in den Tiefen seines Herzens, die nichts mehr zu melden hatten – wollte er doch, dass er wusste, wie es war unter seinen Gefühlen zu leiden. „Ich würde versuchen herauszufinden, was er für mich empfindet. Vielleicht vorher ein bisschen mit ihm spielen, aber nur so weit, dass er mit der Sprache rausrückt. Ich will Erklärungen und brauche endlich ein paar Antworten.“ „Dir ist schon bewusst, dass diese Art von Spiel Nebenwirkungen haben kann?“, fragte sie ernst nach. Ihm gefiel nicht wie die Stimmung zwischen ihnen kippte und so versuchte er sie mit seiner Antwort wieder aufzulockern: „Ich kann wohl kaum schwanger werden.“ Ihre Reaktion bestand aus einer herausgestreckten Zunge. „Das war damals kein Spiel. Von meiner Seite aus war es echt. Würdest du wirklich mit allen Konsequenzen klar kommen?“ Es gab nur eine Antwort für ihn darauf. „Ja.“ „Dann können wir ja jetzt zu den anderen zurück und endlich den Kuchen anschneiden.“ Sie stand auf und reichte ihm die Hand, um ihm ebenfalls auf die Füße zu helfen. „So einfach?“ Er traute dem Braten nicht so ganz. „So einfach. Ich hab Lust auf meinen Geburtstagskuchen und ein Sehnsucht nach dem Rest der Familie. Kommst du also?“ Erst auf dem Flur gelang es ihm, sie wieder einzuholen. „Trotzdem. So einfach? Keine weiteren Fragen? Keine Moralpredigt? Kein...“ Sie hielt an und drehte sich zu ihm um. „Joseph Pegasus. Du bist ein erwachsener Mensch, der in der Lage ist seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Und ich bin nicht mal annähernd etwas, was man erziehungsberechtigt nennt. Also wieso sollte ich mich dir aufdrängen und einen auf Anstandswauwau machen? Es ist dein Leben. Was du machst ist deine Sache. Das Einzige, was ich mir wünsche, ist, dass du glücklich bist und mich ein wenig an ihm teilhaben lässt. Haben wir uns verstanden?“ Mit einem Mal hellten sich ihre Gesichtszüge auf. „Aber einen Tipp hätte ich für dich. Lang nicht zu sehr beim Kuchen zu – ich will morgen deine Maße nochmal nehmen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und rannte die letzten Meter ins Wohnzimmer, bevor er etwas erwidern konnte. Maximillion sah auf, als seine Schwester viel zu schnell durch den Durchgang zum Flur kam ein breites Grinsen auf dem Gesicht. In solchen Momenten sah sie für ihn nicht einmal halb so alt aus wie sie tatsächlich war. Sie machte es sich auf dem Teppich neben ihren Kindern bequem, wo sie den Korb mit ihren Stricksachen abgestellt hatte. Das seltsame Gebilde sollte mal ein Pullover für ihn werden, auch wenn er nicht den blassesten Schimmer hatte, wie das je funktionieren sollte. Das Erscheinen seines Sohnes hätte er durch seine Betrachtung fast verpasst. Nach all den Jahren hatte er sich immer noch nicht daran gewöhnt, auf dem linken Augen nichts mehr zu sehen. Sei's drum. Das war der Preis, den er hatte zahlen müssen, und immerhin hatte er nun wieder so etwas wie eine Familie – wenn auch anders als sich das die meisten in seiner Branche vorstellten. Sein Sohn war gerade mal acht Jahre jünger als er, Mrs Pegasus war nicht seine Frau, sondern seine Schwester und für seine Nichte und seinen Neffen, die ihn brav Onkel nannten, war er mehr ein Vater als der Nichtsnutz, der ihre schwangere Mutter hatte sitzen lassen. „Maximillion?“ Joseph stand vor ihm und wirkte als würde ihn etwas beschäftigen. „Ja?“ „Wo hast du die Torte versteckt? Martine hatte mir versprochen, dass sie sie demnächst anschneiden würde. Da sie aber schon wieder strickt, wäre es sinnvoll, sie sanft daran zu erinnern.“ „Die Köchin hat sie ganz unten im hinteren Kühlschrank verwahrt, bevor sie gestern gegangen ist.“ Selbstverständlich hatte sein Personal an den Feiertagen frei und glücklicherweise konnten sowohl Martine als auch Joseph genug kochen, dass es gar nicht so sehr auffiel. „Damit sie vor gewissen Naschkatzen in Sicherheit ist“, fügte er hinzu. Sein Sohn hatte wirklich etwas von einem Kind, wenn er beleidigt das Gesicht verzog. Durfte man einen Fünfundzwanzigjährigen niedlich nennen? „Aber du kannst sie ja trotzdem holen. Schließlich müssen wir testen, ob die Torte genauso gut ist, wie Hans' Meisterwerk letztes Jahr.“ Freudestrahlend verließ er das Wohnzimmer wieder. Einmal mehr ertappte sich Maximillion bei der Frage, wie er wohl als Kind gewesen war. Genauso unbeschwert? Nein, unbeschwert war er nicht, er hatte einfach nur gelernt, seinen Fokus wegzulenken von Dingen, die ihn zu sehr beschäftigten und belasteten. Ihm war nicht entgangen, dass er zu lange gebraucht hatte, um kurz nach Martine zu sehen. Joseph konnte er schwer lesen, aber seine kleine Schwester war wie ein offenes Buch für ihn. Jedes Detail ihrer Körpersprache, jede Nuance ihrer Stimme wusste er zu deuten. Aber er würde nicht fragen. Mit der Zeit hatte er gelernt, dass er bereits froh sein konnte, dass er wenigstens mit ihr über das sprach, was ihn beschäftigte – selbst wenn das hieß, dass es Geheimnisse gab, die er nicht kannte. Neben der Torte brachte Joseph auch noch Kuchenteller und Gabeln herein. Abschließend zückte er das große Kuchenmesser und rief zu Martine hinüber: „Wenn du nicht bald da bist, schneide ich die Torte auf. Und dann geht das größte Stück an mich!“ Martines Erwiderung ging in den Protestrufen von Clara und Ethan unter, die bis dahin in ihre neuen Spielsachen vertieft waren. Geistesgegenwärtig legte er schnell das Messer aus der Hand auf den Tisch, als sie zu ihm liefen und sich vor ihm aufbauten – so gut es mit ihren sechs Jahren eben ging. Lachend ließ er sich auf die Knie sinken und umarmte beide, wobei er ihnen schwor, dass er das nur gesagt hatte, um ihre Mutter endlich dazu zu bringen ihre Pflicht zu erfüllen. Nach der krümellosen Vernichtung der ersten Tortenhälfte war das aber sowieso schon wieder vergessen und man erwartete gespannt den Beginn des neuen Jahres. „Auf ein erfolgreiches Neues Jahr“, stieß er endlich mit seiner Schwester an. „Irgendwie werden wir unsere Kinder schon groß bekommen.“ „Auf ein erfolgreiches Neues Jahr. Findest du nicht, dass Joseph schon lang genug ist?“ Ihr Blick wanderte hinüber zu Besagtem, der gerade das Sektglas vor den Schneebällen seiner Cousine und seines Cousins rettete. Er lachte. „Du weißt ganz genau, wie ich das gemeint habe, Schwesterherz.“ Als er den LKW des Paketdienstes am Tor saß, öffnete er dieses nervös und lief hinaus. Wieso musste das immer so kalt sein im Januar? Vielleicht sollte er sich nächstes Jahr wirklich über seinen Geburtstag frei nehmen und in wärmere Gefilde flüchten. Sein Atem kondensierte sogar, als er nun zum asphaltierten Teil des Weges vorlief. Neugierig hüpfte er von einem Bein zum anderen, bis der Motor endlich abgestellt war und der Fahrer ausstieg. „Chef?“, fragte er etwas verwundert. „Ja, der bin ich. Ist das für mich?“, deutete er auf den großen Karton, den der Mann nun aus dem Laderaum hervorzauberte. „Brauchen Sie ein offizielles Dokument von mir?“ Er war schon dabei seinen Ausweis zu zücken. „Nein, nein. Das geht schon in Ordnung. Mein bester Freund hat mir mal von Ihnen erzählt. Aber das ist nicht ihr wirklicher Name, oder?“ Vehement schüttelte er den Kopf. „Nein. Mein kleiner Cousin hat vor Jahren angefangen mich so zu nennen und der Name blieb hängen. Ich glaube der einzige der mich mit meinem richtigen Vornamen anspricht ist mein Vater. Danke.“ Kurz unterschrieb er auf dem Gerät, das ihm entgegengehalten wurde, und nahm das Paket entgegen. Eilig verabschiedete er sich, bevor er zurück zum Hauptgebäude lief. Hibbelig flitzte er hinauf in sein Zimmer und schnappte sich die Schere von seinem kleinen Schreibtisch. Für die Größe, war das Paket einfach zu leicht gewesen, und das konnte nur eines bedeuten. Er klappte die Laschen zur Seite und entfernte die oberste Schicht Verpackungsmaterial, unter der das Familienfoto von letztem Weihnachten hervor kam. Es war bereits gerahmt und zeigte sie alle, wie sie fröhlich in die Kamera lachten. Doch damit war das Paket noch lange nicht leer. Er legte das Bild zur Seite und arbeitete sich zu seinem eigentlichen Geschenk vor. Für einen Moment wollte sein Herz stehen bleiben. Diesen Rotton kannte er nur zu gut. Vorsichtig nahm er alles aus dem Karton und breitete es auf einem Bett aus. Tatsache! Sein erster eigener Anzug in dem pegasustypischen Rot, vielleicht ein paar Nuancen dunkler, aber dennoch unverkennbar. Strahlend zog er sich seine Hose aus und schlüpfte in die neuen Sachen. Kritisch musterte er sich im Spiegel und versuchte sich von allen Seiten zu betrachten. Gewohnheitsmäßig steckte er die Hand in die Hosentasche und spürte Papier. Überrascht zog er den Zettel heraus und entfaltete ihn. Alles Gute zum Geburtstag. Dad und Martine Er lächelte. Die beiden würden Augen machen, wenn sie ihn so sahen! Leider konnte er im Alltag nicht so herum laufen. Hoffentlich ergab sich bald die Gelegenheit für ihn, den Anzug zu tragen. Kapitel 3: Donnerstag 19.3. --------------------------- Noch bevor es dämmerte schlug Martine die Augen auf. Trotz der vielen Tage, an denen sie genau hier in diesem Bett aufgewacht war, war ihr die Umgebung zunächst fremd. Sie wusste schon, weswegen sie ihre Kinder nicht so oft auf Reisen mitnahm. Wie sollten sie je lernen, was „zu Hause“ bedeutete, wenn sie ebenfalls fast jede Woche woanders aufwachten. Es war der Partywitz schlechthin, wenn sie sagte, dass es sie nervte jeden Tag in einem anderen Bett aufzuwachen. Doch war es ihre nicht so witzige Realität. Ihre Arbeit erforderte es einfach, dass sie viel unterwegs war, wollte sie wirklich die Bilder einfangen, die sie so liebte. Sie schnappte sich die Decke vom Bett und setzte sich in sie eingerollt ans Fenster. Ihre Kamera lag auf dem Nachttisch, doch sie hatte mit den Jahren gelernt, dass es Momente gab, an die die beste Aufnahme nicht herankam und es nur zählte, sie zu genießen. So blickte sie einfach hinaus in die Dunkelheit und wartete darauf, dass die Dämmerung einsetzte und das erste Licht sich über den Horizont traute. Dann erhob sie sich wieder und streckte die taub und steif gewordenen Glieder. Ein kurzer Blick auf den Wecker, der nur zu gut verriet wie alt sie gewesen war, als ihr Bruder ihn ihr geschenkt hatte, verriet ihr, dass es höchste Zeit war zu telefonieren. Das Handy in der Hand streckte sie sich auf dem Bett aus und wählte die Kurzwahl. „Mum?“ „Guten Morgen, Ethan, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?“ „Ja. Wir machen heute einen Ausflug ins Museum! Aber Haru meint, dass wär total langweilig. Aber ich freu mich doch so drauf...“ In Gedanken machte sich Martine eine Notiz, sich bei der nächsten Gelegenheit mit Harus Eltern zusammenzusetzen und mit ihnen über den Wert von Bildung zu sprechen. „Dann freu dich doch einfach darauf. Und wenn es dir gefällt, geh ich nächsten Monat mit dir noch einmal hin.“ „Und Clara?“ „Die nehmen wir nur mit, wenn ihr beide euch vertragt. Oder ich geh mit dir alleine hin und mach dafür mit ihr an einem anderen Tag etwas gemeinsam, während du bei Onkel Maximilion bist.“ Fast schon hörte sie, wie es im Kopf ihres Sohnes ratterte. Nie hätte sie früher geglaubt, dass es so schwer werden würde, sich ausreichend um beide zu kümmern und ihnen dabei das Gefühl zu geben, zwei eigenständige Menschen zu sein und nicht eine Einheit, die genau deswegen immer gleich behandelt wurde. „Gut“, antwortete ihr Sohn schließlich zögernd. „Clara ruft nach mir. Muss jetzt los. Tschüss, Mum.“ Sie wollte ihn noch aufhalten, aber da hatte er schon aufgelegt. War sie als Kind genauso gewesen? Sie hatte doch noch kurz ihren Bruder sprechen wollen, um zu hören, ob wirklich alles in Ordnung war. Dann würde sie eben später noch einmal kurz anrufen müssen. Vielleicht abends, wenn sie mit Joseph schon in Domino war und die Zwillinge im Bett. Erfahrungsgemäß war das die beste Zeit sich mit ihm zu unterhalten. Mit Sachen zum Wechseln ging sie ins Bad, brauste sich ab, zog sich an und stieg die Treppe um ein Stockwerk nach hinab. Zwar sandte ihr Magen ihr eindeutige Signale, doch die Schlafmütze vom Dienst hatte Vorrang. Es war noch spät geworden und sie hegte den Verdacht, dass er noch selig in seinem Bett schlummerte. Zum einen brauchte er wahrscheinlich den Schlaf nach den letzten Wochen, zum anderen wollte sie nicht erst am Nachmittag losfahren. Vor der Tür ihres Neffen traf sie auf Cian, der gerade einen Reisekoffer davor abstellte. „Morgen!“, begrüßte sie ihn fröhlich. „Morning, Martine. Hast du gut geschlafen?“ Mit einem breiten Lächeln antwortete sie: „Ja, tief und fest. Es ist doch ein Unterschied im eigenen Bett zu schlafen statt in irgendwelchen Hotels. Ist das der Koffer für Chef?“ Vorsichtig deutete sie auf das Monstrum, das fast schon zu groß erschien für eine Woche. „Es wurde ja gestern Abend doch etwas später und vermutlich schläft er noch.“ „Danke! Dann mach ich mich mal gleich daran etwas an diesem Zustand zu ändern.“ „Weck ihn aber bitte sanft – nicht, dass er sich am Ende noch bei mir beschwert, weil ich dich einfach so in sein Zimmer gelassen habe.“ Er zwinkerte ihr noch kurz zu und machte sich dann auf den Weg nach unten. Behutsam drückte sie die Klinke nach unten und öffnete die Tür. Zum Glück gehörte Joseph nicht zu der Sorte Mensch, die nur im Dunkeln schlafen konnte, denn ohne das Tageslicht von draußen wäre sie bestimmt irgendwo dagegen gerannt. Zwar war er erstaunlich ordentlich, doch hatte er, seitdem sie das letzte Mal hier gewesen war, ein paar der Möbel umgeräumt, in die sie mit hoher Wahrscheinlichkeit hineingelaufen wäre. Irgendwie sah er ja schon süß aus, wie er so im Bett lag, die Decke bis unters Kinn gezogen und um sich gewickelt wie einen Kokon. Langsam setzte sie sich auf die Matratze neben ihn und strich ihm ein paar Strähnen, die sich nachts in sein Gesicht verirrt hatten, aus eben diesem. Ob der ungewohnten Berührung fingen seine Augenlider zu zucken an und öffneten sich wenige Augenblicke später. Sobald er sie halbwegs erkennen konnte, murmelte er ein paar Worte und bemühte sich, nicht gleich wieder einzunicken. Während sie begann mit ihm zu sprechen, erhob sie sich und zog leicht die Decke Richtung Fußende, sodass ihm die Gelegenheit verwehrt blieb, sich wieder einzukuscheln. Das Murmeln wechselte zu einem Murren. „Martine, Jetlag hin oder her. Das ist doch keine Uhrzeit, um aufzustehen!“ „Das hat mit Jetlag gar nichts zu tun - außerdem haben wir schon nach acht - sondern damit, dass ich nicht erst heute Nacht in Domino ankommen will. Ich käme gerne vor dem Mittagessen los.“ „Dann fahr doch vor dem Mittagessen. Und ich ...“, er streckte sich ausgiebig und schnappte sich dann die obere Kante der Decke, „mach es mir hier noch ein wenig bequem.“ Zum Glück wusste sie, dass er sich in ihrer Abwesenheit deutlich besser benahm, andernfalls wäre sie vermutlich jetzt ausgerastet. Es war für sie in Ordnung, wenn ihre Kinder manchmal solche Anwandlungen hatten, aber von ihrem erwachsenen Neffen erwartete sie etwas mehr Selbstdisziplin. Entschlossen nahm sie ihm die Decke nun vollends weg und holte den Koffer vom Flur herein. „Nichts da. Du wirst brav mitkommen. Und bei der Abfahrtzeit lasse ich nicht mit mir verhandeln. Du solltest im Übrigen wirklich aufstehen. Oder willst du ohne Kleidung nach Domino fahren? Außerdem meintest du gestern Abend noch, dass du mit Matt und Yuki besprechen wolltest, wie sie in der kommenden Woche das Hotel leiten sollen.“ Kurz überlegte sie, auf welcher Sprache er sie gerade innerlich verfluchte, fuhr dann aber fort: „Kleidung für eine Woche. Eher schick. Mindestens drei Anzüge mit passendem Hemd und Krawatte. Und Schuhe natürlich. Ein Paar davon so, dass du in ihnen auch tanzen kannst. Ich geh schon mal runter und schau, was es Leckeres zum Frühstück gibt.“ Gedankenverloren gab sie ihrem Neffen, der mittlerweile die Beine aus dem Bett geschwungen hatte und dort auf der Kante saß, einen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer. Er würde noch ein paar Minuten brauchen, bis er vollends bei sich war, aber sie wusste genau, dass er zum Packen keine Beaufsichtigung brauchte. In der Küche angelangt, drückte ihr Shin ungefragt einen Kaffee in die Hand. Von Hans war nichts zu sehen. „Er ist auf dem Markt einkaufen“, erklärte ihr dafür der jüngere Koch, als er ihren suchenden Blick bemerkte. „Und du stehst immer noch auf Kaffee, wie ich sehe.“ Ihre Tasse war bereits zur Hälfte geleert. „Stehen würde ich es nicht nennen, eher eine ziemlich fiese Passion. Ich werde zwar auch ohne das Zeug wach, aber ohne würde mir was fehlen. Außerdem muss ich heute noch drei Stunden Autofahren.“ „Gestern waren es vier, oder?“ „Das schon, aber die Strecke ist deutlich ruhiger. Spätestens eine Stunde vor Domino hat man immer unweigerlich das Gefühl, sich auf einer Ameisenstraße zu befinden. Sind das Pancakes?“ Neugierig schielte sie in die Pfanne. „Ja, aber ich würde dich bitten, dich noch ein bisschen zu gedulden. Kannst ja schon mal rüber gehen zu Yuki.“ Selten war sie so charmant aus der Küche geschmissen worden, also gehorchte sie. Ein Gespräch unter Frauen, war jetzt ganz genau nach ihrem Geschmack – zumindest, bis das Frühstück endlich fertig war. „Und wenn irgendetwas sein sollte, ruft ihr sofort an!“ Mittlerweile war es nach ein Uhr mittags und Chef hatte sich noch einmal beim Einsteigen umgedreht. Matt und Yuki nickten beflissentlich, mehr als froh, dass sie ihren Vorgesetzten nun eine Woche lang nicht sehen würden. Vermutlich rief er zwar trotzdem jeden Tag an, doch dann könnten sie sich jedenfalls mit irgendwelchen plötzlichen anderen Anrufen herausreden. Bereits kurz nach dem Frühstück hatte er angefangen ihnen genaueste Instruktionen zu geben, es sogar für beide in doppelter Ausführung ausgedruckt und sich alles wiederholt von ihnen runter beten lassen. Es wäre ja nicht so, dass sie das Erste mal das Hotel hüteten. Und was sollte schon in einer Woche eher ruhigem Betrieb passieren? Aktuell waren nur Stammgäste anwesend, die definitiv keinen Stress machen würden. So wirkte ihr Lächeln auch etwas knirschend, als sie ihm nun mit den anderen hinterher winkten, was nicht lange Zeit in Anspruch nahm, da man Martines Fahrstil anmerkte, dass sie endlich fort kommen wollte. Sie war nicht gerade begeistert gewesen, als sich abzeichnete, dass sie doch noch das Mittagessen im Hotel einnehmen würden. „So, und was machen wir jetzt?“, fragte Cian in die Runde. „Euch den kulinarischen Wert von Labskaus beibringen“, antwortete Hans trocken, die wenig begeisterten Mienen seiner Kollegen gekonnt ignorierend. Sie waren bereits eine Viertelstunde unterwegs, als sich Joseph traute, seine Tante zu fragen, ob sie Musik hören wollte. Ihr stummes Nicken reichte ihm zur Bestätigung und prompt suchte er im Handschuhfach nach dem kleinen Adapter, der es dem Autoradio erlaubte auf die vollständige Musikbibliothek der Familie zuzugreifen. Schnell wurde er fündig und wählte eine Playlist, die schlicht mit „MP“ gekennzeichnet war. Beim ersten Hören hatte er es für eine Liste seines Dads gehalten, doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. You'll never know how I watched you from the shadows as a child you'll never know how it feels to be the one who's left behind Er war mehr als entsetzt, als er die Geschichte hörte, die sie mit diesen Worten verband, besonders als sie noch im gleichen Atemzug erklärte, dass sie mittlerweile quitt wären. Jetzt saß sie ruhig neben ihm und konzentrierte sich aufs Fahren. Erst beim übernächsten Lied fing sie leise an mitzusummen. Nach einer weiteren halben Stunde stimmte er vorsichtig mit ein, bildete bereitwillig die zweite Stimme, sobald sie anfing mitzusingen. Für einen kurzen Moment wandte sie ihren Blick von der Straße ab, um ihn anzulächeln. Manchmal brauchten sie nicht viel Worte, um sich zu verstehen, dann reichte ein Lächeln wie dieses. Die Skyline von Domino schon in Sichtweite, sprach sie das erste Mal seit Fahrtbeginn: „Gibst du mir bitte meine Sonnenbrille?“ Der Verkehr war bereits zu dicht, dass sie selbst danach suchen konnte, wollte sie sie heil ans Ziel bringen. Er gab sie ihr, danach herrschte wieder Schweigen. Allmählich konnte er sehen wie sich die Nachmittagssonne in den Glasfassaden der Wolkenkratzer brach, die Kaiba Cooperation der höchste von ihnen. Das war doch mal wieder typisch. Er war sich ziemlich sicher, dass bei seinem letzten Besuch das Gebäude noch nicht so protzig ausgesehen hatte. Waren da etwa ein paar Stockwerke hinzugekommen? Sein letzter Besuch. Plötzlich fiel ihm siedend heiß etwas ein. Jedes Mal, wenn er seit seinem Schulabschluss in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, hatte er vorher genau recherchiert, ob ein gewisser Herr eine längere Geschäftsreise außer Landes hatte. Das hatte er dieses Mal vollkommen vergessen! Zugegebenermaßen hatte er bereits ein Problem mit ihm, aber das hieß noch lange nicht, dass er rein zufällig ihm über den Weg laufen wollte! Geistesgegenwärtig nahm er sich Martines Ersatzsonnenbrille, die weniger feminin war, und setzte sie sich auf, während der Kombi die Bebauungsgrenze passierte. Im vergangenen Jahr hatte sich einiges geändert, wie er erfreut feststellte. Die Stadt hatte Grünstreifen anlegen lassen, die Straßen waren sauberer – blieb nur zu hoffen, dass sie in allen Vierteln der Stadt so gründlich waren. Davon würde er sich in den nächsten Tagen am besten selbst überzeugen. Einen Termin am Montag hatte er bereits für eines seiner eigenen Projekte. Diese Stadt hatte ihm so viel gegeben und als er endlich die Möglichkeiten dazu hatte, hatte er angefangen etwas zurückzugeben. In der Nähe des Stadtzentrums fuhr Martine schließlich in eine mit Pin geschützte Tiefgarage und stellte den Motor ab, sobald sie perfekt auf dem gekennzeichneten Parkplatz eingeparkt hatte. Irgendwie wirkte ihr Auto fehl am Platz zwischen dem Ferrari und dem Porsche, die jeweils auf einer Seite standen. Doch hätte sie in diese Modelle nie ihre gesamte Ausrüstung, sowie das Gepäck bekommen. Brav half er ihr beim Ausladen und ging danach mit ihr zum Aufzug hinüber. Mit Hilfe des Schlüssels, der unauffällig an ihrem großen Schlüsselbund hing, gelangten sie in ihre Etage und auch in die Wohnung. Überrascht stellte er fest, dass es immer noch so aussah, wie das letzte Mal, obwohl Martine bestimmt schon zweimal in der Zeit dort gewesen war. Sie folgte seinem Blick durch den Raum, bevor sie zu ihrem Zimmer ging, um ihre Ausrüstung abzuladen. „Ich werde hier wohl morgen früh mal durchputzen müssen, aber dann sollte es wieder gut aussehen.“ „Das meinte ich gar nicht. Ich hab nur nicht erwartet, dass du alles so gelassen hast. Haus 3 dekorierst du so oft um, dass selbst häufige Gäste manche Versionen verpasst haben.“ „Aber darüber habe ich die Kontrolle. Weißt du was los ist, wenn ich mich an die Wohnräume meines Bruders wage? Nein, das bleibt alles schön so - das schließt im Übrigen auch dein Zimmer mit ein. Aber wie gesagt, darum kümmer ich mich morgen. Jetzt will ich nur noch raus mit der Kamera und aufs Abendlicht warten. Kommst du mit?“ Ihr Sinn für Organisation war erstaunlich. Sie hatte bereits die Tasche mit ihrer Kamera um die Schulter geschlungen und hatte aus ihrem Koffer eine dunkle, lange Jacke gezaubert. Sie war bereits fertig, während er noch keine fünf Schritte gemacht hatte. „Nein. Ich bin noch ein bisschen müde. Aber ich wünsch dir viel Spaß. Wann bist du zurück?“ „So gegen neun? Wenn du Hunger kriegst – in der dunkelblauen Stofftasche sind ein paar Vorräte. Aber lass mir bitte was übrig. Bis nachher.“ Und schon war sie wieder aus der Tür und er allein. Also schnappte er sich seinen Koffer und suchte sein Zimmer auf. Es hatte sich wirklich nichts verändert. Er legte sein Gepäck quer über die Armstützen des Sessels und begann dessen Inhalt in den großen Schrank zu räumen. Zufrieden stellte er fest, dass, obwohl er eher chaotisch gepackt hatte, auf seinen Geschmack Verlass war. Wäre es doch nur in allen Bereichen seines Lebens so einfach. Den Koffer legte er auf den Schrank und sich dann auf das große Bett. Er war wirklich noch ein wenig erschöpft und auch der Gedanke, zur gleichen Zeit mit Kaiba in Domino zu sein, machte ihm zu schaffen. Aber wieso eigentlich? Bei ihrer letzten Begegnung hatte er eindeutig die Oberhand gehabt und vermutlich würde er sie immer noch haben. Mit einem Blick aus dem Fenster schätzte er die Zeit. Der Eisklotz saß bestimmt noch in seinem Büro, vertieft in irgendwelche wichtigen Unterlagen. Es würde bestimmt Spaß machen, ihn aus dieser Lethargie zu reißen. Wie würde er es anstellen? Er würde lautlos die Tür öffnen, eintreten und sie wieder schließen. Wäre er zu dem Zeitpunkt noch nicht entdeckt, würde er in einer kleinen Kurve hinter den Schreibtisch gehen und sich vorbeugen, bis sein Mund auf Höhe des Ohrs des anderen war. Er würde ihm etwas extrem Anzügliches zuflüstern und die Reaktion genießen. Wenn er aufstehen würde, um ihn aus seinem Büro zu schmeißen, hätte er gewonnen. Er würde ihn mit dem Rücken auf den Schreibtisch drücken und ihn küssen, während er ihm unauffällig das Hemd aufknüpfte und ... Kritisch blickte er an sich herab. Reichte ihm wirklich schon der Gedanke daran, Kaiba zu verführen, um zu reagieren? Zugebenermaßen. Vor einem Monat wäre dies leicht gewesen, doch er wusste nicht, wie die Zeichen mittlerweile standen. Trotzdem stoppte seine Fantasie nicht an dieser Stelle. Frustriert drehte er sich auf den Bauch und legte sich das Kopfkissen auf den Kopf, um zu verhindern, dass er sich die Haare raufte. Doch leider verstärkte sich dadurch nur noch sein Druckproblem in den unteren Regionen. Wieso hatte seine Abstinenz die letzten zwölf Monate so gut funktioniert, wenn jetzt ein einzelner Gedanke an Kaiba genügte, um ihn vor sich selbst so zu erniedrigen. Er wollte nicht an ihn denken – besonders nicht in so einem Moment. Mittlerweile biss er die Zähne aufeinander. Das war doch lächerlich! Kaum ging es ihm ein wenig besser, verfiel er in alte Muster, von denen er geglaubt hatte, sie längst abgelegt zu haben. Er hasste es! Er hasste ihn! Er sollte verdammt noch mal endlich aus seinem Kopf verschwinden! Kapitel 4: Bewerbungsfotos und jüngere Geschwister (Mokuba & Martine) --------------------------------------------------------------------- Seto Kaiba saß in seinem Büro und war der Verzweiflung nahe, was wirklich nicht oft vorkam. Aber noch seltener kam es vor, dass er im Internet nach Fotografen suchte. Die ersten zehn, deren Seiten er sich angesehen hatte, waren weiter von seinen Vorstellungen entfernt als die Erde von der Sonne. Die nächsten fünf waren noch schlechter, wenn das denn überhaupt möglich war. Es musste doch in dieser Stadt einen Fotografen geben, der genau das machen würde, was er sich vorstellte! Wieso nur verstanden sich die meisten dieser Dilettanten als „Künstler“? Sie waren verdammt nochmal Dienstleister! Leider war seine Sekretärin ihm bei seiner Suche nur bedingt eine Hilfe gewesen. Zum Glück hatte er sie nicht für ihren guten Geschmack bezüglich Fotografie eingestellt – sonst hätte sie sich gleich einen neuen Job suchen dürfen. Wenigstens war ihr Kaffee gut und konnte Tote aufwecken – oder ihn abends wachhalten, wenn er länger arbeitete. Doch nach ihren fünf Vorschlägen hatte er zähneknirschend beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Schließlich ging es hier um die Zukunft seines kleinen Bruders. Mokuba würde in drei Monaten die Schule abgeschlossen haben und auch wenn sein Name reichen sollte, um ihn die Türen zu sämtlichen Universitäten und Firmen zu öffnen, brauchte er leider eine Reihe von Bildern. Für Bewerbungen, Studentenausweis, Firmenausweis, Visitenkarten, … er selbst würde auch nicht nein sagen, wenn er ein aktuelleres Bild von ihm für den Geldbeutel haben könnte. Erst neulich war er darauf angesprochen worden wie süß sein Brüderchen doch aussähe. Das Bild, das diese Aussage provoziert hatte, zeigte einen zehnjährigen Mokuba, der noch gut drei Köpfe kleiner war als das derzeitige Original. Genervt öffnete er die nächste Seite und nahm einen Schluck Kaffee, an dem er sich fast verschluckt hätte. Auf den ersten Blick wirkte sie fast schon etwas zu schlicht, auf den zweiten einen Hauch zu seriös. Auf den dritten merkte er, was für einen Ausstrahlung die wenigen Bilder hatten, die man sah. Sie zogen ihn einfach in ihren Bann. Kurz orientierte er sich und schaute im Menü nach, ob es noch weitere Beispiele gäbe, denn ein schwarzer Stuhl in einem weißen Raum, eine Lilie und ein beinahe schon scherenschnittähnliches Porträtbild waren nicht aussagekräftig genug für ihn. Die Vielfalt der weiteren Arbeiten erschlug ihn. Zu seinem Glück waren auch ein paar einfache Profilbilder dabei, wie er sie für Mokuba wollte. Er schaute nicht nach Preisen, nicht nach dem Namen des Fotografen, sondern klickte sich einfach schnell durch zu dem Kontaktformular. Flink huschten seine Finger über die Tastatur, während er einen Auftrag verfasste. Zufrieden mit sich, überflog er noch einmal alles und schickte es dann ab. Danach schloss er die restlichen offenen Programme und fuhr seinen Laptop herunter, bevor er ihn einpackte. Vielleicht würde er noch rechtzeitig zu Hause sein, um Mokuba Gute Nacht zu sagen. Das Abendessen hatte er schon wieder verpasst. Der verzweifelte Schrei ihres Bruders riss sie aus ihrer Konzentration. Sie war gerade noch geistesgegenwärtig genug, um die letzten Änderungen an dem Bild, das sie gerade zuschnitt, zu speichern, bevor sie sich vom Tisch wegstieß, aufsprang und den Flur entlang rannte. „Was? Ist was mit den Kindern?“, keuchte sie, während sie die Türzargen zum Abbremsen nutzte. „Wie man es nimmt. Claras Magenverstimmung hat sich endlich gelöst“, knirschte ihr Bruder zurück, der sich nicht traute auch nur einen Schritt auf dem weiß gekachelten Boden zu machen. „Könntest du bitte dem Personal Bescheid geben und mir dann ein wenig helfen? Wenn ich schon deine Bälger wickle?“ Hin und hergerissen, ob sie sich ein Lächeln erlauben sollte, suchte sie ihre Haushälterin und kehrte dann ins Badezimmer zurück, wo ihr Bruder es zumindest geschafft hatte ihrer Tochter eine frische Windel und einen sauberen Strampler zum Schlafen zu verpassen. Er selbst würde eine größere Reinigungsaktion brauchen. Wenigstens hatte er Freizeitkleidung an und nicht seinen gewohnten Anzug. Einen kurzen Moment erlaubte er sich seine Nichte und seinen Neffen aus den Augen zu lassen und schenkte ihr einen Blick, der ihr zu verstehen gab, dass es okay war zu lachen. Als tatsächlich ihre Mundwinkel nach oben gingen, sah er sie finster an: „Das kriegst du irgendwann zurück.“ „Und wie bitteschön? Mein Neffe ist bereits erwachsen, falls du das vergessen haben solltest. Hier sind im Übrigen frische Klamotten. Ist Ethan schon gewickelt?“ Er nickte. „Dann können wir ja jetzt all unsere Aufmerksamkeit dir widmen.“ Der Strahl warmen Wassers traf ihn unvermittelt und seine Reaktion brachte Ethan zum Quieken, bevor er sich auf seine wackligen Beinchen stellte und auf seine Mutter zu tapste, dicht gefolgt von seiner gleichaltrigen Schwester, die deutlich glücklicher aussah als noch vor einer Stunde. Erst drei Stunden später fand Martine die Zeit, sich wieder an ihre Arbeit zu setzen. Schon wieder fragte sie sich, wie sie das alles auf die Reihe bekommen würde, wenn ihr Bruder sie nicht unterstützen würde. Ein Gähnen unterdrückend aktivierte sie ihren Computer, der in der Zwischenzeit in den Ruhemodus gewechselt hatte. Doch wirklich zum Weiterarbeiten kam sie nicht, denn kaum hatte sie das Passwort eingegeben, wies sie ein nerviges Blinken in der oberen linken Ecke daraufhin, dass sie eine neue E-Mail hatte. Vermutlich nur wieder Spam, dachte sie, während sie auf das Symbol klickte. Kaum stand ihre Adresse frei zugänglich im Internet, war sie mit Werbenachrichten nur so überhäuft worden. Es lebe das Kontaktformular! Sie wollte die Nachricht schon ungelesen löschen, als ihr Betreff und Absender auffielen. Das konnte doch nicht... Oder etwa doch? Die Hand auf der Maus zitterte leicht, als sie die Nachricht zum Öffnen anklickte. Doch. Es war tatsächlich der Seto Kaiba, der sie um ein Fotoshooting bat. Weiter unten hatte er die E-Mail-Adresse und Telefonnummer seiner Sekretärin eingefügt, mit der sie alles weitere besprechen sollte. Aber wie war er ausgerechnet auf sie gekommen? Träumte sie schon? Wenn ja, würde das ein unsanftes Erwachen am nächsten Morgen werden und ihre Kinder würden lachen, wenn sie ihre Mutter sahen, mit Tastenabdrücken übers halbe Gesicht. Wie gut, dass sie wusste, dass sie es in dem Alter noch nicht aus Boshaftigkeit taten. Und sie mochte es, wenn sie lachten – sie konnte diesem Geräusch den ganzen Tag lauschen. Zur Überprüfung kniff sie sich einmal kräftig in den Arm. Nein, es tat weh. Also schlief sie noch nicht. Unsicher überprüfte sie den Absender erneut. Wie gerne hätte sie bei der Sekretärin angerufen und gleich nachgefragt, aber beim Blick auf die Uhr entschied sie sich, das auf den nächsten Tag zu verschieben. Welcher normaler Mensch arbeitete um diese Uhrzeit noch? Und sie würde mit ihrem Bruder sprechen müssen. Das Shooting war schon für nächste Woche gewünscht und nur für einen Tag angesetzt. Nichts, was es rechtfertigte, ihren Kindern zwölf Stunden Autofahrt zuzumuten (ohne Pausen) - zumal sie so schnell keinen Babysitter in Domino bekommen würde. Sie wäre schon froh, wenn sie ein Studio fand in der der Zeit. Würde er es schaffen für drei, nein sie würde es in zwei schaffen müssen, Tage auf Clara und Ethan aufzupassen? Es war die Chance für sie, aber sie es raubte ihr jetzt schon die Nerven. In Gedanken bereits bei der Vorbereitung schaltete sie den Computer einfach wieder aus, nachdem sie sich die Daten der Sekretärin notiert hatte. Es hatte keinen Sinn mehr in diesem Zustand arbeiten zu wollen. Vielleicht bekam sie so wenigstens mal mehr als drei Stunden Schlaf am Stück. Angestrengt versuchte sie sich daran zu hindern, von einem Bein aufs andere zu springen. Vor Nervosität fiel es ihr schwer ihr sonst so ruhiges Auftreten beizubehalten. Sie hatte erst vor einer Stunde mit Lion gesprochen, der ihr wiederholt versichert hatte, dass alles in bester Ordnung war und sie sich voll auf ihren Job konzentrieren konnte. Allmählich klang selbst er am Telefon gereizt – sie hatte quasi im Zweistundenrhythmus angerufen, um sich zu versichern, dass das Haus noch stand und alle noch lebten. Dann hatte sie erfahren, dass es sich tatsächlich nur um Porträtaufnahmen handelte, die sie machen sollte – ein kleines Detail, dass ihrer Aufmerksamkeit zunächst entgangenen war. Außerdem war es in der ersten Nachricht so kryptisch umschrieben gestanden, dass sie sich im Gespräch mit seiner Sekretärin innerlich eine Notiz machte, Seto Kaiba einmal beizubringen, wie man Geschäftspost wirklich verfasste. Das konnte sie schließlich auch. Wenigstens würde sie ihn vermutlich nicht sehen, sondern nur seinen Bruder, von dem ihr versichert worden war, dass er sehr nett sein konnte. Sie konnte sich nur annähernd verstellen, was die Sekretärin jeden Tag durchmachen musste, wenn der kleine Bruder des ach so großartigen Seto Kaibas als „nett“ betitelt wurde. Wahrscheinlich war der Typ ein verwöhntes, verzogenes Gör, das dachte, es stände sowieso naturgegeben über allem und jedem. Vielleicht sollte sie der guten Frau einen Monatsvorrat Schokolade von Katze schicken lassen... Ihre Gedankengänge wurden unterbrochen, als sich die Tür zum angemieteten Studio öffnete. Wenigstens das hatte reibungslos geklappt und sie hatte genug Zeit zum Aufbau ihres Equipments gehabt. Schlagartig war sie ruhig und musterte den jungen Mann, der vorsichtig eintrat, genau. Er war vielleicht sieben Jahre, nein wohl eher acht Jahre jünger als sie selbst und nur noch die schwarzen nach allen Seiten wild abstehenden Haare passten zu den Bildern, die sie vor Jahren in der Zeitung von ihm gesehen hatte. Sicheren Schrittes ging sie auf ihn zu und hielt ihm die Hand hin. „Martine?“, fragte der junge Mann, während er ihren kräftigen Händedruck erwiderte. Nicht zaghaft, sondern mit einer Entschlossenheit, die man ihm bei seinem derzeitigen Gesichtsausdruck nicht zugetraut hätte. Allerdings hatte er ihren Namen falsch ausgesprochen. „Das e ist stumm und die Betonung liegt auf der zweiten Silbe. Aber ansonsten stimmt es. Sie sind Mokuba Kaiba, richtig?“ Es tat ihm sichtlich Leid, dass er sich damit vertan hatte. „Ja.“ Ein Nicken. „Und es stimmt auch, dass ich von Ihnen Fotos für Ihre bald anstehenden Bewerbungen machen soll?“ Wieder ein Nicken. „Jetzt schauen Sie mich doch nicht so an! Ich fress Sie schon nicht. Im Gegenteil. Wenn Sie weiterhin so schüchtern sind wird das wirklich schwierig für mich. Allerdings brennen mir noch ein paar Fragen auf der Seele.“ Seine Augen wurden größer und sie konnte gut erkennen, was für eine ungewöhnliche Farbe sie hatten. Wenn es ihr nur gelänge, die Aufmerksamkeit des Betrachters später auf diese zu lenken, hätte er sämtliche Stellen ohne weitere Probleme. „Welche denn?“, wollte er schon etwas selbstbewusster wissen. „Zum Beispiel weswegen ausgerechnet ich angeheuert wurde für diese Aufgabe. Es gibt zwar Kollegen, die höhere Gagen haben, aber ich bin auch nicht gerade billig. Bereits eine Stunde kostet mehr als die meisten ihr ganzes Leben lang für Bewerbungs- und Passbilder ausgeben. Und ihr Bruder war so großzügig mir einen ganzen Arbeitstag zu bezahlen, inklusive Anfahrtskosten.“ „Und Sie sind wirklich Fotografin?“ Mokuba errötete leicht. „Was sollte ich denn sonst sein?“, konterte sie. Seine Gesichtsfarbe wurde eine Nuance dunkler. Na toll! Das musste sie schnell wieder hinkriegen oder der Beginn der Aufnahmen würde sich verzögern. „Naja, … ich hatte um ehrlich zu sein einen Mann erwartet.“ Er schien es für sicherer zu halten die Strategie zu wechseln. „Und können Sie bitte aufhören mich zu siezen? Das kommt mir so erwachsen vor - zumal ich Sie ja auch nur mit Vornamen anrede.“ „Einverstanden. Aber nur, wenn du mich auch duzt. Und... so mal unter uns. In der Berufswelt ist es üblich, dass der Ältere eine informellere Anrede vorschlägt.“ Bei diesen Worten hatte sie sich leicht vorgebeugt und ihm tief in die Augen gesehen. Ein schüchternes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Das sagt mein großer Bruder auch immer,...“ „Man sollte auf große Brüder hören. Manchmal wissen sie es wirklich besser. Aber wie gesagt. Nur manchmal. Setzt du dich bitte auf vor die Leinwand auf den Hocker?“ Martine deutete auf besagte Stelle und nahm dann ihre Kamera in die Hand. Das Licht hatte sie schon eingerichtet und auch die Verbindung zu dem Laptop, über den sie später die Bildauswahl machen würde, stand bereits. „Sie... Du hast auch einen großen Bruder?“ Brav folgte er ihren Bewegungen, mit denen sie ihn bat sich etwas seitlich zu drehen. „Ja. Vier Jahre älter und so besserwisserisch als wären es acht.“ Sie machte die erste Probeaufnahme und kontrollierte kurz. Das Licht stimmte, doch noch war es einfach nur ein netter, junger Mann, den das Bild zeigte. Zeit, ernst zu machen. „Seto ist sechs Jahre älter.“ „Dann kriegt er bestimmt bald Falten.“ Energisch schüttelte Mokuba den Kopf, konnte aber ein Grinsen nicht unterdrücken. „Falten hat er noch keine. Aber er sieht viel zu selten die Sonne.“ „Also eher der klassische Vampir? Durch den Mangel an UV-Strahlung bleibt seine Haut und er selbst für ewig jung.“ Allmählich verschwand seine Schüchternheit. „Keine Angst. Ich scheuch ihn an den Wochenenden nach draußen – aber es reicht nie, dass er wirklich braun wird. Neulich waren wir gemeinsam im Park...“ Die Details schienen ihm zu privat. Auch gut. Weiter im Text. „Das ist jetzt weniger vampirmäßig. Ich hatte schon um meine persönliche Sicherheit gefürchtet, als der Auftrag per E-Mail kam. Aber vor jemandem, der mit seinem Bruder etwas unternimmt, brauch ich wohl keine Angst zu haben. Apropos,... Ich hab gehört, du hilfst ihm auch ab und zu bei seiner Arbeit.“ „Ja. Aber nur soweit es mit der Schule zu vereinbaren ist. Also nicht regelmäßig. Eher bei besonderen Veranstaltungen, wie Turnieren. Dann ist er immer froh darüber, dass er nicht alles allein machen muss.“ „Wahrscheinlich ist er auch ziemlich stolz auf dich, weil er sich so gut auf dich verlassen kann.“ Ihre Worte taten das Übrige. Sie führte das Gespräch noch eine Weile weiter und fotografierte immer mal wieder, doch das eine Bild hatte sie längst im Kasten. „Möchtest du dir die Bilder mal anschauen? Schließlich musst du dich damit wohl fühlen, wenn durchs ganze Land bald Bewerbungen damit geschickt werden“, brach sie ab, während er neugierig zu ihr hinüber an den Laptop kam. Sie ging mit ihm die Bilder chronologisch vor und sah wie er mit seiner Enttäuschung kämpfte, als er die ersten sah. Er sah auf ihnen nicht schlecht aus, aber wenig überzeugend, zu schüchtern, zu unsicher. Doch seine Miene hellte sich mit der Zeit auf, bis ihm schließlich die Luft wegblieb. Sie waren bei dem Bild angelangt, dass sie hatte erzielen wollen. Dem jungen Mann, der sie vom Display her ansah, merkte man sein Alter an, doch er wirkte entschlossen, erfahren und selbstbewusst, gleichzeitig umgänglich und seine Augen schienen von sich aus zu leuchten. „Wahnsinn!“ Begeistert drehte Mokuba sich endlich zu Martine um. „Das ist es!“ „Ich würde dir aber auch noch gerne die anderen zeigen. Vielleicht sind dort auch noch ein paar gute dabei.“ Sie zwinkerte ihm zu, während sie innerlich strahlte. Wieder einmal hatte sie es geschafft. Nachdem sie sich auf eine Auswahl von fünf Bildern geeinigt hatten, schoss sie noch ein paar Aufnahmen, die er für den Studentenausweis, aber auch seinen Pass würde verwenden können. Sie musste gar nicht mehr zu ihm hinüber sehen, als sie ihm diese zeigte, um zu wissen, wie wenig er von ihnen hielt. „Ich werde nie verstehen, warum man auf den Passbildern nicht lächeln darf“, maulte er ein wenig. „Läufst du denn immer nur fröhlich lächelnd durch die Gegend?“ „Nein.“ „Siehst du. Durch Bilder, auf denen du einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck hast, wird es leichter dich auch an Tagen, an denen dir nicht nach Lachen zu mute ist, zu erkennen.“ „Aber ich kenne jemanden, der fast immer gelächelt hat. Ein ehemaliger Mitschüler meines Bruders. Joey hat fast immer gelächelt und mich so manches Mal aufgemuntert. Von ihm müsstest du ein lächelndes Passbild machen – denn seine Mundwinkel bekämst du nicht nach unten.“ Ihm fiel nicht auf, wie sie plötzlich erstarrte und sich etwas Trauriges auf ihre Züge schlich. Dafür war er viel zu sehr in seine Erinnerungen vertieft. „Ich frag mich wirklich, wo er mittlerweile ist. Vermutlich in die Staaten zu seiner kleinen Schwester. Oder er macht mit Yugi Ägypten unsicher – na wohl eher sicher. Yugi ist sein bester Freund und hat ihm Duell Monsters beigebracht. Oder...“, dachte er laut weiter, während Martine ihm eine CD mit den Bildern brannte und gleichzeitig darauf wartete, dass der Drucker die Probeabzüge ausspuckte. Zum Abschied drückte sie ihm beides in die Hand und wünschte ihm viel Erfolg bei dem, was er in seiner Zukunft erreichen wollte. Mokuba bedankte sich artig, fügte aber noch hinzu: „Wenn du wieder in Domino bist, kannst du dich ja bei mir melden. Dann kann ich dir sagen, wie es ausging.“ Er kramte einen zerknitterten Zettel hervor, auf dem eine Telefonnummer stand, und drückte ihn ihr in die Hand. Sie hatte kaum noch Zeit, ein „Mach ich“ hervorzubringen, da war er auch schon durch die Tür. Vermutlich wollte er so schnell wie möglich seinem großen Bruder, die neuen Fotos zeigen. War sie auch so gewesen in dem Alter? So unentschieden, ob sie schon erwachsen sein wollte, oder doch lieber noch Kind? Ihr Equipment war schnell wieder abgebaut und in ihr Auto verladen. Es war zwar nur ein schlichter grauer Kombi, aber sie war stolz, mit ihm durch die Gegend fahren zu können. Ihr erstes eigenes Auto und nicht mehr die Limousinen ihres Bruders, bei denen auf dem Fahrersitz meistens ein Chauffeur saß. Anschließend fegte sie noch durch und schloss ab. Den Schlüssel schmiss sie von außen in den Briefkasten und stieg dann in ihren Wagen. Bei einem kleinen Café, das Coffee to Go anbot, hielt sie kurz, um sich mit ihrem Lieblingswachmacher einzudecken, und verließ dann die Stadt. Es war später geworden, als sie sich gewünscht hatte, und nur der Gedanke an ihre eigenen Sicherheit verhinderte, dass sie das Gaspedal durchdrückte, um herauszufinden, wie schnell man die Strecke tatsächlich fahren konnte. Auch wenn es nur Bilder für den Lebenslauf gewesen waren, war dieser eine Auftrag für sie der Durchbruch in Domino. Mokuba war sich nicht zu fein, ihren Namen zu erwähnen, jedes Mal, wenn er für ihre Arbeit ein Kompliment erhielt. Neben Privatpersonen aus der Wirtschaft wurden so auch Modelabels auf sie aufmerksam, die sie nun immer häufiger buchten. Anfangs wurde noch gemurrt über ihre Preise, doch dann stellte man fest, was eine Kampagne mit ihren Bildern tatsächlich monetär bedeutete und plötzlich galten sie als angemessen, wenn nicht sogar günstig. Martine wiederum hielt Wort und traf sich mit Mokuba, sooft sie in der Stadt war. Mal waren sie Eis essen, mal schleppte sie ihn in eine Buchhandlung. Im zweiten Jahr nahm er sie mit in den Stadtpark zu seinem Lieblingsort mit Seto. Es gelang ihr, ihn alleine auf der Brücke über den kleinen, künstlichen See einzufangen, während er halb flüsterte: „Wir sind viel zu selten gemeinsam hier.“ Als er sie wenige Monate später um Rat fragte, was er seinem Bruder schenken sollte, schickte sie ihm ebendiese Fotografie. Sie begann auch über sich zu erzählen. Was sie sonst noch machte, von ihren Kindern (er schien überrascht), von ihrer Liebe zur Musik, von ihren Gemälden. Als sie ihm die Identität ihres Bruders endlich verriet, war seine Reaktion vergleichsweise harmlos. „Na und?“, erwiderte er schlicht. „Kann sich doch keiner aussuchen, in welche Familie man hineingeboren wird. Und auch wenn wir uns sehr nahe stehen, würde ich nie behaupten, dass Seto und ich genau gleich sind. Und du scheinst dich von Pegasus auch sehr zu unterscheiden.“ Sie gab ihm Tipps, als er anfing mit seiner Handykamera zu experimentieren, damit er überhaupt mal private Aufnahmen von Seto bekam. Sie beschwerten sich gegenseitig über ihre großen Brüder. Er begleitete sie in einen Kochkurs für die Zubereitung von Meeresfrüchten. … Die in ihrem Zenit stehende Herbstsonne wärmte sie beide, während sie sich an einem kleinen Tisch vor dem Café in der Fußgängerzone nahe der Uni ein Eis schmecken ließen. Martines Arbeit hatte sich an diesem Tag verzögert, weil das gebuchte Supermodel, sich geweigert hatte rechtzeitig aufzustehen und so den Flug nach Domino verpasst hatte. Doch anstatt ihrerseits zu zicken, hatte Martine nur gefragt, wann es weiter gehen würde und sich dann auf den Campus der Universität von Domino begeben. Sie war hauptsächlich auf Wirtschaftsthemen ausgerichtet und hatte nicht viele Studenten, deshalb war es relativ leicht gewesen, Mokuba für die Mittagspause abzupassen. Ihn von einem großen Eisbecher zu überzeugen, hatte danach keinerlei Überredungskunst mehr bedurft. „Jetzt sag schon. Wie hast du den Sommer verbracht?“, wollte Mokuba wissen, nachdem sie eine Weile schweigend gegessen hatten. Er schien auf irgendetwas hinaus zu wollen, wobei sie noch nicht wusste, was es genau war. „Die ganze Familie war ihm Hotel. Wir haben den Geburtstag der Zwillinge gefeiert und Chef hat sie mit einem Tauchkurs überrascht. Dafür hätte ich ihn erwürgen können! Anfangs bin ich mehrmals pro Tag ins Meer gestürmt, weil ich der Meinung war, dass meine Kinder schon viel zu lange unter Wasser gewesen waren. Aber anscheinend haben sie Kiemen und inzwischen Schwimmhäute. Ansonsten war es ruhig. Lion hat zwischendrin arbeiten müssen, aber er war lange genug draußen, um sich einen Sonnenbrand zu holen. Das sah wirklich klasse zu den roten Hosen aus! Und bei dir?“ „Ich war mit Freunden weg. Seto wollte nicht mit. Hat behauptet, er wäre ungern das fünfte Rad am Wagen. Mir hat er versprochen, dass er sich auch was sucht zum Urlaub machen – aber ich kam nach zwei Wochen wieder und das Personal meinte, er wäre den ganzen Tag drinnen bei seiner Arbeit gewesen.“ Seine fröhliche Stimmung war verschwunden. „Du musst mir helfen, Martine! Dir gehört doch das Hotel und er braucht dringend mal wirklich Urlaub.“ „Erstens nein, zweitens nein und drittens kann ich nicht beurteilen“, entgegnete sie, seinem Hundeblick ausweichend. „Mir gehört das Hotel nicht, sondern Chef, und ich denke wirklich nicht, dass es eine gute Idee wäre, deinen Bruder in die Anlage zu lassen. Er würde vermutlich nach einem Tag durchdrehen und dem Hotel dann die Rehakosten aufbürden.Und das kann ich wirklich nicht zulassen.“ Sie nahm einen langen Schluck ihres Kaffees und überlegte, wie sie ihren Standpunkt noch deutlicher machen konnte. „Außerdem ist da frühestens nächsten Sommer wieder was frei und das, was du mir gerade erzählt hast, klingt so, als ob eine Sofortmaßnahme nötig wäre. Ich kenn in Kanada ein paar sehr lauschige Plätzchen, die auch jetzt noch gutes Wetter haben und gar nicht so weit weg sind von der Zivilisation. Wäre das nicht eher etwas für ihn?“ Energisch schüttelte Mokuba den Kopf. Es war nicht zu übersehen, dass sie ihm auswich. Die Frage blieb nur, wieso? Was machte sie an dem Gedanken, sein Bruder könnte in das Hotel, bei dem sie mitgewirkt hatte, kommen, so nervös? Wenn er sie richtig verstanden hatte, war die Familie eh nicht immer anwesend und man sah nicht, zu welcher Familie es gehörte. „Eher nicht. War auch nur so eine Idee“, ruderte er zurück. „Magst du dein Eis noch?“ „Ja. Wieso?“ „Weil es gerade am Wegschmelzen ist und ich ihm einen grausamen Tod ersparen will.“ Flink vertauschte er seinen bereits leeren Becher mit ihrem noch halbvollen, bevor sie sich über den Tisch beugte, um die Aktion rückgängig zu machen. Wenigstens hatte er einen großen Löffel von ihrem Eis ergattert. Während sie aufaß, ließ sie ihn nicht mehr aus ihren misstrauischen Augen. Als ob er sich so eine Aktion zweimal an einem Tag erlauben würde. Kapitel 5: Freitag 20.3. oder Aschenputtel Teil 1 ------------------------------------------------- Das Atmen fiel ihm schwer und als er endlich die Augen öffnete, sah er nur graues Zwielicht. Leicht verwirrt drehte sich Chef auf den Rücken und starrte nun an die Decke. Schlagartig wurde es heller und seine Lungen füllten sich wieder leichter mit Luft. Dafür lag jetzt aber sein Kopfkissen auf dem Boden. Mit einem Arm angelte er danach und verfrachtete es unter seinen Kopf. Mit einer leichten Drehung seines Kopfes konnte er nun bequem nach draußen auf die Häuser der Stadt sehen. Er war tatsächlich wieder in Domino. Vor Jahren hatte er einmal gedacht „seine Stadt“. Doch das hatte sich gelegt, als er älter wurde und mehr von der Welt sah. „Seine“ Stadt gab es nicht, lediglich eine ganze Reihe von Städten, die auf ihre Art und Weise ihren Reiz auf ihn ausübten. Der Himmel war strahlend blau und ausnahmsweise nicht vom Dunst der Stadt getrübt. Irgendwie hatte er Lust etwas zu unternehmen. Schnell sprang er aus den Federn, machte sein Bett und lief dann den Flur Richtung Badezimmer entlang. Auf Höhe der Küche hörte er Geräusche und streckte probeweise seinen Kopf hinein. „Morgen“, begrüßte er Martine, die durch den Raum wirbelte. „Morgen, Schlafmütze! Bin fast fertig. In drei Minuten gibt es Frühstück.“ Er nickte nur und setzte seinen Weg fort. Martines Zeitangaben waren immer sehr präzise, daher nahm er sich nur die Zeit, sich etwas Wasser ins Gesicht zu klatschen, seine Blase zu entleeren und die Hände zu waschen, bevor er zu ihr zurückkehrte. Der Tisch war bereits gedeckt und, als er sich setzte, landeten 5 Spiegeleier auf seinem Teller, vier Scheiben Toast unter sich begrabend. „Du bist wirklich die einzige erwachsene Person, die ich kenne, die ihre Frühstückseier sunny-side-up macht“, lachte er und goss sich dann aus der großen Kanne Kaffee ein. „Musst sie ja nicht essen“, erwiderte sie von der anderen Seite des kleinen Tischs, den ersten Schnitt in ihrer eigenen Portion setzend. „Ich würde dir allerdings von einem Hungerstreik abraten. Anscheinend hast du gestern nichts mehr gegessen und es gibt heute kein Mittagessen, weil wir heute Abend noch aus gehen. Und ich werde dich nicht beim Putzen schonen, nur weil du nichts im Magen hast.“ „Wie kommst du darauf, dass ich gestern nichts gegessen hab?“ „Du trägst noch die gleichen Sachen wie gestern – exakt so, wie du sie anhattest, als ich dich allein gelassen habe?“ Erstaunt blickte er an sich hinab und erschrak. Warum war ihm das nicht aufgefallen? Zum Glück war seine Hose dunkel, sonst wäre das ein deutlich peinlicheres Gespräch geworden. „War müde“, nuschelte er schlicht und aß weiter. „Und was machen wir genau heute Abend?“ Mittlerweile waren beide Teller leer und sie widmeten sich beide jeweils ihrer zweiten Tasse Kaffee. Wobei es bei Martine bestimmt schon die dritte, wenn nicht vierte war. „Wirst du dann sehen. Aber ich glaube, dass es dir gefallen wird. Aber wie gesagt, an oberster Stelle kommt jetzt die Wohnung. Die Küche habe ich heute Morgen schon vom gröbsten Staub befreit, aber der Boden muss definitiv noch gemacht werden - in allen Zimmern. Willst du dich zuerst waschen oder machst du das, nachdem wir fertig sind?“ „Besser danach.“ Ein Schluck der warmen, dunklen Flüssigkeit. Martine hielt nicht viel von Zucker oder gar Milch dazu. „Heißt das eigentlich, dass du das Staubwischen alleine übernimmst und ich wirklich nur die Böden hab?“ Verschmitzt lächelte sie ihn an. „Ich fürchte wohl, ja. Kümmerst du dich um das schmutzige Geschirr? Dann fang ich schon mal an.“ Sie erhob sich und ging aus dem Zimmer. Bald darauf hörte er sie pfeifen. Ein klares Zeichen, dass sie am Putzen war. Er selbst trank noch seine Tasse leer und räumte dann das Geschirr vom Tisch in den Geschirrspüler. Die Pfanne lag bereits eingeweicht in der Spüle und konnte problemlos ebenfalls dazu gestellt werden. Im Anschluss wischte er den Tisch ab, machte den Herd sauber und rieb die Spüle nach. Auf dem Weg zur kleinen Abstellkammer, in der sämtliches Putzutensilien verstaut waren, krempelte er sich die Ärmel seines Hemds hoch und überlegte sich, wie er vorgehen wollte. Für den ersten Durchgang wählte er den Staubsauger. Damit würde er den gröbsten Dreck wegbekommen und hätte vor allem in den Schlafzimmern einen deutlichen Vorteil. Denn diese waren statt mit Parkett gleich mit Teppich ausgelegt worden, um ihrem jeweiligen Besitzer die größtmögliche Behaglichkeit zu verschaffen. Das Wohnzimmer war schnell erledigt. Ebenso Flur, Bad und Küche. Martines Zimmer stellte ihn – trotz der vergleichsweise geringen Größe – vor eine kniffligere Aufgabe, da ihre Ausrüstung noch nicht weggeräumt genau in der Mitte stand und es schwer war um sie herum zu saugen. Sein eigenhändiges Wegräumen verbot sie gerade noch rechtzeitig aus seinem Zimmer rufend. Dann ein fliegender Wechsel. Er in sein Zimmer rein, sie raus, um sich nun dem Wohnzimmer zu widmen. Es ging erfreulich schnell und er konnte sich wenige Minuten später dem nächsten Zimmer zuwenden. Die Hand bereits auf der Klinke zögerte er, wie immer, wenn er die Privaträume seines Adoptivvaters betrat. Jeder einzelne von ihnen zollte seiner verstorbenen Liebe Cecilia Respekt. Schien er nach außen hin mittlerweile vollkommen in der Firma und ihren etwas seltsamen Familienleben aufzugehen, verrieten sie wie sehr er sie wirklich noch vermisste. Selbst hier in Domino, in das er höchstens alle drei Jahre kam, hing ein gemaltes Porträt von ihr an der Wand, davor ein schon längst vertrockneter Blumenstrauß und verschiedene kleine Fotografien, die sie gemeinsam zeigten. Er trat ein und lächelte vorsichtig in ihre Richtung. „Hallo, Mum“, flüsterte er leise. „Ich mach hier nur kurz sauber, damit du es wieder schön hast. Das wird leider ein wenig laut sein, aber dafür sieht danach der Teppich aus wie neu.“ Er wusste schon gar nicht mehr, wann er angefangen hatte, sie so zu nennen, doch auch wenn er sie nie persönlich kennen gelernt hatte, kam es ihm leichter über die Lippen als bei seinem Vater. Trotzdem beeilte er sich, um schnellstmöglich den Raum wieder verlassen zu können. Nach den Räumen der Zwillinge, die als einzige eine eigene Verbindungstür besaßen, wechselte er zum Bodenwischer und bearbeitete damit Parkett und Bodenfliesen in der ganzen Wohnung. Im Essbereich des geräumigen Wohnzimmers, fand er seine Tante wieder und ließ sie kurz von einem Bein aufs andere hüpfen, während sie selbst im Schrank mit dem guten Geschirr wischte. Zwar war es eigentlich durch eine Glastür geschützt, doch ein bisschen Staub verirrte sich doch gelegentlich dort hinein. „Wie weit bist du?“, fragte sie, ihre kleine gepfiffene Melodie unterbrechend. „Fast fertig. Ich muss nur noch das Wasser weg schütten. Selbst der Küchenboden glänzt! Ich kann dir danach also helfen. Hast du noch einen Lappen für mich?“ Leicht vertrete sie die Augen. „Was ist denn in dich gefahren? Hatten wir nicht ausgemacht, dass du nur die Böden zu machen hast?“ Kurz war er versucht ihr die Zunge rauszustrecken. „Muss dein Kaffee gewesen sein. Und nein, hab ich nicht vergessen, aber ich bin so aufgedreht, dass ich dringend etwas zu tun brauche!“ „Na, wenn das so ist.“ Der wohlwollende Ton, den Martine angeschlagen hatte, verhieß nichts Gutes. „Am Kühlschrank hängt der Einkaufszettel für die nächsten Tage. Eigentlich wollte ich das später mit dir zusammen machen, aber wenn du eh schon fertig bist und nichts zu tun hast...“ „Ja, ja. Hab schon kapiert. Ich kümmer mich um den Einkauf und du sorgst schön weiter dafür, dass man sich selbst in den Holztüren spiegeln kann.“ Grinsend ging er in die Küche, um sich mit Einkaufszettel und Taschen zu bewaffnen. Sein verknittertes Hemd würde wohl oder übel die Jacke verdecken müssen. „Bis nachher“, rief er noch über die Schulter und war auch schon aus der Wohnung. Erst im Laden sah er sich die Liste an Lebensmitteln genauer an. Anscheinend würde es, auch wenn an diesem Tag die Küche kalt bliebe, die nächsten Tage eine Menge selbst gekochter Leckereien geben. In freudiger Erwartung packte er den Einkaufswagen voll, als er plötzlich von hinten angesprochen wurde. „Joseph?“ Für einen kleinen Moment aus dem Konzept gebracht, drehte er sich um und lächelte dann breit, sobald er die ältere Dame erkannte. „Wie schön dich wiederzusehen!“, fuhr sie fort. „Ich hab neulich mit meinem Sohn über dich gesprochen, aber er konnte mir leider auch nicht sagen, wann du das nächste Mal in der Stadt bist.“ Kurzentschlossen drückte er sie zur Begrüßung. „Guten Tag, Frau Muranabe“, sagte er anschließend höflich. „Leider habe ich mit ihrem Sohn lange nicht mehr gesprochen und mein Besuch hier, war eher spontan. Meine Tante hat mich gestern einfach ins Auto gepackt und ist mit mir hier her gefahren. Ich soll Sie im Übrigen von ihr grüßen. Und bestimmt kommt sie in den nächsten Tagen noch einmal selbst vorbei. Spätestens, wenn ich ihr verrate, dass Sie wieder kanadische Süßigkeiten importiert haben.“ Was sich oberflächlich nach Small-Talk anhörte, war bei genauerer Betrachtung ein Gespräch unter alten Freunden. Chef hatte während seiner Schulzeit eine Weile hier gearbeitet, noch bevor er den Job bei Frau Muranabes Sohn im Restaurant angenommen hatte. Und er liebte diesen Ort. Der Laden wirkte von außen eher klein und unscheinbar, traute man sich jedoch hinein, offenbarten sich einem Regale um Regale voll mit internationalen Köstlichkeiten und einer umfangreichen Gemüseabteilung. Bereits Reihen vom Gewürzbereich entfernt, war man verzaubert von den verschiedensten Gerüchen und stellte sich so das Schlaraffenland vor. Da der Laden keine hundert Meter von der Wohnung entfernt lag, hatte es sich eingebürgert das Meiste dort zu kaufen und dazu einen kleinen Plausch mit der Besitzerin zu halten. „Ja, die haben wir erst Anfang der Woche rein bekommen. Ich war schon am Überlegen, ob ich für Madame ein paar davon einlagern sollte. Aber da sie rechtzeitig in der Stadt ist, sollte es kein Problem sein, dass sie auch noch welche bekommt.“ Kommentarlos erschienen auf einmal eine Reihe von Lutschern im Wagen, was Chef grinsen ließ. Er sprach noch eine ganze Weile mit ihr, während sie gemeinsam die Gänge abschritten und alles Verlangte zusammen suchten. Schließlich verabschiedete er sich und bezahlte bei einer der Angestellten, die ihn ebenfalls freundlich mit Namen grüßte. Als er sich auf den Rückweg machte, war er gar nicht mehr sauer auf Martine, weil sie ihn alleine Einkaufen geschickt hatte. Beim Betreten der Wohnung schlug ihm der angenehme Geruch von Frischgeputztem entgegen, dafür vernahm er kein Pfeifen mehr. Anscheinend war auch Martine endlich fertig. Wurde auch Zeit, wie ihm ein Blick auf seine Uhr verriet. Mittag war längst durch. Zum Glück hatte er auch ein paar Süßigkeiten für den Eigenbedarf eingekauft. Dennoch warf er ihr zuerst die Tüte Karamellbonbons entgegen, als er sie in der Küche fand, und begann erst dann mit dem Aus- und Wegräumen der restlichen Lebensmittel. Er teilte ihr die Grüße von Frau Muranabe mit und erhielt als Dank fürs Einkaufen den ersten Bonbon aus der Tüte. „Was hältst du von einem kleinen Spaziergang, einer Tasse Kaffee und einem kleinen Stück Kuchen?“, fragte sie selbst, während nun auch hinter ihren eigenen Lippen ein Bonbon verschwand. „Ich dachte, es gäbe heute kein Mittagessen wegen heute Abend?“, hakte er nach, wobei die letzten Sachen im Kühlschrank verschwanden. „Von Mittagessen habe ich ja auch nichts gesagt. Aber wenn ich nicht wenigstens eine Kleinigkeit bekomme, falle ich über die Tüte Karamellbonbons her und pass später nicht mehr in mein Kleid.“ Auf seiner Zungenspitze saß bereits die neckende Bemerkung, dass sie sich das früher hätte überlegen sollen, doch sein Magen machte ihm prompt einen Strich durch die Rechnung, indem er laut knurrte. „Fast einverstanden. Allerdings hätte ich einen kleinen Änderungswunsch bezüglich der Reihenfolge: erst Kuchen, dann den Rest!“ Lachend stimmte Martine zu und bugsierte ihn nach draußen. Wie gut, dass er sich gar nicht erst die Mühe gemacht hatte, die Jacke auszuziehen. Zufrieden betrachtete Mokuba Kaiba das Werk der Floristen. Seit den frühen Morgenstunden hatte sich gleich eine ganze Heerschar in dem großen Saal ausgetobt, um den Eindruck des aufkommenden Frühlings zu erwecken. Neben einer Menge frischer Zweige hatte sich hier und da auch die eine oder andere Frühlingsblüte in die Dekoration verirrt und sorgte so für die farblichen Akzente. Die großen Runden Tische für die Gäste standen und waren bereits eingedeckt. Das Menü hatte er ein letztes Mal mit dem Caterer abgesprochen. Das Personal für den Abend war, soweit schon anwesend, bereits unterwiesen. Selbst der Chaffeurdienst hatte die aktuelle Liste mit den letzten Änderungen erhalten und einen perfekten Zeitplan mit genügend Puffer vorgelegt. Selbst sein Sorgenkind Musik, hatte sich selbst geklärt, indem der erkrankte DJ einen Freund für sich einspringen ließ. Er warf einen letzten kontrollierenden Blick auf das Tablet, mit dem er alles koordiniert hatte. Erleichtert stellte er fest, dass alles erledigt war, was nicht erst am Abend anstand. Jetzt musste er sich nur noch duschen und umziehen und es irgendwie schaffen, seinen Bruder pünktlich hier her zu bekommen. In Gedanken bereits ein paar Stunden weiter, setzte er sich in seinen unauffälligen Mini und fuhr zur Villa. Immer noch nur mit einem Handtuch bekleidet, stand er wie die letzten fünf Minuten auch vor seinem Bett und beäugte kritisch das, was auf ihm lag. Das konnte nicht ihr Ernst sein! Sobald er die Badezimmertür hörte, rief er: „Martine?“ Und sie reagierte sofort: „Ja, Sweetheart? Was ist?“ Ein Blick auf sie genügte, um zu wissen, dass sie bis auf ihr Kleid fast fertig war. Nur noch der Bademantel wollte nicht ins Bild passen. „Ich kam nichts Böses denkend, frisch geduscht aus dem Badezimmer und hab das hier“, er deutete auf das Ding auf seinem Bett, „gefunden.“ „Gefällt er dir etwa nicht? Es ist nun mal ein Ball und da du nichts passendes eingepackt hast...“ „Erstens, woher willst du das wissen? Und zweitens dachte ich immer, die Fairy Godmother wäre darauf bedacht, nur die schönsten Kleider für ihre Schützlinge herbeizuzaubern.“ Martine seufzte theatralisch. „Wenn es dir nicht gefällt, tauschen wir eben, auch wenn ich der festen Überzeugung bin, dass du wirklich gut darin aussehen würdest. Außerdem löst es sich um Mitternacht nicht in Luft auf.“ „Was genau meinst du mit tauschen?“ Ihre einfache Kapitulation hatte ihn misstrauisch gemacht. „Ganz einfach, Pumpkin. Ich ziehe das hier“, gekonnt machte sie seinen vorherigen Tonfall nach, „an und du erhältst dafür mein Kleid. Keine Angst, deine Fairy Godmother trennt noch rasch ein paar Nähte auf, damit du am Rücken keine Probleme hast. Aber dann sollte es dir passen.“ Er glaubte sich verhört zu haben. Es schien ihr absolut ernst damit. Zwar hatte er ihr Kleid noch nicht gesehen, aber er wollte es unbedingt vermeiden in ihm bei der Veranstaltung aufzukreuzen – da konnte er ja sonst wem begegnen. „Du darfst aber nicht die Zeit vergessen, die du bräuchtest, meine Kleidung auf dich anzupassen. Zum Schluss kommen wir noch zu spät. Da ist es wohl besser, wenn ich mich einfach brav bei meiner Tante bedanke und es anziehe, bevor ich noch den Tanz mit dem Prinzen verpasse.“ Zum Umziehen ließ Martine Chef alleine. So entging ihm auch ihr triumphierendes Grinsen, das sich beim Hinausgehen auf ihre schon geschminkten Lippen legte. Kapitel 6: Freitag 20.3. oder Der Ball Teil 2 --------------------------------------------- Bereits seit einer dreiviertel Stunde hielt seit Hochgefühl an, das durch Mokubas Gesichtsausdruck hervorgerufen worden war, als er fertig in der Eingangshalle der Villa stand, obwohl sein kleiner Bruder ihn gerade zur Eile beim Umziehen in seinem Zimmer antreiben wollte. Seit einer Woche freute er sich auf diesen Abend, da würde er doch nicht zu spät kommen! Mit einem schon halbleeren Sektglas unterhielt er sich gedämpft mit Herrn Marui, einem langjährigen Geschäftspartner, und dessen Gattin angeregt über die Kirschblüte vom Vorjahr und blendete die Stimme aus, die die herbei strömende Schar neuer Gäste verkündete. Es war eine von Mokubas neuen Ideen gewesen – neben dem Ortswechsel des Balls – damit die Anwesenden halbwegs wussten, wer da war, handelte es sich doch um einen Maskenball. Seto war es ein Rätsel geblieben, wie er auf beides gekommen war, zumal er selbst davon keinen Vorteil hatte – als Gastgeber musste er leider erkennbar bleiben. Das höchste der Gefühle war gewesen seinen sonst weißen Anzug gegen einen nachtblauen zu tauschen. Gerade wollte er höflich auf eine Frage von Frau Marui antworten, als die namensverkündende Stimme doch zu ihm durchdrang und ihn dazu bewog sich zur Freitreppe, die vom Empfangsbereich im ersten Geschoss hinunter auf das Saalniveau führte, umzudrehen. „Martine Pegasus, in Begleitung des Besten, das ihrem Bruder je hätte passieren können.“ Da war sie endlich! Nicht zu spät, um unangenehm aufzufallen, aber auch nicht so früh, dass ihr Erscheinen unbemerkt geblieben wäre. Für einen kurzen Moment stutzte er und beobachtete wie eine Waldkönigin in langem hellgrünen Kleid die Stufen hinunter schwebte. Ihre glatten Haare schienen sich auf dem langen Weg bis zu ihrer Taille nicht entscheiden zu können, ob sie nun blond oder brünett sein wollten, und selbst auf die Entfernung und trotz der Maske war ihm bewusst, dass alle anderen Frauen es an diesem Abend sehr schwer haben würden, sich mit ihrer Schönheit zu messen. Zum Glück war er gegen diese Art von Zauber immun und er würde wohl ein vernünftiges Gespräch mit ihr zu Stande bringen, ohne sie dabei anzugaffen. Er war schon im Begriff, sich wieder dem Ehepaar Marui zuzuwenden, als sein Herz einen ungewohnten Hüpfer machte. Leicht versetzt hinter Martine erblickte er ihre Begleitung, dessen Größe sie fast erreichte. Für einen kurzen Moment spürte er, wie die dunklen Augen ihn streiften, sah wie sich die verheißungsvollen Lippen teilten, um etwas zu flüstern, was sie zum Lächeln brachte. Der grüne Anzug, auf dem sich ein Teil der Stickerei ihres Kleides wiederfand, saß wie eine zweite Haut und betonte die sportliche Figur seines Trägers. Seto fiel es unendlich schwer sich abzuwenden, statt einmal quer durch den Saal zu laufen und Joseph Pegasus in seine Arme zu ziehen. Doch zu schmerzlich war ihm bewusst, dass er sich das in einem solchen Rahmen nicht erlauben konnte. Aus dem Augenwinkel sah er noch einen Mann in weiß auf das Ende der Treppe zu laufen. Wie sollte er nur unter diesen Umständen seinen Plan verwirklichen? Kaum hatte er Martine gesehen, war Mokuba an den Fuß der Treppe geeilt, um sie persönlich als Erster zu begrüßen. Er konnte es irgendwie noch immer nicht richtig fassen, dass sein Bruder sie tatsächlich eingeladen hatte – auch wenn er der Überbringer dieser recht kurzfristigen Nachricht gewesen war. Zum Schutz ihres Outfits verzichtete er auf ihre gewohnte Umarmung und ergriff stattdessen ihre Hände, die sie ihm entgegenstreckte. „Hallo Martine. Ich freue mich, dass alles so gut geklappt hat.“ „Hallo, Mokuba“, strahlte sie ihn an. „Ja, ich mich auch. Und anscheinend hast du dich wieder selbst übertroffen. Zwar hatte ich noch nie das Vergnügen, auf einem der Bälle deines Bruders zu sein, aber das hier“, sie machte eine kleine Geste in die Runde, „ist einfach nur ein Traum. Außerdem vielen Dank für den Chauffeur, obwohl der definitiv nicht notwendig gewesen wäre.“ Martine konnte ihm problemlos in die Augen sehen, was eigentlich nur heißen konnte... „Ich weiß, aber ich wollte den Gehwegen von Domino deine Absätze ersparen“, provozierte er galant ein Kichern ihrerseits. „Was ist bitte an den Absätzen schlimm?“ Unter dem nach oben gerafften Saum kamen zum Kleid farblich passende High Heels mit zehn Zentimeter-Absätzen zum Vorschein. „Allein die Höhe! Wie kannst du nur in denen Laufen?“ „Reine Gewöhnungssache. Genau wie die neue Farbe an dir. Chic. Könntest du ruhig öfters tragen.“ „Besser nicht. Ich bin froh, wenn ich heute Abend überstehe, ohne dass man lauter Flecken auf dem Anzug sieht. So oft werde ich den bestimmt nicht anziehen.“ „Apropos, Unzufriedenheit der Männerwelt mit ihren wundervollen Anzügen. Darf ich dir Chef vorstellen?“, lenkte sie seine Aufmerksamkeit auf ihre Begleitung, die sich bis dahin im Hintergrund gehalten und fasziniert gelauscht hatte. Überrascht sah Mokuba erst zu ihm, dann zurück zu Martine. „Wieso hast du mir nie gesagt, dass es sich bei deinem 'Chef' um Joey handelt?“ Schlagartig entgleisten ihr – und Chef – die Gesichtszüge, was zum Glück größtenteils die Masken verbargen. Für Mokuba war ihr Anblick dennoch Gold wert. „Wie bitte?“, fragte sie nach. „Du hast mich schon richtig verstanden. Ich würde gerne wissen, weswegen du mir nie gesagt hast, dass sich hinter Chef Joey verbirgt. Das gilt für dich im Übrigen genauso. Wie hast du es bitteschön fertig gebracht, mir die ganze Zeit in den E-Mails nichts davon zu verraten?" Chef fing sich zuerst wieder und versuchte es zu erklären. „Ich hatte Angst, du könntest es deinem Bruder verraten. Der hat es nämlich nicht bemerkt und es war ziemlich angenehm, sich mit ihm zu unterhalten ohne die gewohnten Spitznamen, die er früher immer für mich hatte.“ Jetzt war es an Mokuba verdutzt aus der Wäsche zu schauen. Einen weiteren Augenblick später kapierte er und prustete, bei dem Versuch nicht laut zu lachen, los. „Das ist jetzt nicht euer Ernst? Seto hat keine Ahnung, dass er zwei Wochen lang bei seinem Hündchen“, ein überaus finsterer Blick von Chef, „im Hotel verbracht hat? Aber man sieht doch sofort wer er ist! Klar, er scheint etwas gewachsen zu sein – sorry, ich kann das irgendwie nicht mehr so richtig einschätzen – aber sowohl Augen- als auch Haarfarbe sind doch gleich geblieben. Und vor allem die Stimme. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock!“ „Dein Bruder aber anscheinend nicht. Mokuba, was muss ich tun, dass du ihm nicht verrätst, wer ich bin?“ Chef blickte den Jüngeren flehend an. Noch bevor dieser seine Forderungen stellen konnte, mischte sich Martine ein: „Kleiner, lass mich besser die Verhandlungen führen. Mokuba, wir versprechen dir hiermit, dass er es erfahren wird, wenn er nicht langsam mal von selbst drauf kommt. Aber wir würden das gern etwas sanfter machen. Und nicht ausgerechnet heute. Haben wir dein Wort, dass du ihm nichts verrätst?“ Sie hielt ihm die Hand hin, in die er augenblicklich einschlug. „Habt ihr. Aber jetzt hört auf, so ernste Gesichter zu machen! Ihr seid schließlich hier, um Spaß zu haben! Nur ich muss jetzt leider weiter. Irgendwas scheint in der Küche nicht so richtig zu laufen. Bis nachher. Hoffentlich.“ Sprach's und und war schon davon gestürmt. Sie sahen dem Schwarzhaarigen noch kurz hinter her, dann drehte sich Chef zu Martine und fragte leise: „Das hier ist Kaibas Ball?“ Sie mied seinen Blick und nickte leicht. „Ich entscheide, wenn wir wieder zu Hause sind, ob ich dich dafür hasse oder nicht. Aber wehe du lässt mich länger als eine halbe Stunde mit ihm allein!“ „Einverstanden. Wollen wir uns unsere Plätze suchen? Anscheinend gibt es eine feste Tischordnung.“ Eine Viertelstunde später trat Seto auf die Bühne am Kopfende des Saals, das Richtung Park zeigte, und hielt eine kleine Ansprache. Er hatte das schon so oft gemacht, dass die Worte beinahe automatisch über seine Lippen kamen. Wie sehr er sich freue, sie alle versammelt zu sehen. Dass er hoffte, sie würden einen wunderbaren Abend verbringen. Und so weiter. Ein Haufen leerer Floskeln. Doch fiel sein Blick in der erwartungsvollen Menge auf ein Paar in Grün, dass ihn äußerst interessiert musterte – sie zumindest, er schien schräg an ihm vorbei zu sehen. Trotz der bunten Kleidung der anderen Gäste waren sie für seine Augen wie ein Magnet. Immer wieder huschte sein Blick zu Martine und Joseph. Wenig erfreut musste er feststellen, dass die beiden selten allein waren. Irgendein männlicher Gast stand immer bei ihnen und redete auf sie ein. Selbst das Essen schienen sie nicht ungestört genießen zu können. Während Joseph entspannt blieb, schien sie immer kühler im Umgang mit den zusätzlichen Gesprächspartnern zu werden. Und doch sah er immer noch keine Möglichkeit, nah genug an sie heran zu kommen, um rein zufällig mit ihnen ein Gespräch zu beginnen. Nach dem Menü nutzte er die Gelegenheit sich ein wenig zurückzuziehen, um sich von den Menschenmassen etwas zu erholen. Denn auch er selbst war von mehr als einem Gast das Objekt der Redebegierde. Die Balustrade auf Höhe des oberen Stockwerks führte auch nach draußen, doch durch die Glasfassade hatte man nach wie vor die Möglichkeit nach drinnen zu sehen. Aber sein Blick war in die Dunkelheit des angrenzenden Stadtparks gerichtet. Schmunzelnd dachte er an seinen Urlaub zurück. Shin und Hans hätten aus dem Ballmenü ein wahres Meisterwerk gemacht. Das Essen war nicht schlecht gewesen, doch irgendetwas hatte gefehlt und er konnte nicht genau beziffern, was es war. Die sich öffnende Tür hörte er nicht, erst als sich eine andere Person mit einem Meter Abstand neben ihn stellte, sah er kurz auf. „Martine Pegasus, oder?“ Ihr Blick war ebenfalls in die Dunkelheit gerichtet. „Ja, auch wenn einige da drinnen wohl 'Manipulatives Miststück' bevorzugen würden. Sie können aber ruhig bei der ersten Variante bleiben.“ Sie wandte sich zu ihm um als erwarte sie eine Frage seinerseits. Stattdessen meinte er schlicht: „Wenn meine Anwesenheit angenehmer für Sie ist als die meiner anderen Gäste, können Sie ruhig hier draußen bleiben. Sie schienen ziemlich belagert zu werden.“ „Danke“, lächelte sie. „Belagert ist vielleicht der falsche Ausdruck. Die eine Hälfte dieser überaus reizenden Herren versteht nicht, dass ich heute Abend als Privatperson hier bin, die andere kapiert es viel zu gut.“ „Sie sind vor mir in beiden Fällen sicher. Das Geschäftliche kläre ich lieber mit ihrem Bruder und privat bin ich eher an ihrer Begleitung interessiert als an Ihnen.“ Einen kurzen Moment stockte er. Wieso hatte er das Letzte gesagt? Sie schien es jedoch nicht als Kränkung aufzufassen, sondern antwortete: „Ich würde sagen, dass das auf Gegenseitigkeit beruht.“ „Können Sie ihn eigentlich so lange allein lassen? Ich denke nicht, dass Ihr Bruder es gerne sehen würde, wenn Sie seinen Gelie...“ „Mein Neffe ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Und ich glaube er ist ganz froh, wenn er heute Abend etwas Ruhe vor mir hat.“ „Ihr...Ihr Neffe?“ Seto versuchte erst gar nicht seine Überraschung zu verbergen. Was sollte das heißen? Er war weder mit Maximillion noch mit Martine Pegasus in einer Beziehung, sondern... „Ja, mein Neffe. Maximillion hat Chef adoptiert. Was dachten Sie denn?“ Seto war in diesem Moment äußerst froh, dass ihr Bruder nur noch ein Auge besaß. Denn nun sah sie ihn aus ihren zwei eigenen bernsteinfarbenen Augen, die als Einziges auf ihre Verwandtschaft hindeuteten, so durchdringend an, dass ihm heiß und kalt wurde. Wenn sie ihn nur lange genug so ansähe, würde er ihr wahrscheinlich alles erzählen und verraten, was sie je über ihn hätte wissen wollen. Er musste es irgendwie schaffen sich aus der Affäre zu ziehen und gleichzeitig noch ein wenig mehr zu erfahren, wenn sich ihm schon einmal die Gelegenheit bot sich alleine mit ihr zu unterhalten. „Ich habe mich nur gerade gefragt, wie er tatsächlich heißt. Chef wird doch wohl kaum sein richtiger Name sein, oder?“ Zu seiner großen Erleichterung fixierten ihre Augen nun die dunkelrote Flüssigkeit in dem Glas, das sie sich mit nach draußen genommen hatte und die Arme auf der Brüstung abgestützt es leicht hin und her schwingen ließ. „Was seinen alten Nachnamen angeht, so sollten Sie ihn besser selbst danach fragen – aber bitte nicht heute. Er reagiert darauf noch empfindlicher als auf den neuen. Chef wiederum ist die Kurzform für Joseph.“ Er verbarg seine Enttäuschung über ihre geringe Auskunftbereitschaft hinter seiner nächsten Frage: „Wie kommt man denn auf so eine Kurzform? Jo oder meinetwegen Joey wäre doch viel naheliegender.“ Um sie besser im Blick zu haben drehte er sich so, dass er an der Brüstung mit dem Rücken lehnte und nur noch leicht den Kopf zu ihr drehen musste. „Naheliegender vielleicht. Aber sagen Sie das mal einem Zweijährigen. Der Name stammt von meinem Sohn und er hatte damals wirklich Probleme mit der Aussprache. Bis sich das gelegt hatte, hatte sich sein Rufname schon geändert.“ „Sie haben Kinder?!“ Zwar hatte er es gewusst, doch nun, da er sie vor sich sah, fiel es ihm schwer dies zu glauben. Sie wirkte noch so jung. „Natürlich. Zwillinge. Ein Junge und ein Mädchen. Sie lieben Chef abgöttisch!“ Plötzlich setzten sich die Teile für Seto zusammen. Die Tante, über die der Hotelmanager die ganze Zeit gesprochen hatte, und Martine waren ein und die selbe Person! „Kann es sein, dass Sie …?“ Doch er brachte es nicht über sich, das wirklich zu fragen. Also setzte er nach: „dass Sie nie an offiziellen DuellMonsters-Turnieren teilgenommen haben?“ „Stimmt.“ „Wieso? Mögen Sie das Spiel nicht, oder weswegen hatte ich nie das Vergnügen Sie auf einem meiner Turniere begrüßen zu dürfen?“ „Ich dachte wir wollten das Geschäftliche weglassen? Aber diese eine Frage, kann ich Ihnen ja beantworten. Ich bin nicht zu den Turnieren gegangen, weil sie mir zu langweilig waren. Außerdem hatte ich zu den Terminen immer sehr viel zu tun. Zwillinge groß ziehen und zwei Jobs machen sich leider nicht von alleine. Aber ganz ehrlich, wenn ich mich duellieren will, suche ich mir meinen Gegner direkt aus. Falls Sie über das Thema weiter diskutieren möchten, … Ich würde mich freuen Sie morgen Abend zum Essen begrüßen zu können.“ Sie drehte sich zu ihm, drückte ihm ihr Glas in die Hand und angelte dann aus ihrer kleinen Handtasche ein Kärtchen. „Danke fürs Halten“, nahm sie ihr Getränk wieder entgegen und reichte ihm dafür das Stück Karton. „Das hier ist meine Karte mit der Adresse in Domino. Unter der Telefonnummer bin ich jedoch immer erreichbar. Es wäre schön, wenn Sie um 18 Uhr da sein könnten.“ Etwas überrumpelt nickte Seto nur und ließ die Adresse in der Tasche seines Jacketts verschwinden. „Duel Monsters verbinden Sie anscheinend wirklich nur mit Arbeit“, stellte er trocken fest. „Nicht nur. Aber es würde Ihnen und mir den Abend ruinieren, wenn ich Ihnen jetzt beichten würde, dass ich Sie am liebsten umgebracht hätte, als ich erfuhr, dass Sie tatsächlich eine Karte des weißen Drachen mit eiskaltem Blick zerrissen haben“, erwiderte sie in einem ebenso trockenen Tonfall. Entsetzt sah er sie an. Martine jedoch war in das Treiben im Saal vertieft, wo die ersten Mutigen sich auf die nach dem Essen freigeräumte Tanzfläche trauten. „Wie gut, dass Sie diesen Abend nicht ruinieren wollen.“ „Finde ich auch. Zumindest nicht auf diese Art und Weise.“ Wieder sah sie ihn an. „Ist es eigentlich normal, dass so wenig auf Ihren Bällen getanzt wird?“ Verwirrt musterte er sie, um einen Hinweis zu erhalten, worauf sie hinaus wollte, fand aber nichts Hilfreiches. „Was meinen Sie mit 'wenig'? Die Menge an Tanzpaaren ist doch üblich.“ Mit einem kurzen Blick in den Saal versicherte er sich, dass sich tatsächlich nichts zu den Vorjahren geändert hatte. „Die Tanzfläche ist nicht mal zu einem Drittel voll. Bei diesem Füllgrad hätten sie zum Bankett laden können und keinem wäre der Unterschied aufgefallen. Vor allem hätten dann die Tische nicht weichen müssen.“ Ihr Ton war nicht spöttisch. Vielmehr schien sie etwas zu überlegen. Dennoch saß die Kritik für etwas, das ihm selbst schon hätte auffallen können. „Ich hätte einen Vorschlag zu machen“, fuhr sie plötzlich fort. „Sie geben mir freie Hand, wenn ich dafür Ihre Tanzfläche voll bekomme. Zur Not können Sie sich später damit herausreden, dass Sie von alledem nichts wussten.“ Kurz überdachte er ihren Vorschlag. Ihm war zwar schleierhaft, wie sie dieses Kunststück bewerkstelligen wollte, doch sollte sie irgendetwas seltsames machen, bot ihm das immer noch die Gelegenheit das Ansehen des Namens Pegasus mit ihrer persönlichen Erlaubnis etwas zu schmälern. Er gewann, egal wie die Sache ausging. „Meinetwegen.“ „Danke.“ Sie war bereits an der Tür angelangt, als sie sich noch einmal umdrehte. „Es bleibt bei morgen, 18 Uhr, bei mir?“ Bestätigend nickte er. „Morgen, 18 Uhr.“ Dann war sie auch schon nach drinnen verschwunden und er blieb allein zurück. Plötzlich spürte er wie kalt doch noch immer die Nächte wurden. Seltsam, dass es ihr in ihrem ärmellosen Kleid nichts ausgemacht zu haben schien. Bevor er noch anfing für sich untypisch mit den Zähnen zu klappern, beschloss Seto Martines Beispiel zu folgen und ebenfalls wieder hinein zu gehen. Außerdem war sie aus seinem Blickfeld verschwunden und das beunruhigte ihn doch ein bisschen. Denn ihm fiel auf, dass nämlich vorerst sein Ruf geschädigt sein würde, sollte sie etwas Schräges abziehen. Betont langsam schritt er die Balustrade entlang und ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Ungefähr nach einem Drittel der Saallänge erblickte er sie ganz hinten beim Mischpult des Djs stehend und mit diesem und Mokuba etwas beredend. Dann drückte ihr Mokuba etwas in die Hand und sie setzte sich in die andere Richtung wieder in Bewegung, während er selbst neugierig stehen blieb. Noch war ihr Treiben von den Gästen unbemerkt, doch kurz vor der Bühne stellte sich ein Mann Anfang dreißig ihr in den Weg und sprach schnell und bestimmend auf sie ein. Währenddessen weiteten sich die Augen der hübschen Blondine neben ihm. Obwohl Seto auf Grund der Musik und dem unendlichen Gemurmel der Gäste nichts verstehen konnte, schien es ihm so als sei Martine von diesem Störenfried reichlich genervt – zumindest deutete die Haltung ihres Rückens darauf hin. „Ja, komm. Spiel dich auf als hättest du ihr noch irgendetwas zu sagen“, flüsterte jemand in Setos unmittelbarer Umgebung. Ihn verstand er wenigstens und er schien das Geschehen zu kommentieren. Also hakte er nach: „Entschuldigung. Sie verstehen was da unten vor sich geht?“ „Natürlich. Für nicht Eingeweihte mag das da unten alles ziemlich seltsam aussehen, aber es handelt sich bei dem Kerl um den Vater ihrer Kinder. Hat mit ihr nach vier Monaten Schluss gemacht, noch bevor sie gemerkt hat, dass sie schwanger war. Hat sich einen Dreck für sie oder die Kinder interessiert. Doch immer bei solchen Gelegenheiten meint er sich groß aufspielen zu müssen. Oh, die scheint neu zu sein.“ Unter ihnen reichte gerade Martine der blonden Begleiterin des „Kerls“ eine Visitenkarte. Ihre Haltung stank bis zu ihnen hoch nach zuckersüßer Boshaftigkeit, aber auch ein wenig Mitgefühl. „Er serviert seine Freundinnen allem Anschein nach immer noch alle vier Monate ab.“ Dann wechselte das Lied und Martine ließ das Paar einfach stehen. Auch Seto war die Veränderung aufgefallen, denn statt der sonst vorherrschenden getragenen Melodie, drang etwas Fetziges aus den Lautsprechern, was die ersten freudig-überraschten Rufe bei den jüngeren Ballgästen hervorrief, die nun auf die Tanzfläche und hin zur Bühne, auf der Martine gerade Stellung bezog, strömten. Irgendwo hatte er das Lied schon einmal gehört, doch es fiel ihm erst wieder ein, als Martine die ersten Worte sang: „I suppose I should tell you what this bitch is thinking.“ Die ersten johlten begeistert. Zumindest den Start hatte sie souverän gemeistert. „You'll find me in the studio and not in the kitchen.“ Langsam dämmerte es Seto, was für ein Lied sie da gerade sang. Unter normalen Umständen hätte er sie an dieser Stelle versucht auszubremsen, sie von der Bühne entfernen lassen und sie dann im stillen Kämmerchen – immerhin war ihr Bruder ein wichtiger Geschäftspartner – zur Schnecke gemacht. Doch in Anbetracht der neu gewonnenen Informationen und der Tatsache, dass sie tatsächlich singen konnte, lauschte er einfach nur gespannt, den Erklärer von vorhin vergessend. „Don't need to shake my ass for you 'cause I've got a brain.“ Während sie sang, schauspielerte sie ein wenig, um den Inhalt des Liedes zu unterstreichen, was die Menge nur noch mehr zum Toben brachte. Mit dem Einsetzten des Refrains kamen Setos Zweifel zurück. Eine erwachsene Frau sollte nie so oft das Wort „Bitch“ sagen – vor allem nicht in diesem Rahmen. Doch seine Gäste schien es weniger zu stören. Tatsächlich begannen die ersten zu tanzen. Nicht das was man in Discotheken sah, sondern ganz anständig DiscoFox. Geschockt sah er, dass sich unter die Tanzpaare auch ein paar der älteren Gäste mischten. „If you're not a size six And you're not good looking Well, you better be rich Or be real good at cooking You should probably lose some weight 'Cause we can't see your bones You should probably fix your face Or you'll end up on your own“ Mit dem letzten „Hard out Here“ war die Tanzfläche gut gefüllt und jubelte ihr zu, als Martine das Wort ergriff: „Guten Abend. Ich hoffe Sie verzeihen mir meine harschen Worte von eben. Ab jetzt wird es etwas gesitteter – versprochen. Ich habe für die nächsten eineinhalb Stunden das Vergnügen für Sie singen zu dürfen und Sie so zum Tanzen aufzufordern – auch wenn ich selbst hier oben auf der Bühne bleiben werde. Es sollte sich für jeden ein Tanzpartner finden lassen. Die nächste Nummer ist ein Walzer.“ Wie konnte man so vor Charme sprühen? Seto war es ein Rätsel. Doch er konnte nicht lange darüber nachdenken, denn der Erklärer lachte leise neben ihm über einen Witz, den nur er zu kennen schien. Seto fragte vorsichtig nach und bekam ein Paar am Rande der Tanzfläche gezeigt. Sie zog mit bittendem Gesicht an seinem Arm, um ihn dazu zubewegen mit ihr zu tanzen, während er sich augenscheinlich mit allem was er hatte, dagegen sträubte. Es war der Mann, der zuvor die Szene mit Martine provoziert hatte. Unerwartet gestand sich Seto ebenfalls ein Schmunzeln zu. „Gibt es noch etwas, was ich über Martine wissen sollte?“, fragte er den Mann in Grün neben sich interessiert. „Sie wissen bereits, dass sie Mutter von Zwillingen ist?“ Er nickte und sah den sich drehenden Tanzpaaren unter ihnen zu und lauschte ein wenig der schönen Gesangsstimme. „Sie ist nach der Geburt der Zwillinge extra nach Japan gezogen, dass auch der Vater der Kinder die Möglichkeit hat, sie häufiger zu sehen. Mit dem Auto bräuchte er keine halbe Stunde zu ihnen. Aber er zieht es vor, sie nicht zu sehen. Bei ihren Geburtstagen war er bis jetzt nur ein einziges Mal, Weihnachten hat mit ihm noch nie stattgefunden. Doch sie erträgt das alles stoisch und versucht zu verhindern, dass die beiden ihren Vater hassen. Es wäre ja nicht so, dass seine Familie gegen sie etwas hätte. Seine Eltern lieben sie. Zwar haben sie sie erst kennen gelernt, nachdem sie nicht mehr mit ihrem Sohn zusammen war, aber sie ist ohne Zweifel ihre Wunsch-Schwiegertochter. Sie besuchen die Zwillinge auch regelmäßig, auch wenn ich erstaunt bin sie heute Abend nicht hier zu sehen. Er ist ein wichtiger Zulieferer Ihrer Spielekonsolenreihe.“ Seto sah ihn verwundert an. „Woher wissen Sie das?“ „Kann ein Hotelmanager sich nicht für Wirtschaft interessieren? Ich hoffe nur, dass sie noch ein paar fröhlichere Themen in den Liedern anstimmt.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung Martine, die bereits mit dem dritten Lied begonnen hatte und schon wieder machte der Text klar, was sie von ihrem Exfreund hielt. Der wogenden Masse schien es wenig auszumachen und sie bewegte sich mehr oder minder geübt in einem Cha-Cha-Cha über den Boden, während er und Seto eine Weile schwiegen. Dann begannen sie sich leise über Nebensächlichkeiten zu unterhalten. Das Wetter, das Essen, dabei immer wieder die tanzenden Menschen unter ihnen beobachtend. Sie sahen sich kein einziges Mal direkt an und tanzten beide dabei geschickt um die Themen herum, die ihnen eigentlich auf der Seele brannten, als wäre ihnen beiden klar, dass hier nicht der richtige Ort dafür war, sie zu diskutieren. Ob er bei dem Essen am nächsten Tag auch anwesend sein würde? „Ja, ich kann tanzen. Tanze sogar sehr gerne. Nur meistens fehlt mir der passende Partner“, antwortete Chef gerade auf Setos Frage, als sie beide sahen wie Martine zu ihnen hoch sah und ein kleines Zeichen gab. „Sie entschuldigen mich? Es war nett mit ihnen Konversation zu betreiben, aber anscheinend werde ich unten gebraucht“, verabschiedete sich der Blonde schnell und ließ Seto überraschend allein. Er sah noch, wie er auf Mokuba zu steuerte, wurde dann aber durch Martines Stimme abgelenkt, die geendet hatte und sie wieder an ihr Publikum richtete: „Nachdem Sie nun alle warm getanzt sind, würde ich Ihnen nun einen etwas fortgeschritteneren Tango vorschlagen.“ Sie bedeutete dem DJ, die Musik zu starten, und schloss ihre Augen. Bei den ersten Tönen ging ein Raunen durch die Reihen, die sich rasch lichteten, um denen frei zu machen, die sich dieses Stück wirklich zutrauten. Aber für Seto waren zwei Dinge viel interessanter. Erstens war das Stück deutlich anspruchsvoller als die zuvor und zweitens war es ein Duett. „In sleep he sang to me, in dreams he came.“ Auf Setos Armen bildete sich eine Gänsehaut, die der Klang der E-Gitarren noch verstärkte. Dennoch genoss er das Gefühl und ließ sich von der Musik tragen. An der Stelle, an der die zweite Stimme einsteigen musste, ließ er den Blick durch den Saal schweifen. Und tatsächlich bahnte sich jemand durch die Menge seinen Weg zu ihr und sang: „Sing once again with me our strange duet.“ Chef betrat die Bühne und schenkte ihr all seine Aufmerksamkeit, während es Seto heiß und kalt wurde. Was würde er dafür geben, wenn diese lüstern düstere Stimme nur für ihn singen würde! Wie versteinert sah er ihnen weiterhin zu und konnte seinen Blick vor allem dann nicht abwenden, als sie im Instrumentalteil anfingen miteinander zu tanzen. Ohne Frage, dies war ein Tango, doch auf einem Niveau, das er bis dahin selten gesehen hatte. Die Anziehung der beiden war zum Greifen und trieb ihm fast die Schamesröte ins Gesicht. Wie sehr er sich wünschte, statt Martine nun in Chefs Armen zu liegen und von ihm so über die Bühne geführt zu werden! Erleichtert atmete er auf, als das Stück zu Ende war und Martine nach reichlich Applaus eine ruhigere Ballade anstimmte. Allerdings entging ihm nicht, dass während des Intros ein kleiner schwarzer Gegenstand den Besitzer wechselte. Interessant. Doch weiter interessierte es ihn erstmal nicht, was Chef damit tun würde. Genauer gesagt, musste er dringend in eine andere Richtung schauen, bevor seine Fantasie nun endgültig mit ihm durch ging. Am Rande der Tanzfläche entdeckte er Mokuba, der eine junge Frau aus einer ganzen Gruppe hübscher junger Damen gerade zum Tanzen aufforderte. Die Auserwählte strahlte über beide Ohren und folgte ihm brav zwischen die anderen Tanzpaare. Seto konnte nur hoffen, dass Mokuba sie aus reiner Höflichkeit aufgefordert hatte, denn sie wirkte eindeutig zu naiv, um eines Tages den Namen Kaiba fortzuführen. Vielleicht war das auch ein wenig zu weit gedacht, doch umso entsetzter stellte er fest, dass er nicht den blassesten Schimmer hatte, auf welchen Typ Frau Mokuba stand. Sie hatten sich nie darüber unterhalten. Vom Tablett eines vorbeigehenden Kellners, der sich vermutlich nur seinetwegen hier oben herumtrieb, fischte sich Seto ein Glas Weißwein und drehte sich gerade rechtzeitig wieder zur Bühne, um zu sehen wie der Tausch rückgängig gemacht wurde. Nun sang Chef wieder und er verlor sich in seiner Stimme, achtete nicht mehr auf die Musik oder das, was er sang, sondern nur noch darauf, wie ihm bei jeder gesungenen Note ein wohliger Schauer über den Rücken lief. Wieso war er am Valentinstag so verklemmt gewesen und hatte es nicht mehr genossen? Er hatte bereits jegliches Zeitgefühl verloren, als ihn jemand vorsichtig stupste. Widerwillig wandte er seinen Blick von der Bühne ab, auf der gerade Martine verkündete, die nächste Nummer sei für all diejenigen, die die Eine bereits gefunden hätten. Doch freute er sich seinen Bruder zu sehen, der vom Tanzen noch leicht erhitzt war. Seine Wangen waren leicht gerötet und seine Augen glänzten begeistert. „Was gibt es“, wollte Seto prompt von ihm wissen. Sicherlich hatte er bessere Dinge zu tun als hier bei ihm oben herumzustehen. Mokuba lächelte schelmisch und fragte seinerseits: „Darf ich nicht einfach mal so nach meinem Bruder schauen? Wieso tanzt du nicht? Es sind genug Leute da, die ohne Tanzpartner auskommen müssen und sich bestimmt über einen Tanz freuen würden. Und ich kann mich leider nicht zweiteilen.“ „Ich genieß einfach nur ein wenig die Musik. Mir ist nicht so nach tanzen.“ Mokuba zog eine Augenbraue hoch als habe er die Lüge seines großen Bruders durchschaut, schwieg jedoch dazu. „Sie sind gut, oder?“, meinte er stattdessen und ruckte mit dem Kopf kurz Richtung Bühne, um zu verdeutlichen, wer gemeint war. „Aber du kannst froh sein, dass hier kein Flügel oder Klavier steht. Sonst würde Martine die Begleitung selbst spielen. So, und du kommst jetzt mit mir runter. Musst ja nicht tanzen, wenn du nicht willst, doch da sind noch eine Menge Leute, die mit dir reden wollen und ich sehe es nicht ein auf deinem Ball auch noch das zu übernehmen.“ Entschlossen wurde Seto zur Treppe und nach unten gezogen und erst wieder losgelassen, als er in unmittelbarer Nähe eines nicht tanzenden Gastes war, der ganz erpicht auf ein Gespräch mit ihm schien. So viel zum Thema „Genießen“. Während er sich irgendwelche auswendig gelernten Statistiken über die Zielgruppe 50+ anhören durfte, wurde weiter vorne verkündet, dass nun das letzte Lied folgen würde. Er hätte sich wahrscheinlich sogar als Biest verkleidet, wenn er nur diesen einen Tanz zu „Beauty & the Beast“ mit Chef hätte tanzen können. Aber nein, er stand hier unter den Herrschaften, die sich vehement weigerten das Tanzbein zu schwingen und konnte nur zu sehen, wie sich die beiden unverhofften Sänger ein letztes Mal bedankten und sich dann unter die anderen Tanzpaare mischten. Der DJ übernahm wieder und hatte anscheinend die Zeit genutzt, um seine Auswahl an Liedern auf Vordermann zu bringen, denn die Tanzfläche blieb weiterhin gut gefüllt. Also beschloss Seto, dass langweilige Gespräche die beste Ablenkung waren. Dennoch konnte er von seinem Standpunkt aus immer die Tanzfläche einsehen und verlor auch die Familie Pegasus selten aus den Augen, die sich bewegte als hätten sie nie etwas anderes getan. So konnte er auch beobachten, wie gelegentlich Herren versuchten Chef abzuklatschen und zu übernehmen. Dieser dachte aber nicht daran und war mit Martine augenblicklich mehrere Meter weiter. Erst Mokuba, der höflich in der Pause zwischen zwei Liedern um Erlaubnis bat, hatte Erfolg und legte ihr vorsichtig die Hand auf die Taille, während sich Chef an den Rand begab. Das war seine Chance! Im Moment hatte er keinen Gesprächspartner und so weit weg stand er andere gar nicht. Schnellen und sicheren Schrittes begab er sich auf den Weg zu ihm, um dann keine zwei Meter von ihm entfernt abrupt stehen zu bleiben. Was dachte er sich eigentlich? Er wollte ihn doch nicht ernsthaft vor all diesen Leuten zum Tanzen auffordern. Wohl bemerkt vor all diesen Leuten, bei denen es essentiell war, dass sie vor ihm den höchsten Respekt, wenn nicht gar Angst, hatten. Vor sich selbst resignierend wandte er sich ab. Nur noch aus dem Augenwinkel sah er, wie ein Blick aus dunklen Augen auf ihm zu Ruhen schien. Doch als er sich zu wieder zu ihm drehte, sah er wieder Mokuba und Martine zu, die beim Tanzen fröhlich lachten. Er nahm sich von nächsten Tablett ein weiteres Glas Wein und mischte sich wieder unter die Tanzmuffel. Hauptsache es hatte ihn niemand gerade eben gesehen. „Ist alles okay, bei deinem Bruder?“, fragte Martine, die sehr wohl Setos Annäherungsversuch mitbekommen hatte. „Ich glaube schon. Auch wenn das gerade eben wirklich seltsam war. Mach dir keine Sorgen. Ich frag ihn morgen einfach mal danach.“ Es war bereits nach Mitternacht, bis man merkte wie sich die Reihen lichteten. Viele der Gäste blieben jedoch länger und so war es bereits vier Uhr in der Früh, als auch Martine und Chef in einen der bereitgestellten Wagen stiegen. Martine hätte es nie zugegeben, doch war sie froh, das kurze Stück zur Wohnung nicht mehr laufen zu müssen. Sie hatte mit Mokuba noch zwei weitere Lieder getanzt, bevor ihr Neffe wieder übernommen hatte. Später hatten sich die beiden dann abgewechselt, während sie selbst kaum eine Pause bekam. So langsam war sie sich vorgekommen wie in dem Märchen von den zertanzten Schuhen. Chef neben ihr nannte dem Chauffeur die Adresse und versank dann genau wie sie in Schweigen. Die Fahrt war kurz und als er ihr die Tür aufhielt, drückte Martine ihm noch etwas Trinkgeld in die Hand. Kaum standen sie im Aufzug nach oben, erkundigte sie sich vorsichtig: „Und, wie lautet dein Fazit?“ „Welches Fazit?“ „Das für den Abend. Hasst du mich dafür, dass ich dich mitgeschleift habe, oder nicht?“ Sie stiegen aus und er schloss auf, ließ sie jedoch zuerst eintreten. Ein Ton der Erleichterung kam von ihr, als sie endlich ihre High Heels ausziehen konnte. Aber auch er war froh, seine Schuhe los zu werden und nutzte die kleine Unterbrechung zum Nachdenken. „Ich war schon auf schlimmeren Bällen“, murmelte er, während er sein Jackett aufhing und die Manschettenknöpfe öffnete. „Also nein, ich hasse dich nicht dafür. Eine Vorwarnung wäre zwar ganz nett gewesen, aber dann hättest du mich wahrscheinlich gar nicht erst dazu kriegen können, mitzugehen.“ Ihr Gesicht sprach Bände. Sie schien erleichtert, doch fühlte sie sich noch nicht wirklich wohl in ihrer Haut. „Du brauchst wirklich keine Angst haben. Das Tanzen hat Spaß gemacht und auch wenn die Gesangseinlage recht spontan war, war es genial vor so einem Publikum zu singen! Aber eins musst du mir noch verraten.“ Aus Gewohnheit half er ihr mit dem Reißverschluss ihres Kleides. „Was denn?“ „Wie hast du es geschafft, die Zeit, die ich mit ihm alleine war genau auf eine halbe Stunde zu begrenzen?“ „Nennen wir es Bauchgefühl. Wobei ich nicht gedacht hätte, dass ihr es schafft so lange harmonisch nebeneinander zu stehen.“ Sie ließ das Kleid zu Boden rutschen, legte es dann über einen der Stühle im Essbereich und setzte sich nur noch im Unterkleid auf einen anderen, um sich ausgiebig die Ballen zu massieren. „Ich auch nicht. Danke.“ Er hauchte ihr einen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange. „Ich dusch noch kurz und leg mich dann hin. Heute ist Ausschlafen angesagt, oder?“ „Ja, ist es. Gute Nacht.“ „Guten Morgen.“ Er freute sich schon auf sein warmes weiches Bett. Erst als er sich die Haare kurz trocken rubbelte, fiel ihm auf, dass er gar nicht mit dem Prinz getanzt hatte. Kapitel 7: Yuki --------------- Mit finsterem Blick beobachtete er nun schon eine Weile den jungen, blonden Mann, mit dem seine Tochter in ein Gespräch vertieft war. Ihr selbst schien es zu gefallen. Sie ließ ihn kaum aus den Augen und strahlte ihn an, während er irgendetwas zu erzählen und zu beschreiben schien. Hoffentlich würden sie das Gespräch bald beenden oder er würde höchst persönlich dazwischen gehen. „Entschuldigen Sie, was hatten Sie gerade gesagt?“, musste er nun sogar bei seinem Gesprächspartner nachfragen, weil er zu sehr damit beschäftigt war, auf seine Tochter aufzupassen. Aber seine Frau hatte ja gemeint, dass es Yuki gut tun würde, mit auf den Empfang zu gehen, weil sie selbst durch eine schwere Erkältung leider als Begleitung ausfiel. Das würde er sich das nächste Mal noch mal ganz genau durch den Kopf gehen lassen! „Kein Problem. Ich habe Sie nur nach Ihrer Meinung zu den Lachshäppchen gefragt“, wiederholte Mister Pegasus gelassen und nippte an seinem Rotwein. Sein Gegenüber schien ihm nicht richtig bei der Sache, was ihn selbst nicht weiter störte. Seine Anwesenheit war reine Höflichkeit gegenüber dem Gastgeber und er hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht sich über die anderen Gäste im Voraus zu informieren, weshalb er noch nicht einmal wusste, wer hier so leicht den Faden verlor. „Ah, ja. Nicht schlecht, doch der Blätterteig war etwas krümelig und ...“ Er schien schon wieder nicht bei der Sache zu sein und sah eindeutig an dem Rotgekleideten vorbei. Dieser war nun doch etwas genervt. Schließlich führten sie nur lockeren Small-Talk. Wenn er also etwas Besseres zu tun hatte, wollte er ihn nicht aufhalten. Aus purer Neugier drehte er sich leicht um, damit er sehen konnte, was die Aufmerksamkeit des anderen so in Beschlag nahm. Das einzige Verdächtige, was er sah, waren zwei junge Menschen die beisammen standen und sich angeregt unterhielten. „Kennen Sie die junge Dame?“, zog er eins und eins zusammen. „Ja, das tue ich. Meine Tochter. Nur der Kerl daneben steht für meinen Geschmack viel zu nah bei ihr und ihr Gespräch dauert schon viel zu lange!“ In seiner Stimme schwang eine gewisse Wut mit, wie sie nur besorgte Väter besaßen. Maximillion Pegasus konnte nicht anders als laut aufzulachen, wofür er einen verständnislosen Blick des anderen erntete. „Wenn das Ihr einziges Problem ist.“ Er nahm eine ähnliche Position ein wie der Mann über fünfzig neben ihm und rief dann mit vor Liebenswürdigkeit triefender Stimme: „Joseph, kommst du bitte kurz?“ Der Blonde reagierte sofort und näherte sich ihnen. Das entstehende Getuschel ignorierte er. Als er direkt vor ihnen stand, wandte sich Pegasus wieder an den älteren Mann und sagte höflich lächelnd: „Darf ich Ihnen meinen Sohn Joseph vorstellen?“ Diesem fiel die Kinnlade herunter. „Joseph, das hier ist der besorgte Vater der bezaubernden jungen Dame, mit der du dich nun schon den halben Abend unterhältst. Würdest du so lieb sein und ihm erklären, weswegen er sich keinerlei Sorgen machen muss bezüglich irgendwelcher unmoralischer Vorhaben, die du mit seiner Tochter haben könntest?“ Erstaunt sah Joseph von seinem Adoptivvater zu dem Herrn neben ihm und zurück. Er schien ernst zu meinen, was er soeben gesagt hatte. Eigentlich hatte er sich dieses Thema an diesem Abend ersparen wollen, aber wenn es nötig war, um sein Gespräch in Ruhe weiter fortzuführen - denn ihm waren sehr wohl die bösen Blicke von der anderen Seite des Raumes aufgefallen – würde er Folge leisten. „Verstehen Sie das Folgende bitte nicht falsch. Ihre Tochter ist eine bezaubernde junge Frau und die charmanteste Person, die sich mir heute Abend vorgestellt hat, aber“, er machte bewusst eine kleine dramatische Pause, „gegen meinen festen Freund kommt sie definitiv nicht an. Nur leider befindet er sich momentan in seiner Heimat England, um dort ein wichtiges Geschäft abzuwickeln, weswegen mich mein Vater hierher geschleift hat.“ Es brauchte einige Momente, bis man den Groschen fallen sah, doch dann folgte sogleich die Explosion. „Sie sind schwul?“, brach es lauter als angemessen gewesen wäre aus dem Vater heraus, bevor er ungläubig den Kopf schüttelte. Joseph hatte zwar mit so einer Reaktion gerechnet, doch er hatte auf etwas mehr Diskretion gehofft. Zum Glück hatte er eine unerwartete Verbündete, bevor die Situation noch aus dem Ruder geraten könnte. „Otoo-san? Das ist doch nichts Außergewöhnliches. Auf jeden Fall ist er eine bessere Wahl als die anderen jungen Herren hier im Raum. Wir sind dann mal wieder weg“, ergriff der Inhalt des kleinen Wortwechsels Josephs Arm und zog ihn bestimmt von ihren Vätern weg. Sollten die doch selbst sehen, worüber sie sprechen wollten! „Also, wie war das jetzt mit Ihrem Hotel? Sie hatten gerade angefangen von der Eröffnung letztes Jahr zu erzählen.“ Verdattert sahen die beiden Väter ihnen hinter her. Sie waren sich selten so überflüssig vorgekommen. Zufrieden legte Matt als letzter das Besteck zur Seite und blickte erwartungsvoll zu Chef, der zu Beginn des Abendessens Andeutungen gemacht hatte, dass er etwas Wichtiges mit ihnen zu besprechen hätte. Hans räumte das restliche Geschirr in die Küche und setzte sich wieder an den Tisch. „Also Chef, was gibt es?“, fragte er neugierig. „Ganz einfach. Ich hab neulich jemanden kennen gelernt, der gerne bei uns im Sommer ein Praktikum machen würde“, eröffnete Chef ohne viel Vorrede die Neuigkeiten. Zunächst machten die anderen große Augen, doch dann schienen sie sich mit der Idee anzufreunden. „Endlich jemand der mir mit dem schmutzigen Geschirr hilft!“, rief Shin begeistert aus. „Hey und was mach ich bitteschön immer in der Küche?“, warf Hans ein. „Naja, du nennst es kochen. Aber ansonsten wüsste ich das auch mal gerne.“ „Dann koch du für uns!“ „Mach ich doch eh schon. Dein Geschmackssinn muss irgendwann vor zwei Jahren gestorben sein!“ „Wieso glaubt ihr eigentlich, dass er euch helfen wird? Ihr seid eh schon zu zweit! Ich brauch im Sommer die Hilfe sehr viel mehr!“, mischte sich nun auch Cian ein, während ihm Matt nur stumm beipflichtete. „Du willst doch nur aus deiner Waschküche raus und dich faul in die Sonne legen!“, giftete Hans nun gegen ihn. Chef verdrehte die Augen. Er musste das dringend richtig stellen. „Jungs!“ Keine Reaktion. „Jungs!“, wiederholte er und schlug diesmal mit beiden Fäusten auf den Tisch, um sich Gehör zu verschaffen. Diesmal reagierten sie. „Ja, Chef?“ „Ich fürchte hier liegen noch ein paar Missverständnisse vor. SIE wird mir helfen. Und ich fände es angebracht, wenn ihr euch während ihrer Anwesenheit etwas besser benehmen würdet.“ Augenblicklich kehrte Stille am Tisch ein, nur Matt schien diese Eröffnung nicht zu schockieren, denn dieser grinste fröhlich vor sich hin. „Wann kommt sie zu uns?“ „In einem Monat“, antwortete Chef. „Sie studiert an der gleichen Hochschule wie ich damals und ich musste ihrem Vater versprechen, dass wir alle auf sie aufpassen. Also, denkt ihr, dass ihr euch während der Zeit benehmen könnt?“ „Was genau meinen Sie mit benehmen?“ „Ihr seid vollständig und anständig gekleidet. Ihr achtet auf eure Tischmanieren. Ihr werdet auf gar keinen Fall irgendwelche Anzüglichkeiten äußern oder sie sonst wie schräg behandeln. Verstanden?“ „Ja. Nur eine Sache wäre da noch Chef.“ „Und welche, Matt?“ „Hören Sie auf, uns hinzustellen als wären wir irgendwelche ungezogenen Jugendliche! Über die Hälfte der Leute hier am Tisch ist älter als Sie und wir wissen sehr wohl, wie wir uns benehmen sollen. Viel wichtiger ist die Frage, in welchem Zimmer sie schlafen wird.“ Yuki war froh, dass sie es ihren Eltern hatte ausreden können, sie direkt ins Hotel zu bringen. Stattdessen hatte sie ihre Sachen für die nächsten drei Monate in ihr Auto gepackt und in das Navi die Adresse eingegeben. Wenn sie sich hier so umsah, war es ein Glück, dass es dafür überhaupt eine Anschrift gab. Der hohe Zaun und die stabilen Tore schüchterten sie doch etwas ein. Vielleicht hatte ihr Vater doch Recht. In Schrittgeschwindigkeit fuhr sie die schmale Straße entlang. Chef hatte ihr erklärt, dass der Asphalt irgendwann aufhörte und sie danach zu Fuß weiter müsste. Sie fuhr etwas an den Rand und stellte den Wagen ab. Ihren Koffer und auch das restlicher Gepäck ließ sie zurück und schnappte sich nur ihre Handtasche. Erst jetzt fiel ihr auf wie friedlich alles wirkte. Das Wetter war schön und sie konnte das Zwitschern der Vögel im Wald hören. Dennoch wuchs ihre Nervosität mit jedem Schritt, den sie auf das große Haus zu machte. Auf der Suche nach einer Eingangstür ging sie rechts um es herum und erstarrte mitten in der Bewegung. Vor ihr standen fünf Männer, die sie alle freundlich anlächelten. Den mittleren von ihnen, der zudem auf sie zu kam, kannte sie. Es war Chef, jedoch nicht im Anzug sondern einfach nur in einer schwarzen Hose und einem schwarzen, kurzärmligen Hemd. Sie unterdrückte ihren Fluchtreflex, als er zur Begrüßung ihre Hand schüttelte. Eine einfache, traditionelle Verbeugung wäre ihr lieber gewesen. „Hallo, Yuki. Schön, dass du da bist. Ich hoffe, du hast gut hierher gefunden.“ Sie nickte nur und warf einen vorsichtigen Blick zu den anderen. Ein instinktives Zurückzucken konnte sie nicht vermeiden, als der große, kräftige, dunkelhaarige Mann links außen sich ihr näherte. „Keine Angst!“, sagte er vorsichtig. „Laut Cian sehe ich einem Grizzly zwar zum Verwechseln ähnlich, aber ich bin wirklich umgänglich – so wie der Rest vom Team. Ich bin Matt und kümmere mich um die Außenanlagen, helfe aber ab und zu auch Cian. Das ist im Übrigen der Rotschopf.“ Sie folgte mit dem Blick seinem ausgestreckten Arm und erhaschte noch den finsteren Gesichtsausdruck, mit dem Beschriebener Matt bedachte, bevor er ihr ein strahlendes Lächeln schenkte. „Hi, ich bin für die Ordnung und die Sauberkeit der Häuser zuständig.“ Er blieb auf Abstand und Yuki nickte höflich, bevor sie sich den anderen zwei Männern zuwandte, die noch nicht vorgestellt worden waren. „Das sind unsere beiden Köche. Hans und Shin“, erläuterte der Chef. Beide trugen Kochhemden, doch während sie den einen im weißen nur kurz ansah, blieb ihr Blick an dem im schwarzen hängen, von dem sie annahm, dass er Shin hieß. Er machte als einziger keine freundliche Miene und das irritierte sie. Sie hatte bereits einen Monat mit einem fast ständig gleichen Tagesablauf hinter sich, als sie Chef eine Idee unterbreitete. „Chef“, fragte sie zögerlich, als sie wie gewohnt vormittags im Büro saßen und die Reservierungen für die nächste Woche durchgingen. Prompt blickte er auf. „Ja, Yuki?“ Doch noch bevor sie ansetzten konnte, streckte Shin den Kopf zur Tür rein und rief: „Chef. Bestellung für Haus zwei.“ Der Angesprochene sprang auf und verließ hektisch den Raum. „Sorry, Yuki. Wir reden gleich weiter.“ Doch auch sie konnte schnell sein. Rasch war sie mit ihm auf einer Höhe, als er sich gerade die Transportbox von Shin geben lassen wollte. „Genau das meinte ich“, erklärte sie aufgeregt. „Sie müssen immer Ihre Arbeit unterbrechen, wenn die Gäste etwas wollen. Wie wäre es, wenn ich das mache und Sie arbeiten dafür richtig? Sie können mir doch auch später noch alles erklären!“ Bevor einer der beiden irgendwelche Einwände erhoben konnte, schnappte sie Shin die Kiste weg und war aus der Tür hinaus. Kopfschüttelnd sahen Chef und Shin ihr nach. „Verstehst du das?“, fragte Chef vorsichtig nach einer Weile. „Nicht wirklich. Nur soweit, dass du in nächster Zeit wieder bewusst drauf achten musst, die Sonne zu sehen“, antwortete Shin und verschwand wieder in der Küche. Es brauchte eine volle Stunde, bis ihm auffiel, dass er seinen Chef nach all der Zeit wieder geduzt hatte. Ende Juli begann die Sonne sich so richtig ins Zeug zu legen als wolle sie verdeutlichen, dass es Sommer war. Diese Mühe hätte sie sich zwar sparen können, doch so kletterten die Temperaturen noch um einige Grad weiter nach oben. Erschöpft von der Arbeit hatte sich das Team am frühen Abend um den Pool vor dem Hauptgebäude versammelt und versuchte, sich etwas zu erholen. Chef las, Hans schlürfte an einem selbstgemachten Smoothie, Cian ließ sich auf einer Luftmatratze treiben und Yuki beobachtete gebannt die Wellen, die in geringer Entfernung auf den Strand zu rollten. Jedoch sah sie auf, als Shin und Matt die Stühle und den Tisch neben ihr in Beschlag nahmen, nicht ohne dabei bereits wild zu diskutieren. Neugierig drehte sie sich zu ihnen um und stellte überrascht fest, dass sie vor hatten eine Partie Go zu spielen, auch wenn ihr Verhalten etwas anderes vermuten ließ. „Darf ich, wenn ihr fertig seit mit eurer Partie, auch mal gegen euch spielen?“, fragte sie vorsichtig. Sie war sich nicht sicher, ob ihnen die Unterbrechung recht war. Shin zog eine finstere Miene, während Matt ihr versprach, dass der Sieger eine kleine Lehrpartie mit ihr spielen würde. Shin war schnell besiegt und so nahm Yuki seinen Platz ein. Matt wollte von sich aus ihr gerade Schwarz anbieten, als sie darauf bestand es traditionell auszulosen. So erhielt sie Weiß. Im Laufe der nächsten Stunde wurden Matts Augen größer und größer, je mehr ihm klar wurde, dass ihm keineswegs ein Anfänger gegenüber saß. Nachdem sie beide durch Passen die Partie beendet hatten, nahm er sie genauer unter die Lupe. „Seit wann spielst du schon?“, wollte er wissen, während er seine eigenen Steine vom Brett räumte. „Keine Ahnung mehr genau. Mein Großvater hat irgendwann mit mir angefangen zu spielen und darauf geachtete, dass ich am Ball bleibe und nicht alles wieder verlerne. Noch eine Partie?“ Aber Matt winkte ab. „Nein, lass mal. Nicht mehr heute. Aber vielleicht hat Chef ja Lust – er spielt auch ziemlich gut. Chef?“ „Ja?“ „Wie sieht's aus? Eine kleines Gospiel zwischen Ihnen und Yuki? Ab übermorgen kommen Sie eh nicht mehr dazu.“ „Wieso nicht“, erhob er sich betont langsam aus der Liege und platzierte ein Lesezeichen zwischen den Seiten. „Was ist übermorgen?“, hakte dafür Yuki nach. „Meine Tante kommt wie jedes Jahr mit ihren Kindern hierher“, antwortete Chef, während Matt für ihn Platz machte. „Das Bespaßen der beiden ist ein Fulltimejob. So. Und du traust dir wirklich zu den unangefochtenen Champion des Teams herauszufordern?“ „Ob Sie wirklich der Champion sind, werden wir dann sehen“, erwiderte Yuki keck und begann. Nach Ablauf der drei Monate stand der Plan. Yuki würde ihr letztes Semester abschließen und dann offiziell im Hotel anfangen. Ihre Eltern, denen sie das Ganze noch beichten musste, würden zwar nicht unbedingt begeistert sein, doch die Gäste liebten sie und auch mit ihren Kollegen kam sie gut aus. Ihre anfängliche Besorgnis, nur umgeben von Männern zu arbeiten, hatte sich schnell verflüchtigt und sich in Freude gewandelt. Sie waren aufmerksam und achteten auf sie, gaben ihr aber nie das Gefühl, dass sie beschützt werden müsste. Jeder war auf seine Art sympathisch und beim gemeinsamen Essen erschien es ihr, als hätte sie plötzlich einen unbekannten Teil ihrer Familie kennen gelernt. Sie war stolz darauf bald zu diesem eingeschworenen, kleinen Team zu gehören. Außerdem machte ihr die Arbeit Spaß. Sie hatte sich schon immer gerne draußen an der frischen Luft bewegt. Zwar blieben so einige der Fähigkeiten, die sie während ihres Studiums erworben hatte ungenutzt, doch Chef hatte ihr versprochen, dass sie ihm nach wie vor bei der Büroarbeit helfen durfte, wenn sie wollte. Zum Abschied drückte ihr Hans eine Schachtel mit selbstgemachter Torte in die Hand und umarmte sie. Seinem Beispiel schlossen sich die anderen an – selbst Matt - nur Shin zog einen Handschlag vor. Dafür grinste er breit, als sie beteuerte, dass sie sein Essen am meisten vermissen würde. Ein klein wenig traurig stieg sie in ihr Auto und startete den Motor. Kein halbes Jahr und sie würde wieder hier sein. Kopfschüttelnd wandte sie sich wieder der Kalkulation für April zu. An was sie jetzt schon wieder dachte! Aber es war trotzdem seltsam. Sie arbeite gerade mal etwas länger als ein Jahr hier und dennoch kam es ihr vor wie eine halbe Ewigkeit. Allmählich hörten ihre Eltern auch auf, sie mit anderen Stellenangeboten weglocken zu wollen, und das große Haus im Wald war zu ihrem zweiten zu Hause geworden. Anfangs war ihr alles fremd gewesen und jedes Mal, wenn sie auf den Waldwegen spazieren ging, hatte sie Angst gehabt sich zu verlaufen, doch mittlerweile kannte sie sie besser als die Straßen ihrer Heimatstadt. Ein Stadtmensch war sie nie gewesen, doch hatte sie anfangs geglaubt, dass es ihr hier draußen zu einsam werden würde. Doch wie konnte sie sich unter solchen Kollegen einsam fühlen? Es blieb ihr nur zu hoffen, dass ihr irgendwann das gleiche Kunststück gelingen würde wie Chef und ihr Hotelteam ihre zweite Familie wurde. In dem kleinen Küstenstädtchen dreißig Kilometer südlich gab es einen alten Hotelier, der ihr angeboten hatte, seine Nachfolgerin zu werden in ein paar Jahren, wenn er sich zu Ruhe setzten wollte. Chef wusste davon und achtete penibel darauf, dass sie nichts verlernte, aber so wirklich hatte sie sich noch nicht mit dem Gedanken angefreundet, auch wenn ihr das Hotel sehr gut gefiel, das sie einmal übernehmen würde. Auf der anderen Seite würde es bedeuten, dass sie sich wieder einen Freund suchen konnte. Die Beziehung, die sie in den ersten Semestern geführt hatte, war im Guten auseinander gegangen, doch hatte sie danach keine Lust gehabt sich jemand Neuen zu suchen. Und das Team hätte bestimmt jeden vergrault, den sie angeschleppt hätte. Aber so Ende zwanzig, Anfang dreißig könnte sie es ruhig noch mal versuchen. Genaue Vorstellungen hatte sie keine, aber es wäre toll wenn er Koch wäre, auch wenn diese berüchtigt waren für ihre furchtbaren Arbeitszeiten. Ja, ein Koch wäre schön. Er könnte sie dann gelegentlich mit kleinen Leckereien überraschen – vielleicht sogar bei der Arbeit – ihr dann einen Kuss geben und sie ermahnen nicht wieder so viel zu arbeiten. Den Gedanken zur Seite wischend arbeitete sie weiter und machte sich dann und wann Notizen. Zwar hatte sie nichts zu der Arbeit ihres Chefs einzuwenden, doch an manchen Stellen hatte sie noch Ideen, die sie ihm unbedingt vorschlagen wollte, wenn er wieder da war. So arbeitete sie noch eine Stunde weiter, als plötzlich ein kleines Tablett mit heißer Schokolade und Keksen auf die Bücher gestellt wurde. Verblüfft sah sie die Arme seines Trägers hinauf und blickte in Shins freundliches, aber besorgtes Gesicht. „Du solltest nicht so viel arbeiten! Chef ist keine drei Tage weg und du übernimmst schon seine Gewohnheiten.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber dafür bekomme ich heiße Schokolade und Selbstgebackenes eine Stunde vor dem Abendessen.“ Breit lächelte sie ihn an und fügte ein „Danke“ hinzu. „Ich mein es ernst. Mach nicht mehr so lang. Matt und Cian haben einen Spielabend vorgeschlagen und wenn du mich nicht bei der Spielauswahl unterstützt, kommt so was Bescheuertes wie Poker dabei heraus!“ „Okay mach ich – auch wenn ich Poker spielen kann.“ „Wieder dein Großvater?“ „Nein, meine Großmutter von der anderen Seite. Ich mach das hier noch kurz fertig und komm dann.“ „Gut, aber beeil dich. Mit der Arbeit - nicht mit den Keksen.“ Die Tür hinter Shin war bereits längst wieder geschlossen, als Yuki sich wieder ihrer Arbeit zuwandte, einen Keks im Mundwinkel hängend. Ja, ein Koch sollte es definitiv sein. Kapitel 8: Samstag 21.3. ------------------------ Nur äußerst widerwillig schlug Seto die Augen auf. Er konnte sich zwar nicht mehr erinnern, doch wurde er das Gefühl nicht los einen schönen Traum gehabt zu haben, was in den letzten Wochen viel zu selten vorgekommen war. Verzweifelt schloss er die Lider und versuchte wieder ins Traumland abzutriften, aber sein Körper hatte andere Pläne und dirigierte ihn aus seinem Bett. Im Badezimmer warf er einen prüfenden Blick in den Spiegel und war sich danach sicher, dass es besser gewesen wäre, wenn er weiterhin im Bett liegen geblieben wäre. Er sah furchtbar aus! Sein Gesicht war eine ganze Nuance weißer als normalerweise und seine Haare standen wild in alle Richtungen ab. Wie war es nur zu diesem Zustand gekommen? Um einen klareren Kopf zu bekommen, stellte er sich unter die Dusche, verzichtete jedoch auf eiskalte Temperaturen, und wusch sich die Haare, da kein Kamm dieser Welt dieses Chaos hätte bändigen können. Während das Wasser auf ihn herunter prasselte, überlegte er, was er den vorherigen Tag gemacht hatte. Er hatte wie gewohnt gearbeitet und dann... Richtig! Sein Frühlingsball. Stöhnend drückte er die Stirn an die kühlen Fliesen der Wand, als allmählich die wichtigsten Erinnerungen zurück kamen. Joseph Pegasus war mit seiner Tante dort gewesen. Und während sie seine Gäste in eine tanzende Meute verwandelte, hatte er sich eher zurückhaltend benommen und Seto hatte es nicht über sich gebracht seine Nähe zu suchen, woraufhin er...wie viele Gläser Sekt und Wein waren das nochmal gewesen? Er konnte sich nicht mehr an eine exakte Zahl erinnern, obwohl er sich so etwas normalerweise merkte. Auf jeden Fall waren es zu viele gewesen. Sein Kreislauf machte langsam schlapp. Also drehte er den Hahn zu und schnappte sich ein großes Handtuch. Als er eine Viertelstunde später das Esszimmer betrat, saß bereits Mokuba am Tisch, der über sein Tablet irgendetwas zu lesen schien und gleichzeitig ein Marmeladenbrötchen vernichtete. Im Gegensatz zu ihm sah sein kleiner Bruder aus wie das blühende Leben. „Morgen, Seto“, grüßte der Jüngere und hielt ihm ein Glas Wasser hin, dessen Inhalt verdächtig sprudelte. „Ich glaube, die kannst du ganz gut gebrauchen.“ Schweigend nahm Seto das Gemisch entgegen und trank es in einem Zug leer, dann setzte er sich auf seinen üblichen Platz und nahm sich die neben dem Teller liegende Zeitung. Er war mit dem Überfliegen fast durch, bevor er Mokubas Blick auf sich ruhen spürte. „Ja?“, fragte er. „Nichts. Ich dachte nur, du würdest gerne mit mir über gestern sprechen.“ „Wieso sollte ich?“ „Keine Ahnung. Vielleicht weil du dein Maß gestern wirklich überschritten hast, jetzt aber noch nicht einmal den Kaffee angerührt hast? Kannst du dich überhaupt noch daran erinnern, wie du heute früh hierher gekommen bist?“ Genervt legte Seto die Zeitung zur Seite und goss sich demonstrativ seine Tasse voll, bevor er einen großen Schluck nahm. „Nun zufrieden?“ „Nein.“ „Mokuba, ich bin gerade erst aufgestanden und habe echt noch keine Nerven“, er massierte sich die Schläfen, „mich von dir ausquetschen zu lassen.“ „Ist mir egal. Ich wüsste nämlich das nächste Mal gerne im Voraus, wenn mein Bruder so betrunken ist, dass Roland mit meiner Hilfe Probleme hat, ihn nach Hause zu bringen. Und spar dir deine Ausreden, ich weiß ganz genau, dass du schon seit über einer halben Stunde wach bist.“ Jetzt machte Seto doch große Augen. „So schlimm?“ „Schlimmer. Also...Weswegen hast du deine Grenze überschritten, großer Bruder?“ Aus diesem Blick gab es wirklich kein Entkommen. Selbst Mokubas noch unbeendetes Frühstück schuf keine Ablenkung. „Ich hätte gerne mit jemandem getanzt, doch hätte das meinen Ruf nachhaltig geschädigt. Zufrieden?“ „Noch nicht ganz. Wer war er denn?“ „Wieso denkst du, dass es ein Mann war?“ Schnaubend atmete Mokuba aus und baute sich so gut es eben sitzend ging vor ihm auf. „Seto Kaiba, ich bin dein kleiner Bruder und war der erste Mensch auf dieser Erde, dem du anvertraut hast, dass du homosexuell bist. Natürlich muss es sich um einen Mann handeln - denn selbst mit Martine hättest du tanzen können, ohne dass dein Ansehen im mindesten Schaden erlitten hätte!“ Jetzt biss er doch in seine zweite Brötchenhälfte, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. „Na gut, ja, es war ein Mann.“ „Wer?“ Tiefes Schweigen und der Versuch möglichst überzeugend sich nun ebenfalls etwas Essbares auf den Teller zu zaubern. „Seto...“ „Martines Begleitung. Dieser Joseph“, brachte er schließlich knirschend hervor. Zufrieden aß Mokuba weiter und fragte dann nach einer Weile: „Und wie fandest du sie?“ „Wie...?“ Seto verstand kein Wort. Sein Bruder verdrehte die Augen. Da wechselte er extra das Thema und dann schnallte sein Bruder nichts. Vielleicht war es doch klüger, wenn er etwas mehr auf den Alkoholkonsum achtete. Er schien sich nämlich schlecht auf seine kognitiven Fähigkeiten auszuwirken. „Martine. Du hattest mich gebeten sie einzuladen. Erinnerst du dich noch? Und ich würde jetzt gerne wissen, wie du sie fandest. Schließlich habt ich euch zwischendrin alleine draußen unterhalten“, holte er etwas weiter aus. „Achso. Nicht so ungewöhnlich. Man könnte sie als nett bezeichnen. Aber eine Frage habe ich an dich. Sie meinte etwas von zwei Jobs. Reicht ihre Arbeit als Fotografin nicht aus? Und wie alt ist sie eigentlich?“ „Zwei Jahre älter als du“, beantwortete Mokuba die leichtere Frage, wobei sich Seto an seinem Brötchen verschluckte. „Sie ist dreißig?“ Irgendwie hatte sie auf ihn deutlich jünger gewirkt. Sein Bruder nickte nur und widmete sich der ersten Frage: „Doch ihre Gagen als Fotografin ernähren sie sogar ziemlich gut. Sie müsste den zweiten Job daher nicht machen, aber ich glaube ohne ihn, wäre es ihr zu langweilig. Sie ist seit 10 Jahren die andere Hälfte der Geschäftsleitung von Industrial Illusions.“ Jetzt verschluckte sich Seto zusätzlich noch an seinem Kaffee, mit dem er die letzten Krümel hatte herunter spülen wollen. „Wie bitte?“, röchelte er. „Wieso hatte ich dann bisher noch keinen Kontakt mit ihr?“ Mokuba verschwieg lieber, dass es sehr für die Qualität seines Verhältnisses zu Industrial Illusions sprach, dass er Martine noch nicht auf diesem Weg kennen gelernt hatte. „Sie hält sich eher im Hintergrund. Aber wusstest du, dass von den ersten erschienenen Duell Monsters Karten ein Drittel von ihr gezeichnet worden ist?“ Doch Seto zog es vor, zu schmollen und sein Frühstück zu essen, bevor er noch daran erstickte und ignorierte das Gesagte. Nachdem er fertig war, wandte er sich aber doch wieder Mokuba zu, da er noch ein paar Dinge mit ihm zu besprechen hatte. „Mokuba?“ „Mhm.“ „Mokuba, könntest du mich bitte ansehen, wenn ich mit dir spreche?“ „Gleich, großer Bruder. Ich muss hier nur noch kurz was fertig lesen... Ja?“ „Was hast du für heute geplant? Ich bin heute Abend zum Essen eingeladen. Aber wenn du willst, können wir davor noch was gemeinsam unternehmen.“ „Du bist eingeladen? Von wem?“ Keine Antwort. Etwas anderes hatte er auch gar nicht erwartet. Doch wusste er, dass das Spiel auch von zweien gespielt werden konnte. „Meinetwegen. Ich treffe mich um drei, also in zwei Stunden, mit Freunden und werde erst heute Nacht irgendwann wieder da sein. Wie wärs mit ner Runde 'Mensch ärgere dich nicht'?“ Seto willigte ein und holte sogar das Spielbrett, während Mokuba die Frühstückssachen etwas zusammen schob. Hatte er tatsächlich so lange geschlafen? Während des Spiels sprachen sie wenig miteinander. Früher hatte Mokuba Seto oft geneckt, wenn er regelmäßig seine Figuren wieder aus dem Spiel nahm, doch hatte sich das Verwachsen. Umso überraschter war er nun, als er seinen kleinen Bruder hörte. Er war kurz davor endlich die erste Figur ins Häuschen zu bringen und die blauen Figuren seines Bruders waren weit genug weg, um keine Gefahr für ihn darzustellen. „Danke.“ „Für was?“ Dieses einzelne Wort schien seltsam aus dem Kontext gerissen zu sein und ergab für ihn keinen Sinn. „Dafür, dass du es geschafft hast mich so gut aufzuziehen. Du hast mir immer genug Freiheit gelassen hast, mich zu entfalten, meinen eigenen Weg zu finden, … Hast mich auf eine öffentliche Schule geschickt, mich nicht vor der Welt versteckt.“ Mokuba hielt den Blick starr auf das Brett gesenkt, während er weitersprach. „Du hättest ja auch sagen können, dass meine Sicherheit wichtiger wäre als alles andere. Dann hättest du mich hier eingeschlossen und ich hätte mit sechzehn es mit meinen drei Bodyguards gleichzeitig aufnehmen können. Und du hättest mich immer noch nicht nach draußen gelassen...“ „Mokuba“, versuchte Seto zu seinem Bruder durchzudringen. Das was er da von sich gab, beunruhigte ihn. „Und wenn ich es endlich geschafft hätte, dich zu überzeugen, dass ich das Grundstück verlassen darf, wär ich bestimmt erst einmal an die falschen Leute geraten, weil alle, die ich in den letzten Jahren um mich gehabt hätte, es gut mit mir gemeint hätten...“ „Mokuba! Wie kommst du darauf, solchen Blödsinn von dir zu geben?“, schrie ihn Seto an. „Klar, es war nicht immer einfach nicht zu erziehen und alles richtig zu machen, aber ich hätte dich nie weggesperrt! Das kannst du mir glauben! Mokuba sieh mich an!“ Das hätte er vielleicht besser nicht sagen sollen. Mokubas Augen waren seltsam feucht, als er aufsah und nuschelte: „Schuldigung, Seto. Ich war nur ein wenig in Gedanken. Und ich glaub du hast bei mir wirklich alles richtig gemacht – so weit es eben ging. Wenn du magst können wir weiter...“ Doch Seto hatte den Tisch umrundet und umarmte ihn fest. „Auch wenn ich mal strenger mit dir war,.. ich hab dich lieb, Kleiner.“ „Ich dich auch, großer Bruder. Aber können wir bitte einfach weiterspielen. Ich glaub nämlich, dass ich es heute endlich mal wieder schaffen könnte, gegen dich zu gewinnen.“ Entrüstet schnaubte Seto. „Das denkst aber auch nur du. Ich werde dir zeigen, dass ein Kaiba nicht so schnell klein bei gibt!“ Er entspannte seine Arme wieder und kehrte zu seinem Platz zurück. Mokuba gewann tatsächlich und ging dann in sein Zimmer, um sich für die Verabredung mit seinen Freunden umzuziehen, da er beim Frühstück noch sehr leger gekleidet gewesen war. Währenddessen verzog sich Seto in sein Arbeitszimmer, um noch ein wenig Ordnung zu schaffen, bevor auch er sich fertig machen musste. Immer wieder schoss ihm dabei eine Frage durch den Kopf. Wo hatte Mokuba das gehört, was er wiedergegeben hatte? Es hatte nicht nach einem fiktivem Beispiel geklungen. Auch wenn sein Dankeschön ihn gerührt hatte, schauderte es ihm bei dem Gedanken, dass es da draußen tatsächlich jemanden geben sollte, der so sehr mit der Erziehung seines jüngeren Geschwisterchens überfordert gewesen sein sollte. Aber Mokuba hatte eine glückliche Kindheit gehabt. Oder? Am späten Nachmittag sah er in die Küche, wo Martine fleißig dabei war Vorbereitungen für das Abendessen zu treffen. „Ist heute was Besonderes oder wieso kochst du so viel?“, fragte Chef sie, während er sich eine Olive aus dem Sieb in der Spüle klaute. „Nein. Aber es könnte der Tag werden, an dem ich die Schärfe meiner Messer an deinen Fingern ausprobiere, wenn du nicht aufhörst zu naschen“, tadelte sie ihn gespielt, fuhr jedoch mit dem Kleinschneiden der Pilze fort. „Allerdings bekommen wir Besuch zum Essen, weswegen es ganz lieb von dir wäre, wenn du schon mal den Esstisch decken könntest. Essen gibt es dann so in 20 bis 30 Minuten.“ „Vorspeise?“ „Nur Hauptgang und Nachtisch. Aber stell die Rotweingläser mit raus.“ „Wer kommt eigentlich?“ „Erzähl ich dir gleich. Aber deck jetzt bitte erst mal den Tisch“, scheuchte sie ihn mit Nachdruck wieder raus aus der Küche, nachdem der sich Besteck und Geschirr auf ein Tablett gepackt hatte. Soso, Besuch, für den die Küche nicht gut genug war. Zu dritt hätten sie nämlich immer noch genug Platz am Küchentisch gehabt. Kopfschüttelnd deckte er den langen Tisch im Wohnzimmer ein, stellte die Gläser dazu – den dekantierten Wein hatte er bereits in der Küche gesehen – und faltete schnell noch die schweren Stoffservietten. Zwei Kerzenleuchter auf den Tisch. Das Deckenlicht gedämpft und das Sideboard etwas freigeräumt. So müsste es gehen. Da lohnte sich das Putzen vom Vortag. Seto blickte etwas unschlüssig – innerlich, äußerlich war er nach wie vor der knallharte Geschäftsmann – auf seine Uhr. Er hatte sich von Roland zu der Adresse, die auf dem Kärtchen stand, fahren lassen und stellte nun fest, dass er ganze 10 Minuten zu früh war. Selbst die Suche nach dem richtigen Türschild hatte nicht lange gedauert, auch wenn er den Namen „Pegasus“ im Aufzug für das Penthouse erwartet hatte. Stattdessen hatten sich die Türen ein Stockwerk darunter geöffnet und er stand etwas verloren in dem kleinen Bereich zwischen Aufzug und Wohnungstür. Der Minutenzeiger hupste weiter auf „fünf vor“, was ihn dazu veranlasste zu klopfen. Fünf Minuten zu früh waren immerhin vertretbar und von jedem Gastgeber einkalkulierbar. Wenige Augenblicke später wurde die Tür geöffnet und er herein gebeten. Mit einer kurzen Erklärung, wo er Mantel und Schuhe verstauen konnte, wurde er jedoch gleich wieder allein gelassen. Er folgte der Aufforderung, während irgendwo rechts von ihm wütendes Französisch zu ihm drang. Wieder eine Sprache, die er dringend lernen sollte. Er verstand kein Wort, auch wenn er den Verdacht hatte, dass es dabei um ihn ging, so schnell wie Chef in diese Richtung verschwunden war. Offensichtlich hatte er nichts von seinem Erscheinen gewusst. Dennoch erschien er einige Minuten später wieder so gut gelaunt wie im Hotel. Dass Seto bereits schwarze Pantoffeln trug, nahm er stumm zur Kenntnis - Seto fiel auf, dass er selbst nur auf Socken unterwegs war – und bat ihn, ihm zu folgen. Rechts zweigte ein langer Flur ab, auf den Seto nur einen kurzen Blick erhaschen konnte, doch links öffnete sich das Zimmer zu einem einzigen Raum, der die gesamte Stockwerktiefe auszunutzen schien. Die entfernte Seite erlaubte durch große Fenster einen schönen Blick auf die City von Domino und tauchte die gemütlichen Sitzgelegenheiten in warmes Licht. Doch er wurde nicht dorthin geführt, sondern zu einem Bereich davor. Ein großer, bereits eingedeckter Esstisch, der so auch in jedem gehobenen Restaurant hätte stehen können. „Sie entschuldigen mich kurz? Ich habe den Wein vergessen.“ Und schon war er allein mit seinem bis zum Hals klopfenden Herzen. Es gehörte verboten so gut auszusehen! Zur Ablenkung sah Seto sich etwas genauer um und entdeckte an den Wänden einige Gemälde und auf einem Sideboard, das wahrscheinlich zum Anrichten der Speisen dienen sollte, eine Reihe von Bildern. Eines davon fesselte ihn sofort. Im Vordergrund tobte ein junger blonder Mann mit zwei jungen Kindern, während im Hintergrund ein Mann, der locker als Bademeister durchgegangen wäre, auf einer Liege ein Buch las. Das Mädchen schien das Abziehbild des jungen Mannes zu sein. Die gleichen blonden Haare, das gleiche breite Lächeln. Der Junge hingegen wirkte dagegen fast schon schüchtern, mit seinen kurzen platinblondem Haar und den großen blauen Augen. „Das war vor zwei Jahren“, erklärte jemand hinter Seto und drückte ihm ein Rotweinglas in die Hand. „Die beiden sind seitdem ein ganzes Stück gewachsen. Ethan hätte gerne so lange Haare wie sein Onkel, während Clara wohl neulich mit kurzen Haaren aus der Schule kam. Wenn Sie möchten, können Sie schon Platz nehmen.“ Seto drehte sich zu Chef um und sah ihn an seinem eigenen Glas nippen. „Martine sagt, in 10 Minuten wäre das Essen fertig. Und normalerweise liegt sie mit ihren Schätzungen nicht daneben.“ „Okay, danke. Aber ich würde mir gerne noch den Rest der Bilder ansehen.“ Seit wann war er so schüchtern? Am Vortag war doch noch alles normal zwischen ihnen gewesen. Oder lag das etwa an der vertrauten Atmosphäre? Niemand da, außer ihnen beiden. Betont langsam ließ er den Blick über die restlichen Fotografien schweifen, die hauptsächlich die ganze Familie zeigten. Auf manchen sah man sogar Martine. Als er sah wie vertraut eng Pegasus neben Chef stand, schnürte sich ihm kurz die Kehle zu, und er wandte sich schnell den Bildern an der Wand zu. Fantasievolle Szenen, ein Rausch von Farben... „Aus dem Weg! Heiß und fettig!“ Seto wurde bestimmt am Bund seiner Hose aus dem Weg gezogen, um Martine mit einem großen schweren Topf Platz zu machen. Chef legte einen Topfuntersetzter auf ihren Geheiß auf den Tisch und setzte sich an die Kopfseite, während Martine erneut verschwand. „Setzen Sie sich“, forderte er ihn auf und deutete auf den Platz links von sich, der weiterhin den Blick nach draußen ermöglichte. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich erst jetzt um Sie kümmere, aber das Essen wäre mir sonst angebrannt. Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind“, begrüßte Martine Seto nachträglich, kaum hatte er sich den Stuhl an den Tisch gerückt. „Möchten Sie auch eine Schürze? Es wäre schade, wenn Ihr Hemd unter meinem Essen leiden würde.“ Sie hob zwei zusammengefaltete Stück Stoff hoch, von denen das schwarze prompt von Chef weggeschnappt wurde. „Nein danke. Ich bin durchaus in der Lage anständig zu essen“, wies er den Vorschlag klar zurück und drapierte dafür die Serviette auf seinem Schoss. „Jetzt verrat uns endlich, was du gezaubert hast, bevor es kalt wird!“, wischte Chef die eisige Atmosphäre weg und strahlte sie erwartungsvoll an. „Sag bloß du hast Hunger“, neckte sie ihn auf Englisch. „Du weißt doch, ich habe fast immer Hunger.“ Auch er hatte, sehr zu Setos Ärger, die Sprache gewechselt. Er hätte sich etwas mehr Rücksichtnahme auf seine Person gewünscht, auch wenn er Englisch fließend sprach. „Wenn du meinst. Voila. Nudeln à la Julia.“ Präsentierend lüftete sie den Deckel des Topfes und gab den Blick frei auf eine bunte Mischung von Nudeln und Soße. Kritisch musterte Seto die Menge. Beinahe hätte er die Nase gerümpft. „À la Julia?“ „Unsere Köchin, während meiner Teenie-Jahre. Als sie ging, konnte ich fast alle ihre Rezepte. Keine Angst, wenn ich Sie vergifteten wollen würde, gäbe es leichtere Wege und auch solche, bei denen mein Lieblingsessen genießbar bliebe. Bekomme ich Ihren Teller?“ Vorsichtig hielt er ihr den Teller entgegen und beobachtete bange, wie sie ihm mit einem großen Löffel etwas von dem Mischmasch auftat, dann Chef und schließlich sich. Mit einem „Guten“ nahm sie sich den ersten Bissen und auch Chef ließ sich nicht lange bitten. Ihnen beiden schien es zu schmecken. „Lecker wie immer, Martine“, lobte er. Das ermunterte auch Seto zu probieren. Vorsichtig nahm er ein wenig auf die Gabel und führte sie zum Mund. Zumindest aus Höflichkeit sollte er probieren, auch wenn sie bestimmt nicht kochen konnte. Selbst Mokuba konnte es nicht und der hatte in seiner Kindheit viel Zeit in der Küche verbracht. Umso positiver war er überrascht, als das, was er nun aß sich als lecker herausstellte. „Sie können ja tatsächlich“, entfuhr es ihm vor Überraschung. „Was dachten Sie denn? 6 Jahre in der Lehre bei einer von Amerikas besten Köchen sollte seine Spuren hinterlassen, oder?“, erwiderte Chef einen Hauch genervt. Schnell wechselte Seto das Thema. „Stammt das Wandgemälde in Gebäude 3 wirklich von Ihnen?“, fragte er an Martine gewandt und aß weiter, während er auf die Antwort wartete. „Ja. Mein Lieblingsmonster bei Duell Monsters. Und so weit ich weiß auch Ihres. Apropos Duell Monsters. Wie wäre es mit einem Duell zwischen uns beiden? Sagen wir diesen Dienstag, 3 Uhr nachmittags?“ Er musste nicht lange überlegen. Diese Chance würde er garantiert nutzen. „Einverstanden!“ Damit erstarb jedes weitere Tischgespräch. Die Nudeln mit der Oliven-Pilz-Sauce waren einfach zu lecker. Sogar Seto nahm sich einen Nachschlag. Sie waren gerade fertig, als ein Handy penetrant klingelte. Leise fluchend erhob sich Martine. „Entschuldigung, da muss ich ran“, angelte sie sich das Gerät vom Sideboard und nahm den Anruf an. „Martine hier. Was kann ich für Sie tun?...Ja, aber Sie hatten mir abgesagt...Wie? Sie brauchen mich überraschend doch? Ich habe den Abend bereits anders verplant... Ja, natürlich kann ich noch kommen. Aber das bedeutet einen Aufschlag auf meine Gage von 25% für Sie. … Wo das steht? Haben Sie meine AGBs nicht gelesen? … Ich wusste doch das wir uns einigen können.“ Seufzend legte sie auf und wandte sich an ihren Neffen. „Sorry, Süßer. Ich muss dich allein lassen. Kriegst du den Rest auch ohne mich hin? Der Nachtisch steht im Kühlschrank – aber lass mir bitte was übrig.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und drehte sich zu Kaiba um. „Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht länger Zeit für Sie habe. Aber Sie kennen das bestimmt. Die Arbeit ruft. Ich hoffe mein Neffe ist ein annehmbarer Ersatz für Sie.“ Bildete er es sich nur ein oder hatte sie ihm zugezwinkert? „Kein Problem. Ich habe Verständnis dafür. Dennoch vielen Dank für die Einladung. Das Essen war sehr lecker.“ „Und dabei haben Sie noch nicht einmal den Nachtisch probiert!“ Jetzt zwinkerte sie wirklich. Mit ihrem Geschirr in der Hand verschwand sie um die Ecke im Flur und rief eine Minute später „Brauchst nicht auf mich zu warten!“, bevor die Haustür auf und zu ging. Somit saßen Chef und Seto nicht nur allein am Tisch, sondern waren auch die einzigen in der Wohnung. „Ich räum kurz ab und hole den Nachtisch. Wenn Sie wollen, können Sie es sich etwas bequemer machen“, ließ ihn der Blonde allein. Seto war sich nicht sicher, aber er schien sowohl jeglichen Körper- als auch Augenkontakt mit ihm zu vermeiden. Doch erschien es ihm wie Einbildung, als Chef wenig später mit einer großen Glasschüssel mit hellem Inhalt und zwei kleineren und Löffeln wiederkam. Er blickte ihn geradeheraus an und lächelte sogar, während er zwei Portionen aus der bereits angebrochenen Schüssel nahm. Anscheinend hatte er für Martine bereits in der Küche etwas herausgenommen. „Martines berühmt, berüchtigtes Birnenmousse. Selbst Hans und Shin kennen das genaue Rezept nicht“, fügte er hinzu und setzte sich wieder so, dass sie über Eck nebeneinander saßen. Die erste Portion aßen sie schweigend. Es war noch genug übrig, weshalb Seto nach dem Löffel griff. „Eine Naschkatze?“ „Ein bisschen.“ „Meinetwegen. Aber vorher habe ich eine Frage.“ Bestimmt nahm Chef ihm den Löffel aus der Hand und legte ihn zurück. „Martine sagte mir vorhin, dass Sie sie nach meinem alten Nachnamen gefragt haben. Wieso?“ Die Wahrheit war hier wohl am sinnvollsten. „Ich war einfach nur neugierig, da die ältesten Unterlagen von Ihnen gerade mal acht Jahre alt sind.“ „Sie haben über mich nachgeforscht?“ Seto zog es vor nicht zu antworten und dafür eine Gegenfrage zu stellen: „Und? Würden Sie mir Ihren alten Nachnamen verraten?“ Zum ersten Mal in seinem Leben wurde er Zeuge, wie ein anderer als er selbst ein Kunststück vollbrachte, von dem er bisher dachte, dass nur er selbst es beherrschen würde. Die Raumtemperatur sank spürbar um mehrere Grad und das Gesicht seines Gegenübers war zu einer Maske der Ablehnung versteinert. „Du hast es immer noch nicht kapiert, nicht wahr, Eisklotz?“ Diese Betonung. Diese Stimme. „WHEELER!“, rief Seto geschockt aus. Nein, das konnte nicht sein! Nicht sein Hündchen. Die ganze Zeit vor seiner Nase und er hatte nichts bemerkt. „Immerhin erinnern Sie sich noch an meinen Namen.“ Freudlos lachte Joey Wheeler auf. „Für jemanden, der als Genie gehandelt wird, haben Sie eine ziemlich lange Leitung.“ „Wheeler, um eines klar zu stellen. Ich bin ein Genie. Im Gegensatz zu dir...“ Hier wurde er unsanft unterbrochen. „Ihnen. Ich würde es bevorzugen, wenn wir uns weiterhin Siezen würden. Das hat doch die letzte Zeit so gut funktioniert.“ „Ich werde dich nicht siezen! Wir waren schließlich in einer Klasse!“ „Dann ist es für Sie also in Ordnung, von jedem Ihrer ehemaligen Mitschüler geduzt zu werden? Interessant. Das sollte ich morgen wirklich an Miho weitergeben – die freut sich nämlich schon total auf unser 10-jähriges Jubiläumstreffen in zwei Jahren.“ „Das werden Sie nicht tun“, knurrte Seto ihn wütend an. „Jetzt nicht mehr, da die äußeren Formalitäten geklärt sind. Also weiter im Text. Würden Sie gerne eine Analyse durchführen, wieso Sie daran gescheitert sind, mich zu erkennen? Wenn Sie möchten kann ich Ihnen gerne dabei helfen. Wie sich nämlich während meines Studiums herausgestellt hat, kann ich sehr wohl Rechnen – ich kam nur nie mit unserem Mathematiklehrer zurecht.“ „Ich verzichte.“ „Haben Sie sonst noch Fragen, oder können wir diesen eigentlich sehr erbaulichen Abend fortführen?“ Sein falsches Lächeln war honigsüß und verdeckte nur mit Mühe die Wut, die in ihm tobte. „Nein, aber ich gehe.“ „Bedauerlich. Es wäre bestimmt interessant gewesen in alten Erinnerungen zu schwelgen.“ „Kein Bedarf. Die Schule war ein notwendiges Übel in meinem Lebenslauf, ebenso wie mein Studium. Wieso sollte ich mich daran erinnern wollen?“ „Dann lassen Sie mich, Sie wenigsten noch an die Tür begleiten. Nicht das es später heißt, die Familie Pegasus besäße keine Manieren.“ Seto erhob sich und ging in den Flur, wo er sich unter Beobachtung seine Schuhe schnürrte. Er konnte nur hoffen, dass man das Zittern seiner Hände nicht sah. Diese unerwartete Neuigkeit hatte ihn vollkommen aus dem Konzept gebracht. Sein Verstand lief auf Hochtouren und ging noch einmal alles durch, was der Hotelmanager im Bezug auf Wheeler gesagt hatte. „Wer war ihr Kollege, wenn Sie Wheeler sind?“, stellte er die erste Frage, die sich in seinem Kopf abzeichnete, während man ihm in seinen Mantel half. „Shin.“ Eine schlichte Antwort, zu der die Wohnungstür geöffnet wurde. Deutlicher hätte man einen Rauswurf unter Wahrung der Etikette nicht mehr machen können. „Ich wünsche Ihnen weiterhin einen schönen Abend.“ Damit stand Seto auf der falschen Seite der Tür. Aufatmend ließ sich Chef an die Wand sinken. Er hatte es geschafft. Seto Kaiba wusste nun, wer er war, und er selbst hatte es geschafft Ruhe zu bewahren. Hatte ihn nicht angeschrien, war nicht in Tränen ausgebrochen, hatte sich nicht in seine Arme geworfen, ihm nicht seine Liebe gestanden, ihn nicht verführt oder Schlimmeres. Unsicher ging er zurück zum Essbereich und schnappte sich die große Schüssel und seinen Löffel vom Tisch – wenigstens musste er nichts von der Mousse wegschmeißen, da sich Seto keinen Nachschlag mehr hatte nehmen können, bevor die Situation eskalierte. Den Blick hinaus in die viel zu grelle Nacht, setzte er sich auf ein Sofa und machte sich daran den restlichen Nachtisch zu vernichten. Wenn er ehrlich zu sich war, hatte er gewusst, dass es so ausgehen würde. All seine Pläne, es Seto schonend zu erklären, waren unausführbare Gehirngespinste gewesen. Und dennoch war er unzufrieden. Klar, Seto hatte man den Schock nur zu gut angesehen, aber für jemanden, der ach so großartig war, war sein Abgang ziemlich kläglich gewesen. Zu gerne hätte er gewusst, wie sich dieses neue Wissen auf ihre eh schon angeknackste Beziehung auswirkte. Doch da würde er wohl warten müssen. Aber das konnte er. Schließlich wartete er schon über 10 Jahre. Bei sich zu Hause ließ Seto das Licht aus. Er war froh, dass er Roland vor der Wohnung hatte warten lassen. So hatte für ihn nicht die Möglichkeit bestanden es sich während der Wartezeit anders zu überlegen und noch einmal nach oben zu gehen. So wie er war, schmiss er sich auf die breite Couch, die als einziges bereits in seinem neuem Erholungszimmer stand. Es war einfach noch zu früh, sich ins Bett zu legen. Seine Schläfen pochten heftig und schrien nach Erlösung, doch kein Kopfschmerzmittel der Welt würde ihm helfen können. Chef war Wheeler. Wheeler war Chef. Wheeler war der verdammte Adoptivsohn von Maximillion Pegasus! Der Adoptivsohn, der ziemlich glücklich dabei aussah, Teil dieser Familie zu sein. Man tobte nicht so mit Kindern, die man nicht mochte. Man ließ sich nicht von Leuten, die man nicht mochte, auf die Stirn küssen zum Abschied. Er selbst hatte noch nicht mal mehr einen Händedruck bekommen, was wenig war, wenn man bemerkte, dass sie vor einem Monat beinahe sehr intim miteinander geworden wären. Sein Urlaub! Was von Josephs Verhalten war echt gewesen, was nur gespielt? Die Unwissenheit nagte an ihm. Ginge es ihm nicht so dreckig, würde er über sich selbst lachen. Er hatte Gewissensbisse gehabt, weil er dachte, sein Hündchen zu betrügen – und zwar mit ihm selbst! Wheeler war zu Chef geworden, einem mehr als nur begehrenswerten Mann. Einem Mann, dem ihre gemeinsame Vergangenheit egal war, wie Seto jetzt bewusst wurde. Wieso sonst, hatte er nichts gesagt? Wheeler gehörte Pegasus. Jeder seiner Gedanken war wie eine schallende Ohrfeige für ihn und trotzdem konnte er sie nicht abstellen. Wheeler. Chef. Wheeler. Pegasus. Hündchen. Nicht mehr Seins. Pegasus. ... Kapitel 9: Löwen, Drachen und Kochmesser ---------------------------------------- „Steh endlich auf du verdammte Schlafmütze! Wir müssen in 20 Minuten los, wollen wir noch rechtzeitig bei der Arbeit sein. Und komm mir jetzt nicht damit, dass ich doch schon mal alleine los kann! Die wissen ganz genau, dass du mein Mitbewohner bist. Kommst du zu spät, fällt das automatisch auf mich zurück!“ Als sein schimpfender Mitbewohner nun zu allem Übel auch noch an seiner Bettdecke zog, krallte sich Joey in den Bezug. Sein Bett war gerade viel zu gemütlich, um aufzustehen. „Wieso kannst du nicht mal bei den Kerlen schlafen, die dir die Nächte versüßen“, resignierte der andere und verließ endlich das Zimmer. Damit hatte er noch nicht einmal soviel Unrecht. Trotzdem. „Die würden sich zu viel Hoffnung machen, wenn ich bliebe“, flüsterte er und schlug probeweise die Decke zur Seite. Es war gab Unangenehmeres. Also stand er auf und schlüpfte in seine bereit gelegte Arbeitskleidung. „Du bist wirklich ein Engel!“ „Weil ich dich bemuttere? Abmarsch ins Bad mit dir! Deine Haare sehen aus, als hättest du in eine Steckdose gelangt. Ich mach währenddessen noch Kaffee zum Bento.“ „Du hast Bento gemacht?" "Natürlich! Hast du schon mal auf die Uhr gesehen?“ Auf dem Weg zur U-Bahn, drückte ihm Shin den Thermobecher mit Kaffee in die Hand. „Wenn du nicht bleiben willst, dann lass es doch einfach. Das verletzt sie weniger als auf ewig dein Lückenbüßer zu sein.“ Mit großen Augen blickte Joey zu seinem Mitbewohner, dem er nur zugewiesen worden war, weil der Vermieter dachte, dass Landsleute in einer Wohnung weniger Stress bedeuteten. Und der junge Koch war der einzige Japaner im Haus gewesen. Auf der Arbeit wirkte er immer lustig und neigte zu Scherzen, doch er hatte mittlerweile auch seine ernsteren Seiten kennen gelernt. Und vor allem schaffte Shin es immer, ihn rechtzeitig ins Hotel zu schleifen. Der Kaffee war leer, bevor sie noch die Station erreicht hatten. „Wir haben heute gemeinsam die Bar, oder?“ Shin nickte nur stoisch. An seinen Handbewegungen konnte Joey erahnen, dass er wohl gerade in Gedanken irgendein Rezept durchging. Er freute sich schon tierisch darauf, das Bento im Pausenraum zu verputzen. Seine aktuelle Flamme hatte noch nicht einmal eine Küche in der für New Yorker Verhältnisse großen Wohnung! Und der ganze Lieferservice-Fraß ging ihm allmählich auf den Zeiger. Er hätte nie gedacht, dass er irgendwann solchen Wert auf die Qualität seines Essens legen würde, doch war sie einfach notwendig, wenn er die Nächte hinter der Bar und die Tage wo immer er gerade im Hotel gebraucht wurde, durchstehen wollte. Es war im wahrsten Sinne des Wortes der Treibstoff für seinen Motor. Bisher war der Abend ruhig verlaufen. In der Kneipe 50 Meter weiter war irgendein Event zu dem die Hotelgäste, die er sonst hätte bedienen müssen, geströmt waren. Sie hatten nur einen einzigen Gast und dem hatte Joey mit einem hervorragenden Rotwein gut im Griff. Genau das war ihre Aufteilung: Joey den Wein und er die Cocktails – aber auch nur, weil er für seine Obstschnitzerei beliebt war, sonst hätte der Blonde den Laden auch alleine oder mit einem Kellner schmeißen können. Aber so war er als fertig ausgebildeter Koch genötigt, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen. Experimentierend bearbeitete er eine Ananasscheibe, als ihr zweiter Gast des Abends den großen Raum betrat und auf die Theke aus dunklem Holz zusteuerte. Ihre kurzen blonden Haare offenbarten das ganze hübsche Gesicht mit den atemberaubenden bernsteinfarbenen Augen. Sie hatte eine gute Figur, auch wenn sich unter dem grünen Stoff ihres Kleides ein Schwangerschaftsbauch abzeichnete - er schätzte fünfter Monat. Sobald sie lächelte, war für Shin klar, dass er sie mit Obst und alkoholfreien Cocktails den ganzen Abend über verwöhnen würde. Die Wut über das abfällige Schnauben von Gast Nummer 1 ignorierte er. Sollte sich doch Joey um ihn kümmern. „Und du wirst jetzt mit mir da rein gehen!“ Sie standen jetzt bereits fünf Minuten vor dem Haupteingang des Hotels, den sie normalerweise nicht benutzten – wofür gab es Hintertüren? - und diskutierten darüber, ob Joey Shin in die Lobby folgen würde oder nicht. Der Abend war für beide sehr produktiv gewesen. Shin hatte die Aussicht auf das Erscheinen in einem Hotelbildband. Das würde ihn zwar nicht beruflich weiterbringen, aber schmeichelte seinem Ego extrem. Währenddessen hatte Joey seine Zukunft klar gemacht. Doch der Sturkopf war gerade dabei alles wieder in den Wind zu schießen, wenn er nicht diesen einen Termin wahrnahm. Allmählich sah er ein, dass er mit Worten allein nicht mehr weiter kam. Kurzentschlossen zückte er eines seiner Messer und ein Blatt Papier, auf dem er sich vor ein paar Tagen Notizen für einen Nachtisch gemacht hatte. „Joey, du siehst das hier?“ Unwillig nickte der andere. Er hatte keinen blassen Schimmer, was Shin jetzt schon wieder von ihm wollte. Dass dieser einfach so ein Küchenmesser mit sich herumtrug, beunruhigte ihn jedoch schon seit einer Weile nicht mehr – notfalls konnte er nämlich so ziemlich leicht einen auf „Crocodile Dundee“ machen. Vorsichtig setzte Shin das Messer an und zog es betont gleichgültig durch das Papier. „Wenn du nicht sofort mit mir da rein gehst, werde ich diese Prozedur hier mit jeder deiner Duel Monsters Karten durchführen.“ „Das wagst du nicht!“ „Und ob ich das wage. Du bist hier gerade dabei eine einmalige Chance wegzuschmeißen, nur weil du plötzlich Schiss bekommst, dass du deinen Traum tatsächlich erreichen könntest. Und sorry, das kann ich wirklich nicht zu lassen! Also jetzt Abmarsch!“ Noch während er sein Arbeitsutensil wieder verstaute, um sich und andere nicht damit zu verletzen, sah er Joey durch die Drehtür gehen und im Inneren des Hotels verweilen. Wehe, der entwischte ihm, wenn er selbst hineinging! Irgendwie tat es ihm ja leid, dass er zu solchen Maßnahmen hatte greifen müssen, aber dieser Kerl würde sich tatsächlich bei seinem eigenen Glück im Weg stehen, wenn ihm niemand einen kräftigen Schubs gab. Immer noch ungläubig sah Shin zur Seite auf die Frau, die neben ihm her lief. Genauer gesagt hatte er sich ihrem Tempo angepasst, da sie langsamer ging, als sie es unter normalen Umständen getan hätte. „Wir hätten uns wirklich ein Taxi nehmen können für die zwei Blocks. Das ist hier in New York nichts Ungewöhnliches“, versuchte er wiederholt sie zur Einsicht zu bewegen. Doch Martine lachte nur und erwiderte: „Bloß nicht! Dann kann ich meinen Bewegungsdrang ja noch weniger ausleben! Es ist ja schon schlimm genug, dass ich meinen gewohnten Sport nicht machen kann. Lion achtet da ziemlich penibel drauf.“ „Lion?“ „Mein Bruder. Ich nenn ihn quasi schon mein gesamtes Leben so, weil unsere Mutter ihn früher oft in Schlafanzüge mit Löwenmotiven gesteckt hat. Aber das hast du nicht von mir“, zwinkerte sie ihm zu und nahm einen Schluck von ihrem grünen Tee, den er ihr in der Hotelküche zubereitet hatte, bevor sie ihren Bruder und Jo alleine gelassen hatten. Martine hatte sichtlich kein Interesse daran, ihrer geschäftlichen Besprechung zu lauschen. Stattdessen hatte sie Shin davon überzeugt, sie auf eine Reihe von Wohnungsbesichtigungen zu begleiten, nachdem sie alles für ihr Fotoshooting am nächsten Tag abgeklärt hatten. Ein wenig wirkte sie zwar enttäuscht, dass sie nicht ihn in der Bar fotografieren würde, da sie ihn in seiner gewohnten Arbeitsumgebung sehen wollte, doch Jos halb genuschelter Vorschlag, sich ebenfalls zur Verfügung zu stellen, hatte ihre Laune drastisch gehoben. Mittlerweile hatten sie die ersten beiden Wohnungen hinter sich und Shin gewöhnte sich daran, dem Markler charmant zu erklären, dass er keineswegs mit dieser reizenden jungen Dame zusammen war oder gar der Vater ihrer ungeborenen Kinder. Sie hatte ihm unterwegs eröffnet, dass sie Zwillinge erwartete – und sich nochmals herzlich für die leckeren alkoholfreien Drinks vom Vorabend bedankt. Zwischendrin nahmen sie dann aber doch ein Taxi, weil sie sonst den Termin nicht hätten einhalten können. Seine Sorge um ihre Sicherheit amüsierte sie sichtlich. Breit grinsend erklärte sie ihm, dass ihre Bodyguards die letzten sieben Jahre eher Zierde gewesen wären. Wohnung sieben begeisterte sie schließlich so sehr, dass sie gleich den Mietvertrag dafür haben wollte. Zufrieden kehrte sie mit einem erleichterten Shin ins Hotel zurück, um ihrem Bruder von ihrer Entscheidung zu berichten. Zwar war der Tag auch für Shin interessant gewesen, doch war er ziemlich froh, sie wieder bei Mister Pegasus abgeben zu können. Auch Jos Vertrag schien unter Dach und Fach zu sein, denn von ihm fehlte jede Spur. Als er das erste Mal die Zwillinge zu Gesicht bekam, waren sie bereits zwei Jahre alt. Martine hatte ihn kurzfristig vom Flughafen in Japan angerufen und ihr Kommen angekündigt, was ihn ein wenig unter Stress setzte. Er kochte immer noch für das gleiche Hotel, nur leider hatte in der Zwischenzeit sein Vorgesetzter gewechselt, mit dem er nicht im Geringsten auskam. Er plante seine Arbeit immer so, dass er kaum eine entspannte Arbeitswoche hatte und harsche Worte über die angeblich schlechte Qualität des Gekochten gingen immer zuerst an ihn. Wie sollte er nur genug Zeit finden, bei ihr vorbei zuschauen? Irgendwie schaffte er es dann doch und staunte nicht schlecht, als ihm ein elegant gekleideter junger Mann öffnete und dann in eine feste Umarmung schloss. „Hallo, Shin.“ Perplex erwiderte er die Geste und überlegte, woher der Typ ihn kennen könnte. Erst als er ihn lächeln sah, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. „Jo!“ „Wer sonst?“ „Naja, du hast dich ein bisschen verändert.“ „Das sind nur die Haare. Ich bekomme sie mittlerweile mit relativ wenig Aufwand unter Kontrolle. Du aber auch. Sind das fünfzehn oder doch eher zwanzig Kilo, die du abgenommen hast?“ Joey musterte seinen ehemaligen Mitbewohner prüfend von oben bis unten. „Ist jetzt aber auch egal. Komm erst mal rein, bevor Martine mitbekommt, dass ich unseren Ehrengast einfach so auf der Schwelle stehen lasse.“ Brav gehorchte Shin und sah sich erstaunt um. Seit er das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich nochmal einiges geändert. Im Sommer vor zwei Jahren hatte Martine, zunehmend eingeschränkt durch ihren Bauch, bereits begonnen die Wohnung einzurichten und war schließlich mit ihrem Bruder vom Hotel dorthin umgezogen. Aber bevor er sich weiter nach Unterschieden zur damaligen Einrichtung suchen konnte, krähte es aus einer Ecke: „Chef!“ Shin suchte nach der Quelle des plötzlichen Lärms und sah einen kleinen platinblonden Jungen, der mit ausgestreckten Armen auf Joey zulief und von ihm hochgehoben werden wollte. Liebevoll wurde der stummen Bitte nachgekommen und der Blonde drehte sich nun mit Last auf den Armen wieder zu Shin um. „Darf ich dir Ethan vorstellen? Ethan, das hier ist Onkel Shin.“ Der Kleine machte große Augen und sah erst zu Joey und dann zu Shin. „Sh..“, versuchte er den Namen nachzuplappern, scheiterte jedoch. Dafür antwortete der Koch: „Hallo, Ethan. Schön dich kennen zu lernen.“ Vorsichtig schüttelte er das kleine Händchen und wurde mit einem fröhlichen Quieken belohnt. „Wer ist Chef?“ „Das bin ich. Hab ich diesem kleinen Racker hier zu verdanken. Und ich werd ihn auch nicht mehr wirklich los. Inzwischen nennt mich nur noch Maximillion bei meinem normalen Vornamen. Aber was soll's. Dann weiß ich wenigstens, dass ich gemeint bin.“ Nun kam auch ein kleines Mädchen angerannt und umklammerte bestimmt Chefs Bein, während es vorsichtig hinauf zu Shin linste. „Ist das Ethans Schwester? Die sieht dir ja zum Verwechseln ähnlich.“ „Ja, das ist Clara“, kam es von der etwas gestresst aussehenden Mutter, die umsonst versuchte, ihre Tochter wieder einzufangen. „Allerdings kommt sie dann doch mehr nach mir.“ Martine sah gut aus. Die Schwangerschaftspfunde, an denen Shin nicht gerade unschuldig war, waren wieder verschwunden und ihre Haare reichten ihr über die Schultern. „Aber bevor ich dir das beweise... Wie wäre es, wenn wir uns ins Wohnzimmer setzen?“ Bis Shin zur Arbeit musste, lachten und erzählten sie viel – immer wieder unterbrochen von Ethan und Clara, die sich als regelrechte Wirbelwinde entpuppten. Er bekam auch raus, dass Martine von Chef mittlerweile als Drache tituliert wurde, da sie sehr gereizt reagieren konnte, sobald es um die Zwillinge ging. Er hielt sie jetzt schon für eine gute Mutter, die wirklich alles für ihre Kinder tun würde, wenn es notwendig war um sie zu beschützen. Gespannt lauschte er den Plänen für das Hotel und war umso begeisterter, als er ein paar Schnappschüsse zu Gesicht bekam. Doch den Vogel schoss Chef ab, indem er fragte, ob Shin nicht Lust hätte, dort als Koch zu arbeiten. Natürlich sei ihm bewusst, dass er bestimmt an New York hinge, aber... Shin musste nicht lange überlegen und fiel ihm vor Begeisterung um den Hals. Endlich würde er seinen Vorgesetzten los werden! Ein Jahr später zurück in Japan merkte er jedoch, was er sich da eigentlich an Land gelacht hatte. Denn auch dieser „Traumjob“ war anspruchsvoll und nicht alle Sonderwünsche der Gäste waren so leicht zu erfüllen, wie die seines neuen Vorgesetzten. In ihrem Verhältnis zu einander hatte sich einiges geändert, was vielleicht auch daran liegen könnte, dass er ihn automatisch anfing zu siezen, sobald er merkte, dass auch die anderen Angestellten dies taten. Wenigstens hatte er seinen Namen geprägt, da er ihn die ganze Zeit „Chef“ nannte und sich weigerte seinen neuen Nachnamen zu verwenden. Mit dem zweiten Koch kam er bestens zu Recht und verwandelte regelmäßig die Küche in ein kulinarisches Schlachtfeld, wenn sie neue Rezepte ausprobierten, was Cian toben ließ, bis sie sich bereit erklärten, die Küche selbst immer sauber zu halten und zu putzen. Schließlich hatte er auch die geniale Idee, wie sie das Problem mit dem Speisentransport lösen könnten und suchte mit Chef eine Reihe verschieden großer Boxen im Fachhandel aus, die es ihnen ermöglichen würde, das Essen noch warm zu ihren Gästen zu bringen, ohne, dass sie durch den Wald sprinten mussten. Das Leben hätte so schön sein könne, wenn Chef nicht ein Jahr später auf die Idee gekommen wäre, eine Praktikantin einzustellen. Nicht, dass er Yuki nicht mochte, ganz im Gegenteil, doch hatte er Chef versprechen müssen, die Finger von ihr zu lassen. Als ob er ein Schürzenjäger wäre! Matt und Cian hatten natürlich nicht so ein Gespräch führen müssen. Und selbst Hans war relativ glimpflich aus der Sache heraus gekommen. Doch er hatte nicht nur mit seinen Gefühlen zu kämpfen, die jedes Mal aus ihm herauswollten, wenn er Yuki auch nur sah. Nein, er hatte da auch noch so etwas Furchtbares, das sich Familie nannte, und sich von ihrem Sprössling Ende Zwanzig endlich eine Freundin oder gar Verlobte wünschte! „Wenn du nächste Woche wieder zu uns kommst, kannst du doch diese entzückende junge Frau mitbringen, die jetzt bei euch arbeitet“, redete ihm zum x-ten Mal seine Mutter ins Gewissen. „Nein, Okaa-san, ich werde Yuki nicht mitbringen. Ihr und vor allem Obaa-chan würdet da wieder zu viel hinein interpretieren. Wir sind nur Kollegen, aber ihr versteht das nie und dann würdet ihr sie in eine unangenehme Lage bringen. Nein, ich komme allein“, wiederholte auch er seinen Protest. „Alles in Ordnung bei dir?“ Wieso musste sie ausgerechnet jetzt in die Küche kommen?! „Ja, alles Bestens. Ich telefoniere nur gerade mit meiner Mutter.“ „Ist das Yuki?“ „Ja.“ „Dann grüß sie ganz lieb von mir.“ „Grüße von meiner Mutter.“ „Das ist nett, danke. Grüß sie bitte von mir zurück.“ „Mach ich. Grüße zurück. Ich muss jetzt weiterarbeiten. Dann bis nächste Woche“, legte er einfach auf. Glücklicherweise hatte inzwischen auch Yuki wieder die Küche verlassen. Wie sollte das nur weiter gehen? Wenigstens war in einem Monat ihr Praktikum zu Ende und er würde wieder seine Ruhe haben. Nur er und die vier anderen Kerle. Doch in seinem Herzen wusste er, dass er schon jetzt ihr Lächeln vermisste. „Shin, was wird das?“ Ertappt fuhr er herum und blickte in die strengen Augen seines Chefs. „Valentinsschokolade“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Das sehe ich. Die Frage ist nur, für wen?“ „Kennst du nicht.“ „Shin.“ Der Vorwurf in der Stimme war unüberhörbar. „Kennen Sie nicht“, verbesserte er sich schnell, obwohl das wohl kaum die richtige Antwort gewesen sein konnte. „Das meinte ich nicht. Also?“ Shins Seufzen hätte Steine erweichen können, jedoch nicht den Mann, der vor ihm stand. „Yuki?“ „Shin! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich ihrem Vater versprechen...“ „Ja, ja, Chef. Ich weiß es doch! Nur als Ryan das letzte Mal hier war und Sie mit Fragen Ihren Schokoladenwünschen gelöchert hat, kam mir die Idee, dass ein, zwei Pralinen für Yuki doch nicht schaden könnten...“ „Tu dir selbst einen Gefallen und lass es. Ja? Ich kann mir kaum einen liebeskranken Koch erlauben. Aber einen mit gebrochenem Herzen bei Laune zu halten, könnte selbst für mich zu schwer werden.“ Aufmunternd klopfte er ihm auf die Schulter. „Vergess nicht. Ihr müsst zusammen arbeiten.“ „Ja, Chef.“ Deprimiert machte er sich wieder an die Arbeit und schmolz die bereits fertige Schokolade wieder ein. Er brauchte jetzt ein großes Stück Schokoladenkuchen. Kapitel 10: Sonntag 22.3. ------------------------- Möglichst leise schloss Martine die Wohnungstür auf und stellte ihre Kamera im Flur ab. Das Shooting hatte deutlich länger gedauert, als sie ursprünglich angenommen hatte. So war sie erst kurz nach eins in der Bar eingetroffen, die ihr Mokuba genannt hatte. Es hatte ihr Leid getan, dass sie seine Freude über den zum Essen eingeladenen Seto hatte zerstören müssen. Denn bei ihm schrillten alle Alarmglocken, sobald sie ihm erzählte, dass sie ihn mit ihrem Neffen allein gelassen hatte. Da sie unter diesen Umständen beide nicht so schnell nach Hause wollten, blieben sie, bis die Bar um fünf Uhr morgens dicht machte und waren danach noch durch die Straßen getigert. Die frischen Brötchen legte sie auf den Küchentisch, bevor sie Richtung Bad schlich. Doch auf Höhe von Chefs Tür hörte sie Geräusche. Mantel und Schuhe ihres Gastes hatten an der Garderobe gefehlt, also würde sie die beiden wohl kaum inflagranti erwischen. Vorsichtig öffnete sie die Tür und wusste sofort, dass der Abend kein wirklich gutes Ende genommen hatte. Chef stand mit dem Rücken zu ihr, das letzte seiner Wurfmesser in der Hand. Auf der Holzplatte gegenüber der Tür, die er immer als Zielscheibe nahm, hatte er ein Bild gepinnt, das verdächtig nach dem Ausdruck irgendeines Zeitungsartikels aussah. Um das abgebildete brünette Antlitz steckten bereits die restlichen Messer. Es war mehr als ungewöhnlich, dass er sie nutzte, um sich abzureagieren. Ohne groß zu überlegen, nahm sie ihm das letzte Messer aus der Hand. Doch statt es zur Seite zu legen, warf sie es seinen Brüdern hinter her, bevor sie sich an ihn wandte. „Was hältst du von Frühstück?“, fragte sie gelassen. Chef nickte nur. Noch war er unfähig den Blick von der Stelle zu nehmen, an der seine Tante getroffen hatte. Genau zwischen die strahlend blauen Augen. Anscheinend tat es Martine wirklich leid, dass sie ihn am Abend im Stich gelassen hatte, denn selbst für ihre Verhältnisse, war das Frühstück üppig. Neben frischen Brötchen, gab es Rührei mit Speck, mehrere Fruchtsäfte, Grapefruits, Tomaten und eine Menge anderer Köstlichkeit. Sie aß schweigend, bis sie die ersten zwei Tassen Kaffee getrunken hatte. Dann sprach sie über Banalitäten, wie das leider nicht mehr so schöne Wetter und die Torten, die sie beim Bäcker gesehen hatte. Sie musste innerlich fast verrückt werden, weil sie mit ihm eigentlich über ganz andere Themen reden wollte – das sah er ihr an – aber er zog es vor zu schweigen und eine der gefüllten Datteln zu probieren. Gemeinsam räumten sie eine Stunde später den Tisch wieder ab. Im Kühlschrank zeigte er ihr den Anteil des aufgehobenen Nachtischs und betonte, wie lecker er gewesen war. Die Erinnerungen, die er nun damit verband ignorierte er, bis er sich allein in der Küche befand. Martine hatte er ins Bad geschickt, damit sie sich in Ruhe frisch machen konnte. Sie hatte nach Arbeit, Schweiß und einer ganzen Bar gerochen, als hätte sie dort die gesamte Nacht verbracht. Beinahe andächtig spülte er die Messer, die nicht in den Geschirrspüler durften. Ihm gefiel der Anblick, wie das Wasser am kalten Stahl entlang floss. Kalt. Setos Augen waren so kalt gewesen, als ihm endlich aufging, mit wem er es die ganze Zeit über zu tun gehabt hatte. Seine Methode, es ihm beizubringen, war vielleicht nicht gerade die sanfteste gewesen, doch hatte er sich eine etwas andere Reaktion erhofft. Wieso hätte er denn sonst die ganze Zeit im Hotel nach Wheeler gefragt? Klar, wenn man es genau nahm, hatte er ihn angelogen, aber seit wann bitteschön ließ ein Seto Kaiba es einfach so zu, dass er angelogen wurde? Und außerdem, er hatte ja nicht vor, irgendetwas von dem, was er über ihn erfahren hatte, gegen ihn zu verwenden. Er wäre definitiv der Letzte... Vor Schmerz zuckte er zusammen. Er hatte sich so sehr in seine Wut hineingesteigert, dass er nicht mitbekam, wie er das Messer etwas zu energisch abtrocknete. Die Klinge fuhr ihm einmal von oben bis unten durch die linke Handfläche. Fluchend schmiss er das Messer in die Spüle zurück und untersuchte danach über ihr den Schnitt. Er war sauber und nicht annähernd so tief, wie er angenommen hatte. Doch sollte er ihn behandeln. Würde er jetzt ins Bad stürmen, würde Martine sich nur wieder aufregen und vermutlich eins und eins zusammen zählen. Also gab er sich mit den limitierten Möglichkeiten des erste Hilfe Kastens in der Küche zufrieden. Stoppte die Blutung, desinfizierte alles und machte sich anschließend einen kleinen Verband. In drei bis vier Tagen würde sie wieder einsatzfähig sein, schließlich war nur die Haut verletzt worden. Er entfernte die verräterischen Spuren in der Spüle und ging dann in sein Zimmer. Zwar hatte er sich bereits früh morgens geduscht und umgezogen, doch würde es ihm gut tun sich ein wenig hinzulegen – und sei es auch nur, um das Verletzungsrisiko zu minimieren. Von seinem Bett aus konnte er auf das Holzbrett sehen, in dem noch immer die Wurfmesser steckten. Sie würden dort wohl auch noch eine Weile bleiben. Nur Martines Wurf irritierte ihn. Wieso hatte sie ihn eingeladen, wenn sie Seto augenscheinlich so wenig ausstehen konnte? Die Möglichkeit, dass sie einfach nur daneben getroffen hatte, bestand für ihn nicht. Eine halbe Stunde später klopfte es an seine Zimmertür. „Wie weit bist du?“, fragte Martine. Etwas verständnislos blickte er zu ihr auf. „Was hast du denn vor?“ „Ich wollte mit dir ein bisschen in die Stadt.“ „An einem Sonntag? Da haben doch alle Geschäfte zu! Ich hatte mich eigentlich auf einen ruhigen Tag im ...“ „Das kannst du auch im Hotel haben. Lass dich einfach mal überraschen! Ich glaube, es wird dir gefallen.“ Er konnte nur für sie hoffen, dass die Qualität ihrer Überraschungen sich steigern würde. Denn so eine wie am Vorabend wollte er für den Rest der Woche garantiert nicht mehr. Während sie sich anzogen, gelang es ihm seine Hand vor ihr zu verstecken und ließ sie, sobald sie auf dem Bürgersteig standen, in seiner Manteltasche verschwinden. Das Wetter hatte wirklich angezogen und ein kühler Wind pfiff durch die Straßen. Mit leichter Besorgnis bemerkte er, dass ihr Haare noch etwas feucht waren, doch bevor er noch etwas sagen konnte, versteckte sie sie vollständig unter einer Schirmmütze. Dann hakte sie sich bei ihm auf der rechten Seite ein und führte ihn die Strecke zu einem Laden in einer Seitenstraße der Fußgängerzone. Die Schaufenster gingen nicht bis ganz auf den Boden, erlaubten jedoch genug Einblick, sodass man die Unmengen an britischen Antiquitäten im Inneren sehen konnte. Ihr Lieblingsantiquariat. An der alten, grünen Holztür hing von Innen ein „Closed“-Schild. Doch davon ließ sich Martine nicht aufhalten. Wie selbstverständlich drückte sie die Klinke herunter und betrat den Laden, wobei sie Chef mitzog. „Martine, der Laden hat zu. Ich glaube nicht, dass...“ „...ihr nicht doch hier willkommen seid“, führte ein Mann Ende zwanzig den Satz für ihn fort. „Hallo, Joey. Ich hoffe du verzeihst deiner Tante und mir die kleine Finte.“ Im nächsten Moment wurde Chef zur Begrüßung fest umarmt – von einem anderen Mann in seinem Alter. Nach einer Weile krächzte er: „Ryo, würdest du mich bitte loslassen? Ich freue mich auch dich zu sehen, aber ich brauche Luft zum Leben! Wenn du jemanden zu Tode knuddeln willst, mach das gefälligst mit Marik!“ Schmollend ließ der Weißhaarige ihn los. „Marik wird nicht zu Tode geknuddelt. Wer soll mir sonst die Nächte versüßen?“ Von der Schüchternheit während ihrer Schulzeit war wirklich nicht mehr viel übrig geblieben. Auch Mariks stürmischen Kuss erwiderte er ohne mit der Wimper zu zucken. Aber bevor die beiden noch über einander herfielen, ging Chef dazwischen. „Was macht ihr eigentlich hier?“ „Arbeiten.“ „Genauer gesagt, Ryo arbeitet und ich bin nur hier zur Zierde - und weil ich keine Lust habe, alleine in der Wohnung zu sitzen.“ „Arbeiten?“ „Jepp, seit drei Wochen gehört nämlich uns der Laden. Die alten Besitzer haben sich ihren Traum erfüllt und sind nach England ausgewandert.“ „Und da wir eh ihre besten Kunden waren“, Marik warf Ryo einen bösen Blick zu, „haben sie uns gefragt, ob wir nicht Lust hätten, den Laden zu übernehmen. Und dann hat deine Tante angerufen, um nach den Öffnungszeiten zu fragen. Somit schließt sich der Kreis wieder.“ Auf diesen Schock ließ sich Chef erst einmal in einen Sessel fallen und schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie war das letzten Monat? Da hast du doch noch gemeint, Ryo wäre total klatsch nass vom Büro nach Hause gekommen.“ „Stimmt doch auch. Ich mach das hier erst seit ein paar Wochen. Apropos. Martine, ich hab vorgestern ein paar sehr schöne Vasen reinbekommen, die ich dir gerne zeigen würde.“ Damit verschwanden beide in die Tiefen des Ladens und ließen Marik mit Chef zurück. Ab und zu hörten sie die beiden noch über dieses oder jenes Stück diskutieren, doch achteten sie beide nicht wirklich darauf. „Willst du vielleicht einen Tee?“, fragte Marik, während er sich ihm gegenüber hinsetzte. „Gerne. Wieso hast du mir nicht gesagt, dass ihr vorhabt euch selbstständig zu machen?“ Er nahm seine Tasse aus feinem Porzellan entgegen und wartete gespannt auf die Antwort. „Naja, du hattest letztes Mal nicht wirklich viel Zeit, wenn ich dich daran erinnern darf. Außerdem wollten wir noch nicht so früh die Pferde scheu machen. Und keine Angst, meinen Job habe ich auch nach wie vor, falls Ryo das Ganze hier“, er machte eine allumfassende Geste, „wider Erwarten an die Wand fahren sollte. Aber bis jetzt macht er es gar nicht mal so schlecht. Da spricht dann doch der Grabräuber aus ihm.“ „Und du als ergebener Grabwächter unterstützt ihn noch in seinem Tun“, neckte Chef ihn. „Ein wenig. Schließlich habe ich Geschmack!“ „Wenn du meinst. Zumindest kannst du mittlerweile Tee kochen. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.“ „Hey! Wer lässt sich täglich von gleich zwei Köchen verwöhnen? Wie geht’s dem Haufen – außer, dass ihr ne Menge Stress habt?“ „Ganz gut, soweit. Die Auftragslage ist gut und wir haben zunehmend sehr gut zahlende Gäste. Neulich erst war zum Beispiel Kaiba da und für den Sommer sind wir bereits jetzt komplett ausgebucht. Wenn ich wollte, könnte ich die Zimmeranzahl verdoppeln und wir müssten immer noch Gästen absagen.“ Geräuschvoll verschluckte sich Marik an seinem eigenen Tee und nur mit Mühe konnte er die Tasse retten. Ryo hätte ihn einen Kopf kürzer gemacht, wenn sie zerbrochen wäre. Zu Tode knuddeln wäre da noch die angenehmste Strafe, die ihm dann drohte. Er musste sich verhört haben! Vorsichtshalber suchte er nach Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtung. „Kaiba? Der Seto Kaiba, dein und Ryos ehemaliger Mitschüler, Albtraum deiner schlaflosen Nächte? Bei dir ihm Hotel? Und der lebt noch?“ Chef nickte bloß. Er könnte sich selbst verfluchen, weil er seine Klappe nicht hatte halten können. Wieso musste er ausgerechnet Kaiba als Beispiel nehmen? Lag vermutlich daran, dass er ihm seit einem Monat nicht mehr aus dem Kopf wollte. „Und du lebst auch noch?“ „Siehst du doch.“ Wieso tat Marik plötzlich so besorgt? Es war ja nicht so, dass es ihn gleich den Verstand kostete, wenn er Seto sah. Es war nur eine sehr harte Probe seiner Vernunft. „Wenn du meinst. Aber wenn wir es gerade von den Lebenden und den Toten haben. Warst du schon bei ihm?“ „Nein. Hatte ich aber für die nächsten Tage noch vor.“ Das Thema war zwar auch nicht einfach für ihn, aber zumindest wühlte es ihn nicht mehr so sehr emotional auf. Acht Jahre reichten anscheinend aus, um das alles zu verarbeiten. „Dann ist ja gut. Wie versprochen, schaue ich regelmäßig nach ihm. Aber ich glaube über einen Besuch von dir, würde er sich freuen.“ Er nickte einfach nur wieder. Es war schon irgendwie seltsam, dass der Mann, der sich als Kind so gegen seine Berufung als Grabwächter gesträubt hatte, nun dieser Aufgabe freiwillig nach ging. „Danke.“ Nach einem Schluck Tee fügte er hinzu: „Und bei euch scheint ja alles rund zu laufen.“ Mariks Grinsen war mehr als doppeldeutig und eindeutig eine Spur zu dreckig. „Kann mich nicht beklagen.“ Er hatte die Tasse abgestellt und streckte sich genüsslich. „Ich habe fast Mitleid mit unseren Yamis, dass sie so sehr mit ihrem Wunsch nach Weltherrschaft zu tun hatten. Haben echt was verpasst. Erst neulich hat Ryo mich...“ „Keine Details bitte!“, unterbrach Chef ihn mit sichtlich geröteten Wangen. Zwar hatte sein bisheriges Liebesleben auch nicht gerade nur aus Blümchensex bestanden, doch war es ihm peinlich, wenn sein Kopfkino ihm Szenen zeigte, wie sich seine engsten Freunde miteinander vergnügten. „Ach ja, der Herr ist ja auf Abstinenz. Aber wenn du willst, können wir das Gespräch jeder Zeit nachholen.“ Der Ausdruck auf Mariks Gesicht war für seinen Geschmack eine Spur zu bösartig. „Nein, Danke. Ich verzichte. Außerdem ist es eine selbstgewählte Abstinenz. Würde ich es darauf anlegen, hätte ich Kaiba bereits vor einem Monat verführt – oder spätestens gestern Abend. Aber ich wollte einfach nicht. Kapiert?“ Marik antwortete schlicht mit einem ironischen „Natürlich“ und machte es sich jetzt erst recht lächelnd auf dem Sessel bequem. Sie brauchten dringend irgendetwas, über das sie sich unterhalten konnten, ohne dass aus Versehen Setos Name dabei auftauchen würde, sonst würde er sich noch mehr verplappern. Und leider war Marik in dieser Beziehung leider nicht gerade der Sensibelste. Glücklicherweise fing er von alleine an, den derzeitigen Intendanten der Oper in Domino zu loben und im gleichen Atemzug den aktuellen Dirigenten nieder zu machen. Nach einer Stunde bekamen sie endlich Ryo und Martine wieder zu Gesicht, die mit einem Notizblock bewaffnet an der Kasse standen und Beträge zusammenaddierten. Martine bezahlte alles mit Karte und drehte sich dann zu ihrem Neffen um. „Ryo hat mir einen Vorschlag gemacht. Du bleibst noch eine Weile bei ihnen und ich kann nach Hause gehen und schlafen.“ Kurz überlegte er. „Hört sich gut an. Ich frag mich zwar, was du mit so viel Schlaf willst“, er wusste ganz genau, dass sie sich die Nacht um die Ohren geschlagen hatte, „aber bei so einem Angebot kann ich wohl kaum nein sagen. Aber die Einkäufe trägst du selbst nach Hause!“ „Nicht notwendig“, fiel ihm Ryo ins Wort. „Wir haben bereits alles in Kisten verpackt, die ich morgen in die Post gebe. Die sollten dann spätestens nächste Woche bei dir im Hotel ankommen. Ist eh alles für das eine Haus.“ Wieso sagte er denn überhaupt noch was, wenn er eh nicht mehr gefragt wurde? Martine verabschiedete sich von Ryo und Marik und wandte sich kurz an ihn. „Sei bitte spätestens um 17 Uhr in der Wohnung. Wir haben heute Abend noch was vor.“ Damit gab sie ihm einen Abschiedskuss auf die Wange und war verschwunden. Er mochte diese kleine Geste von ihr. Natürlich hätte sie ihm auch peinlich sein können, doch für ihn war sie das Zeichen, dass er zu ihrer Familie gehörte. „Und was machen wir jetzt?“, fragte er seine Freunde. „Uns von Marik vergiften lassen“, schlug Ryo lachend vor. Sein Freund verteidigte sich prompt, grummelte, dass er sehr wohl mittlerweile kochen könnte und er nur einfach zu verwöhnt sei. Bevor er noch ernsthaft beleidigt wäre, umarmte Ryo ihn und flüsterte, dass er das doch längst wisse. Kurz fühlte Chef die Eifersucht auf ihre Beziehung in sich aufsteigen, doch als Ryo ihn einfach mit in die Umarmung zog, war auch dieses Gefühl verflogen und zurück blieb nur noch die Freude, endlich wieder seine Freunde zu sehen. Setos Rücken hatte sich unangenehm verspannt. Das hatte er jetzt davon, dass er über seiner Grübelei in der Nacht eingeschlafen war. Die Couch war zwar eigentlich bequem, doch so wie er vor einer Stunde auf ihr aufgewacht war, konnte das einfach nichts werden. Sein Oberkörper war halb von den Polstern gerutscht und es glich einem Wunder, dass er, als er langsam zu sich kam, nicht auf dem Kopf gelandet war. Kopfschmerzen hatte er so oder so schon. Wäre also nicht weiter tragisch gewesen. Er glaubte sich daran zu erinnern, dass er sich mit ein paar wenigen Tatsachen abgefunden hatte. Dazu gehörte vor allem, dass der Köter nun den Nachnamen Pegasus trug. Was ihn daran beruhigte war, dass er von der Familie adoptiert worden war, nicht in sie eingeheiratet hatte. Dennoch konnte er immer noch nicht verstehen, was sein Hündchen dazu bewogen hatte. Aber diese Überlegung hob er sich für später auf. Wichtiger für ihn war nun zunächst die Analyse des Abendessens. Martine hatte Chef – zähneknirschend versuchte er diesen Namen beizubehalten – offensichtlich nichts von ihm erzählt. Hatte ihnen beiden aber soweit vertraut, dass sie sie alleine gelassen hatte. Vielleicht wusste sie gar nichts von ihrer Vergangenheit? Wenn Chef genauso wenig auskunftbereit wie früher war, würde sie unter Umständen gar nichts von ihnen beiden wissen. Wahrscheinlich hatte sie ihn nur als Mokubas Bruder und als langjährigen Geschäftspartner ihres Bruders eingeladen. Gut. Nein, nicht gut! Sie hatte Chef von seiner Frage erzählt. Was bedeutete, dass sie sich sehr wohl über ihn unterhalten hatten! Doch auch das war momentan eher nebensächlich für ihn. Was ihn viel mehr umtrieb, war die Frage, ob er sich richtig verhalten hatte. Joseph Wheeler hätte er den Marsch geblasen und verbal so nieder gemacht, dass dieser irgendwann sprachlos aufgegeben hätte. Früher. Doch jetzt? Er hatte mehr oder minder die Flucht ergriffen! Klar, der andere war wütend gewesen, aber hatte er ihm nicht sogar vorgeschlagen, den Abend fortzuführen? Er könnte sich in den Arsch beißen für seinen falschen Stolz! Er hätte vielleicht noch eine Menge mehr erfahren können über ihn und das, was er in den letzten acht Jahren getrieben hatte. Hätte irgendetwas faseln können, er hätte sich so sehr geändert, dass man ihn nicht mehr erkennen würde. Hätte das wie ein Kompliment klingen lassen können. Falsch. Es wäre ein Kompliment gewesen! Was er aus sich gemacht hatte war wirklich beachtlich. Er konnte nicht glauben, wie sehr er sich ärgerte. Wie sehr er sich über sich selbst ärgerte! Er spann den Abend in Gedanken weiter. Sie hätten sich, nachdem die Wogen etwas - aber nicht zu sehr – geglättet gewesen wären, einen schönen Abend mit dem restlichen Nachtisch und gutem Wein gemacht. Vielleicht auch einen sehr schönen. Vielleicht wäre es möglich gewesen, ihre restliche Wut in etwas Produktiveres zu wandeln. Die Sofas im Wohnbereich hatten durchaus einladend ausgesehen. Und er hatte es regelrecht verbockt, indem er einfach gegangen war. Natürlich hätte Wheeler schon deutlich früher etwas sagen können, doch er war doch derjenige, der so stolz darauf war, seine Geschäftspartner so leicht durchschauen zu können! Wieso war es ihm einfach nicht aufgefallen? Es hatte so viele Situationen gegeben, in denen ihm ein Licht hätte aufgehen können! Er... Ohne Klopfen wurde die Tür aufgerissen. Seto fuhr herum, um denjenigen, der es wagte ihn zu stören, zum Abreagieren zu missbrauchen, doch dann sah er, dass es Mokuba war, der ihn besorgt musterte. „Hier bist du also. Ich hab dich schon im ganzen Haus gesucht!“ Ohne zu fragen, setzte er sich einfach neben seinen Bruder und sprach weiter: „Ich hab sogar den Wachmann in der KC angerufen, damit er nachschaut, ob du dich vielleicht in deinem Büro mal wieder eingeschlossen hast. Sorry, dass ich erst jetzt komme, aber ich hab mich nach dem Frühstück nochmal hingelegt. Dachte, dass du mal wieder in deine Arbeit vertieft bist. Naja, aber ich hab dich dann ja jetzt gefunden.“ „Und wieso hast du mich überhaupt gesucht?“ In seinen Ohren machten die Worte seines kleinen Bruders kaum Sinn. Wieso hätte er beim Frühstück sein sollen? Und außerdem, wieso sollte er sich an einem Sonntag in der KC einschließen? … Sonntag? Mist! Er hatte wirklich ihr Frühstück vergessen. Genauer gesagt, er hatte heute schon den ganzen Tag über nichts gegessen. „Du hast mich doch gestern darum gebeten, dass ich dich erinnern soll, dass du heute Abend in die Oper gehst. Schon vergessen?“ „Nein, natürlich nicht.“ Er hatte es vollkommen verdrängt. Und außerdem brauchte er jetzt etwas in den Magen. Dieser hatte sich nämlich bei dem Wort „Frühstück“ neugierig geregt. „Aber was hältst du davon, wenn wir, bevor ich mich fertig mache, noch eine Kleinigkeit essen?“ Mokuba stimmte zu und verließ mit ihm im Schlepptau das Zimmer. Mit Seto stimmte doch etwas nicht! Er musste dringend bei Martine nachfragen, ob sie bereits Genaueres wusste. Aber das würde er erst nach dem Essen machen. Schließlich knurrte auch ihm der Magen. Das Stück war einfach nur traumhaft gewesen! Noch halb in der Musik, die in seinem Kopf nachklang, schwelgend, trat Seto durch die Tür, die die Loge vom oberen Gang im Theater von Domino trennte. Es war reines Glück, dass er die Aufführung von „Turandot“ entdeckt hatte. Und als ihm mitgeteilt wurde, wie selten es gezeigt wurde, hatte er sich sogar ein wenig mehr gefreut. Gespannt hatte er verfolgt, wie die stolze Prinzessin immer mehr dem fremden und unbeugsamen Prinzen verfällt. Als sie schließlich vor ihren Vater trat, um ihm den Namen des Fremden zu nennen, hatte er Gänsehaut gehabt. „Du hattest Recht. Live ist es einfach tausendmal besser“, stimmte gerade ein Mann vor Seto seiner Begleiterin zu. Sie waren soeben aus der Tür zu einer anderen Loge getreten und hatten ihn nicht bemerkt. Sie, in einem langen, schwarzen Abendkleid und mit hochgesteckten Haaren, hatte sich bei ihm eingehakt und schenkte ihm ein breites Lächeln. Doch schnell verwandelte es sich in ein leichtes Schmollen, als er in seinem roten Anzug leise zu ihr sang „Bella, bella Turandot“. Er hatte dieses Rot doch schon einmal gesehen. Nein! Nein, das konnte nicht war sein! Am liebsten wäre er stehen geblieben, doch die Masse von hinten schob ihn weiter. So musste er in Hörweite der beiden bleiben, bis sich die Treppe im unteren Foyer verbreiterte. „So schlimm bin ich doch nun auch nicht. Außerdem lass ich meine Männer immer am Leben.“ „Aber was kann ein Leben ohne dich schon sein? Außerdem musst du zugeben, dass du in dem Kleid der Sängerin der Turandot zum Verwechseln ähnlich siehst!“ Das konnte selbst Seto nicht ganz leugnen. „Nur dass sie mindestens 10 Zentimeter kleiner und 15 Kilo schwerer ist als ich. Aber ich weiß was du meinst.“ Sie seufzte. „Also einverstanden. Du darfst mich Turandot nennen. - Aber nur, wenn du mein Kalaf bist!“ „Meinetwegen. Komm, wir beeilen uns. Vielleicht müssen wir dann nicht so lange auf unsere Mäntel warten.“ Erleichtert stellte Seto fest, dass sie das Ende der Treppe erreicht hatten. Länger hätte er das auch kaum ertragen können. Die beiden wirkten einfach zu vertraut miteinander. Außerdem hatte die Erkenntnis ihn wie einen Paukenschlag getroffen. Hatte Chef nicht auch während seines Urlaubs etwas gesagt über Turandot und Kalaf. Der Namenlose, der dennoch das Herz der Prinzessin erobern kann? Turandot war es letztlich egal gewesen, wir er nun hieß, für sie zählte nur noch, dass er ihr gezeigt hatte, was Liebe ist. Er wurde von hinten angerempelt, doch statt sich aufbrausend zu beschweren, setzte er sich einfach wieder in Bewegung und steuerte den Ausgang an. Zufällig entdeckte er in der Menge vor sich wieder das Paar von vorhin. Und eine weitere Erkenntnis traf ihn. Kalaf hatte alles verloren, sogar sein Vater als letzter Familienangehöriger war gestorben, doch Chef hatte eine Familie, hatte ein Leben. Wäre überhaupt noch Platz darin für ihn? Kapitel 11: Matt und Cian ------------------------- Endlich war es etwas ruhiger im Haus. Es hatte nicht nur gefühlt Stunden gedauert, bis die Zwillinge müde genug waren und sich sogar freiwillig zum Mittagsschlaf hingelegt hatten. Mittlerweile wohl eher ein Nachmittagsschlaf. Wo nahmen die zwei nur diese Energie her? Er selbst war bereits jetzt zum Umfallen müde und dabei war es noch nicht einmal fünf Uhr nachmittags. Martine saß ihm auf dem weichen, roten Teppich des Saals im ersten Stock gegenüber, umgeben von unzähligen Katalogen und Musterbüchern. Ab und zu machte sie sich Notizen auf einen Block, wenn ihr eine Kombination gefiel. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass die erste Vorauswahl von Wandfarbe, Boden und Teppichen ihr vorbehalten war. Er würde es dann abnicken, wenn es ihm zusagte oder sich dann eben doch mit ihr in den Wahnsinn aus Anschauungsmaterialien stürzen. So blieb ihm Zeit für eine wunderbare, spannende Aufgabe, die als knapp vierzig Zentimeter hoher Stapel neben ihm lag. Nie ihm Leben hätte er mit so viel Resonanz gerechnet! Aber er kam nicht darum herum, sich genau durch jede einzelne Bewerbung zu lesen. Denn nur mit zwei Köchen und ihm würde das Hotel nie so laufen, wie er es sich vorstellte. Eine Stunde später streckte er sich auf dem Boden lang und atmete seufzend aus. Das konnte doch nicht so schwer sein! Er hatte im ersten Durchlauf die Unterlagen überflogen und Stapel angelegt. Die, die ihm gar nicht zusagten, die, die ihm ein wenig zusagten und die, die er in die engere Wahl ziehen würde. Doch als er die letzte Bewerbung zur Seite gelegt hatte, stellte sich heraus, dass bis jetzt nur der erste Stapel existierte. Bei Stapel zwei und drei herrschte gähnende Leere. Und wenn er sie sich noch einmal ansah – diesmal mit etwas heruntergeschraubten Ansprüchen? Das war doch lächerlich! Er wusste bei jedem einzelnen Bewerber noch ganz genau, was ihn für die jeweilige Stelle disqualifizierte und er konnte sein Niveau gar nicht so sehr senken, dass es passen würde. Das war zum Haare raufen! „Martine?“ „Mhm?“ Sie sah nicht zu ihm auf und nuckelte überlegend am Ende ihres Bleistifts. „Wie weit bist du?“ „Erdbeersorbet.“ „Wie bitte?!“ War sie denn überhaupt nicht ansprechbar? „Ich wollte von dir wissen, wie weit du bist – nicht welches Eis du willst. Aber auch ne gute Idee.“ Flink stand er auf und holte sich aus der Küche im Erdgeschoss zwei große Schalen mit Eis. Erst die kalte Süßspeise in ihrem unmittelbaren Sichtfeld ließ Martine hochschrecken. „Oh. Danke“, nahm sie ihm die Hälfte seiner Last ab. „Für die ersten drei Häuser hab ich ein Konzept. Haus Vier wolltest du ja machen – aber ich hab auch da ein paar Vorschläge für dich. Keine Angst! Hab mich an das gehalten was du magst. Und für Haus Fünf und Sechs habe ich zumindest eine Idee. Wie sieht es bei dir aus?“ „Ganz ehrlich?“ Er nahm ihr gegenüber Platz, weil um sie herum die Kataloge so dicht lagen, dass sie noch nicht einmal die Beine ausstrecken konnte. „Beschissen.“ Wenigstens war das Eis gut und beruhigte etwas seine Nerven. „Die meisten sind unterqualifiziert und bringen leider aus ihrem privaten Umfeld auch nicht ausreichend Erfahrung mit. Diejenigen, die rein fachlich etwas wären, hören sich in ihrem Begleitschreiben so arrogant und schwer umgänglich an, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, mit ihnen zu arbeiten.“ Er zuckte mit den Schultern und aß weiter. Plötzlich hatte er eine Idee. „Duhu?“ „Ja, Kleiner?“ „Du bist doch auch schon viel herumgekommen.“ Sie nickte, den Eislöffel in ihrem Mund dabei nicht loslassend. „Dabei hast du nicht rein zufällig mal ein Hotel mit gut gepflegtem Garten gesehen, oder?“ Er setzte seinen besten Hundeblick auf und fürchtete schon, dass er sein Eis vorzeitig zum Schmelzen gebracht hatte, als sie endlich einknickte. „Okay. Vielleicht – aber wirklich nur vielleicht – wüsste ich da jemanden für dich. - Aber auch nur, weil ich dich nicht leiden sehen kann.“ Schnell notierte sie etwas auf einer frischen Seite. „Frag hier nach Matthew. Sag ihm, dass ich dich geschickt habe. Und biete ihm auf jeden Fall beide Stellen an. Hast du mich verstanden?“ Eifrig nickte er. „Matthew. Von dir geschickt. Beide Stellen. Kann ich mir merken.“ Schon etwas besser gelaunt nahm er den Zettel entgegen und las ihn durch. „Aber das ist doch in ...“ Jeder andere hätte Martine unterstellt, dass sie ihn hatte loswerden wollen. Aber Chef glaubte seine Tante mittlerweile gut genug zu kennen. Sie hätte ihn nie spontan in die USA geschickt, nur um für ein paar Tage ihre Ruhe vor ihm zu haben – besonders, weil das hieß, dass sie sich alleine um Ethan und Clara kümmern musste, weil Maximillion gerade viel in der Firma zu tun hatte und nicht in das Ferienhaus kommen konnte. Wobei... die letzten Wochen hatten sie ziemlich viel aufeinander gehockt. Als das Taxi hielt, war es bereits dunkel draußen, doch er konnte immer noch erkennen, dass Ryan bei dem Hotel vor Begeisterung halb durchgedreht wäre. Das wuchtige Gebäude war bestimmt mehrere Jahrhunderte alt und sah eins zu eins aus wie eines dieser stolzen Herrenhäuser, die so oft als Kulisse von kitschigen Fernsehverfilmungen herhalten mussten. Und Ryan liebte sie! Er hatte sich inzwischen so viele davon ansehen müssen, dass er den Plot nach einer Viertelstunde vorhersagen konnte. Auch gut. Dann konnte er sich darauf konzentrieren, sich an seinen Freund zu kuscheln, während dieser mit dem Liebespaar mitfieberte und ihm immer wieder glauben machen wollte, dass es in England tatsächlich so viele sonnige Tage gab. Leider war er gerade mal wieder in seiner regnerischen Heimat. Kaum zu glauben, dass er ihm nach eineinhalb Wochen bereits so fehlte. Immerhin hatte ein Großteil seiner Beziehungen gerade mal so lange gehalten! Nachdem er den Taxifahrer bezahlt hatte, schnappte er sich seinen kleinen Koffer und machte sich auf den Weg zur Rezeption. Der ältere Herr dahinter war vertieft in einen Krimi und sah erst auf, als Chef sich einmal vernehmlich räusperte. Schnell sprang er auf und sie regelten alle notwendigen Formalien. Zum Schluss bekam er einen wuchtigen Zimmerschlüssel und eine wage Wegbeschreibung, die sich jedoch als ausreichend erwies. Er nahm sich nicht wirklich die Zeit, das Zimmer zu bewundern, sondern zog sich einfach schnell aus und schlüpfte unter die warme Bettdecke. Mit bereits geschlossenen Augen huschten seine Gedanken wieder zu Ryan. Sie waren bereits mehrere Monate zusammen – seine bisher längste Beziehung, wenn er sich recht besann – und immer noch schwebte er auf Wolke sieben. Kaum zu glauben, dass sie sich gefunden hatten. Schließlich hatte er ihn am Anfang wegen seiner äußeren Erscheinung einfach ignorieren wollen, doch Ryan hatte nicht locker gelassen. Sah man von seiner Hartnäckigkeit ab, hatte er ein eher sanftes Gemüt – außer in geschäftlichen Verhandlungen – und schenkte ihm so viel Liebe und Zuneigung, dass er sich an manchen Tagen wie berauscht fühlte. Vielleicht sollten sie sich bald mal einen gemeinsamen Urlaub gönnen. Nur sie zwei. Seinetwegen auch an einem Ort, der einem Kitschroman entsprungen zu sein schien. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief er ein. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war es immer noch dunkel im Zimmer, obwohl seine Armbanduhr irgendetwas von neun Uhr behauptete. Das konnten sie alle behaupten. Aber er fühlte sich ausgeschlafen, trotz des langen Fluges. Seltsam. Nach einigem Tasten fand er den Lichtschalter der Nachttischlampe und sah sich, sobald sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, im Zimmer um. Oh ja, er war geradewegs in der Kulisse eines Kitschfilms gelandet. Aber eigentlich sah das alles ziemlich gemütlich und stilvoll aus. Ein plüschiges Sofa. Neben dem massiven Holzschrank gab es auch noch eine Kommode aus dazu passendem dunklen Holz und … Vorhänge! Die waren ihm am Vorabend aber noch nicht aufgefallen. Mal schauen wie die Welt da draußen aussah. Erstens war sie ganz schön hell, als er den schweren Stoff etwas zur Seite schob. Der Himmel war strahlend blau und klar und bildete einen gelungenen Kontrast zum Grün des weitläufigen Gartens, in dem sich auch Gäste aufhalten durften, wie der Portier ihm erklärt hatte. Er hatte ihm doch aber noch was gesagt. War da nicht was mit „Bitte seien Sie zum Frühstück spätestens um halb zehn im Wintergarten“? Zweitens lag dieses Glasgebilde direkt unter seinem Zimmer. Drittens war es inzwischen... er schluckte und legte den Turbogang ein. 9.20Uhr! Schnell kramte er aus dem Koffer ein paar frische Sachen hervor, spurtete ins Badezimmer, klatschte sich eine Hand voll Wasser ins Gesicht, benutzte Deo, zog sich an und bändigte gerade noch ausreichend seine Haare. Dann schoss er aus dem Zimmer, vergaß beinahe noch abzuschließen und wechselte erst wenige Meter vor dem Durchgang zum Wintergarten in eine ruhigere Gangart, die er oft bei Gästen in Hotels gesehen hatte, die wie selbstverständlich erst auf den letzten Drücker erschienen. Das Frühstück war die kurze Hektik auf jeden Fall wert gewesen. Er hatte deftig begonnen und sich zu süß vorgearbeitet am noch aufgebauten Buffet. Etwas zusätzliche Energie konnte er immerhin gut gebrauchen. Wer wusste schon wie groß der „Garten“ war und wann und wo er diesem Matthew über den Weg laufen würde. Nach Möglichkeit wollte er es vermeiden, das restliche Hotelpersonal nach ihm zu fragen. Was sollte er denn auch schon antworten, wenn sie ihn nach seinen Gründen fragten. „Entschuldigung, aber ich würde ihnen gerne ihren fantastischen Gärtner abwerben?“ Wohl eher nicht. Der Rasen war dicht und kurz geschnitten. Also lief er größtenteils auf ihm. Wege gab es eh nicht so viele. Gerade blieb er stehen, um sich ein Beet mit Stauden genauer anzusehen, als ihn eine tiefe, brummende Stimme ansprach: „Entschuldigung? Könnten Sie mir bitte kurz die kleine Schaufel reichen, die neben ihrem linken Fuß liegt?“ „Ja, natürlich.“ Brav hob er die Schaufel auf und sah sich dann nach demjenigen um, der ihn darum gebeten hatte. Einen halben Meter vor ihm zwischen den Pflanzen wurde er fündig. Dankbar nahm der Mann das Utensil entgegen und schippte die Erde um eine neue Pflanze in das Loch zurück. Fasziniert beobachtete Chef, mit welcher Geduld er dabei vorging. Aber eigentlich arbeite er schnell und effektiv. Danach kam er hoch und nahm sich eine Gießkanne, die bereits auf seiner Seite des Beets stand und schwemmte die Erde richtig ein. „Vielen Dank, nochmal. Sind Sie Gast im Hotel?“ „Ja. Gestern angekommen.“ Ihn verwunderte die Frage etwas. Er war doch hoffentlich nicht aus Versehen in irgendeinen Privatpark eingebrochen. Das wäre dann nämlich ziemlich peinlich für ihn. „Erstaunlich.“ Der Grizzly – das war Chefs erste Assoziation – packte seine Sachen in die in der Nähe stehende Schubkarre. „Normalerweise verirren die sich nicht soweit in den Garten.“ „Das ist aber schade. Dieser Teil ist doch wirklich schön.“ „Da sind Sie mit ihrer Meinung aber allein unter Ihresgleichen.“ Kurz zögerte er. „Ich bin im Übringen Matt. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen noch ein bisschen mehr vom Garten zeigen und ein wenig erklären. Hab jetzt eh Mittagspause.“ Damit nahm er sich aus der Schubkarre mehrere in Papier gewickelte Brote. „Gerne. Chef.“ Sie schüttelten sich kurz die Hände. Es schien Matt zu gefallen, dass er nicht zögerte, obwohl die Hände des Gärtners noch leicht erdig waren, selbst nachdem er seine Arbeitshandschuhe ausgezogen hatte. „Chef?“ „Kurzform für Joseph“, erklärte er kurz. Doch die erwartete erstaunte Antwort blieb aus und wurde ersetzt von den ersten Erklärungen zu den Bäumen, auf die sie nun langsam zu schlenderten. Danach folgten noch mehrere Beete, ein Gewächshaus mit eigener Aufzucht von Setzlingen, mit denen sich aber eher Matts Kollegen beschäftigten. Und eigentlich konnte so lang keine Mittagspause der Welt dauern. Schließlich standen sie wieder bei der Schubkarre und reichten sich zum Abschied wieder die Hände. Chef hatte einen Tipp bekommen für einen Pub in der nahegelegenen Ortschaft und würde wohl dort sich etwas Essbares beschaffen. „Also dann. Ich wünsche Ihnen noch ein paar angenehme Tage bei uns“, wünschte Matt, während er in seine Handschuhe schlüpfte. „Die werde ich hoffentlich haben. Auch wenn der Zweck meiner Reise schon erreicht ist.“ Chef holte sein Kärtchen aus der Hosentasche hervor. „Ich suche für mein neugegründetes Hotel in Japan einen Gärtner und jemanden, der sich allgemein um den Haushalt und die Räume der Gäste kümmern könnte. Das wären aber natürlich zwei Stellen. Martine hat Sie mir empfohlen, weswegen ich mich freuen würde, von Ihnen zu hören.“ Verdattert nahm Matt die Visitenkarte entgegen und meinte nur: „Ich werd's mir durch den Kopf gehen lassen.“ Nervös betrat Chef am nächsten Tag den Pub, in dem er wirklich vorzüglich gegessen hatte. Matt verstand anscheinend nicht nur einiges von Pflanzen, sondern auch von gutem Essen. Suchend blickte er sich um und entdeckte ihn zusammen mit einem ebenfalls nicht gerade zierlichen Rothaarigen in einer der hinteren Ecken. Er hatte ihn am Morgen angerufen und für mittags hierher bestellt, um etwas mehr über die ihm angebotene Stelle zu erfahren. „Hallo“, gesellte er sich zu den beiden und nahm Platz. „Hallo“, grüßte Matt zurück und stellte die zwei sich Unbekannten vor. „Das hier ist Cian. Er interessiert sich für die zweite Stelle. Und das hier ist Joseph.“ „Chef“, korrigierte er, während er in Cians angebotene Hand einschlug. „Also. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen.“ „Kein Problem. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass Sie der Grund sind, weswegen ich hier bin.“ Eine Kellnerin kam, nahm seine Bestellung auf und verschwand wieder. „Um es kurz zu machen. Prinzipiell wären wir nicht abgeneigt, ihr Angebot anzunehmen. Allerdings hätten wir da noch ein paar Fragen. Erstens...“ „Wie stehen Sie dazu, wenn es bereits bestehende Beziehungen zwischen Ihren Angestellten gibt?“, wurde Matt fließend unterbrochen. „Cian!“, zischte dieser. „Wir waren uns doch einig, das Thema erst ganz am Ende anzusprechen!“ „Du warst dir einig. Ich finde das einen ziemlich wichtigen Punkt. Schließlich hast du mich unter anderem damit geködert, dass ich mich dann nicht mehr wegen meiner sexuellen Orientierung von meinem Boss nieder machen lassen muss.“ Chef wollte gerade nachfragen, ob er sich kurz vom Tisch entfernen sollte, als er bemerkte, worüber die zwei gerade, wenn auch sehr leise, stritten. „Sie beide sind schwul?“ Mit einigem Zögern nickten die zwei. „Und in einer Beziehung?“ Wieder wurde zweimal genickt. „Wie lange schon?“ „Über zehn Jahre“, antwortete Cian für sie beide. „Respekt! Ich bin schon stolz auf die paar Monate, die ich jetzt mit meinem Freund zusammen bin. Aber über zehn Jahre ist schon ein Wort.“ Verblüfft starrten die beiden ihn an. „Sie sind auch...?“ „Jein. Eigentlich bi. Aber lassen wir das Thema. Der Kernpunkt ist, dass ich kein Problem mit Ihrer Beziehung haben werde, wenn Sie für mich arbeiten. Obwohl ich genau so was natürlich vermeiden wollte. Aber wenn Sie beide mir versprechen, dass sich ihre Beziehung in keinster Weise auf ihre Arbeit auswirkt, dürfte es eigentlich nichts machen.“ Die Kellnerin kam mit der Bestellung zurück. „Was ist? Wieso schauen Sie mich so ungläubig an?“, fragte er, als die junge Frau außer Hörweite war. „Wir sind einfach nicht so viel Toleranz gewohnt“, brachte es Matt auf den Punkt. „Nach unserem Wissensstand sind wir im Umkreis von 10 Kilometern die einzigen Schwulen und entsprechend niedrig ist die Akzeptanz der restlichen Bevölkerung.“ Das wiederum erstaunte nun wiederum Chef. Nach einigen Minuten, in denen sie schweigend etwas tranken, wollte er wissen: „Das war also erstens. Was war zweitens?“ „Ob Sie mit „Martine“ Martine Pegasus meinen. Dann hat sie mich nämlich bestimmt mit „Matthew“ betitelt“, erwiderte Matt. „Ja und Ja. Meine Tante hat Sie beim vollständigen Vornamen erwähnt.“ Matt brauchte nur einen kurzen Moment, dann hakte er nach: „Sie sind Max' Adoptivsohn?“ „Ja. Der bin ich.“ Wer zum Teufel traute sich Pegasus so zu nennen? Plötzlich wurde er schwungvoll mit einer Umarmung quer über den Tisch gezogen. „Wieso sagen Sie das nicht gleich! Dann ist alles geklärt. Wir nehmen die Stellen!“ Erst im Laufe der nächsten halben Stunde setzte sich das Bild für ihn etwas klarer zusammen. Seine Tante war vielleicht eine! Aber er hatte die feste Zusage und damit sein Team vollständig besetzt. Außerdem schienen Matt und Cian wirklich glücklich von der Westküste der USA wegzukommen. Bevor er klingelte, versteckte der Junge noch schnell beide Skateboards in den Büschen. Zwar war diese Vorsichtsmaßnahme unnötig gewesen, denn statt der Mutter, öffnete die Haushälterin, aber man konnte ja nie wissen. „Hallo, Matt. Was kann ich für dich tun?“, fragte die alte Dame freundlich. „Ist Max schon mit den Hausaufgaben fertig und kann zum Spielen rauskommen?“ „Fertig schon, aber er hat gerade noch Geigenunterricht. Aber Martine ist im Spielzimmer. Vielleicht kannst du ja solange bei ihr vorbei schauen. Sie freut sich bestimmt. Du kennst ja den Weg.“ Eilig hechtete er die Stufen hoch und in den angegebenen Raum, nachdem er sich kurz bedankt hatte. Die Frau war wirklich nett und machte traumhafte Blaubeermuffins. „Salut, Martine“, sagte er sanft, als er in den großen Raum neben dem Wohnzimmer, aus dem ganz klägliche Geräusche drangen, trat. Die Fünfjährige sah auf und strahlte ihn an dann an. „Bonjour, Matt!“, rannte sie auf ihn zu. Seit ihrer Geburt hatte er die Erlaubnis ihrer Eltern mit ihr Französisch zu sprechen, was sich darin bezahlt machte, dass sie bereits jetzt besser sprach als ihr großer Bruder. „Ich dachte ich schau mal vorbei – solange dein Bruder nebenan noch die Katze quält. Was spielst du gerade Schönes?“ Zwanzig Minuten später kam ihr Bruder herein, völlig fertig und trotzdem breit grinsend, als er den Nachbarsjungen sah, wie er geduldig bei seiner kleinen Schwester am Kaufmannsladen einkaufte. „Bin endlich fertig mit Geigen für heute!“, schnaufte er. „Martine, für mich ein großes Glas Milch.“ „Hab nur Flaschen, Lion. Und du hast vergessen bitte zu sagen!“ Frech streckte sie ihm die Zunge raus. „Dann eben eine Flasche. Bitte.“ Wenn man sie so nebeneinander sah, war ihre Verwandtschaft nicht zu leugnen. Sie war eindeutig eine jüngere Ausgabe von ihm – zumindest äußerlich. Matt blieb noch die fünf Minuten bei Martine, die Max brauchte um sich seine bereits zerschlissene Hose anzuziehen - als er das erste Mal vom Skaten nach Hause gekommen war, hatte seine Mutter einen Tobsuchtsanfall gehabt – und schnappte sich dann draußen mit ihm die Bretter. „An was denkst du?“, fragte Cian, während er Matt sanft zur Seite schob, damit er auch Platz im Bett hatte. „An nichts Bestimmtes. Nur ein wenig zurück an Kanada.“ „Für dich hoffe ich, dass du nicht an den Typen denkst, der dir in der High School den Kopf verdreht hat!“ Mittlerweile lag er neben ihm und forderte nun eher kuschelnd seine Hälfte der Matratze ein. „Nö, an die Familie die früher bei uns in der Nachbarschaft gewohnt hat. Die, bei denen ich mich im Garten austoben durfte. Du weißt schon. Die mit dem Jungen, dem ich Skateboard und Rollschuhfahren beigebracht habe, und dem Mädchen, das dank mir heute besser in Französisch fluchen kann als so mancher Muttersprachler.“ „Ach, die. Dann weiß ich's tatsächlich schon. Nacht.“ „Nacht.“ Kapitel 12: Montag 23.3. ------------------------ Gut gelaunt schlenderte Chef die Gänge seiner alten Schule entlang. Martine hatte frühmorgens die Wohnung verlassen und ihm neben dem bereits gerichteten Frühstück einen Zettel hingelegt, auf dem sie ihm mitteilte, dass sie den ganzen Tag arbeiten würde. Er hatte also tatsächlich frei. Mehr oder minder. Noch am Freitag hatte er im Sekretariat angerufen und um einen Termin gebeten. Es war höchste Zeit, dass … „Kann ich Ihnen helfen?“ Verblüfft sah er auf und musste sich dann ein Grinsen verkneifen. Dass er das noch erleben durfte! Sein alter Mathelehrer siezte ihn höflich. „Nein danke. Ich habe in zehn Minuten einen Termin hier. Aber keine Angst. Ich kenne den Weg“, lächelte er höflich. Der alte Mann ihm gegenüber kniff die Augen zusammen als überlegte er, ob Chef ein ehemaliger Schüler sein könnte. „Sie unterrichten hier Mathematik, oder?“ „Ja... Woher wissen Sie das?“ „Einer meiner Schützlinge hat mir von Ihnen erzählt. Sie sollen ja ziemlich streng sein und immer darauf achten, dass alle ihre Hausaufgaben haben.“ „Als streng würde ich mich nicht gerade bezeichnen. Ich achte nur darauf, dass meine Schüler die nötige Übung erhalten. Was genau machen Sie eigentlich beruflich?“ Offensichtlich war seine Neugier geweckt. „Ich bin Hotelier und stimme Ihnen im Übrigen zu. Übung ist das A und O in der Mathematik. Besonders bei Belegungsprognosen für Hotels.“ Ausschweifend fing er an zu erklären, wie er bei diesen vorging und wie das Zusammenspiel der einzelnen Parameter funktionierten. Zufrieden stellte er fest, dass er den Lehrer nach gut einer Minute bereits abgehängt hatte, obwohl das nicht mal so oberhalb des Niveaus der oberen Jahrgänge sein konnte. Mit einem gespielt entsetzten Blick auf die Uhr, verabschiedete er sich schließlich. „Ich möchten Ihnen ja nicht noch mehr, von Ihrer kostbaren Zeit rauben.“ Mit sich und der Welt zufrieden ging er weiter durch die immer noch leeren Gänge. Es war gerade Unterricht und noch früh genug am Tag, dass nicht bereits die ersten Raufbolde vor der Tür standen. Er wollte es sich kaum selbst eingestehen, aber irgendwie freute er sich auf seinen Termin und das ihm so wohl vertraute Zimmer zu betreten. Immerhin war es jetzt fast acht Jahre her, dass er dort Stammgast war. „Und noch einmal vielen Dank für Ihre letzte Spende, Herr Kaiba. Durch sie konnten wir neue Atlanten für die Unterstufe besorgen.“ Innerlich langweilte sich Seto gerade zu Tode, doch hätte es seltsam ausgesehen, wenn er nach seinem Schulabschluss nicht weiter ab und zu etwas Geld fließen lassen würde. Schließlich handelte es sich nicht wirklich um große Summen. Da gab er für anderes deutlich mehr aus. Leider bedeuteten diese kleinen Spenden aber auch, dass er sich ein paar Mal bei der Direktorin einfinden musste, um sich ihre Lobeshymnen auf seine Großzügigkeit anzuhören. Aber lieber so, als in aller Öffentlichkeit. Als es an der Tür klopfte, machte er sich nicht die Mühe den Kopf umzudrehen. „Ihr nächster Termin wäre da“, informierte die Sekretärin und ließ gleich die Tür offen. In der Mine der Direktorin sah Seto, dass ihr nächster „Termin“ von ihr wohl sehr gerne gesehen wurde. Ein wenig interessierte es ihn schon, wer da nun eintrat, aber seine Art verbot es ihm nachzuschauen. Schließlich war er noch immer derjenige auf dem einzigen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs und der andere nur ein Störenfried, der wohl etwas zu früh gekommen war. Wann kapierten die Leute endlich, dass es zur Pünktlichkeit auch gehörte, nicht mehr als fünf Minuten zu früh zu einem Termin zu erscheinen? „Herr Pegasus“, die Direktorin war sogar aufgestanden und um ihren Tisch herumgegangen, um ihn zu begrüßen – etwas, das sie für Seto nie tat. „Wie schön, dass Sie es einrichten konnten.“ „Natürlich. Für Sie doch immer. Aber hatte ich Ihnen nicht bereits beim letzten Mal gesagt, dass Sie mich bitte beim Vornamen anreden sollen? Herr Pegasus ist mein Vater und es kommt mir immer etwas seltsam vor, wenn ich mit seinem Namen angesprochen werde.“ Nun zwang sich Seto sitzen zu bleiben und dabei weiterhin geradeaus zu schauen. Was machte ausgerechnet sein Hündchen hier und schäkerte zudem so vertraut mit der Frau, die ihm früher in regelmäßigen Abständen den Kopf abgerissen hatte? Die Direktorin nahm wieder Platz. „Ich gehe davon aus, dass Sie sich immer noch kennen“, stellte sie trocken fest. „Ja. Das tun wir. Wir hatten erst neulich die Gelegenheit unsere Bekanntschaft etwas aufzufrischen.“ Seit wann konnte er so ruhig bleiben, wenn es um ihn ging? Und sich so ausdrücken? Die Gewissheit, dass Wheeler direkt neben ihm stand, ließ die ganze Szene um einiges surrealer wirken als sie ohnehin bereits war. Die Direktorin nickte nur. „Aber ich will Sie auch nicht länger stören. Eigentlich wollte ich nur kurz die Unterlagen für die diesjährigen Bewerber abholen.“ „Natürlich.“ Jetzt fing sie an auf ihrem Schreibtisch in einem Stapel zu stöbern und erklärte für Seto: „Wissen Sie, Herr Kaiba, Joseph hat vor ein paar Jahren ein Stipendium zur Förderung von Schülern aus den unteren sozialen Schichten ins Leben gerufen, um denen, die auf Grund ihrer Herkunft nicht ihr volles Potential entfalten können, dennoch einen guten Abschluss zu ermöglichen. Mittlerweile studieren die ersten aus diesem Projekt bereits an Top-Unis. Hier, bitte.“ Sie reichte Chef eine dicke Mappe und überging dabei gekonnt Setos erstaunten Blick. „Vielen Dank. Dann mach ich mich mal wieder auf den Weg und störe nicht länger. Vielleicht das nächste Mal etwas länger?“ Sie nickte nur und wandte sich dann wieder ihrem anderen Besucher zu: „Haben Sie noch Fragen oder Wünsche?“ Energisch schüttelte Seto den Kopf und verabschiedete sich so schnell wie möglich. Im Sekretariat sah er gerade noch die Tür zum Flur zufallen und bemerkte, wie die Sekretärin fröhlich vor sich hinsummte. Seit wann war diese Frau denn so gut gelaunt? Normalerweise war sie wie Zerberus. Mit einem kurzen Gruß trat er auf den Flur und erblickte kurz vor der nächsten Ecke einen blonden Haarschopf. „Chef! Warten Sie!“, rief er und rannte die wenigen Schritte zu ihm, während dieser sich gelassen auf dem Absatz umdrehte. „Ja, bitte?“ „Hätten Sie vielleicht noch etwas Zeit für mich?“ „Und weswegen?“ Abschätzend legte Chef den Kopf leicht schief, als müsse er sich ganz genau überlegen, ob er es einrichten könnte. „Sie hatten mir doch am Samstag angeboten, noch etwas zu reden.“ Was zum Teufel war mit seiner Stimme plötzlich los, dass er so nervös klang? Als nächstes würde er noch schwitzige Hände und einen roten Kopf bekommen! „Hatte ich tatsächlich. Jedoch“, machte Chef eine Pause und sah ihn durchdringend an, „sollten Sie vorher noch eine Schuld einlösen. Sie haben sich letzten Monat um das Singen gedrückt. Also … Sie singen mir etwas vor und erhalten dafür ihr Gespräch.“ Seit wann verhandelte Wheeler bitteschön mit so harten Bandagen? Zugegebenermaßen hatte er während ihrer Schulzeit nie am längeren Hebel gesessen, aber selbst wenn hätte Seto ihm nie im Leben zugetraut, mit so einem Vorschlag zu kommen. Als ob er singen würde! Noch dafür für... sein Hündchen. Have you come here for forgiveness? Sein Hündchen, für das er sogar Valentinsschokolade besorgt hatte. Your life is a dream. Das so wunderbar gesungen hatte. „Meinetwegen. Allerdings nicht in aller Öffentlichkeit und Sie singen im Gegenzug auch für mich.“ Auffordernd hielt Seto ihm die Hand hin. Augenblicklich schlug der andere ein und drehte sich dann wieder um, gab ihm ein Zeichen, ihm zu folgen. Schweigend verließen sie das Gebäude und den leeren Schulhof, auf dem es in der nahen Mittagspause nur so vor Schülern wimmeln würde. Seto versuchte auf gleicher Höhe wie Chef zu gehen, hatte aber keine Ahnung, wohin er mit ihm wollte und fiel daher ab und zu zurück. Dass sie keine fünf Minuten später eine Karaokebar betraten, überraschte in dann aber doch. Während er sich noch neugierig im Eingangsbereich verstohlen umsah – immerhin musste er an seinen Ruf denken – wurde ein Raum organisiert. Unsicher ging er hinter Chef und einem Angestellten der Bar einen langen Flur entlang, dem etwas mehr Beleuchtung gut getan hätte. Immerhin sah es in dem kleinen Raum sauber aus, in den sie geführt wurden. Auf Raumesbreite eine dunkle gepolsterte Bank, davor ein Tischchen, auf dem die Steuereinheit für die Karaokemaschine lag. Er wollte sich schon hinsetzen, doch Chef der seinen ausgezogenen Mantel neben sich ausbreitete, machte ihm unmissverständlich klar, dass er stehen bleiben sollte. „Wissen Sie schon, was Sie singen wollen?“ Er reichte ihm das Tablet, wobei er ihn herausfordernd ansah. Auch früher hatte er immer versucht ihn herauszufordern, doch war er damals nicht wirklich ernst zu nehmen gewesen. Doch mittlerweile? Diese Selbstverständlichkeit, mit der er Seto klar machte, wie er sich zu verhalten hatte. Dieses Selbstbewusstsein. Schnell überflog er die Titel und musste feststellen, dass er nicht einmal annähernd die Hälfte davon kannte. Endlich stieß er auf eines, von dem er sich halbwegs zutraute, es zu singen und dabei nicht den gesamten Text ablesen zu müssen. Beim Auswählen zitterten leicht seine Hände. Dann legte er das Tablet auf den Tisch zurück und vermied es Chef ins Gesicht zu sehen, als er von ihm das Mikro entgegen nahm. Die ersten Töne der Musik erklangen aus den versteckten Boxen und er holte ein letztes Mal tief Luft. Während der ersten Strophe starrte er stur auf die gegenüberliegende Wand. Erst mit dem Refrain traute er sich einen Blick zu Chef zu werfen. Ein fataler Fehler, denn er konnte sich nicht mehr von diesen dunkelbraunen Augen lösen. „I want to reconcile the violence in your heart  I want to recognize your beauty's not just a mask  I want to exorcise the demons from your past  I want to satisfy the undisclosed desires in your heart  You trick your lovers  That you're wicked and divine  You may be a sinner  But your innocence is mine“ Wie es ihm gelang, das Lied ohne größere Fehler zu Ende zu singen blieb ihm ein Rätsel. Sein einziger Trost blieb, dass sich Chef nun bewegte und so denn Bann brach. Leider kam er jetzt dafür auf ihn zu wie eine Raubkatze, die sich an ihre Beute heranpirscht. Seinem Instinkt folgend wich Seto einen Schritt nach hinten zurück, und noch einen. Nach vier weiteren spürte er bereits die Wand in seinem Rücken. „Du willst also mein Verlangen stillen“, flüsterte Chef, während er seine Unterarme neben Setos Kopf platzierte. „Und glaubst zu wissen, wie ich mit meinen Liebhabern umgehe. Interessant.“ Setos Atem ging flach und er war kurz davor panisch zu werden. „Vielleicht sollte ich mir aber zunächst meine Unschuld von dir zurück holen, bevor du dich mit den Dämonen meiner Vergangenheit auseinandersetzt?“ Ohne weitere Vorwarnung wurde er gegen die Wand gedrückt und jeglicher Protest mit einem leidenschaftlichen Kuss im Keim erstickt. Bald wusste Seto nicht mehr wo oben und unten war. Er spürte nur noch die Hand in seinem Nacken, die ihn halb näher drückte, halb sich in seine Haare krallte, die weichen Lippen des anderen und die enorme Hitze, die er abstrahlte. Seine Lippen boten keine Widerstand und auch wenn seine Zunge versuchte sich zu wehren, wurde sie ziemlich schnell in ihre Schranken verwiesen. Doch als schlimm empfand er diesen Kontrollverlust nicht. Ganz im Gegenteil. Es berauschte ihn, sich einfach fallen lassen zu können. Nach dem ersten Schock legte er beide Arme auf den Rücken des Größeren. Mit dem Rechten versuchte er seinerseits den fremden Kopf näher zu sich zu ziehen, mit dem Linken versuchte er die restliche Distanz zwischen ihren Körpern zu reduzieren. „Was wärst du bereit zu tun, um mein Verlangen zu stillen?“, wurde gegen seine Lippen geflüstert. Entsetzt riss er die Augen auf. Er hatte in keinster Weise eine Antwort auf diese Frage. Würde er eine haben wollen, musste er denken, doch das fiel ihm momentan so schwer. Also schloss er einfach wieder die Augen und überbrückte die wenigen Zentimeter, die zwischen einem weiteren Kuss lagen. Allmählich registrierte er, dass nun auch die zweite Hand aktiv wurde und ziemlich fordernd alles erkundete, an das sie nur irgendwie herankam. Sein Körper gab ihm die Eingebung, dass er sich doch leicht an dem anderen reiben könnte, aber dann erklang eine Alarmsirene. Verwirrt blinzelte Seto und fröstelte. Sein Atem ging immer noch schwer und er versuchte verzweifelt seinen Verstand so weit klar zu bekommen, dass er die Situation erfassen konnte. Chef war zu seinem Mantel gestürmt und hatte aus einer der Innentasche ein Smartphone zu Tage gefördert. „Bin schon unterwegs. Keine Angst. Ich hab Euch nicht vergessen. Bin in einer halben, dreiviertel Stunde bei Euch. … Ja, ich beeil mich.“ Seto fiel die Kinnlade herunter. Wie konnte der Kerl von einem Moment auf den nächsten wieder so kühl und sachlich klingen? Klar, seine blonden Haare lagen nicht mehr ordentlich und auch seine Augen wirkten noch ein wenig verklärt, aber das war nichts zu seinem eigenen Zustand. Sein Herz raste, weil es immer noch Blut in Regionen pumpte, in die es garantiert nicht gehörte, und er war sich nicht sicher, überhaupt einen vernünftigen Satz herauszukriegen. Aber der Herr war von einem Augenblick zum anderen nüchtern. Jetzt zog er sich auch noch den Mantel an und kam einfach so wieder lässig auf ihn zu und griff nach der Türklinke unweit von Seto. „Ich muss jetzt zu einem wichtigen Termin. Aber es war nett, mit Ihnen zu … reden. Apropos. Ich soll Ihnen von Martine ausrichten, dass Sie sich schon auf Ihr Duell morgen freut. Sie erinnern sich doch noch an Ihre Verabredung, oder? Morgen 15 Uhr. Die alte Duellarena in der Nähe der Bücherei.“ Er wandte sich von ihm ab und öffnete die Tür einen Spalt breit, bevor er ihn wieder ansah. „Die Toiletten sind übrigens rechts den Gang runter, letzte Tür links. Bis morgen!“ Er besaß tatsächlich die Frechheit sich einen letzten Kuss zu stehlen und war dann verschwunden, während sich Seto gegen die Wand sinken und das Geschehene Revue passieren ließ. Wobei er das besser nicht machte. Er brauchte dringend einen klaren Kopf, schließlich musste er noch in die Firma und ein paar Stunden arbeiten. Ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr. Wie spät sollte es schon sein?! Schnell verließ er den Raum, machte jedoch einen Umweg zu den Toiletten, wo er versuchte sich mit einer Menge kalten Wassers irgendwie wieder in einen vorzeigbaren Zustand zu bringen und rief von dort auch gleich Roland an. Also arbeiten, jedoch nur bis abends. Er hielt zwar diese Martine nicht für einen ernstzunehmenden Gegner, aber ein wenig Vorbereitung konnte ja nie schaden. „Wo hast du so lange gesteckt?“, fragte ihn Ricky vorwurfsvoll, als er ziemlich abgehetzt in die 4-Zimmer-Wohnung trat. Immer noch leicht keuchend, zog er seinen Mantel aus und entgegnete: „Wurde aufgehalten. Geschäftlich. Ein Gast von letztem Monat. Ich hoffe, ihr habt wenigstens die Wartezeit genutzt und bereits die Hausaufgaben erledigt.“ „Natürlich, wo denkst du denn hin, Joey?“, kam es von Nino, der sich auf dem Sofa fläzte und in einem zerfledderten Büchlein Notizen mit Bleistift machte. „Aber wenn du schon mal da bist... Was heißt 'bumlicker'? Unser Englischlehrer lässt uns dieses bescheuerte Buch lesen, sieht's dann aber nicht ein, uns die Vokabeln zu erklären, die wir nicht kennen – und im Wörterbuch stand auch nichts.“ „Arschkriecher.“ „Hey, bin ich nicht!“ Nino kam protestierend auf die Beine. „Nein, nicht du. Natürlich nicht! Du bist ja beinahe noch ehrlicher als ich damals in der Schule! Nein, die Vokabel bedeutet das“, entschärfte Chef sofort die Situation. „Ist der Rest auch da?“ „Nope“, erklärte Liz, strich sich eine der bunt gefärbten Strähnen aus der Stirn und drückte ihm ein Glas Wasser in die Hand. „Alle unterwegs. Bye the way. Nick schläft jetzt wieder mehr zu Hause. Scheint sich also wieder alles eingerenkt zu haben bei ihm. Und Grüße von Izu – der war vorletztes Wochenende mal hier und hat von seinem Medizinstudium erzählt. Muss echt heftig sein, was er da alles pauken muss.“ Sie schob Ninos Beine zur Seite, der sich wieder auf dem Sofa breit gemacht hatte und setzte sich. „Aber egal. Jetzt sag schon endlich. Hast du die Unterlagen?“ „Welche Unterlagen?“ Chef spielte den Unwissenden und machte es sich auf einem dunkelroten Sitzsack bequem. „Die Unterlagen, die du an mir vorbei hier rein schmuggeln wolltest“, half ihm Ricky auf die Sprünge. „Ernsthaft. Das hast du schon früher nicht hinbekommen.“ „Ja. Und immer musste ich dann meine Süßigkeiten mit dir teilen, Kleiner.“ „Selbst schuld.“ „Also was ist jetzt? Ich platze schon vor Neugier! Wen hat die Alte diesmal als würdig empfunden, bald zu unserem elitären Kreis zu gehören?“ Chef warf Liz einen tadelnden Blick zu, reichte ihr dann aber ohne weiteren Kommentar die Akten, die er erst vor ein paar Stunden bei der „Alten“ - er musste ernsthaft noch mal ein Wörtchen bei ihr über die Betitelung von Respektpersonen verlieren – abgeholt hatte. „Den kannst du vergessen“, meinte Nino schlicht. „Der ist wirklich einfach nur faul. Außerdem verdiene seine Eltern nicht wirklich schlecht. Aber die hier, wäre interessant.“ „Nino!“ Ricky schien die Truppe wirklich zusammenzuhalten und im Griff zu haben. Kaum zu glauben, dass der kleine Rabauke dieses Jahr schon mit der Schule fertig sein würde. „Was?! Ich mein nicht für mich, sondern allgemein. Hier, für's Projekt. Glaubt mir, die ist nicht freiwillig so rappeldürr! Außerdem hatte sie laut einer Mitschülerin bis vor zwei Jahren noch ziemlich gute Noten.“ In diesem Stil diskutierten sie weiter und hatten sich nach mehreren Stunden auf drei Kandidaten geeinigt, mit denen Ricky in den nächsten Tagen sprechen würde. Dann machten sie selbst Pizza und quatschten noch eine Weile ein bisschen. Als Chef endlich ging, war es draußen schon dunkel. Ricky wohnte bereits dauerhaft hier – mittlerweile quasi als Aufpasser - und brachte ihn an die Tür, während sich Liz und Nino um den Platz auf dem Sofa stritten. „Lass dich das nächste Mal etwas früher blicken, Joey.“ „Ich versuch's“, versprach er, die Umarmung zum Abschied erwidernd. „Aber wie ich sehe hast du den Laden ganz gut unter Kontrolle.“ „Aber nur, weil ich jemand hatte, der mich unter Kontrolle gebracht hat. Danke nochmal.“ „Da nicht für, Kumpel.“ Er verließ den eher ärmlichen Teil Dominos, in dem er den Jugendlichen einen Rückzugsort geschaffen hatte. Natürlich wäre es für ihn mittlerweile ein Leichtes, eine Wohnung in einer besseren Gegend zu organisieren, aber als er ihnen einen Umzug vorgeschlagen hatte, hatten sie rebelliert. Zwar hätten sie so noch etwas mehr Sicherheitsabstand, aber für die meisten war die Wohnung mit ihren zwei Schlafzimmern, den Stockbetten, dem stillen Arbeitszimmer und dem lauten Wohnzimmer ein zweites zu Hause. Und wer garantierte ihnen, dass sie sich in der neuen Wohnung noch genauso wohl fühlen würden? Immerhin hatte die Stadt in den letzten Jahren angefangen auch Geld in die „Problemviertel“ zu pumpen. Der Gehweg war annähernd sauber und die Sozialbauten, an denen er auf dem Weg zurück ins Stadtzentrum vorbei musste, sahen frisch renoviert aus. Vielleicht tat sich tatsächlich langsam etwas. In der Nähe des Bahnhofs schritt er wie selbstverständlich durch die von Innen verklebte Tür eines Pubs und suchte sich einen Hocker am Tresen. Es war um die Uhrzeit noch nicht viel los und der Barkeeper nahm sich die Zeit, mit ihm über den Wandel der Stadt zu erzählen, während er die Bestellungen der anderen Gäste bearbeitete. Chef mochte diesen Laden. Er war der einzige, in dem über die Jahre hinweg die Qualität der Drinks gleich geblieben war, ohne das sich die Preise verdoppelten. Und so verbrachte er den Abend bei fantasievollen, alkoholfreien Drinks und Cocktails, machte dem ein oder anderen Typen klar, dass man hier sehr wohl auch hingehen konnte, wenn man keine zwanglose Bettgeschichte suchte – nachdrücklich unterstützt auch noch nach zehn Jahren vom Barkeeper – und schüttelte ab und zu leise über sich den Kopf, wenn er daran dachte, wie er zu seiner Schulzeit gewesen war. Kapitel 13: Wundervolle Schulzeit --------------------------------- Schlecht gelaunt stieg Seto Kaiba aus der Limousine. Er hatte die ganze Nacht durcharbeiten müssen, um mal wieder einen Bruchlandung seiner heißgeliebten Firma verhindern zu können. Er liebte sie wirklich heiß und innig. Das Einzige, dem er noch mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihr, war sein kleiner Bruder Mokuba, den er vor ein paar Minuten bei seiner Schule abgeliefert hatte. Wieso gab es in ganz Domino keine einzige, bescheuerte Gesamtschule? Auf dem Land war das Gang und Gebe und auch die meisten anderen Großstädte Japans besaßen ebenfalls diese Errungenschaft zur Unterstützung moderner Familien. Ginge Mokuba nämlich nicht auf eine andere Schule, würde er morgens wertvolle Minuten sparen, die er an Tagen wie diesen vielleicht sogar in seinen Schlaf investiert hätte. Er hatte bereits jetzt drei doppelte Espressi intus, die auch nur deswegen so gut wirkten, weil er es vorzog vor dem Mittagessen keine feste Nahrung zu sich zu nehmen – oder Nahrung generell. Und wegen diesen unfähigen Vollidioten, mit denen er die unteren Ränge der Führungsetagen der Kaiba Corp besetzt hatte, fehlten ihm jetzt entscheidende drei Stunden Schlaf. Natürlich war es für ihn ein Leichtes die Nächte durchzuarbeiten oder nur mit vier Stunden Schlaf auszukommen, doch sollte das für gewöhnlich nicht in einer Woche gleichzeitig passieren. Nur wegen dieser bescheuerten Schlupflicht – und weil er Mokuba ein Vorbild sein wollte und als solches schwänzte man eben einfach nicht, nur um ein geringes Schlafdefizit aufzuholen – ging ihm jeden Tag kostbare Arbeitszeit verloren. Natürlich arbeitete er während der Stunden, aber diese inkompetenten Lehrer verlangten doch ernsthaft, dass er die Hausaufgaben machte! Was dachten die Bitteschön, weswegen er trotz seines Intellekts zwei Jahre unter seinem eigenen Niveau sein schulisches Dasein fristete? Auf dem Weg zum Klassenzimmer blickte er genervt auf die Uhr. Er hatte noch eine halbe Stunde bis Unterrichtbeginn. Jeder normale Schüler hätte es sich auf seinem Sitz gemütlich gemacht und noch so lange die Augen geschlossen, bis ihn der Lehrer mehr oder minder sanft durch laute Namensnennung weckte. Doch er war nicht normal! Äh, kein normaler Schüler. Ein Kaiba schlief nicht einfach so in der Schule. Und selbst wenn er es gelegentlich täte, war es klüger, sich nicht dabei erwischen, nein, entdecken zu lassen. Aber leider wusste er genau, dass die ersten seiner Klassenkameraden bereits in fünf Minuten den Raum betreten würden. Zum Durchstehen des Tages brauchte er aber auf jeden Fall mehr. Oder seine Geheimwaffe. Mal sehen wann sie an diesem Tag auftauchen würde. Zwar schien da jemand pünktlicher zu werden, doch selten reichte es zu einem Termin vor dem Gong. Er konnte nur für den Köter hoffen, dass er heute ausnahmsweise rechtzeitig erscheinen würde. Schließlich brauchte sein Herrchen jemanden, an dem er seinen Stress abbauen und neue Energie tanken konnte. Als sich der Zeiger der lauten Wanduhr tickend der 12 näherte hechtete endlich ein Blondschopf in den Raum und ließ sich auf seinen Stuhl in der Mitte der Reihe nieder. Neben ihm saß Yugi, der ihm anscheinend kurz dazu gratulierte, dass er es sogar noch vor dem Lehrer in das Klassenzimmer geschafft hatte. Der Köter öffnete seinen Rucksack und begann die für den Unterricht notwendigen Utensilien hervorzuholen und er selbst saß für dieses Spektakel in der ersten Reihe, genau hinter ihm. Er wusste, dass er schon mehrmals beim Lehrer darum gebeten hatte, umgesetzt zu werden, doch er hatte es jedes Mal zu verhindern gewusst. Das schlanke, weil auf einen Kulli und einen Bleistift leere Mäppchen landete zur Krönung oben auf dem Mathebuch. Dann also. Show Time! Your words cut rather deeply They're just some other lies „Na, wurde mit dem Köter endlich rechtzeitig Gassi gegangen?“, zerstörte Mister Eisfach höchstpersönlich seine gute Laune. Joey hatte sich schon so über den Beginn einer neuen Ära gefreut, einer Ära, in der er pünktlich zum Unterricht erschien, seine Hausaufgaben immer hatte und sich sein Zeugnis nicht als Vorlage für das nächste T-Shirt für Go-Spieler hätte herhalten können. Und ja er wusste was die Worte jeweils bedeuteten, schließlich war er keineswegs so begriffsstutzig und ungebildet, wie seine Lehrer in den letzten Jahren immer geglaubt hatten. Aber nein, schon am frühen morgen musste Mister „Die Welt gehört mir und du bist auf ihr nur geduldet“ ihn bereits ernüchtern. Er war nun mal einfach kein Morgenmensch, dafür war er auch spät nachts noch top fit, was sich bei seinem neuesten Job wirklich auszahlte. Da er noch nicht reagiert hatte, holte nun Kaiba zum zweiten Schlag aus: „Ist ja wirklich erstaunlich, dass deine Schulbücher keine Bissspuren haben. Bei deren ramponierten Zustand ist das ja echt ein Wunder. Oder hast du etwa deinen Kauknochen im Ranzen versteckt für die Pause?“ Ruhig bleiben. Einfach ruhig bleiben – das zumindest hatte ihm einer seiner neuen Kollegen geraten. Einer von denen, die darauf achteten, dass er vor seiner Schicht die Hausaufgaben erledigt hatte. Er kann dich doch gar nicht kennen nach dem, was du erzählt hast. Also ist alles was er über dich sagt nichts als eine Lüge. Sein Verstand wusste es, doch sein Instinkt wollte sich einfach nur wehren. I'm hiding from a distance I've got to pay the price Defending all against it Seine nächste Strategie war es, Kaiba einfach aus dem Weg zu gehen. Sollte ja schließlich nicht so schwer sein. Bis auf die Pflichtkurse und Sport, was quasi auch Pflicht war, aber Kaiba fand trotzdem oft genug Gründe, nicht hingehen zu müssen, hatten sie keine gemeinsamen Fächer. Eigentlich war es nicht Joeys Art sich vor Problemen zu verstecken, doch er brauchte einfach mal etwas Pause. Denn leider bekamen die Lehrer immer nur den Teil ihrer netten, kleinen, kurzweiligen Konversationen mit, in dem er diesem eingebildeten Fatzke endlich an die Kehle sprang, weil der Typ anders einfach nicht mundtot zu machen war. Und wer war dadurch immer und ausschließlich der Schuldige und bekam Nachsitzen? Er. Allmählich waren ihm die Ausreden ausgegangen, weswegen er immer so abgehetzt zur Arbeit erschien, aber er hatte sich noch nicht durchringen können, seinem Chef reinen Wein einzuschenken. Denn irgendwie war es ihm peinlich sich jedes Mal aufs Neue provozieren zu lassen und dann dafür bestraft zu werden. Immerhin hatte er den Job von der Mutter seines Chefs vermittelt bekommen – da konnte er doch wohl kaum sagen, dass er inzwischen für zwei gesamte Monate Nachsitzen aufgebrummt bekommen hatte. Wenigstens durfte er während der Zeit Hausaufgaben machen. Als er das erste Mal den aufsichtführenden Lehrer danach gefragt hatte, war dieser glatt aus allen Wolken gefallen. Denn seit wann machte ein Wheeler bitte seine Hausaufgaben? I really don't know why You're obsessed with all my secrets Blitzschnell zog er die Tür zum Hintereingang der Kneipe hinter sich zu, lehnte sich ein paar Meter den Flur hinein an die Wand und atmete tief ein und aus, um seinen Puls wieder zu beruhigen. Es war auf dem Weg zur Arbeit gewesen, als ihm plötzlich auffiel, dass er verfolgt wurde. Sein Verfolger hielt sich wohl für besonders clever, aber er kannte diese Situation nur zu gut – was eben passierte, wenn man in einer Gegend wie der seinen aufwuchs - und hatte so schnell heraus, wer sich da so auffällig an seine Fersen geheftet hatte. Seit einer Woche versuchte der junge Mann nun schon aus ihm herauszukriegen, was er abends immer machte. Doch er hatte sich schlicht geweigert – eine seiner Ausweichstrategien, um nicht noch einen Monat Nachsitzen zu bekommen – und ihm gesagt, dass es ihn nichts angehe. Aber ein Kaiba konnte verdammt hartnäckig sein, wie er feststellen musste. „Hey, Joey! Was machst du denn schon wieder hier?“, begrüßte ihn eine Kellnerin. „Sag bloß du versteckst dich schon wieder vor deinem Stalker bei uns. Wird das langsam nicht wirklich etwas zu oft?“ Besorgt musterte sie ihn, während sie ihm ihre Wasserflasche aufschraubte. „Das ist doch so ein großer, brünetter, oder?“ Joey nickte nur. „Dann solltest du allmählich wirklich mal zur Polizei deswegen. Den hab ich nämlich neulich bei uns vorm Haus gesehen. Als ich ihn fragte, was er wolle, is er einfach abgehauen.“ Er nahm einen großen Schluck, bedankte sich kurz und verschwand dann durch den Gastraum wieder auf die Straße, nachdem ihm der Barkeeper versichert hatte, dass die Luft rein war. Als ob er wegen Kaiba zur Polizei gehen könnte. Der würde ihm doch gleich wegen Verleumdung seine Heerscharen von Anwälten auf den Hals hetzen und darauf konnte er momentan echt verzichten. Wenigstens kamen diese Situationen seinem Triathlontraining zu Gute. Vor ein paar Wochen hatte ihn sein Sportlehrer angesprochen, ob er nicht Lust hätte, sich der AG anzuschließen – sie bräuchten zum Fortbestand dringend noch ein Mitglied und er sei doch ziemlich sportlich und hätte eine gute Kondition. Kaum etwas anderes half besser, seinen Kopf frei zu bekommen von all den lästigen Gedanken, die in letzter Zeit darin herumschwirrten, wie das stundenlange Bahnen schwimmen und die Fahrten auf dem Rad durch das nächtliche Domino. You always make me cry Es war stockdunkel in seinem spärlich eingerichteten Zimmer, aber Joey brauchte kein Licht, um zu wissen, dass er sein Kopfkissen mal wieder bis zum Inneren durchnässt hatte. All seine Tränen hob er sich den ganzen Tag für nachts auf, wenn er allein in seinem Bett lag und von seinen Gefühlen endlich überwältigt wurde. Seit Jahren liebte er diesen Idioten, der rein gar nichts tat, was seine Zuneigung zu ihm rechtfertigen würde. Und er würde garantiert nicht so weit sinken, ihm zu sagen, wie er empfand, solange er nicht den Hauch einer Andeutung hatte, dass er nicht einfach nur der perfekte Fußabtreter für ihn war. Jedes Mal, wenn er seine Nähe suchte, wurde er vor den Kopf gestoßen. Er versuchte immer scheinbar zufällig für Parnteraufgaben mit ihm eingeteilt zu werden. Seit Duke bei ihnen in der Klasse war, ging das auch hervorragend, weil er meistens mit Tristan zusammenarbeitete. Doch wenn er dann mit ihm einen Termin zur Verteilung der Aufgaben ausmachen wollte, lautete die Antwort jedes Mal, er habe keine Zeit sich mit Flöhen anzustecken, aber er brauche sich keine Sorgen zu machen, die Abgabe würde pünktlich und vollständig erfolgen. Nachdem er ihn ein einziges Mal in sein Handball-Team in Sport gewählt hatte, war er eine gesamte Woche mit Papierkügelchen beschossen worden. Er versuchte ihn in der Mittagspause in ihre Gruppe zu integrieren und stand dann letzten Endes ohne Essen dar, weil Kaiba es geschafft hatte, es missbilligend in den Mülleimer/vom Dach/in einen Gully zu verfrachten. Und die Liste war noch länger. Sein einziger Trost war, dass man es ihm morgens nie ansah, wenn er nachts geweint hatte, und er somit einfach weiter leben konnte, als gäbe es diese Nächte nicht, in denen ihm sein Leben einfach aussichtslos erschien. Denn eigentlich war es das nicht. Er hatte einen tollen Job, seine Noten wurden langsam besser, seine Freunde waren wirklich die besten auf der Welt und selbst sein Vater berappelte sich allmählich. Nur dieser eine kleine Aspekt würde wohl nie so werden, wie er sich das wünschte. Er würde für immer unglücklich oder allein bleiben. Oder beides. Und schon wieder bahnten sich die Tränen ihren Weg. You seem to wanna hurt me No matter what I do I'm telling just a couple But somehow it gets to you Konnte er nicht endlich mal damit aufhören? Schlimm genug, dass er die ganze Zeit die verbalen Angriffe über sich ergehen lassen musste – seine Freunde waren nämlich bedauerlicherweise der Meinung, das Gewalt keine Lösung sei, auch wenn sie diesen Fall bedeutend einfach gemacht hätte. Nein, der Herr erdreistete sich jetzt auch noch, seinen Stuhl an der Lehne nach hinten zu ziehen, so dass es auf die Lehrer wirkte als würde er absichtlich kippeln, und wenn er sich leise bei Kaiba beschwerte und verlangte wieder hingestellt zu werden oder einfach nur selbst aufstand, ließ dieser einfach los und der Stuhl landete mit einem Höllenlärm auf dem Boden. So hatte Joey bereits drei weitere Wochen Nachsitzen bekommen. Nach dem Unterricht ging er vor zum Lehrer und bat um ein Vier-Augen-Gespräch. Er erhielt es auch, doch sobald er anfing, darum zu beten, umgesetzt zu werden – von Kaiba weg – faselten sie alle etwas von dem positiven Einfluss, den Muto auf ihn hätte, neben dem er dann natürlich nicht mehr sitzen würde. Den negativen Einfluss, den es auf ihn hatte, direkt vor Kaiba zu sitzen, sahen sie nicht oder ignorierten ihn einfach geflissentlich. Außerdem ginge das nicht so einfach, Mitten im Schuljahr die Sitzordnung zu ändern. Sein Einwand, er hätte bereits im Jahr zuvor darum gebeten, wurde wieder einfach überhört – wie so oft. Und so wurden ihm auch weiterhin bei jeder sich bietenden Gelegenheit, während, nach, vor und außerhalb des Unterrichts irgendwelche Gemeinheiten an den Kopf geworfen oder er in sehr merkwürdige kleine Alltagsunfälle verwickelt. Er hatte so mittlerweile mehr Prellungen als zu seiner Gang-Zeit. But I've learned to get revenge And I swear you'll experience that someday I'm sitting down here but hey you can't see me Kinda invisible you don't sense my stay Not truly hiding not like a shadow Just thought I would join you for one day Endlich hatte er das Nachsitzen hinter sich und er konnte die Zeit nachmittags wieder damit verbringen, sich mit seinen Freunden zu treffen, die sich in den letzten Monaten schon ziemlich über seine dauernde Abwesenheit beschwert hatten, und in seinem eigentlichen Hauptjob arbeiten. Der kleine Lebensmittelladen gehörte einer älteren Frau, die für ihn bei der Direktorin sogar eine hochoffizielle Arbeitserlaubnis ausgehandelt hatte. Wie ihr dieses Kunststück gelungen war, wollte er zwar irgendwie schon wissen, doch hielt er es für klüger, nicht nach den Details zu fragen. So arbeitete er nachmittags bei ihr und abends für ihren Sohn. Er konnte das Geld aus beiden Jobs gut gebrauchen und glücklicherweise hatte sie Verständnis gehabt, als er eine Zeit lang nicht hatte kommen können. Dafür packte er jetzt umso mehr mit an und achtete darauf, dass die Regale immer ausreichend gefüllt waren. Gerade schleppte er Kartoffelsäcke aus dem Lager in die kleine Gemüseabteilung, als ihn jemand barsch ansprach: „Führen Sie auch Wachsbohnen?“ Vor Schreck wäre ihm fast seine Last aus den Händen gerutscht. Was machte Kaiba in dem Laden? Zugegebenermaßen rühmte er sich ja, ein Feinschmecker zu sein und sie waren nun mal die Nummer eins, wenn es um Exportware ging, doch nie ihm Traum wäre ihm eingefallen, dass der Geldsack selbst einkaufen ging. „Ja, führen wir“, erwiderte er höflich und ging die wenigen Meter voraus, die noch zum Gemüse gefehlt hatten. „Wie viel hätten Sie denn gerne?“, erkundigte er sich im Anschluss, während er schon eine Plastiktüte zückte, um die gewünschte Menge abzuwiegen. Während des gesamten Vorgangs beobachtete er Kaiba genau, aber erst als dieser bereits an der Kasse stand, fiel ihm auf, dass er ihn gar nicht richtig angesehen hatte. Wahrscheinlich hätte er sogar Mokuba sein können und Kaiba wäre es nicht aufgefallen. Achtete er wirklich so wenig auf seine Umwelt? Kurze Zeit später hatte er seine Antwort. Ja, Kaibas Aufmerksamkeit für seine Umwelt war mehr als limitiert und reichte nicht über den Rand seiner Kaffeetasse oder seines Computerbildschirms, je nach dem, was er gerade in unmittelbarer Reichweite hatte, hinaus. Und dafür hatte Joey nun eine Woche des zweiwöchigen Orientierungspraktikums geopfert, statt einfach in seinem Abendjob auch tagsüber zu arbeiten. Denn eigentlich wusste er schon, was er später mal machen wollte. Aber wegen seiner verdammten Neugier begleitete er tatsächlich Kaibas Sekretärin fünf geschlagene, ziemlich lange, mies bezahlte Arbeitstage. Und diese Frau war echt eine Nervensäge! Außerdem war sie genau die Erfüllung des Klischees von Sekretärin, die sich ihr Boss zu ungewöhnlichen Zeiten in das Büro rief, um sie dann auf dem Schreibtisch flach zu legen. Seine Eifersucht wurde nur davon besänftigt, dass sie während seiner gesamten Zeit in der Kaiba Corporation, nie länger als zwei Minuten hinter der geschlossenen Bürotür zu Kaibas privatem Reich verbrachte. Er selbst kam nie in den Genuss, diese heiligen Hallen zu betreten, und da sein kurzfristiger Vorgesetzter ihn nicht zur Kenntnis nahm, obwohl er im Vorzimmer sehr wohl auffiel – er führte eine Reihe erbaulicher Gespräche mit geladenen Kunden und Geschäftspartnern – gab es auch keine weiteren Zwischenfälle. I'm not trying to avoid you Just don't wanna hear your voice When you call me up so often I don't really have a choice Joey zappte durch die Kanäle und blieb schließlich bei einem Nachrichtensender hängen, der einen Bericht über die Erdbebensicherheit des öffentlichen Nahverkehrs brachte. Gespannt sah er sich die letzten fünf Minuten an und schaltete auch nicht weg, als ein im wohlbekanntes Gesicht auf dem Bildschirm erschien. Anlässlich des Erscheinens einer neuen Generation von Duel Discs gab sich Kaiba mal wieder die Ehre, höchstpersönlich vor die Kameras zu treten. Für gewöhnlich übernahm diesen Job einer seiner PR-Leute, doch Duel Monsters sei ihm nach wie vor eine „Herzensangelegenheit“ und er … An diesem Punkt drückte Joey den Ton aus und betrachtete nur noch seinen Mitschüler, der respekteinflößend und autoritär vor dem Wald aus Mikrophonen am Rednerpult stand. Dafür, dass er den Kontakt mit der Presse eigentlich mied, war diese ganz groß darin, die Medien mit ihm zu fluten. Kaum ein Tag verging, an dem Joey nicht zumindest einen Zeitungsartikel oder eine kleine Meldung im Internet sah, die sich um Kaiba oder sein Unternehmen drehte. Und dann sahen sie sich natürlich immer wieder im Unterricht. Wenn er doch endlich einfach mal still sein könnte, wenn sie sich trafen! Dann wäre die ganze Geschichte mit ihnen zwei vielleicht um einiges einfacher. Aber so brauchte er nur einen kurzen Blick auf ein Bild von ihm oder das Original werfen und schon hörte er die eigentlich angenehme Stimme mit diesem schrecklich herablassenden Unterton mit ihm reden. War ein einziges normales Gespräch mit ihm denn wirklich zu viel verlangt? You're talking like you know me And wanna be my friend „Wheeler, warte mal kurz.“ Verblüfft blieb Joey in der Tür des Bioraumes stehen und drehte sich zu dem Sprecher um. Abwartend blickte er ihn an. Welcher fieser Spruch würde dieses Mal kommen? Es war ja schon fast verdächtig, dass er heute den ganzen Tag über nicht einmal als Verwandter von Struppi & Co, bezeichnet worden war. „Hast du jetzt gleich noch ein bisschen Zeit? Ich würde mit dir gerne ein Eis essen gehen.“ Hörte er da richtig? Kaiba, der Seto Kaiba, bat ihn um eine Verabredung? Er träumte! Aber da er noch nicht gewillt war, aufzuwachen, stimmte er einfach zu. Donnerstags musste er nicht in den Laden und hatte daher Zeit. Wie selbstverständlich nahmen sie die Limousine in die Innenstadt und setzten sich dort in eines der Straßencafés. Joey hatte aussuchen dürfen. Darin hatte bisher auch ihre ganze Kommunikation bestanden. Aber trotzdem gefiel es ihm. Endlich wurde er einmal nicht für seine bloße Existenz nieder gemacht. Er konnte in Ruhe Kaiba etwas länger aus der Nähe betrachten, der plötzlich auch nicht mehr ganz so förmlich wie sonst wirkte – und das, obwohl sie sich in der Öffentlichkeit befanden. Erst als ihre Eisbecher vor ihnen auf dem Tisch standen, rückte er endlich mit der Sprache heraus, weswegen er dieses Treffen gewollt hatte. Naja, eigentlich hatte Joey ihn nach den ersten Löffeln Himmelblau und Schokolade gefragt. „Wenn du schon so direkt zu des Pudels Kern vordringen willst, Kö... Wheeler. Also gut.“ Kaiba rückte sich auf seinem Stuhl wieder ein Stück gerader. Zuvor hatte er auch schon so gesessen, dass es jedem Chiropraktiker und Physiotherapeuten eine wahre Wonne gewesen wäre, auch wenn sie so einen Kunden weniger hatten, doch sprach seine Haltung wieder nur noch von Macht. „Ich weiß, das Muto an einer neuen Strategie feilt und sein Deck erweitert. Was genau macht er?“ Scheppernd fiel Joey der Löffel aus der Hand. Das übertraf selbst den Valentinstag im Schuljahr zuvor, als er extra vor allen anderen in der Schule gewesen war, um im Fach unter Kaibas Tisch eine Rose mit Kärtchen zu platzieren. Als er dann offiziell erschien, war von ihr keine Spur. Erst später am Tag hatte er dann mitbekommen, wie Kaiba die Vorsitzende seines Fan-Clubs, den anzuerkennen er sich weigerte, nieder machte. Vor allem schien es dabei um eine gewisse halb blau, halb rot gefärbte Rose zu gehen, die Joey auch aus der Ferne sofort erkannte. Kaiba hatten sie anscheinend deswegen nicht gefunden, weil diese blöde Ziege seine Lorbeeren hatte einheimsen wollen. Geschah ihr ganz recht. Aber hätte Kaiba anders reagiert, hätte er gewusst, dass sie von Joey kam? Schnell winkte er eine Bedienung herbei, hob den Löffel vom Boden auf, entschuldigte sich für seine Ungeschicklichkeit und ließ sich einen neuen bringen. Das schlug doch dem Fass echt den Boden aus! Kaiba hatte ihn tatsächlich nur hierher gebeten, um ihn über seinen besten Freund auszuhorchen! Statt eine Szene zu machen, hüllte er sich in Schweigen, bis sein Becher leer war. Dann beglich er seine und auch Setos Rechnung im Inneren des Cafes und verabschiedete sich. „Wie blöd bist du eigentlich, dass du denkst, dass ich für ein Eis, meine Freunde an dich verpfeifen würde?“ Kaibas Spruch über nicht lernfähige Streuner hörte er nur noch halb, weil er bereits die Fußgängerzone entlang schlenderte. Soso, Kaiba interessierte sich also brennend für Yugis neue Strategie. Und das, obwohl das nächste Duell zwischen den beiden noch lange nicht in Sicht war. Aber irgendwie konnte er ihn verstehen. Das letzte Schuljahr neigte sich dem Ende zu und es würde sich doch gut in der Trophäensammlung gewisser Herrschaften machen, neben einem tadellosen Abschlusszeugnis auch den Titel des weltweit besten Duellanten zu erhalten. Was für ein Glück, dass man auch ohne Yamis Hilfe immer auf Yugis Instinkt für Spiele zählen konnte. Aber eine kleine Vorwarnung konnte ja nicht schaden. But that's really too late now I won't try it once again You may think that I'm a loser That I don't really care You may think that it's forgotten But you should be aware Endlich war der große Tag da. Die Aula ihrer Schule war ein einziges, aufgeregtes Summen. Auf Grund der hohen Schülerzahl des Abschlussjahrgangs war entschieden worden, die offizielle Zeugnisvergabe ohne die Familien am vorletzten Schultag vor den Sommerferien stattfinden zu lassen. Dennoch war es gerappelt voll und nur noch vereinzelt waren freie Plätze zu sehen, dort, wo noch die Leute im Alphabet fehlten. Angeblich ging es nämlich leichter, wenn sie alle so geordnet saßen. So fiel es Joey nicht gerade schwer die Lücke irgendwo zwischen Tea und Yugi zu bemerken, die auch noch erhalten blieb, als die letzten Nachzügler sich bereits längst durch die Reihen auf ihre Stühle gequetscht hatten. Das sollte jetzt also wirklich das letzte Mal sein, dass er hier saß. Vor einem Monat hatte er die Zusage einer Uni in Tokyo erhalten, die ihn – auch dank des Empfehlungsschreibens seines Chefs – unbedingt als ihren Studenten haben wollte. Wie stolz sein Vater ihn angesehen hatte, als er ihm das Begleitschreiben vorlas! Er würde der erste in seiner Familie mit einem Hochschulabschluss sein. Natürlich war sein Studiengang zunächst auf Verwirrung gestoßen, doch dann hatten sich alle mit ihm gefreut. Tristan plante sogar schon seine ersten Ferien bei ihm, während Ryo ihm von B&Bs in Irland vorschwärmte und ihn aufforderte so etwas in Japan einzuführen. In der Tat war sein Wunsch für die Zukunft gar nicht mal so weit davon entfernt, doch ausgerechnet derjenige, der ihn dazu inspiriert hatte, ließ sich heute wohl nicht mehr blicken. Auch gut, dann konnte er seine letzten offiziellen Stunden als Schüler wenigstens in Ruhe genießen. Zufrieden lagen sie alle ein letztes Mal draußen in der Sonne auf der Wiese im Schulhof. Die Sonne brutzelte heiß auf sie herab und verstärkte das berauschende Gefühl, dass sie alle ergriffen hatte. Sie hatten nicht nur ihre Zeugnisse erhalten, sondern durften sich jeder mit einem eigenen Preis rühmen, da die Jahrgangssprecherin mit ihrem Komitee sich für jeden etwas ausgedacht hatte. Duke hatte die schönsten grünen Augen. Tristan war der beste Schrauber. Marik und Ryo das süßeste Päarchen – sie hatten somit sogar das Hetero-Paar ausgestochen, das fest mit diesem Titel gerechnet hatte. Tea war selbstredend die beste Tänzerin. Yugi hatte die stylishste Frisur und außerdem den Preis für seinen Abschluss in Geschichte erhalten. Konnte ihm bei seinem bevorstehenden Archäologiestudium ja nicht schaden. Und Joey hatte zur Überraschung der meisten einen ganz besonderen, offiziellen Preis erhalten, der von den Lehrern vergeben wurde. Der für die größte persönliche Entwicklung. Fast erschien es ihm als hätte die Direktorin ein paar Tränchen verdrückt, als sie ihm die kleine Statue überreichte. Wer brauchte schon einen Eisklotz, wenn man den Beweis in Händen hielt, dass man über sich selbst mehr als nur hinaus gewachsen war? Dieser Tag war perfekt. That I've learned to get revenge And I swear you'll experience that someday Bei dem Blick nach draußen war Seto froh, dass er in seinem wunderbar klimatisierten Büro sitzen konnte und sich nicht in die stickige Aula hatte quetschen müssen. Seine Sekretärin hatte ihm gerade die von der Schule geschickten Unterlagen hereingebracht und er studierte sie eher desinteressiert. Sein endgültiger Schnitt war keine Überraschung und es wäre doch sehr erstaunlich gewesen, wenn irgendetwas anderes dabei herausgekommen wäre. Zu den Preisen für Mathematik und sämtlichen von ihm belegten Sprachen gehörten seltsame Bücher, die er sich ungelesen in die Bibliothek zu Hause stellen würde. Es konnte ja nie schaden im rechten Moment mit ihnen anzugeben. Damit war das Thema Schule ein für alle mal für ihn abgehakt. Sein Studium würde er Teilzeit in Domino machen. Genauer gesagt, würden seine Professoren nicht so viel Wert auf seine Anwesenheit legen und bis auf ein paar Gastvorlesungen, die er selbst hielt, und die Klausuren bestand für ihn so keine Anwesenheitspflicht. Fast könnte er sich als frei bezeichnen. Frei von der High School. Frei von nervigen Schülern, die die Flure blockierten, auf dem Hof herum rannten, lärmten, ihn bei der Arbeit störten. Frei von noch nervigeren Lehrern, die er nur durch seine wichtige Rolle für die Schule hatte überzeugen können, seine immer allein angefertigten Gruppenarbeiten zu akzeptieren und sich zu weigern Wheeler von ihm wegzusetzen. Wo käme er denn da hin, wenn man ihm einfach so sein liebstes Objekt zum Stressabbau wegnahm? Zugegebenermaßen war es in den letzten Monaten eher ruhig zwischen ihnen gewesen, aber auch nur, weil dieser bescheuerte Köter sich nicht mehr so leicht von ihm provozieren ließ. Die Erkenntnis traf Seto wie ein Blitz. Er war auch frei von Wheeler. Denn außerhalb der Schule oder auf Turnieren hatten sie sich nie gesehen. Die heruntergekommene Kneipe, die er lange für seinen Arbeitsplatz gehalten hatte, hatte sich als Finte herausgestellt – was er erst wusste, seitdem er das Personal ganze zwei Wochen lang hatte beobachten lassen und kein gewisser Blondschopf unter ihnen zu entdecken gewesen war. Was sollte er ohne Wheeler machen? Er würde unter Garantie irgendwann durchdrehen. So viel angestauten Stress vertrug selbst er nicht! Es musste doch einen Weg geben herauszufinden, wo sich sein Köter aufhielt. Mit neuer Energie blaffte Seto seine Sekretärin durchs Telefon an, dass er unter gar keine Umständen gestört werden wolle, bevor er sich auf die Suche nach Informationen machte. Dieser mittelmäßige Duellant würde bestimmt in Domino bleiben und bei seinen Noten in einem Aushilfsjob versauern – sollte also nicht allzu schwer für ein Genie wie ihn werden. Kapitel 14: Dienstag 24.3 ------------------------- Als er am nächsten Morgen in die Küche kam, staunte er nicht schlecht. Im Licht des neuen, aber nicht mehr ganz so jungen Tages saß Martine mit ihrer Kaffeetasse und las gemütlich ein Buch. Schnell blickte er auf seine Uhr. Aber nein, er hatte sich beim Aufstehen nicht geirrt und der Vormittag war tatsächlich bereits etwas voran geschritten. „Morgen“, grüßte er erstaunt und nahm dankbar die ihm prompt entgegen gehaltene zweite Tasse samt Inhalt entgegen. Während er sich setzte, hakte er nach: „Ich dachte, du hättest heute morgen einen Auftrag?“ „Hatte ich auch. Ich bin seit vier auf den Beinen und habe hagere junge Frauen fotografiert, die befürchteten, dass bereits Kaffee zu viele Kalorien hat. Ohne sie hätten das ein paar ziemlich coole Aufnahmen vom Hafen werden können.“ „Wie hoch war den die Gage, dass du es dir dann freiwillig angetan hast?“ „Hoch genug. So konnte ich mir wenigstens frisch Brötchen für ein zweites Frühstück und etwas Frisches für unser Abendessen leisten.“ Sie reichte ihm den Korb mit einer kleinen Auswahl an europäischen Brötchen und stellte dann ihre Tasse auf dem Tisch ab, um sich einen Bissen ihres Roggenmehltraums mit Erdbeermarmelade zu gönnen. „Das Buch ist ja anscheinend ziemlich spannend“, stellte Chef trocken fest und grinste sie an. Es war aber auch zu putzig, wie sie mit angezogenen und verknoteten Beinen auf dem Küchenstuhl saß und vor sich hin lächelte, während sie gleichzeitig ihr Frühstück aß und in dem dicken Wälzer verschwand. „Könnte man so sagen.“ Sie hielt kurz inne und wechselte wieder zu ihrer Tasse. „Apropos sagen. Ich hab gestern Abend Mokuba angerufen, um ihn zu beten, seinen Bruder an unser Duell zu erinnern. Aber er meinte bloß, der wisse schon Bescheid und stelle wie ein Verrückter sein Deck zusammen. Kannst du mir dazu irgendetwas Näheres sagen?“ Jetzt sah sie ihn direkt und ziemlich durchdringend an. Wieso waren diese Augen samt diesen Blicks nicht schon längst verboten worden? Schließlich gab er es auf und seufzte: „Vielleicht – aber auch wirklich nur vielleicht, habe ich ihn gestern im Zimmer der Direktorin getroffen und ihn kurz auf den Termin hingewiesen.“ Er schwieg und hoffte, dass die Sache damit erledigt wäre. „Und weiter?“ So konnte Mann sich irren. „Vielleicht habe ich ihn dazu überredet mit mir in die eine Karaokebar zu gehen und mir etwas vorzusingen. Und so rein zufällig habe ich dann angefangen ziemlich heftig mit ihm zu knutschen...“, wurde er zum Ende hin immer leiser. Wieso war ihm nie aufgefallen wie interessant europäisches Frühstück sein konnte? Er hob den Blick von seinem Teller erst wieder, als Martine ihn fragte: „Wie spät ist es eigentlich?“ „Kurz nach zehn.“ Und prompt war die gemütliche Atmosphäre auf ihrer Seite des Tisches dahin. Er konnte kaum so schnell gucken, wie sie mit einem „Muss zu meinem nächsten Auftrag! Sammel dich dann später in der Stadt ein!“ aus dem Raum verschwunden war. Nur eine Minute später, fiel die Wohnungstür laut ins Schloss. Doch die Zeit die sie durchs Schnüren ihrer Sneaker verloren hatte, würde sie durch die gewonnene Geschwindigkeit unterwegs wieder wett machen. Insgeheim war er froh, dass sie ihn so unerwartete alleine gelassen hatte. Manchmal war es wirklich gruselig, wie leicht sie Informationen aus ihm herausbekam. Zum Glück wollte sie nie im Voraus wissen, was sie zum Geburtstag bekam, denn sonst wüsste sie gleich alles über sämtliche Geschenke, die sie von der Familie zu erwarten hatte. Er stellte sich das Radio an und summte die Melodie eines Liedes, das er seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Er mochte den Kontrast zwischen der Stimmung der Musik und dem Text und genoss es einfach nur zuzuhören. Erst danach widmete er sich wieder seinem Essen und überlegte, was er bis drei Uhr nachmittags anstellen könnte. Das Wetter draußen war immer noch ein Traum und schien stabil zu sein – zumindest hatten sich, seitdem er von dem hellen Licht draußen geweckt worden war, keine Wölkchen mehr auf den blauen Himmel getraut. Er könnte ein wenig durch die Stadt bummeln, dabei etwas die Sonne genießen, und zum Schluss das Versprechen einlösen, das er Marik gegeben hatte. Plötzlich wurde er hibbelig, stellte das schmutzige Geschirr schnell in den Geschirrspüler und düste dann Richtung Badezimmer. Schnell erledigte er das Nötigste, damit er sich guten Gewissens unter Leute trauen konnte, und kramte dann im Schrank nach frischer Kleidung. Trotz Rauchverbots haftete an seinen Sachen vom Vortag einfach zu sehr dieser typische Kneipengeruch, den er trotz seiner feinen Nase gerade mal in drei Hauptbestandteile untergliedern konnte. Und wenn er ehrlich war, mochte er nur den Geruch nach der Holzpolitur, die er Barkeeper immer noch verwendete, davon. Im Flur sah er noch aus dem Augenwinkel Martines kleine Kamera, die sie für Schnappschüsse verwendete, und steckte sie neben Portemonnaie und Handy in seinen Mantel. Er hielt sich nicht damit auf, auf den Aufzug zu warten, nahm die Treppe und trat auf die Straße, wo ihn augenblicklich der Frühling in Empfang nahm. Die Temperaturen waren bestimmt zweistellig, er konnte die Vögel zwitschern hören und an den Bäumen entlang der Straße konnte er vereinzelt das erste frische Grün ausmachen. Kaum zu glauben, wie sich in einer einzigen Nacht die Welt so stark verändern konnte! Während er sich aus dem Stadtzentrum weg begab, knöpfte er nach und nach seinen Mantel wieder auf und ärgerte sich ein wenig, dass er ihn überhaupt erst geschlossen hatte. Wäre er nicht zu faul, ihn über dem Arm zu tragen, würde er vermutlich nur noch im Hemd herum laufen. Martine würde ihm bestimmt den Kopf abreißen, wenn sie ihn dabei erwischen würde und eine Moralpredigt bezüglich frühjährlicher Erkältungen halten. In manchen Momenten kam die Mutter in ihr leider zu sehr durch. Gut zwei Stunden schlenderte er durch die verschiedensten Stadtteile Dominos, bevor er sich auf den Rückweg machte. Die Stadt hatte wirklich einiges an Geld investiert, um das Stadtbild großflächig zu verändern. Wo früher nur selten gemähte Wiesen waren, befanden sich jetzt kleine Spielplätze und kurzer Rasen. Die Verkehrsinseln waren praktisch, jedoch schön bepflanzt. Zwar gab es jetzt mehr Mülleimer, doch dafür waren die Gehwege so sauber wie nie zuvor. Chef konnte es kaum fassen, wie sehr sich seine Heimatstadt gewandelt hatte, obwohl er stellenweise nicht ganz unschuldig war. Dank seines Namens waren endlich im Stadtrat ein paar seiner Vorschläge ernst genommen worden, die früher vermutlich allesamt im Müll gelandet waren. Wegen des üppigen, späten Frühstücks und der Aussicht auf eine warme Mahlzeit in der Wohnung später, fiel sein Mittagessen etwas kleiner aus. Aber dafür genoss er draußen vor dem Imbiss weiterhin die Sonne. Mit etwas Glück bekam er die erste Farbe für dieses Jahr und konnte so damit vor seinem Team argumentieren, wenn sie ihm das nächste Mal vorwarfen, er vergrabe sich viel zu sehr in seinem Büro. Kurz nach zwei machte er sich wieder auf den Weg. Die Stadtbücherei war in der Nähe und damit auch der Austragungsort eines Duells, das er sich definitiv nicht entgehen lassen würde, doch dorthin wollte er noch nicht. In Sichtweite seines späteren Ziels bog er in eine andere Straße ein und ging dort noch hundert Meter, die ihn schlagartig von dem Trubel der lärmigen Hauptstraße entfernten. Schon damals war ihm dieser plötzliche Abfall der Lautstärke aufgefallen. Als hätte man eine Decke über alles gelegt, um jegliches Geräusch zu ersticken. Einen letzten Moment stand er unschlüssig vor dem eisernen Tor und atmete tief durch. Er wusste selbst nicht wieso, aber sobald er sich auf dessen anderer Seite befand, schnürte es ihm die Kehle zu. Aber er hatte die Pflicht dort wenigstens ein Mal, wann immer er in der Stadt war, nach dem Rechten zu sehen. Das Tor ließ sich mit ganz wenig Kraft und ohne ein Quietschen öffnen und hinter ihm schließen. Wenigstens würde er wieder von hier weggehen können – was für den Rest der Leute hier nicht galt. Er schritt die Platten der schmalen Wege ab und hielt auf einmal inne, als er den vertrauten Namen las. „Hallo, alter Mann“, begrüßte er seinen Vater. „Lang nicht mehr gesehen. Nicht wahr?“ Er wusste genau, dass er keine Antwort erhalten würde, dennoch machte er eine Pause, als würde er auf diese warten. „Tut mir Leid. Aber es war wirklich Einiges los und Marik hat mir versichert, dass er regelmäßig nach dir schaut. Ich bin wirklich froh, dass er sich damals bereit erklärt hat, ab und zu nach dir zu sehen.“ Allmählich spürte er wie sich der gewohnte Kloß in seinem Hals aufbaute. Das letzte Mal hatte Ryan an seiner Seite gestanden, ganz ruhig, einfach nur still, und trotzdem hatte es ihm eine Menge Kraft gegeben. „Ich bin übrigens nicht mehr mit Ryan zusammen. Es hat nicht geklappt – aus den gleichen Gründen wie immer. So gesehen bewundere ich es schon ein bisschen, dass du und Mutter es so lange miteinander ausgehalten habt, um mich und Serenity zu bekommen und ein paar Jahre lang sogar gemeinsam zu erziehen. Ihr gefällt ihr Studium sehr gut. Serenity, meine ich. Sie hat bereits jetzt Angebote aus England von Professoren, die sie alle unbedingt an ihren Lehrstühlen haben wollen. … Keine Angst, ich checke natürlich vorher, ob sie wirklich nur akademisches Interesse an ihr haben. … Und ich hoffe du bist mir nicht böse, weil ich Maximillion mittlerweile Dad nenne – zumindest, wenn er nicht dabei ist. Sollte ich wohl demnächst offiziell nachholen.“ Er schwieg eine Weile und starrte nur auf den weißen Stein. Wie froh er war, dass es ein so schöner Tag war! Bei bedecktem Himmel oder gar Regen wäre es hier nicht zum Aushalten gewesen. „Aber es hat sich vor Kurzem einfach so ergeben. Und du wolltest ja nie, dass ich dich so nenne. So kann ich euch beide noch gut auseinander halten – sogar besser noch als vorher. Du bist der alte Mann und er ist Dad. Meinetwegen nenn ich dich aber auch wieder Vater.“ Jetzt drohte ihm wirklich die Stimme zu versagen und er zwang sich an etwas anderes zu denken. Vater. Martine, wie sie vor den Fotografien im Essbereich stand und schmunzelnd meinte, Ethan sehe ihrem Vater zusehend ähnlich. … „Martine gibt sich nachher die Ehre und verweist Seto Kaiba in seine Schranken. Ich freu mich schon seit Samstag auf dieses Duell. Du hast doch früher auch immer gesagt, dass dir der Typ viel zu arrogant ist – zumindest als dein Schwiegersohn. Vielleicht ist er es danach nicht mehr ganz so. … Wenn du wüsstest, wie oft ich mir wünsche, dass du hier wärst, um zu sehen, was ich mit meinem Leben angefangen und alles erreicht habe. Wie ich mir wünsche, noch einmal von dir zu hören, wie stolz du auf mich bist, weil ich den Sprung in ein neues Leben schaffen werde. … Du fehlst mir.“ Die einzelnen Tränen, die seine Wangen herunter liefen, ignorierte er. Eigentlich trauerte er schon lange nicht mehr, doch hin und wieder überrollten ihn die Erinnerungen und hielten ihn für eine Weile fest umklammert, bis er sich endlich wieder erinnern konnte, wie die Gegenwart aussah und, dass das Leben auch ohne ihn weiter gegangen war – irgendwie. Chef drehte den Kopf zu der Person um, die ihm ein Taschentuch vor die Nase hielt, sobald er erneut durch das Tor getreten war. „Danke“, nahm er es entgegen, wischte sich über die Wangen und schnäuzte sich dann gründlich. „Woher wusstest du, dass ich hier bin? Aber nicht schon wieder durch GPS-Ortung meines Handys?“ Energisch schüttelte Martine den Kopf. Sie musste sich zwischendurch umgezogen haben. Von den Sneakern, die sie meist für ihre Arbeit trug, war keine Spur zu entdecken. „Heiße ich etwa Maximillion Pegasus?“, fragte sie beleidigt. „Nein, aber Martine Pegasus. Das macht dich fast genauso schlimm.“ Sie streckte ihm einfach nur die Zunge heraus und ging die ersten Schritte zurück in die Hektik der nachmittäglichen Stadt. Brav folgte er ihr und steckte das Taschentuch in seine Manteltasche. „Ich hab für dich ein paar Bilder gemacht. Hab gedacht, du würdest gerne auch ein paar andere Ecken sehen als immer nur die, in die es die der Aufträge wegen verschlägt.“ „Danke, Süßer. Das ist lieb. Außerdem trainiert es deine natürliche Beobachtungsgabe. Bin schon gespannt darauf, mir die Bilder heute Abend anzusehen. Aber ich habe auch nachgedacht.“ Mit ernster Miene sah sie ihn an. Schon wieder diese Augen. „Du solltest mit ihm wirklich nochmal reden.“ Er musste nicht erst fragen, um zu wissen wen sei meinte. „Machen wir es so. Wir schließen eine kleine Wette ab.“ Sie hatte ihm schon an der Nasenspitze angesehen, dass er von diesem Thema nicht gerade begeistert war. „Wenn du gewinnst, musst du nichts weiter machen und ich lasse dich diesbezüglich in Ruhe. Verlierst du, gehst du morgen Abend mit ihm aus – mit allem was dazu gehört. Einverstanden?“ „Einverstanden. Und worum wetten wir?“ Sie waren nur noch wenige Meter von der Treppe, die in die Arena von der Straße aus führte, entfernt. „Um den Ausgang dieses Duells.“ Gemeinsam erklommen sie die Stufen. „Und? Was wettest du?“ Erwartungsvoll sah sie von der roten Außentür zu ihm. Chef musste nicht nachdenken. Die Antwort fiel ihm leicht. Ungeduldig blickte Seto Kaiba von der Uhr zu der Tür, zu seinem Deck und wieder zur Uhr. Seit geschlagenen zehn Minuten ließ sie ihn bereits warten. Was dachte diese Frau wer sie war? Zugegebenermaßen war er ein wenig zu früh da gewesen, doch eine gewisse Pünktlichkeit ihrerseits war doch nicht zu fiel verlangt. Er wollte sich gerade mit einer höhnischen Bemerkung über sie an Mokuba wenden, der es sich in der Mitte der untersten Bank bequem gemacht hatte, als die Uhr auf Punkt 15.00 sprang und sich die Tür nach draußen öffnete. Im Gegenlicht erkannte er sofort die schlanke Silhouetten der beiden Leute, die nun die Arena betraten. Ein leises Gemurmel ging durch die oberen Ränge, dort wo sich ein paar wenige Schaulustige eingefunden hatten, die irgendwie mitbekommen hatten, dass er sich heute duellieren würde. Sein Blick blieb automatisch an dem jungen Mann hängen, der Martine kurz nach ihrem Eintreten allein ließ und sich zu Mokuba gesellte. Die vertraute Art, wie sie sich begrüßten, versetzte ihm einen leichten Stich und auch das zurückkehrende kribbelnde Gefühl auf seinen Lippen vereinfachte die Situation nicht unbedingt. Seine Kontrahentin war währenddessen bis zur Mitte der anderen Seite vorgelaufen und sah ihn abwartend an. Da war wohl jemand von der alten Schule. Also begab er sich zu ihr, um sie zu begrüßen. Auf dem Weg zu ihr fielen ihm noch eine Reihe weiterer Details auf. Sie war ohne DuellDisk erschienen, weshalb er davon ausging, dass sie wirklich eine klassische Partie an den Terminals mit ihm spielen wollte. Ihre Kleidung war von Kopf bis Fuß schwarz, die hochhackigen Stiefel, die Hose, die bis zum Hals geschlossene Lederjacke. Ihre Haare waren streng nach hinten frisiert und fielen erst ab ihrem Nacken wieder lose auf ihren Rücken. Und dann erst ihr Blick, mit dem sie ihn nun bedachte. Er musste sich ernsthaft fragen, wie er noch am Freitag auf die Idee hatte kommen können, sie sei milde und warmherzig. „Guten Tag.“ „Guten Tag. Schön, dass Sie es einrichten konnten“, erwiderte sie. „Haben Sie schon das Duell ins System eingetragen?“ „Nein, noch nicht. Schließlich sind Sie darin noch nicht vermerkt.“ Ein spöttisches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Das lassen Sie Mal meine Sorge sein.“ Also drückte Seto einfach den Knopf, der die Sprachsteuerung des Systems aktivierte und befahl: „Neues Duell. Offizielle Wertung. Gegner. Seto Kaiba und“, er sah zu ihr hinüber, „Mar...“ Doch sie fiel ihm ins Wort: „M Crawford.“ Die nachfolgende Reaktion des Systems überraschte ihn. Zwar besaß es keine KI und nur eine begrenzte Logik, soweit sie eben bei Duel Monsters notwendig war, doch konnte er buchstäblich vor sich sehen, wie es vor ihr salutierte. Vor Jahren hatte er es so eingestellt, dass, sollte sich ein hochrangiger Spieler anmelden, es die Beleuchtung änderte und den Spieler begrüßte. Für sich selbst hatte er diesen Effekt deaktiviert, weswegen es ihn nun mehr als überraschte, die elektronische Stimme zu hören: „Guten Tag, Herrin.“ Nur mit Mühe konnte er sich unter Kontrolle halten. Herrin?! So hatte er das garantiert nicht eingestellt! Es sollte schlicht noch einmal der Name des Spielers wiederholt und nicht irgendwelche seltsamen Anreden verwendet werden. „Nach welchem Regelwerk möchten Sie spielen?“, fragte das System nun weiter. „Battle City. Das ist Ihnen doch auch hoffentlich Recht?“, antwortete Martine an seiner Stelle. Er brachte nicht mehr als ein Nicken zu Stande. Die halbe Nacht hatte er nach Aufzeichnungen von ihr gesucht, um einen kleinen Hinweis zu bekommen, wie ihr Stil war, hatte sämtliche Namenskombinationen ausprobiert, die ihm sinnvoll erschienen, doch der Gedanke, sie könne unter einem fremden Namen spielen war ihm nicht gekommen. „Wer ist Crawford?“ „Das ist der Mädchenname meiner Mutter. Und ich würde vorschlagen, dass wir mal langsam anfangen. Ich möchte Ihnen ja nicht unnötig viel von Ihrer kostbaren Zeit stehlen.“ Mit diesen Worten ging sie zu ihrem Terminal und übergab ihm ihr Deck. Mit leichten Zögern machte Seto es ihr nach und wartete dann, wen das System bestimmte, anzufangen. Die Wahl fiel auf ihn. Das Duell verlief enttäuschend normal ab. Er versuchte von Anfang an ein paar Monster zu rufen, die mächtig genug waren, um für seine weißen Drachen geopfert zu werden, während Martine erste kleine Erfolge über ihn verbuchen konnte, die ihm jedoch nichts ausmachten, hätte er doch mit seinen fusionierten Drei den Sieg in der Tasche. Das erste Mal, bei dem er aufhorchte, war, als sie sein angreifendes Monster mit einer Fallen Karte namens „Eiserne Schuhe der Königin“ zerstörte. An seinen Krallen erschienen Schuhe und es zuckte von den Beinen her seltsam für einige Augenblicke, bevor es verschwand. Bis dahin hatte er es als äußerst angenehm empfunden, dass sie so wenig ihre Züge kommentierte, doch nun auf einmal hätte er gerne gewusst, was genau eben passiert war. Trotzdem hätte er sich lieber die Zunge abgebissen, als sie danach zu fragen. Von nun an erschienen auf ihrer Seite immer mehr Karten, deren Ursprung eindeutig in Märchen lag und die alle die eine oder andere nützliche Fähigkeit entsprechend ihres Charakters aufwiesen. Aber die Karte, die ihn etwas verwunderte, lag verdeckt. Natürlich hatte sie ihm noch nicht verraten, um was es sich dabei handelte, und er verspürte eine gewisse Neugier, was es wohl sein könnte, bis zu dem Moment, an dem er seinen Sieg sicher vor sich sah. Alle drei seiner weißen Drachen mit eiskaltem Blick waren auf dem Feld, wofür er sämtliche seiner bisherigen Monster geopfert hatte, und er befahl ihnen gerade sie anzugreifen. Da fing sie plötzlich an zu lächeln und sämtliches Blut gefror ihm in den Adern. Mit dieser Regung ihrer bis eben noch ausdruckslosen, wenn auch konzentrierten Gesichtszüge hatte er nicht gerechnet. „Nicht so voreilig!“, sprach sie ruhig. „Ich drehe meine Karte „Drachenmutter“ um. Damit ist Ihr Angriff hiermit beendet.“ Ein Monster erschien auf ihrer Seite. Noch größer als sein eigener Drache, wenn auch genau so weiß. Es breitete seine Flügel beschützend aus und verwies mit einem einzigen Blick aus den bernsteinfarbenen Augen den anderen dreiköpfigen Drachen zurück an den äußersten Rand der Projektionsfläche. „Darüber hinaus ist es unmöglich, solange sie auf dem Feld ist, einen Drachen zu rufen, ihn zu opfern, mit ihm anzugreifen oder einen Angriff gegen ihn auszuführen.“ Kurz ließ sie diese Information bei ihm sacken und fragte dann süffisant: „Möchten Sie ihren Zug fortführen oder bin ich wieder an der Reihe?“ Er schüttelte nur leicht den Kopf. Das war nicht möglich! Sie hatte mit einer einzigen Karte sein halbes Deck unbrauchbar gemacht. Zwar schien sie im Umkehrschluss nun auch keine Drachenkarten mehr verwenden zu können, doch wies ihr Deck eine deutlich höhere Varietät auf, die ihm selbst fehlte. Das Einzige was ihm jetzt noch blieb, waren seine eher schwächeren Karten, die er eigentlich nur im Deck hatte, um sie für das Aufrufen seiner Drachen zu opfern. Sie legte zwei Karten verdeckt und beendete dann ihren Zug, ohne ihn anzugreifen. Die nächsten Züge schenkten sie sich nichts, auch wenn nun ihr Niveau bezüglich der Angriffsstärke deutlich gesunken war. Nach und nach verloren sie ihre Lebenspunkte, bis Seto sich nur noch einen weiteren Zug vom Sieg entfernt sah. Inzwischen hatte Martine nur noch ihre Drachenmutter auf dem Feld. Hätte sie sich damit verteidigen dürfen, hätte sie wohl eine Überlebenschance gehabt, auch wenn ihre Verteidigungspunkte nicht sehr hoch waren. Doch sie hatte sie bis jetzt kein einziges Mal zu Hilfe genommen. So auch jetzt nicht. Er befahl siegesgewiss den Angriff direkt auf ihre Lebenspunkte. „Gratuliere. Sie haben so eben das Duell beendet“, äußerte Martine, noch bevor die Attacke sie erwischte. „Ich weiß“, erwiderte er nur kühl. Wieso zögerte plötzlich sein Monster? „Aber es wird einen etwas anderen Ausgang haben als Sie es sich erhofft haben.“ Und schon wieder bescherte ihm ihr Lächeln eine Gänsehaut. „Da ich kein Monster mehr auf dem Feld habe, mit dem ich mich verteidigen könnte, aktiviert sich meine verdeckte Fallenkarte „Letzte Hoffnung“. Sie zieht von dem angegriffenen Spieler die Verteidigungspunkte aller seiner Monster von den Lebenspunkten ab. Bei dem angreifenden Spieler geschieht das Gleiche, nur werden bei ihm die Angriffspunkte seiner Monster dafür genommen.“ Panisch glitt Setos Blick über seine Seite des Feldes. Er hatte zwar nur noch ein Monster übrig, mit dem er sie angreifen konnte, doch gab es da immer noch... Nein! Nein, das durfte nicht war sein! Sie benutzte wirklich die Angriffspunkte seines weißen Drachen gegen ihn! Er konnte kaum so schnell schauen, wie die Anzeige seiner Lebenspunkte auf Null herunterrasselte. Er hatte verloren. Er hatte ernsthaft gegen diese... Moment mal! Er sah auf. Wenn er noch halbwegs etwas von Mathematik verstand und ihre Ausführungen der Wahrheit entsprachen... Auch die Anzeige seiner Gegnerin zeigte an, dass sie über keinerlei Lebenspunkte mehr verfügte. Nur um ihn nicht gewinnen zu lassen, hatte sie höchstpersönlich dafür gesorgt, dass auch ihre Anzeige auf Null gerauscht war. Dennoch grinste sie breit und rief etwas ihrem Neffen zu, das er noch nicht verstand. Viel zu sehr saß im der Schock in den Knochen, dass er sie nicht besiegt hatte, wenn auch zu dem Preis ihrer eigenen Niederlage. Erst eine männliche Stimme riss ihn in die Realität zurück. „Ich würde dich gerne zum Essen einladen. Morgen Abend. Hol mich einfach um 18 Uhr in der Wohnung ab. Um den Rest kümmere ich mich.“ Er nickte nur und räumte langsam sein Deck zusammen. Als er die drei Karten seines Lieblingsmonsters in der Hand hielt, gefror er mitten in der Bewegung. Es hätte ihm klar sein müssen. Mokuba hatte es ihm doch am Samstag gesagt und spätestens das große Drachenweibchen hatte Bände gesprochen. Ihr Wandgemälde war deswegen so überzeugend gewesen, weil sie diejenige war, die die Karte damals gezeichnet hatte - und wer ließ sich schon gerne von seiner eigenen Schöpfung nieder machen oder wollte sie zerstören, wenn man so sehr an ihr hing? Langsam und in Gedanken machte er sich auf den Weg nach draußen. „Du willst wirklich nicht mit uns essen? Ich hoffe, dir ist klar, dass du einen wunderbaren, frischen Fisch verpasst.“ Mokuba antwortete nur, er habe schon eine Verabredung. Dann hörte Seto wieder Martine, die ihn bat, mit ihrem Neffen schon kurz vorzugehen. Dann stand sie ihm unverhofft gegenüber. „Kein schlechtes Duell.“ Sie hielt ihm die Hand hin, um ihm zu gratulieren. Doch kaum hatte er sie ergriffen, packte sie so fest zu, dass es ihm schwer fiel nicht dagegen aufzubegehren. „Die Nummer ist ganz einfach. Brechen Sie ihm noch ein einziges Mal das Herz, wird mir es ein persönliches Vergnügen sein, dabei zu zu sehen, wie Sie zerbrechen.“ Einen kurzen Augenblick hielt sie noch den Kontakt, in dem er die Wahrheit in ihren Augen sehen konnte. Die Wahrheit über ihre Gefühle. Sie liebte Chef. Sie liebte ihn, hundertprozentig und bedingungslos. Aber nicht auf die Art und Weise wie er bisher geglaubt hatte. Da war nicht eine Nuance von romantischen Gefühlen. Sie liebte ihn, so wie er selbst Mokuba liebte, und das hieß, sie würde jeden zerstören, der es wagen würde, ihm weh zu tun. Für Außenstehende, aber auch ihre wartenden Familienmitglieder musste es so aussehen, als würden sie sich im Sinne des fairen Sportgeistes zu ihrem Unentschieden gratulieren. Doch sie hatte die Chance, das sie mit dem Rücken zu ihnen stand, genutzt, um ihn ihr wahres Gesicht zu zeigen. Denn kaum hatte sie sich von ihm abgewandt, um nun endlich ebenfalls nach draußen zu gehen, war sie wieder die herzliche, fröhliche junge Frau, die ihn zum Essen eingeladen hatte. Seto Kaiba folgte ihr mit einigem Abstand. Er würde nicht noch einmal den Fehler machen sie zu unterschätzen und sich von ihrer Maske täuschen lassen. Er war kein Narr, der offene Drohungen von Leuten, die ihm tatsächlich schaden konnten, ignorierte. Kapitel 15: Happy Birthday -------------------------- Yugis Zimmer war gerammelt voll. Unter normalen Umständen reichte der kleine Raum unterm Dach des Spieleladens seines Großvaters locker für ihn aus. Auch mit einem oder zwei seiner Freunde zu Besuch war es noch angenehm, doch an diesem Abend sah die Geschichte schon ganz anders aus. Er selbst hatte sich auf seinen Schreibtischstuhl geflüchtet. Marik und Ryo hatten es sich an seinen Kleiderschrank gelehnt auf dem Boden gemütlich gemacht und dabei jeweils einen Arm um den anderen gelegt. Tea saß zwischen Tristan und Duke auf seinem Bett, oder vielmehr, Duke saß neben den beiden auf seinem Bett und nippte ab und zu an seinem Bier, um nicht die ganze Zeit über ihrer Stimme folgen zu müssen. Währenddessen sprang der Ehrengast der Versammlung hin und her, verteilte kleine Schüsselchen mit Knabberzeug und Süßkram auf allen noch freien Flächen und spielte Flaschenöffner. „Alter, jetzt setz ich endlich hin! Das ist ja nicht mitanzusehen, wie du an deinem Geburtstag zum Flummi mutierst“, rief Tristan ihn irgendwann zur Ordnung. Joey hielt mitten in der Bewegung inne und zeigte ihm einen Vogel. „Ich will eben, dass ihr alle gut versorgt seid“, entgegnete er, ließ sich aber endlich auf den Boden nieder – die restlichen Sitzgelegenheiten waren schließlich schon alle belegt – und griff nach seinem Weinglas. Den Wein hatte sein Chef spendiert, nachdem er erfahren hatte, weswegen sein Sommelier ausgerechnet an diesem Tag frei haben wollte. Zum Glück war es ein Rotwein, sonst würde er nur noch zwischen Kühlschrank und Zimmer hin und her rennen. „Also“, holte er tief Luft, „erst mal ein großes und herzliches Dankeschön an Yugi, dass er mir seine Räumlichkeiten für diesen speziellen Anlass zur Verfügung stellt.“ Er war ihm wirklich dankbar. So konnten sie in Ruhe feiern, sogar mit Alkohol, ohne dass sein Vater Gefahr lief rückfällig zu werden. Der Entzug hatte lange genug gedauert und er wollte diesen Sieg unter keinen Umständen gefährden. „Und wie versprochen, werde ich dir morgen helfen, das, was von deinem Zimmer übrig bleibt, aufzuräumen und zu putzen.“ Yugi warf einen leicht ängstlichen Blick in die Runde. Er konnte nur hoffen, dass sie sich trotz Bier benahmen. „Des Weiteren soll ich euch alle von Mai grüßen. Sie hat mich angerufen und dabei lautstark sämtliche Fluggesellschaften in der Gegend von San Francisco verflucht. Deren Piloten streiken nämlich, weswegen sie leider nicht pünktlich in Japan eintrifft. Aber sie hat schon vorgeschlagen, dass wir nachfeiern, sobald die schriftlichen Prüfungen rum sind und sie uns alle einlädt.“ Allgemeines Bedauern aber auch Freude, bei dem Gedanken an die nächste Feier. Dennoch waren sie ohne die Blondine nicht wirklich vollständig. „Und ansonsten bleibt mir nur noch zu sage, danke, dass ihr heute alle mit mir meinem 18. Geburtstag feiern wollt! Zum Wohl!“ „Auf dich!“ „Alles Gute nochmal.“ „Mach weiter so, Alter!“ Sie prosteten sich zu und fingen dann wieder an miteinander zu quatschen oder was auch immer Ryo und Marik da gerade machten. Zumindest Yugi, der in ihrer unmittelbaren Nähe saß, war bereits etwas rosa um die Nasenspitze. Joey erbarmte sich und winkte ihn neben sich auf den Boden. „Schade, dass Mokuba nicht auch kommen konnte“, sagte er und bediente sich bei den sauren Ringen, die Großvater Muto gestiftet hatte. „Ja“, stimmte ihm der Kleinere zu, „aber wenn Seto Angst hat, wir hätten einen schlechten Einfluss auf ihn, kann man leider nichts machen.“ Er verriet besser nicht, dass er geschlagene zwei Wochen auf den Firmenchef eingeredet hatte, um ihn von der Party zu überzeugen. „Wie könnten wir? Der Wein ist vorzüglich, da hätte selbst der Eisklotz nichts zu meckern“, zwinkerte Joey und nahm noch einen Schluck. Er würde die Flaschen wohl alleine mit Marik leeren müssen, weil der Rest lieber Bier trank, auch wenn der Inhalt der Tasche, mit der Duke vorhin angekommen war, verdächtig nach Härterem ausgesehen hatte. „Was ich dich dies bezüglich noch fragen wollte“, fing Yugi nun an, wurde aber von Tea unterbrochen, die forderte, dass Joey endlich seine Geschenke auspackte. Weil sie manchmal echt stur sein konnte, besonders wenn sie leicht angeheitert war, gehorchte Joey und fragte in die Runde: „So und wer will anfangen?“ „Vielleicht machst du als allererstes das hier auf.“ Yugi hielt ihm eine kleine Schachtel hin und erklärte: „Von uns allen und deinem Vater. Keine Angst, wir haben alle noch eine Kleinigkeit für dich.“ Mit großen Augen griff Joey nach dem Geschenk. Aber er hatte doch von seinem Vater bereits am Morgen seine Geschenke... „Cool! Echt jetzt. Das ist … Danke Leute! Ihr seid echt die Besten!“ Ungläubig starrte er von seinen Freunden zurück auf einen kleinen schwarzen MP3-Player, den dezent eine 160GB zierte. „Aber so viel Musik hab ich ja gar nicht...“ „Ab jetzt schon“, feixte Duke und Ryo sorgte dafür, dass Joey nun wirklich die Kinnlade herunterklappte. „Da ist die gesamte Musik von uns drauf – fehlt nur noch deine eigene, weil dein Vater nicht an deinen Computer wollte.“ Vollkommen überwältigt schüttelte Joey den Kopf und umarmte dann jeden einzelnen stürmisch. Sofort wurde das kleine Gerät an Yugis Lautsprecher angeschlossen und auf „beliebige Wiedergabe“ gestellt, damit sie nicht wussten, welches Lied als nächstes gespielt wurde. Ein heikles Unterfangen, da vor allem Ryo eher auf Klassik stand. Anschließend erhielt Joey seine restlichen Geschenke. Von Yugi selbstverständlich ein paar neue Karten für sein Deck, die er sich schon eine Weile wünschte. „Aber woher weißt du, dass ich genau die wollte?“ Marik und Ryo hatten ihm ein bedrucktes Frühstücksset besorgt, auf dem stand „drittbester Duellant der Welt“. Nur waren sie sich absolut uneins darüber, wer nun Platz 2 inne hatte. Von Tea kam die dazu passende Teekanne. Duke hatte die DVD von „Nosferatu“ besorgt und ein paar Vampirzähne zum Ankleben. Doch den Vogel schoss eindeutig Tristan ab und Joey musste sich eingestehen, dass er mit irgendetwas Schrägem von ihm gerechnet hatte. Dennoch musste er erst einmal schlucken, als er einen schwarzen Tanga, Plüschohren und irgendetwas, das er für ein ausgefallenes Sexspielzeug hielt, auspackte. Marik forderte in prompt dazu auf, sich umzuziehen, was ihm einen beleidigten Seitenblick von Ryo einbrachte. Und auch Joey selbst ließ die Sachen lieber ganz schnell wieder im Papier verschwinden, sobald er spürte wie sich die Hitze nicht nur in seinem Gesicht sammelte. Wieso musste ihm seine Fantasie ausgerechnet jetzt solche Bilder schicken? Zum Glück ging die Feier danach noch ein paar Stunden eher ruhig weiter. Der erste Kasten Bier war fast leer und Marik und Joey berieten gerade, ob sie auch noch die dritte Flasche Wein öffnen sollten. Da kam Tea auf die glorreiche Idee Flaschendrehen zu spielen. Obwohl sie inzwischen auf Limonade gewechselt hatte, war sie sichtlich zu ausgelassen und steckte schnell den Rest mit ihrem Vorschlag an. Anfangs waren die Aufgaben noch gesittet, auch wenn Duke eine Flasche Rum mit ins Spiel brachte. Tristan musste einen Handstand machen. Yugi sich die Haare zusammenbinden, was einfach nur niedlich aussah. Ryo mit Marik flirten wie ein frisch verliebtes naives Mädchen. Doch als dieser ihn zur Antwort zu Boden knutschte, kippte die Stimmung. Denn sobald sich Ryo etwas erholt hatte, forderte er: „Derjenige auf den die Flasche zeigt, muss die für ihn attraktivste Person in der Runde küssen.“ Das machte vor allem Tea nervös – so als einziges weibliches Wesen im Raum – musste sie doch annehmen, dass bis auf Marik und Ryo sie wohl immer die Geküsste wäre. Bitte lass die Flasche auf mich oder Tristan zeigen, hoffte sie inständig. Aber dazu kam es nicht. Nach einer schieren Unendlichkeit stoppte der Verschluss genau vor dem Geburtstagskind, das kurz überlegte und sich dann Duke neben ihm krallte. Für einen Augenblick hielt er seine Augen noch offen, doch dann schlossen sich die Lider über den grünen Iriden. Tea kippte um, Yugi wurde knallrot, Tristan konnte nicht anders als dumm aus der Wäsche zu schauen, während Marik seinem Freund zuflüsterte: „Das können wir aber besser.“ Jedoch hielt ihn Yugi geistesgegenwärtig davon ab, dies erneut zu beweisen. „Wieso hast du das nicht schon viel früher gemacht? Du küsst echt gut“, kam es endlich von Duke. „Ich steh zwar nicht auf Kerle, aber bei dir könnt ich mir echt vorstellen eine Ausnahme zu machen.“ Joey zuckte nur mit den Achseln. „Darf ich jetzt drehen?“, fragte er so als ob nichts gewesen wäre. „Nein!“, kam es zeitgleich von Tea und Tristan. „Wir wollen Antworten!“ „Genau!“, pflichtete Tristan ihr bei. „Was war das gerade?“ „Der von Ryo geforderte Kuss?“ „Ja, aber du hast dir Duke rausgesucht! Sorry, nichts gegen dich“, entschuldigte er sich kurz bei diesem, „Aber er ist verdammt noch mal ein Kerl!“ „Und ich bin verdammt noch mal bi! Na und?“ In den Momenten nach dieser Aussage hätte man eine Stecknadel fallen hören. Selbst die Lautsprecher waren gerade still. Dann brach das Chaos über Joey zusammen. „Wie bitte?“ „Seit wann weißt du das?“ „Woher willst du das so genau wissen?“ „Heißt das, dass du auf mich stehst? Wie lange schon?“ „Red keinen Quatsch, Duke! Was ist mit Mai?“ „Die weiß das doch bestimmt schon längst.“ Nach einer Weile hielt es Yugi nicht mehr aus. „Seid endlich still!“, schrie er und sofort verstummten die drei. „Wie wär es, wenn ihr Joey euch das selbst und in aller Ruhe erklären lasst?“ Betreten ließen sie ihre Köpfe hängen und lauschten darauf, was nun hoffentlich von ihrem Freund kommen würde. „Ich weiß es eigentlich schon ne Weile. So seit zwei Jahren ungefähr. Und um ehrlich zu sein, hab ich mir darüber ziemlich wenig Gedanken gemacht. Für Mai ist es in Ordnung, dass sie für mich nie die eine sein wird. Das haben wir letztes Jahr bereits ausdiskutiert. Und nein, Tea, du brauchst dir keine Gedanken machen – dank dir bin ich nämlich der Meinung, das Beziehungen mit Frauen in meinem Alter oder auch generell viel zu anstrengend wären. … Und Duke?“ „Ja?“ „Ich steh nicht auf dich. Mein Herz gehört schon längst einem anderen.“ „Wem?“, kam es aus fünf Kehlen, nur Yugi blieb weiterhin ruhig. Er hatte schon lange so eine Ahnung. „Ihr kennt ihn, daher würde ich lieber...“ „Jetzt stell dich nicht so an und rück mit der Sprache raus!“ „Es ist Kaiba“, übernahm Marik für Joey das Antworten. Ein Blick auf ihn, wie er sich verlegen wand, reichte aus, um dieses Offensichtlichkeit zu erkennen. Tristan rutschte seine Flasche aus der Hand und er konnte sie gerade noch so zum Stehen bringen, bevor sich das Bier auf Yugis Teppich verteilt hätte. Jetzt war die Katastrophe perfekt. Am liebsten hätte sich Joey unter Yugis Bett verzogen und wäre erst wieder herausgekommen, nachdem all seine Freunde gegangen waren – vielleicht bis auf Yugi, der ihn als Einziger nicht löcherte. Ihm fielen einfach zu oft zu viele Kleinigkeiten auf, die andere übersahen. Doch hatten sie es vorgezogen, nie offen darüber zu sprechen. Und ihm blieb nichts anderes übrig als alle Karten auf den Boden zu legen und sämtliche Fragen seiner Freunde zu beantworten. Es gab Fragen, auf die er bereitwillig antwortete, aber auch solche, die ihm sichtlich zu schaffen machten. Tea fragte unverblümt nach dem Valentinstag und er musste die Story vom Vorjahr erzählen. Tristan und Duke fragten natürlich nach seinen sexuellen Erfahrungen. Selbst das einzige Paar der Runde war an ein paar pikanten Details interessiert, zog aber bald darauf die Reißleine und wechselte so offensichtlich das Thema, dass der Rest mitzog und Joey aus dem Fokus der Aufmerksamkeit flüchten konnte. „Wie geht’s dir?“, wollte Yugi leise wissen, der ihn nach zehn Minuten suchen gegangen war und auf der Treppe sitzend gefunden hatte. „Besser. Irgendwie. Ihr habt das alles ziemlich gut aufgenommen.“ Er rutschte ein wenig, um Yugi Platz zu machen. „Vor allem bei Tristan hatte ich echt Angst gehabt.“ Er seufzte. „Sag mal. Woher wusstest du es eigentlich?“ „Allgemein, oder das mit Seto?“ „Beides.“ „Yami. Allerdings hatte er immer nur Andeutungen gemacht. Den Rest habe ich mir dann erst in den letzten Monaten zusammengereimt, als du plötzlich anfingst, euren Streitereien aus dem Weg zu gehen.“ „Ach. Achso.“ „Joey?“ „Mhm?“ „Pass bitte auf dich auf. Ich will nicht, dass du dich deswegen selbst fertig machst. Ja?“ „Ja. Keine Angst. Ich pass schon auf mich auf.“ „Dann können wir ja zu den anderen zurück, bevor die uns noch ein Techtelmechtel unterstellen.“ Joey musste blinzeln. War das wirklich Yugi, der da gerade aufstand und ihm die Hand reichte, damit er sich ebenfalls wieder erheben konnte? Wann war der denn bloß so reif und erwachsen geworden? „Bloß nicht! Wer als letzter wieder im Zimmer ist...“ Doch da war Yugi schon lachend an ihm vorbei und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Dieser...! Aber es war insgesamt doch wirklich ein schöner Geburtstag. Ein Jahr später wachte Jo stöhnend auf und verwünschte diesen Tag aus tiefster Seele. Was war nur in ihn gefahren, dass er alleine in seinen Geburtstag rein gefeiert und dann sein Limit völlig ignoriert hatte? Neben seinen Kopfschmerzen tat ihm auch sein restlicher Körper weh und fühlte sich wie ein einziger Muskelkater an. Er hörte das Rauschen einer Dusche und öffnete nun langsam auch die Augen. Wo zum Teufel war er hier?! Fremdes Bett, fremde Zimmerdecke, fremdes Zimmer. Fremdes Zimmer, das aussah als hätte eine Bombe eingeschlagen! Überall lagen Kleidungsstücke auf dem Fußboden verteilt und auch einige Möbelstücke sahen so aus, als ob sie noch vor nicht all zu langer Zeit woanders gestanden hätten. Was machte er hier? Mit wieder geschlossenen Augen versuchte er sich an die vergangene Nacht zu erinnern. Er war, weil Shin arbeiten musste, allein ausgegangen. In einen Szene-Club, schließlich war Shin nicht dabei. Er hatte getanzt und getrunken und … Da war dieser Kerl gewesen. Groß, schlank, brünett. Tiefblaue Augen. Sie hatten sich prima verstanden, obwohl der andere immer mal wieder hatte durchblicken lassen, das er eigentlich auf der Suche war nach... Etwas, was ihm die Nacht versüßen würde in seinem viel zu großen Bett. So hatte er es ausgedrückt, oder? Oh, nein! Er hatte doch nicht etwa... Doch hatte er. Wie konnte man nur so bescheuert sein? Herzlichen Glückwunsch, Joey! Einmal das Entjungferungspaket zum Neunzehnten. Und das mit einem Kerl, der ihn entfernt an Kaiba erinnerte, aber nicht einmal annähernd seine Klasse hatte. Das Stoppen der Dusche weckte ihn nun vollends. Panisch raffte er sich seine Sachen vom Boden zusammen und rannte aus dem Zimmer. Bei der Wohnungstür fand er seine Schuhe und seine Jacke. Notdürftig zog er sich an und rannte dann das Treppenhaus hinunter und aus dem Haus. Hose und Schuhe trug er bereits. Die restliche Ernüchterung brachte die kühle Januarluft auf seinem nackten Oberkörper. Auf dem Weg zur übernächsten Kreuzung, damit man ihn auch nicht mehr beim Blick aus dem Fenster sehen konnte, zog er sich Hemd und Jacke an und fing dann an zu kontrollieren, ob er auch ja nichts hatte liegen lassen. Nein, er hatte alles. Aber wo war er? Weitere 100 Meter von der Wohnung, in der er unbeabsichtigter Weise genächtigt hatte, erblickte er das vertraute U-Bahn-Schild und ging auf es zu. Egal wo er in New York sein sollte mit Hilfe der U-Bahn würde er definitiv nach Hause finden. Unter der Erde studierte er den großen Plan. Na super, er würde über eine Stunde brauchen! Er konnte nur hoffen, dass Shin bis dahin noch nicht zur Arbeit gegangen war! Doch als er endlich den Schlüssel in seiner eigenen Wohnungstür umdrehte, stellte er fest, dass abgeschlossen war. Er hatte ihn verpasst. So ein Mist! Dabei hatte er ihm doch versprochen gemeinsam zu frühstücken! Direkt hinter der Tür lag ein großer Zettel, auf dem in Shins krakeliger Schrift stand, dass er ihm alles Gute zum Geburtstag wünsche und er ihn in der Hotelküche anrufen solle. Und es wäre eine kleine Überraschung in der Küche. Tatsache. Shin hatte sich wirklich die Mühe gemacht und einen Traum von Torte mit entsprechender Beschriftung gebacken. „Hier ist Shin.“ „Hallo Shin.“ „Guten Mittag, Rumtreiber. Wo hast du solange gesteckt?“ „Erzähl ich dir später. Will das nicht am Telefon machen.“ „Kaust du etwa?“ „Nö.“ „Du kaust doch! Also hast du dein Geburtstagsgeschenk gefunden.“ „Vielleicht.“ „Dann lass es dir mal schmecken. Nur heb mir so gut ein Viertel für heute Abend auf.“ „Hey, das ist mein Geschenk!“ „Ja, aber wenn du zum Frühstück zu Hause gewesen wärst, hätte ich davon auch was gegessen! Hatte dafür ja schließlich nur vier Stunden Schlaf.“ „Dann halt meinetwegen. Ich ess kurz noch das Stück und leg mich dann hin.“ „Alles in Ordnung?“ „Erzähl ich die später.“ Was hatte ihn nur dabei geritten, sich von irgendjemand Fremdes einfach durchvögeln zu lassen? Wenn er sich wenigstens nicht die ganze Zeit über dabei versucht hätte sich einzureden, dass es Kaiba wäre, der da unter ihm vor Lust den Verstand verlor! Er konnte nur hoffen, dass das kommende Jahr besser verlief, als es angefangen hatte. Er musste dringend endlich von dem Kerl loskommen oder er würde daran tatsächlich noch zu Grunde gehen. Zumindest war Shins Torte absolut genial und die Glückwunschkarten seiner alten Freunde, die er ebenfalls auf dem Küchentisch gefunden hatte, bauten ihn wieder ein wenig auf. Vielleicht sollte er Tea und Tris wirklich mal besuchen fahren. Die wohnten schließlich gar nicht so weit von hier weg. „Danke, Joseph“, nahm Pegasus das große Glas mit zerstoßenem Eis und Himbeersirup entgegen. „Wie geht’s Martine?“ „Gut. Sie liegt auf der Couch und löffelt ihre Portion.“ Jo setzte sich auf die zweite Liege und reichte seinem Geschäftspartner nun auch den Löffel. „Keine Sorge. Ihre ist etwas größer. Aber hier draußen würde das Eis einfach zu schnell schmelzen.“ „Hab ich irgendetwas gesagt?“ „Nein aber gedacht. Du darfst nicht vergessen, dass ich auch eine kleine Schwester habe. Serenity ist zwar zum Glück nicht auch schwanger, aber so ein paar Instinkte funktionieren noch.“ Jo genoss die Strahlen der Sonne, während Pegasus sich in den Schatten des Sonnenschirms verzogen hatte. Das war bereits in Japan das Problem gewesen, als sie das Sommerhaus der Familie besichtigt hatten. Ihm machte die Sonne kaum etwas aus, und der Besitzer dieses atemberaubenden Grundstücks hatte sich eingecremt mit Sonnencreme, deren Lichtschutzfaktor so hoch war, dass er es anfangs für einen Scherz gehalten hatte. Als sein Glas leer war, stellte er es auf den Tisch zwischen ihnen und schloss die Augen. So entging ihm der nachdenkliche Blick, mit dem er bereits seit einer Weile immer mal wieder gemustert wurde. Pegasus aß selbst auch noch auf und fasste sich dann endlich ein Herz. Er hatte diesen Gedanken schon länger, hatte sich bis jetzt jedoch nicht dazu durchringen könne, die Sache anzusprechen. Es war schließlich nichts, was er leichtfertig verspielen wollte. „Joseph? Bist du noch wach?“ „Natürlich! Ich genieß einfach nur ein wenig den Sommer. Würde dir auch nicht schaden.“ „Ich bezweifle, dass meine Kunden es ansprechend fänden, wenn meine Haut die gleiche Farbe wie meine Anzüge hätte.“ „Dann wechsel doch endlich mal die Farbe. Immer nur rot wird auf Dauer doch langweilig.“ „Schwarz steht mir einfach nicht und blau und grün sind Matrine vorbehalten. Also schütze ich meine Haut einfach ein bisschen. Aber gut zu wissen, dass ich deine Aufmerksamkeit habe.“ Noch könnte er einen Rückzieher machen, aber dann hätte er sich umsonst wochenlang den Kopf zerbrochen. „Die Sache ist eigentlich ziemlich einfach. Martine hat mich zum Nachdenken gebracht. Genauer gesagt, eigentlich die Tatsache, dass ich bald Onkel werde. Ich habe eine Verantwortung ihr gegenüber, die sich auch auf ihre Kinder beziehen wird. Nur was passiert, wenn mir irgendetwas passieren sollte? Es hat mich damals wirklich beeindruckt, dass du das Preisgeld vom Königreich nur für die OP deiner Schwester wolltest – die Schulden deines Vaters, die auch dich belasteten, hast du alleine abbezahlt. Falls ich es noch nicht gemacht haben sollte, zolle ich dir hiermit meinen Respekt, dass du ihr Wohl über deines gestellt hast.“ Nun drehte Jo doch den Kopf zu ihm. Worauf wollte er hinaus? „Meine Bitte wär daher, dass du auch auf Martine Acht gibt’s, falls es mir aus welchen Gründen auch immer irgendwann nicht mehr möglich sein sollte, dies zu tun.“ „Aber das ist doch selbstverständlich.“ „Ist es nicht. Außerdem bin ich noch nicht fertig. Ich bin der Ältere, ich habe damals das Erbe unser Eltern angetreten und auch wenn ich mich seitdem um Martine gekümmert habe, ist sie doch in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass sie sich nicht auf das Vermögen unserer Familie stützen kann. Das Gleiche möchte ich für ihre Kinder, denn es hat sie immer dazu angetrieben, ihren eigenen Weg zu gehen und selbständig zu bestehen. Da ich aber nicht so schnell eine Frau fürs Leben finden werde und selbst wenn, ich mir nicht sicher sein kann, dass mein Nachwuchs wirklich ein verantwortungsvoller Erbe sein wird, habe ich vor einen anderen Weg zu gehen. Ich weiß, das du der Aufgabe gewachsen wärst und selbst wenn du eines Tages beschließen sollst Industrial Illusions mit der Kaiba Cooperation zu fusionieren, würde es mir nichts ausmachen – vorausgesetzt du überlässt Kaiba nicht die gesamten Geschäftsführung.“ „Was meinst du damit? Wieso sollte ich deine Firma Kaiba überlassen?“ Seine Verwirrtheit brachte Pegasus zum Lachen. Von allen Fragen die Joseph ihm hätte stellen könne, war das diejenige, die er am wenigsten erwartet hatte. „Du weißt doch, dass Martine dafür Sorge getragen hat, dass ich Zeit hatte nachzudenken, was ich ihr und allen anderen Beteiligten angetan habe. Nach einem Monat brachte sie mir hierzu auch die Aufnahmen der Überwachungskameras, die das ganze Turnier über gelaufen waren. Auf einer davon warst du, wie du Kaiba gerade aus der Zelle lässt. Dein Gesicht, als er einfach an dir vorbei schritt, hat mir mehr über dich verraten, als du denkst.“ Wie nicht anders zu erwarten, blickte ihn Joseph nur entsetzt an, unfähig etwas zu seiner Verteidigung zu erwidern. „Ich kann mich nur wiederholen. Es stellt für mich kein Problem dar. Überlass ihm bitte nur nicht die vollkommene Kontrolle. Und was den Rest betrifft. Nimm dir bitte so viel Zeit wie du brauchst, um zu entscheiden, ob du mein Sohn werden willst.“ „Danke. Die werde ich brauchen.“ Jo erhob sich von der Liege. Er musste dringend etwas aus der Sonne. Also schnappte er sich beide Gläser. „Willst du auch noch etwas? Ich mach mir noch eine Portion.“ „Gerne.“ Inzwischen war es weit nach neun Uhr nachts und Pegasus hatte es endlich aufgegeben wie ein gefangenes Tier im Warteraum hin und her zu laufen, wodurch auch er selbst sich endlich etwas entspannen konnte. Die Ärzte hatten ihnen auf Martines Wunsch hin den Zugang zum Kreissaal verweigert und so war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als vor der Tür zu warten. Nur langsam war seine Panik abgeflaut, die ihn überkommen hatte, als er auf dem Weg zur Küche aus ihrem Zimmer ihre Schreie hörte. Wenigstens war ihr Bruder ruhig geblieben - solange sie in seiner Nähe war. Danach sah man ihm zunehmend die Anspannung an. „Ich hol uns noch einen Kaffee“, meinte Jo gerade, als sich die Türen öffneten und eine Ärztin gefolgt von zwei Krankenschwestern hinauskam. „Mister Pegasus?“ Sofort war er auf den Beinen und ging auf die Frau zu. „Ja?“ Auch Jo trat zu Ihnen. „Und Sie sind?“ „Ein Freund der Familie.“ „Achso“, registrierte die Ärtzin nur, bevor sie sich wieder an Martines Bruder wandte. „Ihre Schwest ist wohl auf, braucht allerdings nach dem Kaiserschnitt noch etwas Ruhe. Wir hatten es anfangs auf normalem Wege versucht, doch mussten wir uns kurzfristig umentscheiden. Keine Angst! Es ist alles gut verlaufen und mit meiner persönlichen Erlaubnis, dürfen Sie ihre zwei neuen Familienmitglieder auf ihr Zimmer bringen.“ Sie gab den Krankenschwestern ein Zeichen, die nun vorsichtig Pegasus und Jo je ein kleines Bündel äußerst behutsam in den Arm legten. „Ihr Neffe heißt Ethan“, erklärte die Ärztin weiter, „und ihre Nichte Clara.“ In dem Moment, in dem Jo auf das kleine noch ziemlich zerknautsche bisschen Mensch in seinen Armen blickte, wusste er, dass er zu dieser Familie gehören wollte. Er wollte sie aufwachsen sehen, ihr der coolste Cousin aller Zeiten sein. „Maximillion?“ Pegasus sah noch immer vollkommen überwältigt von Ethan auf. „Ich hoffe du akzeptierst mich als Sohn – auch wenn ich nicht mehr so klein und absolut perfekt bin.“ Einvernehmlich lächelten sie sich beide einfach nur an, bevor sie sich wieder den beiden kleinen Kindern widmeten, die selig auf ihren Armen schliefen. Kapitel 16: Mittwoch 25.3. -------------------------- Er wachte auf und war glücklich. Dieser Urlaub fing wirklich an Spaß zu machen. Am Abend hatte er mit Martine Berge von Fisch zu zweit vertilgt, da die dritte, eingeplante Person nicht hatte kommen können. Dazu hatten sie einen wunderbar fruchtigen Weißwein getrunken und sich danach ein Dessert in einer neu eröffneten Kneipe drei Blocks weiter ausgesucht. Als er dann endlich aufgehört hatte zu schmollen, weil er von seiner Tante überlistet worden war, war der Abend ein voller Erfolg geworden. Martine hatte alle anderen Gäste mit ihrem Team beim Pub Quiz abgezogen, da sie als Muttersprachlerin als einzige wirklich verstand, was der Inhaber von ihnen auf Englisch wissen wollte, gegen dessen Akzent selbst Cian wohl Oxford English sprach. Ihr Preis hatte darin bestanden, dass sämtliche Drinks des Abends aufs Haus gingen, und so waren sie beide ziemlich beschwipst um zwei Uhr früh Arm in Arm nach Hause gelaufen. Er konnte sich noch nicht einmal mehr entsinnen, welche Lieder sie auf dem Rückweg gesungen oder wahrscheinlich eher gegrölt hatten. Auf jeden Fall zog er den Hut vor Martines Fundus an Trinkliedern aus aller Welt. Eine Weile kuschelte er sich noch ins Bett und sah nach draußen, wo die Menschen durch die Straßen wuselten. Vom Stand der Sonne schätzte er die Uhrzeit auf irgendwann mittags. Viele trugen Anzüge oder schicke Kostüme und strömten in die Restaurants, dabei nicht selten noch ein Handy am Ohr und heftig diskutierend. Zum Glück hatte er einen Weg eingeschlagen, bei dem sein Alltag nicht immer nur so aussah. Natürlich saß er fast ausschließlich im Büro, seitdem Yuki für ihn arbeitete, doch oft blieb das Telefon ganz lange still und seine Essenspausen gehörten ihm und seinem Team. Mit Blick auf seine Zielscheibe, an der immer noch der Ausdruck hing aber nicht mehr die Messer, stand er schließlich auf. Für ihre Verabredung hatte er bereits alles in die Wege geleitet, nur was er anziehen würde, wusste er noch nicht. Mit skeptischen Blick musterte er den wenigen Inhalt des Kleiderschranks. Er musste gut aussehen. Verdammt gut, wäre ihm sogar noch lieber. Einige Minuten später hatte er sich bereits entschieden und hängte die Sachen an die Tür draußen an den Schrank. Es machte noch keinen Sinn sie jetzt anzuziehen. Er würde um fünf ins Bad gehen und sich fertig machen und bis dahin konnte er ruhig noch ein wenig im Schlafanzug rumlümmeln. Die Wohnung hatte er eh für sich, weil Martine wieder ein ganztägiges Shooting hatte, und so richtig gemütlich hatte er es sich schon lange nicht mehr gemacht. Vielleicht würde er später auch statt zu duschen, sich bei gestelltem Wecker in die Badewanne legen. Dabei konnte er immer so schön entspannen. Aber erst einmal brauchte er etwas zu essen. Der Blick in die Küche ließ ihn breit grinsen. Martine hatte erneut für ihn mitgedeckt und ihm einfach nur eine Nachricht hinterlassen, in der sie ihm für den Abend viel Spaß wünschte. Mit einem Grinsesmiley neben ihrer Unterschrift. Ja, ja, sie hatte gut lachen, sie musste ja nicht mit Kaiba ausgehen. Wenn er sich getraut hätte, sie auf ein Date mit ihrem Ex zu schicken, hätte sie ihm höchstwahrscheinlich persönlich den Hals umgedreht – Verwandtschaft hin oder her. Doch wenn er ehrlich zu sich war, war er froh, diese Chance zu erhalten und freute sich schon auf den Abend. Bereits um halb fünf fuhr Seto seinen Laptop herunter und packte alles zusammen. Seinem Sekretär fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er ihn so früh die Firma verlassen sah. „Haben Sie noch einen auswärtigen Termin, Herr Kaiba?“, fragte er gerade noch rechtzeitig, bevor sein Vorgesetzter im wartenden Aufzug verschwand. „Nein. Nur eine private Verpflichtung heute Abend.“ Wieso erklärte er sich überhaupt? Der entsetzte Blick des anderen war es jedenfalls nicht wehrt, auch wenn er schon etwas hatte. Könnte man sich glatt daran gewöhnen. Unten angekommen, stieg er zu Roland in die wartende Limousine. Er öffnete sich sogar selbst die Wagentür und schloss sie auch wieder, während sein langjähriger Angestellter bereits anfuhr. Noch am Vorabend hatte er ihn instruiert. Er würde kurz nach Hause fahren, sich umziehen und dann auch schon den Köter abholen. Nein, falsch. Sein Hündchen abholen, das ihn zu einer Verabredung eingeladen hatte. Unmerklich fing sein Herz an schneller zu schlagen und Vorfreude machte sich in ihm breit. Schon den ganzen Tag fiel es ihm schwer an irgendetwas anderes zu denken. Da gab es so viele Fragen, auf die er hoffte, endlich Antworten zu erhalten. Nur mit Mühe hatte er sich davon abhalten können, sie sich alle auf einen Zettel zu notieren – als ob er sie sich nicht merken könnte! Zur Ablenkung hatte er dann irgendwann nachgesehen, was sein DuelMonsters System über Miss Crawford wusste. Das hätte er besser bleiben lassen. Von wegen sie spielte selten offiziell! Ihre Statistik wies mehr Duelle auf als seine eigene und ihre Gewinnrate war nahezu beängstigend. Selbst gegen Muto hatte sie einen Sieg zu verzeichnen! Der Punktunterschied, mit dem sie gegen ihren Neffen gewonnen hatte, war minimal. Das war ja schon beinahe gruselig. War er wirklich so stark geworden? Glücklicherweise konnte er sich jetzt darauf konzentrieren sich etwas „anzuhübschen“. Er sollte vielleicht sogar noch mal kurz duschen und erst dann in den bereits auf seinem Bett liegenden Anzug schlüpfen. Mokuba hatte sich schon öfters beschwert, er rieche, wenn er nach Hause komme, immer nach „Arbeit“, was auch immer das heißen sollte. Ein wenig Parfüm konnte aber bestimmt nicht schaden. Und wie sahen nur seine Haare aus?! So konnte er doch unter keinen Umständen aus dem Haus! Und so viel Zeit blieb ihm auch nicht mehr, brauchte er doch 20 Minuten für den Weg, mitten im Berufsverkehr wohl eher 30. Und wo waren jetzt schon wieder seine Socken? Etwas außer Atem, weil er dem Aufzug in dem Wohnungshaus nicht getraut hatte und stattdessen die Treppe genommen hatte, stand Seto Punkt 18 Uhr vor der Wohnungstür und klingelte. Mit leicht verschwitzten Händen kontrollierte er, ob sein dunkelblauer Anzug tatsächlich noch saß und richtete sich seine Frisur. „Na? Pünktlich bist du zumindest schon mal“, stellte Chef trocken fest, der unbemerkt die Tür geöffnet hatte. Er trug bereits seinen Mantel, doch das, was Seto noch von ihm sah, reichte, um ihm die Sprache zu verschlagen. Unter einem schmal geschnittenen schwarzen Anzug lugte ein bordeauxfarbenes Hemd hervor, das am Hals durch eine dezent gemusterte dunkle Krawatte inklusive goldener Nadel geschlossen wurde. „Wir sollten gleich los. Der Tisch ist auf Viertel nach reserviert“, schob sich Chef an Seto vorbei, zog die Tür hinter sich zu und schloss ab. Trotz des Zeitmangels nahm er sich die Zeit auf den Aufzug zu warten, was Seto nur nervöser machte. Er fuhr tagtäglich mehrmals mit dieser Errungenschaft der modernen Zivilisation und dennoch war ihm noch nie aufgefallen, welche Möglichkeiten sich in so einer Kabine zu zweit boten. „Kommst du?“, drehte sich Chef an der Haustür zu ihm um. Er stand noch immer wie angewurzelt auf der falschen Seite der Metalltüren, die sich nun langsam wieder schlossen, und versuchte seiner Fantasien Herr zu werden. Das konnte ja ein schöner Abend werden, wenn es jetzt schon so anfing! Draußen beugte sich Chef zum Beifahrerfenster der Limousine hinunter und klopfte. „Guten Abend, Roland. Vielen Dank, dass Sie mir heute Ihren Boss zur Verfügung stellen“, begrüßte er den verblüfften, älteren Mann, der ihn sofort wieder erkannte. „Mister Joey! Mir war nicht bewusst, dass Sie hier wohnen.“ „Nur vorübergehend. Allerdings habe ich eine Bitte an Sie. Dort, wo ich mit Kaiba hin will, kann man ziemlich schwer parken. Ich werde daher mit ihm hin laufen. Wären Sie so lieb und würden sich hier in der Nähe einen Parkplatz suchen und sich für die nächsten drei Stunden frei nehmen?“ Seto war im Begriff zu protestieren, vor allem als Roland tatsächlich den Motor wieder startete und ein Stück weiter vorne einparkte, doch dann wurde er am Arm in die andere Richtung gezogen. „Ich hoffe du bist mir wegen meiner Eigenmächtigkeit nicht zu sehr böse, aber er hätte dort wirklich nicht parken können. Das ist auch der Grund, weswegen ich dich nicht persönlich bei dir zu Hause abgeholte habe.“ Sie bogen in die nächste Straße ein und näherten sich einem Haus, auf dem in großen Buchstaben „Traditionell“ stand. Er wollte bereits daran vorbei gehen, als Chef ihn stoppte: „Wo willst du hin? Hast du etwa keinen Hunger?“ Ungläubig starrte er den anderen an. Das konnte nicht sein Ernst sein. In diesem Restaurant bekam selbst er keinen Tisch – mit einem Jahr Vorlauf. So gesehen war es exklusiver als er selbst. Aber sein Date trat einfach durch die hölzerne Tür und stellte sich so brav vor die Dame, die im Eingangsbereich die Gäste in Empfang nahm, dass ihm keine andere Möglichkeit blieb, als ihm zu folgen. „Ich habe hier gestern angerufen und reserviert. 18.15Uhr, zwei Personen. Joseph Pegasus.“ Die Dame sah kurz in ihrem Buch nach und schüttelte dann den Kopf. „Bedaure, es ist nichts vermerkt.“ „Vielleicht nur unter Pegasus?“ Inzwischen konnte Seto einen verächtlichen Schnauber nicht unterdrücken. Als ob ihm ein Kunststück gelänge, das selbst er nicht zu Stande brachte! „Sind Sie sich ganz sicher? Mir wurde versichert, dass es kein Problem wäre und es sofort eingetragen werden würde.“ Herrlich wie sich sein Hündchen wand! Aber auch irgendwie schade. Zu gern hätte er hier einmal das Essen probiert und zunehmend wurde er hungrig, was das viel größere Problem darstellte. Am Ende würde der Hunger so viel Kontrolle über ihn haben, dass er sich mit Pommes an der Imbissbude zufrieden gab. „Mit wem haben Sie denn gesprochen?“, fragte nun die Dame, deren Geduldsfaden noch nicht strapaziert schien, und noch immer höflich lächelte. „Muranabe Masao.“ Schlagartig verschwand das Lächeln. „Einen Moment bitte.“ Sie eilte davon und ließ sie stehen, während Seto versuchte sich zu erinnern, woher er diesen Namen kennen könnte, denn er kam ihm vertraut vor. Aber wahrscheinlich war das nur irgendein stümperhafter Kellner, dessen Nummer der Köter zufälligerweise hatte. Woher, wollte er lieber nicht wissen. Bald kam die Dame wieder zurück, dicht gefolgt von einem Mann Anfang vierzig, der einen halben Kopf kleiner als Chef war, sich von diesem Größenunterschied aber nicht abhalten ließ, ihn in eine Umarmung zu ziehen. „Hallo, Masao“, brachte er etwas sauerstofflos hervor, während sich alles in Seto zusammen zog. Was fiel diesem Kerl ein, einfach so sein Hündchen zu umarmen! Das machte ja noch nicht einmal er selbst! „Hallo, Joey. Du traust dich also wirklich zurück in meine hohen Hallen des kulinarischen Genusses.“ „Natürlich. Als ob ich vor dir Angst haben müsste. Nur leider steht meine Reservierung bei euch nicht im Buch.“ „Kann gar nicht sein.“ Muranabe wuselte zum Buch und sah hinein. „Hier steht es doch! 18.15. J. Wheeler. 2 Personen. Wo liegt dein Problem?“ „Vielleicht darin, dass ich diesen Namen nicht mehr benutze“, presste Chef zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Aber ich bin froh, dass sich dieses kleine Missverständnis aufklären ließ.“ „Immer doch. Können ja schließlich miteinander reden. Jetzt muss nur noch deine Verabredung auftauchen.“ „Er ist schon da und steht hinter mir.“ Wie konnten die beide bei diesen Worten so locker bleiben? Seto blieb fast die Spucke weg. Hier stand er in all seiner Pracht und wurde doch glatt übersehen. Er wollte schon dazu ansetzten, etwas Herablassendes zu sagen, da wurde er einfach von Chef am Handgelenk gepackt und zwischen den Tischen hindurch gezogen. „Keine Angst. Ich kenne den Weg.“ In einer ruhigeren, etwas abgetrennten Ecke des großen Speiseraumes kam Seto endlich frei, weil Chef ihm nun half sich hinzusetzen. Er zog den Stuhl ein Stück nach hinten, sodass er sich setzen konnte und schob ihn dann mit Seto nach vorne, bevor er sich seines Mantels entledigte und selbst Platz nahm. „Entschuldige den kleinen Aufstand da vorne.“ Seto nickte nur und wollte stattdessen wissen: „Woher kennst du dich hier so gut aus?“ „Hab hier mal eine zeitlang gearbeitet. Guten Abend, Sue“, begrüßte er die Kellnerin, die gerade an ihren Tisch getreten war. „Abend, Jo. Wisst ihr schon, was ihr trinken wollt?“ „Klar.“ Chef nannte ihr eine kleine Auswahl an Weinen und die Nummer eines Menüs, woraufhin Sue fröhlich von dannen zog. „Vielen Dank, dass ich bestellen durfte“, giftete Seto ihn an. „Bitte. Hier gibt es pro Abend nur drei Menüs. Da sowohl in Menü 1, als auch in Menü 3 eine Menge Zutaten enthalten sind, die dir laut Mokubas Liste nicht schmecken, war Menü 2 die einzig sinnvolle Wahl. Masaos Koch reagiert nämlich immer etwas empfindlich auf Sonderwünsche. Wenn du magst, kannst du natürlich auch noch mal selbst einen Blick in die Karte werfen.“ Unschuldig lächelnd schob er sie ihm hin. Seto griff danach und studierte sie nach dem Aufklappen ausführlich. Was das Essen betraf, schien er Recht gehabt zu haben, was er jedoch niemals zugeben würde. Doch bei der Getränken musste er schlucken. Bei dieser großen Auswahl fiel es selbst ihm schwer einen Überblick zu erhalten. „Als was hast du hier mal gearbeitet?“ „Anfangs als Kellner, ziemlich bald darauf als Somelier. Davor habe ich bei Masaos Mutter im Laden gearbeitet. Sie hat mich also quasi weitervermittelt.“ Sue kam mit dem ersten Wein zurück, goss ihnen ein und verschwand gleich wieder. „Auf diesen Abend“, prostete er ihm zu und sah ihm tief in die Augen, als ihre Gläser aneinander glonkten. Verwirrt wandte Seto den Blick ab. „Kannst du bitte aufhören mich anzustarren?“ „Meinetwegen. Aber kein Augenkontakt beim Anstoßen, bedeutet – zumindest laut ein paar meiner ehemaligen Kommilitonen - sieben Jahre schlechten Sex. Ein Risiko das ich ungern eingehen möchte. Da du aber gerade damit anfängst... Wenn du möchtest, können wir das hier zur Fortsetzung unseres wenig zielführenden Gespräches vom Montag machen. Wir essen uns durch ein fantastisches Menü, trinken hervorragenden Wein, du stellst mir ein paar Fragen und ich antworte dir. Was hältst du davon?“ Langsam blickte Seto wieder zu ihm. Er würde also tatsächlich die Möglichkeit haben, etwas mehr über ihn zu erfahren. Er könnte nach den Gründen für sein Handeln fragen, welche Hobbies er außer Triathlon noch hatte, was er am liebsten las, was seine Lieblingsfarbe war. Was... Vielleicht hätte er doch nicht auf einen Notizzettel verzichten sollen, denn nun, da er direkt vor ihm saß, fiel es ihm schwer sich für etwas zu entscheiden. „Wieso hast du mir nicht bereits im Hotel gesagt, wer du bist, oder es in deiner E-Mail erwähnt?“, entschied er sich schließlich für einen schweren Anfang. „Hättest du mich denn dann noch überhaupt akzeptiert?“ Die darauffolgende Stille wurde erst unterbrochen, als Sue die erste Vorspeise brachte. Gegrilltes Krebsfleisch mit verschiedenen Saucen zum Tunken. „Wenn ich gewusst hätte, was für einen guten Geschmack du hast, dann schon“, dachte er laut. Er liebte Meeresfrüchte und vor allem Krebs. Wenn das Menü auch nur annähernd … Mhm. Wie lecker schmeckte das denn! Während er aß, vergaß er die Welt um sich herum. Leider war die Portion nicht sehr groß gewesen, aber unter Umständen könnte er ja bei Chef... Amüsierte, braune Augen sahen ihn über einen weiteren leeren Teller an. Hatte er ihn etwa beobachtet? „Manchmal treffe selbst ich gute Entscheidungen, oder?“ Er meinte es rhetorisch, dennoch nickte Seto, gespannt, was als nächstes kommen würde. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken, stellte er die nächste Frage: „Was machst du außer Triathlon in deiner Freizeit?“ „Arglose Hotelgäste verführen. Weißt du doch.“ Seto konnte nicht verhindern, dass ihm bei diesem Satz und dem zweideutigen Lächeln die Röte in die Wangen schoss. Seit wann besaß er bitte ein Kopfkino? „Aber mal Spaß beiseite. Ich interessiere mich für Go, lese viel, singe ab und zu - wie du seit Neuestem auch weißt. Durch Yugi habe ich angefangen mich mit antiker Kunstgeschichte zu beschäftigen. Ich tauche. Surfen kann ich auch. Und natürlich kümmere ich mich um meinen geliebten Sportwagen-Oldtimer.“ „Welche Marke?“ „Ein alter Porsche. Hans ist total neidisch und freut sich wie ein kleines Kind zu Weihnachten, wenn ich ihn auf Ausfahrten mitnehme. Aber wenn's ums Putzen und Reparieren geht, verschwindet er immer ganz schnell in die Küche.“ „Du hast einen Führerschein?“ Er hatte Wheeler so oft auf dem Fahrrad oder zu Fuß gesehen, dass er ihn sich beim besten Willen nicht in einem Auto, geschweige denn auf dem Fahrersitz vorstellen konnte. „Natürlich. Wie gesagt, ich hätte dich auch abgeholt. Nur da man hier eh nicht parken kann und die hiesigen Autovermieter nichts haben, was mir zusagt, musste ich dir leider die Anfahrt selbst überlassen.“ Das leuchtete Seto irgendwie ein, auch wenn er gerne mit diesem Auto abgeholt worden wäre. „Und wieso sind wir letzten Monat nicht damit gefahren?“ „Sie ist eine Diva und mag die winterlichen Temperaturen nicht.“ „Sie?“ „Mein Wagen. Es färbt wohl langsam auf mich ab, dass Martine so viel Französisch mit mir spricht.“ Der nächste Gang kam. Eine einfache Misosuppe, deren Zutaten jedoch von höchster Qualität waren. Während sie mit den Stäbchen Wakame und Tofu aus der Suppe fischten, hakte Seto nach: „Wann hast du die Sprache eigentlich gelernt? Steht ja nicht gerade auf dem üblichen Lehrplan.“ Er hatte zwar am Samstag nicht verstanden, was sie gesprochen hatten, doch in seinen Ohren hatte es ziemlich flüssig geklungen. „Ich hab es schon ziemlich früh für den Job gebraucht. Die ersten paar Begriffe und Floskeln kamen daher bereits während der Schulzeit. So richtig fing das aber erst mit dem Studium an. Neben Englisch sind zwei weitere Fremdsprachen Pflicht. Momentan arbeite ich an der vierten. Nur leider gestaltet sich das Ganze ohne Muttersprachler etwas schwieriger.“ Chef begann in kleinen Schlucken seine Schüssel auszutrinken. „Was lernst du denn momentan?“ „Finnisch. Anfangs schwankte ich allerdings noch zwischen Spanisch und Afrikaans.“ „Interessant“, beendete auch Seto seine Suppe, „aber wieso nicht Deutsch? Hans kommt doch aus Deutschland, wenn ich mich richtig entsinne. Mit dem könntest du sogar täglich üben.“ Sue holte das Geschirr ab und wechselte dabei dezent die Weingläser. Chef schenkte den Rotwein ein und antwortete: „Mach ich doch schon. Ich bin in den letzten Jahren fast fließend geworden.“ Mit einem Grinsen erklärte er weiter: „Deutsch ist meine dritte Fremdsprache.“ Fasziniert beobachtete Seto, wie Chef den Wein aus dem Dekanter einschenkte und dabei mühelos vermied, verräterische Tropfen auf dem weißen Tischtuch zu hinterlassen. Er prostete ihm leicht zu, trank, nachdem er ausführlich am Glas gerochen hatte, einen kleinen Schluck und fragte dann: „Wie sieht es eigentlich bei dir aus? Hast du noch irgendwelche Sprachen gelernt über den normalen Lehrplan hinaus?“ „Nur Spanisch, weil wir gerade in den südamerikanischen Markt expandieren. Ansonsten reicht Englisch für mich vollkommen aus. Manchmal habe ich auch Glück und meine ausländischen Geschäftspartner können Japanisch – doch ihr Akzent ist in der Regel so schwer, dass wir Englisch präferieren.“ „Interessant. Hast du sonst noch irgendwelche Fragen an mich? Der nächste Gang wird noch etwas auf sich warten lassen. Wir haben also genug Zeit, dass du mir noch ein paar Löcher mehr in den Bauch fragen kannst.“ Seto überlegte eine Weile, um die kostbare Zeit nicht mit Belanglosem zu verschwenden. Es gab einfach zu viel was er wissen wollte. Dinge, die er wahrscheinlich mit der Zeit herausfinden würde, falls sie sich öfter sahen oder wenigstens miteinander schrieben, und Dinge, die er so schnell wie möglich in Erfahrung bringen wollte. Doch als er schließlich den Mund wieder aufmachte, wusste er sofort, dass er nicht lange genug nachgedacht hatte. „Wieso hältst du eigentlich als Pegasus' Toyboy her? Ich hätte nie gedacht, dass du mal so tief sinkst.“ Erschrocken über sich selbst, biss er sich auf die Unterlippe. Natürlich hatte er sich das in den letzten Tagen öfters gefragt, aber selbst er besaß genug Feingefühl, um zu wissen, dass er mit dieser Formulierung eine Grenze überschritten hatte. Mit bangem Blick beobachtete er über den Tisch hinweg Chef, dessen Hand auf halbem Weg zu seinem Glas inne hielt. Es war für ihn kaum zu ertragen, wie die Mundwinkel nach unten sanken und sich die Lippen fest auf einander pressten. Aus den sonst so warmen, braunen Augen schlug ihm nur noch Kälte entgegen. „Um es ein für alle mal klar zu stellen. Zwischen mir und Maximillion ist nichts Sexuelles und wird es auch nie geben, obwohl ich ihn zutiefst bewundere. Natürlich ist er vor zehn Jahren über das Ziel hinausgeschossen, doch es ist wirklich beeindruckend wie sehr er nach all den Jahren noch immer seine Frau liebt und bereit ist, alles für sie zu tun. Ich persönlich würde mich zumindest mehr als glücklich schätzen, wenn ich von demjenigen, den ich liebe, nur einen einzigen Tag lang so sehr geliebt werden würde. Aber dazu bist du anscheinend leider nicht in der Lage“, erörterte Chef. Mit einer fließenden Bewegung führte er das noch ziemlich volle Weinglas an die Lippen und leerte es in einem Zug. Dann erhob er sich und stellte es wieder ab. „Da dieses Treffen damit hinfällig geworden ist, wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend und empfehle Ihnen, sich das restlich Essen und den Wein schmecken zu lassen. Es ist wirklich vorzüglich und geht selbstverständlich auf mich. Sollten Sie Ihre Meinung bezüglich meiner Familie“, betonte er dieses eine Wort, „noch revidieren – ich bin noch bis morgen Mittag in Domino. Einen schönen Abend.“ Er machte sich gerade noch die Mühe, seinen Stuhl wieder an den Tisch heran zu schieben, dann war er auch schon verschwunden und hinterließ einen verwirrten Seto Kaiba, in dessen Kopf die Gedanken rasten. Ihm war bewusst, dass er zu weit gegangen war. Dennoch ergab ein Großteil der erhaltenen Antwort für ihn keinen Sinn. Wieso enttäuschte es Chef so, dass er nicht in der Lage war, sich zumindest für einen Tag so in seine Liebe rein zu steigern, wie dessen durchgedrehter Adoptivvater? Für ihn selbst war Gozaburo Kaiba immer nur ein Mittel zum Zweck gewesen, jemand, der nie seinen leiblichen Vater würde ersetzen können oder für den er so etwas wie einen Hauch von Bewunderung empfand – zumindest, seitdem er ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden hatte. Er schüttelte den Kopf. Das war doch alles vollkommen bescheuert! Und dann ergriff er auch einfach noch die Flucht, weil ihm die Richtung, die ihr Treffen nahm, nicht gefiel. Aber er hatte ihn doch selbst dazu aufgefordert, ihn zu löchern! Wie konnte er da plötzlich behaupten, dass ihr Treffen hinfällig geworden sei? Er nahm selbst einen Schluck von dem wirklich guten Wein. Der Typ hatte wirklich Geschmack, musste man ihm lassen. Wahrscheinlich waren so auch die Personen, mit denen er ausging. Leute, mit denen er sich auf Augenhöhe unterhalten konnte, die ähnlich gebildet waren wie er und ihn für sein Wissen und seine Fähigkeiten respektierten, ihn wertschätzten, ihn abgöttisch liebten. Aber er wollte diese Liebe, von demjenigen, den er liebte. Doch wen... Die Erkenntnis trieb ihn aus dem Restaurant auf die Straße. Vielleicht stand er noch irgendwo dort, darauf wartend, dass bei ihm endlich der Groschen fiel und er ihm hinter her kam. Hektisch schweifte sein Blick durch die nächtliche Straße. Probeweise ging er ein paar Meter in jede Richtung, um besser sehen zu können, sah aber neben den vielen geparkten Autos nichts. Er lief vor bis an die Ecke, um die sie vorher gegangen waren, wurde aber auch dort nicht fündig. Schließlich stand er resignierend wieder vor der Tür zum Restaurant, durch die ihn die Kellnerin herein bat. Sein nächster Gang wäre bereit serviert zu werden. Und so, weil ihm nichts Besseres einfiel, setzte er sich zurück an den Tisch, auf dem sich nur noch sein Gedeck befand und aß das Menü weiter. Das Essen schmeckte hervorragend, doch hätte er es wohl mehr genießen können, wenn Sue ihn nicht jedes Mal mit diesem seltsam mitleidigen und doch abwertenden Blick bedacht hätte, sobald sie an die Tisch trat. Die Wohnung empfing Chef mit wohltuender Dunkelheit, als er die Tür aufschloss. Für gut eine Stunde war er durch die Straßen gelaufen, um den Kopf klar zu kriegen und zu vermeiden, jemand bestimmten in die Arme zu laufen. Eine Stunde lang hatte er versucht sich einzureden, dass es ihm gleichgültig war, ob Seto verstanden hatte, was er ihm indirekt gesagt hatte, oder nicht. Aber es war ihm nicht gelungen. Mehr als einmal war er versucht gewesen ins Traditionell zurück zu gehen und sich für sein Verhalten zu entschuldigen – oder wenigstens den Abend fortzuführen. Guter Wein. Exzellentes Essen. Es war so kindisch von ihm gewesen einfach abzuhauen. Doch dann klangen jedes Mal die Worte in seinen Ohren, die ihn erst dazu bewogen hatten, für seine Verhältnisse auszurasten. Der andere hatte deutlich genug gemacht, was er von ihm und seiner Familie hielt. Zwar war er Sticheleien dieser Art gewohnt – sie ließen sich nicht vermeiden, bis Maximillion klar stellte, in welcher Beziehung sie wirklich zu einander standen – aber gerade von ihm hatte er sich so etwas wie Verständnis erhofft. Zumindest ein bisschen. Den Flur entlang gehend bemerkte er den schmalen Spalt Licht, der unter Martines Zimmertür hindurch schimmerte. Zaghaft klopfte er und öffnete schließlich die Tür, als er nach einer Weile keine Antwort erhielt. Vielleicht war sie gar nicht da und hatte vergessen, das Licht auszumachen. Doch auch hier irrte er sich. Sie hatte sich bereits im Schlafanzug in ihr Bett gekuschelt und las. „Abend.“ Keine Reaktion. Also versuchte er etwas lauter auf sich aufmerksam zu machen. Wieder ohne Erfolg. Erst als er sich auf den Rand des schmalen Bettes setzte, sah sie plötzlich auf. „Du bist schon zurück?“, fragte sie erstaunt, legte das Buch auf den Nachttisch, dicht gefolgt von neongrünen Ohrstöpseln. „Ja“, antwortete Chef etwas verwirrt. „Seit wann brauchst du absolute Stille in einer leeren Wohnung, um zu lesen?“ „Brauch ich auch nicht. Nur will ich nicht unbedingt mitbekommen, wenn mein Neffe endlich seine große Liebe abschleppt.“ „Wenn es dich stören würde, wieso bist du dann zu Hause?“ Ihre Antwort war überflüssig. Ein Blick in ihr Gesicht, verriet ihm, dass sie durchaus damit gerechnet hatte, dass auch dieser Abend kein Happy End finden würde. „Wieso hast du dann überhaupt erst dafür gesorgt, dass ich mit ihm ausgehen?“ „Weil ich fand, dass ihr beide eine Chance verdient hättet. Du hast ein Recht darauf, glücklich zu sein. Denn wenn du es nicht bist, gehst du langsam kaputt. Etwas, was ich mir nie verzeihen könnte.“ Sie rutschte etwas mehr zur Wand, um ihm Platz zu machen. „Willst du über den Abend reden?“ Gerade schon, als sie dachte, er würde ablehnen, nahm er ihr Angebot an. Mit dem Blick nach oben streckte er sich ebenfalls auf der Matratze aus und begann leise zu erzählen, während sie ihm einfach zuhörte. Zu seiner eigenen Verblüffung tat es ihm gut darüber zu reden und allmählich wurde er immer ruhiger und schläfriger. „Hey, Kleiner!“, stupste Martine ihn sanft von der Seite her an. „Wenn du hier schlafen willst, hol dir bitte dein eigenes Bettzeug. Ich habe keine Lust heute Nacht mir meine Bettdecke zurück erobern zu müssen!“ „Dann hättest du dir eben kein kleineres Bett hier rein stellen sollen!“, grummelte Chef etwas außerhalb des Kontextes zurück und begann bereits mit dem Klauen der Decke. „Ach, Übrigens. Können wir morgen Punkt 12 Uhr losfahren? Danke.“ Er bekam nicht mehr mit, wie sie aus dem Bett grabbelte und sich eine zweite Decke holte, ihm das Haar aus dem Gesicht strich und einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn gab, nachdem sie ihm die Tränen weggewischt hatte. Sein Herz hatte wieder einen Knacks bekommen und sie konnte nur hoffen, dass es heilte, bevor es endgültig zerbrach. Kapitel 17: Zerstörte Träume ---------------------------- Für seinen letzten Gang durch die gewohnten Straßen Dominos hatte er sich vorgenommen gehabt, jeden einzelnen Schritt zu genießen und sich ein letztes Mal gründlich umzusehen. Das war sein Vorhaben ein Tag vor seinem Abschluss gewesen. Inzwischen sah seine Welt anders aus. Die zwei Stunden, die er zu der alten Wohnung und von dort aus zum Bahnhof brauchen würde, war hart verhandelte Zeit. Bereits in der ersten Minute hatte er an den Blicken, die sie ihm hinterher schickten, gemerkt, wie ungern seine Freunde ihn alleine ließen. Die vergangenen knapp zwei Wochen war immer einer von ihnen bei ihm gewesen. Jeder einzelne von ihnen hatte versucht ihn abzulenken, aufzubauen, ihm unter die Arme zu greifen und einfach für ihn da zu sein. So eine Wohnung löste sich schließlich nicht von alleine auf – auch wenn seine eigenen Sachen schon fast alle raus gewesen waren. Bei der Zeremonie waren sie dann wieder alle da, nicht nur Marik und Ryo, die ihm während der letzten Nacht in seinem alten Zuhause Gesellschaft geleistet hatten. Die Gruppe aus elf Kollegen seines Vaters hatte ihn hingegen überrascht. Sie alle hatten ihm ihr Beileid ausgedrückt. Manche hatten ihre Verblüffung nicht zurückhalten können, dass er tatsächlich wie das Abziehbild seines Vaters aussah – nur eben etwas jünger. Andere hatten bekundet, wie schade sie es fänden, dass sie endlich seinen Sohn, auf den er so stolz gewesen war, unter diesen Umständen kennen lernten. Ein einziger stach für ihn wirklich aus der Masse hervor. Er sprach mit ihm ruhig, aber gefasst, sagte, dass er leider kaum etwas über seinen Vater gewusst hätte – weil er immer nur von Joey gesprochen hätte. Zum Beweis überreichte er ihm das Wenige, das sich im Arbeitsspind befunden hatte. Als er den Deckel der kleinen Metallbox hochhob, hatte es ihm den Atem verschlagen. Bilder von ihm. In allen Alterststufen. Mal gestellt, mal spontan. Das letzte war keine Woche vor dem Unfall entstanden. Sie beide in der Wohnung, stolz den kleinen Preis, den er für seinen persönlichen Fortschritt erhalten hatte, in die Kamera streckend. Sie hatten es beide geschafft, hatten sich aus dem Sumpf namens Leben soweit herausgezogen, dass sie wieder leichter atmen konnten und ausreichend Spielraum, um sich zu bewegen, ohne sofort wieder hinab gezogen zu werden. Doch dann hatte einer von ihnen aufgehört zu atmen. Unerklärlich, hatte es in den Medien geheißen. Ein schreckliches Novum. Faktisch unmöglich. Und dennoch war der einzige Mensch, der bei der Entgleisung der Straßenbahn ums Leben gekommen war, nur eine Randbemerkung gewesen. Noch nicht einmal sein Name wurde genannt. Joey hatten sie trotzdem gezwungen die Leiche zu identifizieren. Zum Glück hatte das Gesicht ausgereicht, das mit seinen zahlreichen Blessuren und Schnitten angeblich noch ziemlich gut aussah. Als ob der Ausweis nicht gereicht hätte. Inzwischen schwitzte Joey unter dem schwarzen Jackett in der warmen Sommersonne, die ihn vom Himmel aus verhöhnte. Es hätte so ein schöner Tag sein können, wenn sein erster Weg ihn nicht zum Friedhof und dort zur Beerdigung seines Vaters geführt hätte. Er hatte nicht geweint - über eine Woche in der sich immer mehr und mehr leerenden Wohnung hatte ihm geholfen, stückweise Abschied zu nehmen – und dennoch trauerte er. In ein paar Wochen würde er sein Studium beginnen, ohne seinem größten Fan davon berichten zu können. Sie alle würden sich nur noch selten sehen, hatten so viele eigene Pläne. Er würde diese Lücke doppelt spüren, jetzt, da definitiv alles anders war. Die langsam neben ihm her fahrende Limousine registrierte Joey erst, als sie ihm beim Überqueren der nächsten Straße einfach den Weg versperrte. Die Scheibe der Rückbank war heruntergedreht und aus dem Innenraum blickte ihn hochmütig wie eh und je Seto Kaiba entgegen. „Hat es dem Köter den Tag verregnet, weil man ihn endlich in anständige Kleidung gesteckt hat?“, spottete dieser auch schon los. In den vergangenen Jahren hatte er sich die Aufmerksamkeit des Firmenchefs in manch unangemessenem Moment gewünscht, doch dieser hier und jetzt zählte garantiert nicht dazu. Ja, er war mies drauf. Ja, er trug etwas „Anständiges“ - wie jeden Abend, wenn er arbeitete, weil der Anzug das einzig Schwarze gewesen war, was er an Kleidung noch nicht nach Tokio geschickt hatte. Aber nein, er hatte jetzt keine Lust auf ihn. „Kaiba, hör zu. Wir können gern ein ander Mal miteinander reden. Aber wie du richtig erkannt hast, ist mir heute echt nicht danach. Also lass mich einfach in Frieden.“ Doch ein Kaiba kannte so etwas wie Rücksichtnahme wenn es um andere Individuen – denn als Mensch sah er ihn höchstwahrscheinlich nicht an – nicht. „Oho. Ist einer der kleinen unbedeutenden Träumchen des Köters geplatzt? Wurde ihm beim Vorstellungsgespräch gesagt, dass sie leider keine Zirkustiere für ihren unterbezahlten Aushilfsjob nehmen?“ Joey ließ es einfach stumm über sich ergehen. Auf Durchzug schalten konnte er nicht. Eine weitere Fähigkeit, die ihm in den wenigen Tagen verloren gegangen war. Leider hatte Kaiba erst begonnen. „Oder wurdest du schon vorher rausgeschmissen, weil diese Stofffetzen, die du an deinen Füßen trägst, nicht als Schuhe durchgingen? Ist ja auch ein Wunder bei so einem verlausten Straßenköter. Wahrscheinlich war das Gespräch in dem Moment aus, in dem die andere Seite befürchten musste, bald den Seuchenschutz vor der Tür stehen zu haben. Das soll ja angeblich ziemlich schädigend fürs Geschäft sein – vor allem in billigen Fast Food Hütten. Zum Glück gehe ich da nie hin, sonst müsste ich ja Essen zu mir nehmen, dass du vorher angefasst hast. Oder nehmen die dich gerade als Putze, die durchwischt, wenn alle Gäste endlich weg sind und dann die Kaugummis von den Tischen kratzt? Auf jeden Fall rate ich dir, deine erbärmlichen Träume runter zu schrauben, sonst wird das ja nie was mit deinem pathetischen Leben. Wie wär's mit einer Papphundehütte auf der Müllkippe? Da wärst du wenigstens endlich unter deines“ Jetzt reichte es ihm aber doch. Was bildete sich Seto ein, wer er war, dass er so über hart arbeitende Leute herzog? Er selbst hatte zwar diese Arbeiten auch nie verrichten müssen, doch respektierte er diejenigen, die es taten, dafür, dass sie nicht einfach nach einem Tag die Flinte ins Korn warfen – was Mister „Ich-bin-ja-ach-so-toll-und-habe-es-selbstredend-nicht-nötig-mir-die-Finger-schmutzig-zu-machen“ nicht in eintausend Jahren geschafft hätte. „Was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist?“, schrie er ihn an. „Im Gegensatz zu dir, habe ich wenigstens Träume, die sich lohnen, verfolgt zu werden. Und eine Menge Menschen, die sich für mich freuen, wenn ich sie erreiche – nicht nur über die Prämie, die deine Mitarbeiter erhalten, wenn du mal wieder eine andere Firma aufgekauft und ausgeschlachtet hast. Und stell dir vor. Diese Menschen mögen mich sogar. So wie ich bin. Meiner selbst Willen – nicht wegen meines Kontostandes. Der mit dem pathetischen Leben bist du. Keiner außer Mokuba wird dich jemals für das lieben, was du bist. Und damit mein ich jetzt nicht deinen Status, deinen technischen Schnickschnack oder dein Scheckbuch, sondern einfach nur den Menschen, der dich morgens aus dem Spiegel anblickt. Das nenne ich erbärmlich. Und Übrigens. Was weißt du schon über meine Träume? Für jemanden, der sich nicht mal die Mühe macht, mich mit Namen anzusprechen, lehnst du dich ziemlich weit aus dem Fenster. Pass mal lieber auf, dass du dabei nicht eines Tages aus Versehen ziemlich hart unten aufschlägst. Denn von dir lasse ich mir meine Träume nicht zerstören!“ Kaiba zog sich tatsächlich etwas weiter in den Wagen zurück und die Chance ergriff er. Es war sowieso nicht mehr weit bis zu der Wohnung, in der nur noch seine Reisetasche stand. Joey rannte los, ohne sich ein letztes Mal umzublicken. Alles in ihm verlangte, dass er umdrehte und Kaiba gestand, dass es vielleicht doch jemanden gab, der ehrliche Gefühle für ihn hatte, doch er würde ihm das nicht sagen. Nie. Notdürftig wusch Joey sich den Schweiß von Gesicht und Oberkörper. Am liebsten hätte er noch einmal geduscht, doch dann hätte er auch diese wieder putzen müssen. So reichte es aus, das Waschbecken nachzureiben und den Lappen zu den restlichen Putzutensilien zu legen. Danach faltete er Anzug und Hemd ordentlich zusammen und verstaute sie ganz oben in seiner Reisetasche. Für die mehrstündige Zugfahrt hatte er sich eine bequeme Jeans und ein T-Shirt rausgesucht. Auf Drängen von Ryo auch noch eine Jacke, weil es angeblich durch die Klimaanlagen im Zug zog und er sicherlich nicht gleich zu Beginn des Studiums mit einer Erkältung herumlaufen wolle. Manchmal war er wirklich fürsorglicher als sogar Yugi. Ein allerletztes Mal sah er sich in der Wohnung um, öffnete Türen und Schubladen, in den Möbeln, die der Nachmieter ihm abgekauft hatte, ob er auch ja nichts übersehen und vergessen hatte. Mit geschulterter Tasche klingelte er im Erdgeschoss an der Wohnung des Hausmeisters und gab ihm den Schlüssel. Der alte Mann nahm ihn entgegen und drückte ihm ein letztes Mal herzlich die Hand. Seine guten Wünsche hallten in Joeys Ohren nach, als er in den Bus einstieg, der ihn zum Bahnhof bringen würde. Vielleicht schaffte er es tatsächlich, ein paar dieser Dinge zu erreichen. Wie immer empfand er den Bahnhof als furchtbar laut. Die wenigsten Menschen auf den Bahnsteigen standen einfach nur ruhig da. Viele Geschäftsleute führten über kleine Headsets Gespräche und er bezweifelte innerlich stark, dass sie wirklich wichtig waren, sobald er nur ein wenig lauschte. Zum Glück war er ein ganzes Stück weiter mit seinen Freunden verabredet. Weit genug entfernt von telefonierenden Menschen und den Bahnlautsprechern, die einem ohne Vorwarnung das Trommelfell wegbliesen. Sie hatten auch die Zeit genutzt, um sich umzuziehen, und so hatte er bald wieder den gewohnt bunten Haufen um sich herum. „Hier, Joey“, reichte Tea ihm die kleine Schachtel, die er nicht vom Friedhof mit zur Wohnung hatte mitnehmen wollen. Auch neben ihr und Tristan stand Gepäck, da sie eine halbe Stunde nach seiner Abfahrt raus zum Flughafen fahren würden. Ihr Flug in die Staaten würde am frühen Abend gehen. „Danke“, nahm er sie entgegen und öffnete seine Reisetasche gerade weit genug, um Platz für das unerwartete Volumen zu machen. Mit einem prüfenden Blick über die Gruppe, fragte er anschließend: „Wo ist Mokuba?“ „Er konnte leider nicht kommen. Irgendetwas mit einem familieninternen Notfall. Aber er lässt dich herzlich grüßen“, antwortete Yugi, dessen Flieger am nächsten Tag mittags in Richtung Europa starten würde. „Achso, schade. Ich hätte den kleinen Wuschelkopf gern noch ein letztes Mal gedrückt.“ Und er konnte sich genau denken, worin dieser angebliche Notfall bestand. Das hatte er sich dann eben selbst zu zuschreiben. „Aber du kannst mich drücken“, schmiss sich Duke unverhofft in seine Arme, sodass er leicht in die Knie gehen musste, um nicht umzukippen. „Mann, du zählst nicht! Und seit wann habe ich ein Schild um den Hals auf dem 'Free Hugs' steht?“ „Können wir dir bestimmt auf die Schnelle besorgen.“ Tea würde es nicht wagen... Anscheinend sah sie es jedoch ein, dass sie so nur Zeit verplempern würde, denn nachdem sie sich kurz suchend umgesehen hatte, unterließ sie dieses peinliche Unterfangen. „Duke, such dir einfach was eigenes zum Knuddeln. Dann hast du solche Probleme nicht mehr“, streute Ryo ein wenig Salz in die Wunde. „Und wie soll das was werden, wenn Joey einfach so abhaut?!“, giftete Duke prompt zurück. „Ich dachte du wärst nicht schwul. Außerdem, sei du mal ganz schnell still. Immerhin gehörst du auch zu den treulosen Tomaten, die uns hier einfach in Domino allein lassen.“ Marik klaute sich kurz einen Kuss bei seinem Freund und sprach dann weiter: „Zwar erst nächsten Monat, aber sei gewarnt! Ich werde nicht teilen.“ Daraufhin zog nun Duke wirklich eine Flunsch. „Joey, krieg ich eine Trostumarmung?“ „Nein.“ „Du bist fies!“ „Nein, ist er nicht“, ging Tristan dazwischen, dem Dukes Verhalten der letzten Monate allmählich ziemlich auf den Zeiger ging, „sondern du. Anstatt dir was einfallen zu lassen, wie Joey doch noch mit dem Typen seiner Träume zusammen kommt, drängst du dich ihm bei jeder Gelegenheit auf. Das ist inzwischen echt peinlich.“ Duke wollte schon etwas erwidern, doch Teas warnender Blick brachte ihn zum Schweigen. Ihr war nämlich nicht Joeys plötzlicher Ausdruckswechsel im Gesicht entgangen, sobald ihr Freund auf Kaiba angespielt hatte. Nur zu gern hätte sie mehr gewusst, doch leider blieb ihr für ein ausführliches „Frauengespräch“ keine Zeit mehr. „Auf Gleis 5 fährt in Kürze ein“, durchbrach die Durchsage die kurze Stille zwischen ihnen und ließ sie hektisch werden. „Also dann, Alter. Alles Gute für den Semesterstart.“ „Danke, Tris. Dir auch alles Gute mit der Mechatroniker-Ausbildung.“ Sie klopften sich freundschaftlich auf die Schultern, bevor Tea an der Reihe war. „Viel Spaß beim Tanzen. Hals- und Beinbruch – so sagt man das doch, oder? Und pass mir auf Tris auf.“ Charmant ignorierte sie Tristans Einwurf, es wäre doch wohl eher so, dass er auf sie aufpasse, und umarmte ihn. Yugi umarmte ihn nicht, strahlte ihn dafür aber umso breiter an. „Dann mal auf zu neuen Ufern.“ „Danke. Und sei vorsichtig, wenn du auf Ausgrabungen bist – nicht, dass die dich noch mit einem gut erhaltenen Artefakt verwechseln.“ „Ich werde in der Anfangszeit erst mal nicht nach Ägypten kommen zum Arbeiten. Aber Ishizu wollte mich für den Winter vielleicht einladen.“ Bewusst vermied Yugi den Blick rüber zu deren kleinem Bruder, der ihn höchst erstaunt ansah. Wie nicht anders zu erwarten wurde Joey währenddessen von Duke durchgeknuddelt, sich dabei heftigst wehrend. „Falls du Sehnsucht kriegen solltest, hast du ja meine Nummer“, hauchte der Schwarzhaarige ihm ins Ohr. Er würde sich definitiv nur im aller äußersten Notfall bei ihm melden, denn seit seinem Geburtstag war Duke echt zur Klette mutiert. Seine Ansprechpartner würden die beiden sein, die sich bisher in vornehmer Zurückhaltung bei der Verabschiedung geübt hatten. „Stell keinen Blödsinn an, bei deinem Studium, Ryo. Ich will keine Schlagzeilen lesen müssen, die besagen, dass die Uni in die Luft gesprengt wurde.“ „Immer mal wieder gut zu hören, was du wirklich von mir denkst“, tat dieser eingeschnappt und drückte ihn dann doch an sich. „Meld dich, wenn du angekommen bist.“ „Mach ich, versprochen.“ So blieb nur noch einer übrig. „Marik...?“ „Joey.“ „Dir viel Glück bei der Arbeit. Lass dich nicht wieder von deinem Boss so tyrannisieren.“ „Ich doch nicht. Du weißt ja, zur Not kann ich auch ganz andere Seiten aufziehen. Aber Spaß beiseite. Ich werde mich benehmen und auf meinen Schatz aufpassen, dass er keine Dummheiten anstellt. Und das, was wir gestern Abend besprochen haben gilt auch noch.“ „Danke.“ Ihre Umarmung fiel eine Spur länger aus als die zuvor, denn Joey hätte in den letzten Tagen wirklich nicht gewusst, was er ohne ihn gemacht hätte. Zudem hatte er ihm angeboten, sich um das Grab seines Vaters zu kümmern, was ihm sichtlich einiges an Überwindung gekostet hatte. Eine Abmachung zwischen ihnen beiden, von der die anderen nichts wussten. Selbst Ryo ahnte nur etwas. Er sah es ihren Nasenspitzen an, dass sie ihn am liebsten ausgequetscht hätten, doch der mit quietschenden Rädern zum Halt kommende Zug, befreite ihn. Er schulterte die Tasche und drehte er sich zu ihnen um, während er langsam auf die sich öffnenden Türen zuging. „Ich schreib euch!“ Dann war er auch schon im Wagon verschwunden und suchte sich einen nicht reservierten Platz für die Fahrt. Es fühlte sich seltsam an, dass alles hinter sich zu lassen. Sein gesamtes Leben blieb dort. Während der Zug wieder anrollte, holte er seinen MP3-Player hervor und suchte die Playlist raus, die Marik darauf gespeichert hatte. Sie alle würden nun Domino nach und nach verlassen. Marik und Ryo nicht - für sie war bereits Domino ein Neustart gewesen und Marik betonte immer wieder, dass man durch keine andere Stadt so gut mit dem Motorrad fahren konnte. Trotzdem schloss er sie gedanklich mit ein, als er leise die Melodie des ersten Liedes mitsummte. If life won't wait I guess it's up to me Whoa, no we're not gonna waste another moment in this town ... Whoa, we won't come back, the world is calling out ... Whoa, leave the past in the past gonna find the future ... If misery loves company Well so long, you'll miss me when I'm gone Nein, er würde nicht zurückschauen. Er würde jetzt fürs Erste eine ganze Weile nach vorne blicken in seine Zukunft, in der er der Welt beweisen würde, was in ihm steckte. Life is what happens while you're busy making your excuses. Er könnte einem beinahe Leid tun, von sich selbst eingesperrt in seinen Elfenbeinturm. Aber er würde ihn nicht mehr aus ihm rausholen. Zu oft hatte er bei dem Versuch, ihn daraus zu retten, sich die Hände verbrannt. Sollte er dort oben doch versauern und sich fragen, wo er plötzlich hin war. Denn er würde für ihn nicht mehr den heldenhaften Prinzen in strahlender Rüstung spielen. Kapitel 18: Donnerstag 26.3. ---------------------------- Wie üblich um diese Jahreszeit war es noch dunkel, als sein Wecker klingelte und er nach kurzem Zögern aufstand. Er brauchte sich kein Licht anzumachen. Den Weg zum Badezimmer fand er blind. Dort betätigte er zum ersten Mal an diesem Morgen den Lichtschalter und blinzelte, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Von der anderen Seite des Raumes tat es ihm sein Spiegelbild gleich und bestätigte sogleich den desolaten Zustand, den er nach dem vergangenen Abend befürchtet hatte. Er würde nie wieder alleine Essen gehen. Das führte nur dazu, dass er sich irgendwann selbst bemitleidete – auch wenn er es nicht nach außen hin zeigte – und Wein für zwei trank. Der Spinner hatte doch tatsächlich von den drei verschiedenen Weinen, die er für ihr Essen vorgesehen hatte, gleich immer eine ganze Flasche geordert. Mindestens zwei davon hatte er aber dann alleine vernichtet, während er sich durch die einzelnen Gänge aß, die nach Chefs Abgang an seinen Platz gebracht worden waren. Immerhin hatte er Wort gehalten und ihn tatsächlich eingeladen. Er hatte wirklich Stil, beinahe schon ein Gentleman. Doch er hatte es verbocken müssen, indem er sich einen kurzen Augenblick nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Was war da überhaupt in ihn gefahren? Natürlich hatte es ihn geärgert, dass Pegasus all die Jahre eine so enge Beziehung zu ihm hatte, in denen er auf sein Hündchen hatte verzichten müssen, doch hatte er seinen Frust nicht an ihm auslassen wollen. Lieber regelte er das mit Pegasus von Angesicht zu Angesicht bei ihrem nächsten Meeting. Er hielt im Anziehen inne. Das hieß also, dass er wohl oder übel in die Firma musste, denn den Termin am Freitag hatte er erfolgreich verdrängt und zur Vorbereitung brauchte er dringend die Unterlagen, die sich in seinem Firmenbüro befanden. Er hielt ein letztes Mal die Nase in den frischen Wind und beobachtete durch die Gläser seiner Sonnenbrille den Himmel, der unter Beweis stellen wollte, dass auch bereits der März so wundervoll launisch wie der April sein konnte. Wolkenfetzen jagten über den Himmel, dramatisch angestrahlt von der Frühlingssonne. Ein Wetter fast wie damals. Mit Hilfe seines Handys kontrollierte er die Uhrzeit. Seine Armbanduhr befand sich aktuell in Reparatur, weil sie ihm zwei Tage zuvor runter gefallen war. Er hatte noch genau zehn Minuten. Vielleicht sollte er sich doch ein wenig beeilen – man konnte ja nie wissen, wie lange man bei der Besucheranmeldung brauchte. So schlenderte er auf die Tür zu, die in das Innere des Hochhauses führte, dessen Fassade ein großes K und ein großes C zierten. Obwohl er bereits beim Frühstück noch satt vom Vorabend gewesen war, knurrte jetzt sein Magen. Seit über drei Stunden arbeitete er bereits und gönnte sich nun eine Pause mit Schokoriegel. Auf den Kaffee würde er noch kurz warten müssen, da er seiner Sekretärin zu spät Bescheid gegeben hatte. Er mochte eben das abgestandene Zeug aus Kaffeekannen nicht. Die Vorbereitung der Unterlagen für das Meeting am nächsten Tag hatten länger gedauert, als er ursprünglich angenommen hatte, wanderten seine Gedanken doch immer wieder zu jemand anderem, der auch den Namen Pegasus trug. Er würde noch bis mittags in der Stadt sein, hatte er gesagt. Aber konnte sich Seto trauen, bei ihm aufzukreuzen? Und was wollte er ihm eigentlich sagen? Selbst wenn in seinen Worten tatsächlich eine Liebeserklärung versteckt gewesen war, was fühlte er selbst? Natürlich sehnte er sich nach ihm. Auf der anderen Seite machte er ihn eindeutig wahnsinnig. Aber konnte man das wirklich schon Liebe nennen? Und da war ab und zu dieses fiese Stimmchen in seinem Kopf, dass ihm mitteilte, dass Chef doch jemand viel besseren als ihn verdient hätte. Jemand, der sich seine Aufmerksamkeit früher nicht durch eine Menge fieser Kommentare verdient hatte. Hatte er ihn damals etwa vertrieben? Die Tür ging leise auf und seine Sekretärin kam mit einer großen Tasse hinein. Statt wie sonst sie einfach wortlos abzustellen und dann wieder zu gehen, teilte sie ihm heute mit: „Draußen wartet bereits Ihr 11-Uhr-Termin. Kann ich ihn schon zu Ihnen rein schicken?“ Energisch schüttelte er den Kopf. „Nein, sagen Sie ihm ab. Ich bin nicht zu sprechen.“ „Ich werde ihn nicht wieder wegschicken. Hören Sie, der gute Mann hat ein Jahr lang auf diesen Termin gewartet und laut seiner eigenen Aussage, wird er nur fünf Minuten brauchen. Ich sage ihm, dass er zu Ihnen kann.“ Was waren denn das für Töne? Seit wann widersprach sie ihm so offen? Seine Erwiderung konnte er jedoch nicht anbringen, denn die Tür war bereits wieder geschlossen und als sie das nächste Mal auf ging, trat nicht seine Sekretärin, sondern ein Mann in seinem Alter ein. Zumindest vermutete er das, denn hinter der schwarzen Sonnenbrille, war seine Augenpartie nicht zu erkennen. Er trug keinen Bart, dafür waren seine brünetten Haare lang genug, dass er sie am Hinterkopf zusammenbinden konnte. Seine Lederjacke stand im Kontrast zu dem teuren Hemd und den dunklen Anzugschuhen. „Guten Tag, Mister Kaiba. Vielen Dank, dass Sie sich kurz für mich Zeit nehmen“, sprach der Fremde, während er sich seinem Schreibtisch bis auf einen Meter Entfernung näherte. Er sprach mit Akzent. Britisch, wenn Seto sich nicht irrte. „Meine Sekretärin konnte mir keine Angaben dazu machen, was Ihr Anliegen ist – also?“ Er lehnte sich betont lässig in seinem Schreibstichstuhl zurück. Es ärgerte ihn, dass er zu dem anderen aufsehen musste, doch wollte er ihm noch weniger einen Stuhl anbieten, solange er nicht dessen Intentionen kannte. „Eigentlich ist es ganz simpel“, antwortete sein Gegenüber. „Als ich mir den Termin heute vor einem Jahr geben ließ, hatte ich vorgehabt, Sie anzubrüllen und meine Wut an Ihnen auszulassen. Doch“, fuhr er einfach über Setos aufkeimenden Protest, „dann habe ich Sie mit Jo gesehen. Oder genauer gesagt, ihn bei Ihnen. In all den Jahren war er bei mir nie so lebendig, hat kein einziges Mal so gelacht, hat von innen heraus so gestrahlt.“ Er hielt kurz inne und schien mit den Worten zu kämpfen. „Mir wurde klar, dass es gut war, ihn freizugeben. Und wenn Sie es schaffen, dass er so ist, bin ich Ihnen auch nicht mehr böse. Daher bleibt mir nur noch eins zu tun.“ Er kam noch näher und streckte Seto, der das alles noch für einen Scherz hielt, über den Tisch hinweg die Hand hin. Während dieser sich erhob, nahm er die Sonnenbrille ab. „Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Guten mit Joseph." Überrascht blickte Seto in das Gesicht direkt vor ihm. Feine, aber doch männliche, kantige Züge und Augen so blau und tief wie das Meer. „Danke“, sagte er geistesabwesend und konnte den Blick nicht abwenden. Die Größe, das Gesicht. Hätte sich herausgestellt, dass er ein ihm unbekannter Cousin oder gar Bruder wäre, hätte es ihn nicht einmal überrascht. Es war beinahe als sähe er in einen Spiegel, nur um dort eine alternative Version seines Ichs zu erblicken. Verwirrt blinzelte er, als sich sein Gast abwandte und zur anderen Seite des Raumes ging. „Warten Sie!“, rief er ihm schnell hinterher. Der andere drehte sich um und blickte ihn auffordernd an. „Ja?“ „Wer sind Sie eigentlich?“ „Ryan. Jos ehemaliger Verlobter.“ Damit drehte er sich auch schon um und war aus der Tür, die er hinter sich zu zog, bevor Seto die Mitteilung verarbeitet hatte. Seine Stirn landete auf der Holzplatte des Schreibtischs, danach stand er auf und lief wie ein eingesperrtes Tier in seinem Zimmer auf und ab. Das war also einer von den Exfreunden seines Hündchens. Und er hatte die Beziehung beendet, obwohl er noch sichtbar an ihm hing. Nur weswegen? Ihm fiel das Gespräch von seinem vorletzten Urlaubstag wieder ein. Alle seine Beziehungen waren gescheitert, weil er immer noch Gefühle für jemanden hatte, den er nie erreichen könnte. Das erklärte aber nicht, weswegen er soeben sein Ebenbild im Büro gehabt hatte und es sauer auf ihn gewesen war. Wieso musste die Führung eines Großkonzerns leichter sein als aus seinen Mitmenschen schlau zu werden, sobald es ihn als Privatperson betraf? Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und starrte an die weiße Decke seines Büros. Gab es überhaupt einen Weg, wie das alles Sinn machen konnte? Ryan hatte ihm alles Gute für ihn und Chef gewünscht, dass hieß er ging davon aus, dass sie zusammen waren. Doch wieso sollte es bei ihm anders laufen als bei all den Beziehungen zuvor? Weil er … Nein, das war Blödsinn. Er hätte sich bestimmt nicht in das Ekel verliebt, dass er früher ihm gegenüber war. Unmöglich. Und was, wenn nicht? Wenn er ihm seinen Namen nur deswegen nicht genannt hatte, weil er Angst gehabt hatte, dass, wenn er es wüsste, ihn wieder so wie früher behandeln würde? So hatte er ihn völlig unvoreingenommen genauer kennen gelernt. Was, wenn... Seto sprang auf, nahm sich gerade genug Zeit seinen Computer zu sperren, und rannte dann aus seinem Büro. „Ich bin weg – sagen Sie alles ab, was heute noch anfällt“, rief er seiner Sekretärin zu und zückte gleichzeitig sein Smartphone. Über Kurzwahl teilte er Roland mit, dass er die Limousine vorfahren sollte. Im Aufzug, auf den er wenigstens nicht warten musste, weil er automatisch dort bereitstand, wo er sich aufhielt, sah er auf die Uhr. Es waren nur noch wenige Minuten bis zwölf. „Bist du dir sicher, dass du jetzt schon fahre willst?“, wollte Martine zum x-ten Mal an diesem Tag von ihm wissen. „Wir können auch noch kurz eine Kleinigkeit essen und dann erst los.“ Doch Chef schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Martine, ich bin mir sicher, dass ich jetzt los will“, sprach er und unterstrich seine Aussage, indem er in den Kombi stieg und sich anschnallte. Der Wagen war schon vor zwei Stunden abreisebereit gewesen, aber sie hatten gewartet, weil Ryo sich noch von ihm hatte verabschieden wollen. Sobald er aufgetaucht war, wussten sie auch wieso. Breit grinsend drückte er Martine ein Paket in die Hand. „Für deinen Bruder“, hatte er schlicht gesagt und sich dann seinem Freund gewidmet. „Und nun zu dir, Joey. Wehe, du brauchst wieder so lange, bis du hier auftauchst! Wenn wir dich nicht vor deinem Geburtstag noch mal hier sehen, werden Marik und ich bei dir ohne Vorwarnung vor der Tür stehen!“ „Drohung oder Versprechen?“ „Vielleicht beides“, meinte Ryo trocken. „Und wenn dich irgendein Typ nerven sollte – sag uns einfach Bescheid und wir kümmern uns darum, soll ich dir von Marik ausrichten.“ Er umarmte ihn. „Momentan nerven mich zwar keine Typen, aber danke für das Angebot. Aber ihr werdet bitte nicht rückfällig, ja?“ „Wir doch nicht!“ Ryo verzog den Mund zu einer Flunsch und ließ sich von Martine zur Beruhigung und zum Abschied umarmen. Leise flüsterte sie ihm ins Ohr: „Woher weißt du das mit ihm und Kaiba?“ Genauso leise kam seine Antwort: „Intuition. Und ein ganz spezieller Spion, der ihn sich heute vorgeknöpft hat.“ Damit ihrem Neffen nichts auffiel, trennten sie sich und Ryo ging kurz danach seiner eigenen Wege. Ein unbestimmtes Bauchgefühl verriet ihr, auf wen er angespielt hatte, doch konnte sie es nicht so recht glauben. „Na dann. Meinetwegen“, stieg sie zu Chef ins Auto. Während sie sich ebenfalls anschnallte, fragte sie nach: „Hast du alles. Nichts vergessen?“ Entschieden schüttelte er den Kopf. „Nein, ich habe alles. Wir können los.“ Also startete sie den Motor und fuhr aus der Tiefgarage. Vier Straßen weiter winkte ihnen eine Nachbarin zu, die sie dank des innerstädtischen, langsamen Tempos gut hinter den Scheiben erkennen konnte. Sie grüßte zurück und hielt wegen der Ampel an. „Hast du auch noch mal alle Schränke kontrolliert?“ „Mein Gott, Martine, was ist mit dir los?“, schnaubte Chef. „Ja, ich habe mir alles noch einmal genau angesehen. Und jetzt hör auf dich aufzuführen, als wären wir in einem Hotel an einem schlecht erreichbaren Ort gewesen. Was wir vergessen haben, nimmst du einfach das nächste Mal mit. So schwer kann das doch nicht sein.“ Dann hüllte er sich in Schweigen. Er wollte einfach nur noch diese Stadt hinter sich lassen. Seto gab Roland kaum Zeit zu bremsen, da war er auch schon aus der Limousine gesprungen und auf dem Weg zur Haustür. Wie ein Verrückter hämmerte er auf die Klingel ein, die mit „Pegasus“ beschriftet war. Gedämpft hörte er jedes Mal, wie es klingelte, doch gab es keine Reaktion. Während er weiter klingelte, schaute er auf die Uhr. Es war erst kurz nach zwölf. Sein Hündchen müsste noch da sein. Er musste einfach! „Entschuldigen Sie, junger Mann?“ Wie von der Tarantel gestochen schnellte er herum und sah etwas verwirrt zu einer alten Frau hinab, die sich bereits mit dem Schlüssel in der Hand hinter ihm aufgebaut hatte. „Dürfte ich kurz aufschließen? Dann können Sie gerne drinnen an der entsprechenden Tür weiterklingeln.“ Sie hatte ein leicht verschmitztes Lächeln auf den Lippen und blickte ihn freundlich an. „Na... Natürlich“, erwiderte Seto und machte ihr Platz. Als die Tür offen stand, folgte er ihr in die kleine Eingangshalle. Sie drückte die Taste für den Aufzug und fragte ihn dann beiläufig: „Zu wem möchten Sie denn?“ Kurz zögerte er, antwortete dann jedoch wahrheitsgemäß: „Joseph Pegasus.“ „Mein Ärmster. Der ist vor zehn Minuten mit seiner Tante abgereist. War es denn dringend?“ Wie mit Eiswasser begossen starrte er sie an. „Nein, nein. Es war nicht dringend. Ich hatte ihn nur etwas fragen wollen. Vielen Dank für die Auskunft.“ Betäubt verließ er das Gebäude wieder und nahm seinen gewohnten Platz auf der Rückbank ein. Hätte er nicht so lange gebraucht, um zu kapieren, was wirklich Sache war, hätte er ihn vielleicht noch erwischt. Er wollte gerade Roland Bescheid geben, dass er ihnen hinterher fahren sollte, entschied sich aber um. Er wusste noch nicht einmal wie das Auto aussah. Und was, wenn sie einen anderen Weg zum Hotel fuhren als er? Chefs Handynummer besaß er nicht, um nachzufragen, und er würde sich hüten Martine anzurufen, die ihn vermutlich einen Kopf kürzer machen würde und keineswegs weiterreichen. Seinen Bruder wollte er auch gerade nicht sprechen. Der würde ihm nur klar machen, dass er es selbst verbockt hatte und sich deswegen gerne bei ihm würde ausheulen dürfen, aber er würde bestimmt Martine alles mitteilte. Was konnte er eigentlich überhaupt machen? Er wollte eine letzte Chance, mit Chef zu sprechen. Aber über wen käme er an ihn ran, ohne gleich mit sämtlichen Vorwürfen konfrontiert zu werden? Yuki, kam es ihm plötzlich in den Sinn. Sie könnte ihm zumindest sagen, wie ihr Boss drauf war. Über den kleinen Bordcomputer loggte er sich in das Go-Forum, das sie ihm genannt hatte, ein und schrieb ihr. Hallo Yuki, ich hab Mist gebaut. Kannst du mir helfen, es wieder auszubügeln? „Du hättest jetzt gerade abbiegen müssen“, wies Chef Martine auf ihr Versäumnis hin. „Nein, hätte ich nicht“, erklärte sie und erhöhte ihr Tempo leicht, als sie einen LKW überholte. „Doch hättest du! Die nächste Möglichkeit Richtung Hotel abzubiegen kommt sonst nämlich erst wieder in einer Stunde. Wende bitte bei der nächsten Gelegenheit und fahr zurück!“ Sie warf ihm einen kurzen belustigten Blick zu. „Du solltest ein Navigationsgerät besprechen. 'Hier hätten Sie links abbiegen müssen. Schade eigentlich.' Aber wie kommst du bitte darauf, dass wir zum Hotel fahren?“ „Tun wir nicht?“ „Nein, ich hab gestern mit Lion gesprochen und er hat mich gebeten, dass ich dich übers Wochenende mit nach Hause bringe.“ Das war eine glatte Lüge. Zwar hatte ihr Bruder seinen Sohn seit Silvester nicht mehr gesehen, doch hatte er sie eigentlich nur darum gebeten, Donnerstagabend wieder da zu sein, da er freitags eine Reihe wichtiger geschäftlicher Termine hatte. Aber sie wollte Chef noch ein bisschen mehr Ruhe und Geborgenheit zu gedeihen lassen, bevor er zu seiner Arbeit zurückkehrte. Sie hatte gehofft, der Trip nach Domino würde ihn etwas aufheitern, doch mittlerweile stand es um ihn fast schlimmer als noch vor einer Woche. Die Entscheidung war zwar eigenmächtig getroffen, doch sie hoffte, dass sich beide Männer darüber freuen würden. Und nichts brachte besser auf andere Gedanken als den ganzen Tag hinter ihren Zwillingen her zu rennen und aufzupassen, dass sie nicht zu viel Blödsinn anstellten. „Na dann“, meinte Chef schlicht nach einer Weile. „Ist es okay für dich, wenn ich mir ein wenig Musik anmache?“ Er wartete gar nicht erst ihre Antwort ab, sondern scrollte sich mittels Adapter durch die große Auswahl an Playlists. „Was verbirgt sich hinter 'Smile'?“ „Wirst du dann sehen.“ Er las sich nicht die einzelnen Titel durch, sondern startete sie einfach und lehnte sich dann wieder gemütlich in den Sitz zurück. Der Blick rüber durchs Lenkrad hindurch verriet ihm, dass Martine eindeutig nach Hause wollte. Vielleicht schafften sie die Strecke ja in unter sechs Stunden, auch wenn Lion sie dafür beide rügen würde. Er machte sich immer Sorgen, sobald sie das Tempolimit etwas überschritten. Das erste Lied endete und das zweite begann. Anscheinend hatte er Martines Gute-Laune-Liste erwischt. Bald summte er mit, nur um schlagartig inne zu halten. Did you know that true love asks for nothing. Er hob die Hand um das Lied zu überspringen, doch Martine hielt sie fest, den Blick weiterhin auf die Straße gerichtet. „Lass es einfach durchlaufen, ja?“ Stumm gehorchte er und ließ einfach nur noch die Musik auf sich wirken. Zum Schluss merkte er wie langsam seine Mundwinkel nach oben wanderten und er selbstvergessen lächeln musste. Das Leben war einfach viel zu schön, um sich von seinen Gefühlen nach unten ziehen zu lassen. Sein Herz würde sich irgendwann abfinden, nicht sein romantisches Glück zu finden. Die Wunden würden heilen und nur noch Narben zurück lassen. Er blickte zu seiner Tante. Sie war so glücklich und lebensfroh, obwohl auch sie ziemlich hart auf dem Boden der Tatsachen gelandet war, als man mehr als einmal auf ihren Gefühlen herumgetrampelt war. Man konnte es überleben. Nach vorne sehen und weitergehen. Nach einer Weile würden die Schritte wohl leichter werden, bis er ihn endlich los lassen konnte. Sein Herz keinen Hüpfer mehr machte, wenn er ihn sah oder nur seinen Namen hörte. Nach all den Jahren hatte er den Beweis bekommen, dass er ihn nie verstehen würde, und seltsamerweise machte es das für ihn leichter. Melancholisch lächelte er vor sich hin, während draußen die Landschaft vorbeizog. Er fuhr diese Strecke nicht so oft, weswegen sie immer wieder Neues für ihn bereit hielt. Er konnte nicht der Einzige für ihn gewesen sein. Kurz dachte er daran, sich bei Ryan zu melden, doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Er wollte ihm auch die Chance geben, damit abzuschließen, und es würde nur alte Wunden aufreißen, wenn er es täte. Erst als der Wagen von Asphalt zu Kies wechselte, wandte er sich wieder anderen Dingen zu. Dingen, die dringlicher waren. Denn aus der großen Haustür stürmten ein blonder und ein weißhaariger Wirbelwind und rissen von außen die Tür auf, sobald der Motor stoppte. „Chef! Chef! Chef!“, riefen seine Cousine und sein Cousin aufgeregt durcheinander, um seine Aufmerksamkeit ringend. Ein wenig traurig stieg Martine aus und wurde von ihrem Bruder, der hinter den beiden ebenfalls nach draußen geeilt war, mit einem Kuss auf die Wange begrüßt. „Was ist, Kleine?“, fragte er, bekam aber nur einen kurzen Blick rüber zu ihren Kindern als Antwort. Sie waren bereits den ganzen Tag schon ziemlich unruhig, seit ihre Mutter morgens angerufen und angekündigt hatte, dass sie jemand ganz bestimmten mitbringen würde. „Es sind eben noch Kinder und Chef sehen sie noch seltener als dich.“ Maximillion wich einem Rippenstoß aus und legte ihr dann den Arm um die Schultern. Sanft schob er sie Richtung Kofferraum, wo er das Gepäck vermutete. Er schnappte sich den Koffer seines Sohnes, der alle Hände damit zu tun hatte, Ethan und Clara zu beruhigen, und sagte laut: „Was haltet ihr von etwas zu essen?“ „Gute Idee! Ich bin am verhungern!“ Chef erleichterte seinen Vater um die Last und verschwand ins Innere der Villa, dicht gefolgt von den beiden jüngsten in der Runde, die wieder um ihn herum sprangen. Martine nahm ihre Handtasche aus dem Auto und schloss ab. „Willst du nicht vielleicht heute auch hier schlafen?“, fragte Maximillion leise, während sie dem Lärm in Richtung Esszimmer folgten. „Du siehst ziemlich kaputt aus. Als würdest du die viele Fahrerei nicht mehr so gut wegstecken.“ Sie schüttelte nur den Kopf. „Keine Angst, die sechs Stunden Fahrt waren in Ordnung. Ich hab einfach nur nicht so viel geschlafen, die letzten Tage. Das ist alles. Brauchst dir also keine Sorgen zu machen.“ Er bedachte sie mit einem Blick, der ihr stumm mitteilte, dass er sich auch so noch genug Sorgen machte. „Aber dein Angebot werde ich, glaub ich, annehmen. Denn bis ich mit den Kindern zu Hause bin, ist es für sie viel zu spät. Ich hoffe nur, dass ich sie vor acht Uhr in die Falle kriege, so aufgedreht, wie die beiden sind.“ Zusammen betraten sie das Esszimmer, an dessen großen Tisch bereits die anderen saßen. Martine nahm vor dem zweiten Gedeck Platz und ließ sich von der Haushälterin ihres Bruders Fleisch und Kartoffeln geben. Ihr Neffe aß still vor sich hin, so blieb es an ihr hängen, ab und zu Fragen ihrer Kinder oder ihres Bruders zu beantworten. Über Kaiba sprach sie kaum, tat auch ihr Duell, dass sie zwangsläufig erwähnen musste, weil Lion regelmäßig ihre Statistik durchsah, als eine Idee von Mokuba ab. „Er hat im Übrigen jetzt eine Freundin“, erzählte sie zwischen zwei Schlucken Wasser. „Wir sind beide total aufgeregt und nervös deswegen, weil es dieses Mal etwas Ernsteres zu seien scheint. Sie haben sich wohl durch einen gemeinsamen Kurs an der Uni kennengelernt, aber mehr hat Mokuba mir leider nicht verraten. Aber nach dem, was er erzählt, scheint sie nett zu sein – ich durfte sie leider noch nicht treffen, daher muss ich mich auf seine Aussage stützen.“ „Ist vielleicht auch besser so. Sonst verschreckst du sie ihm noch!“, witzelte Lion und bekam dafür eine bösen Blick von seiner Schwester zugeworfen. „Wieso sollte Mum sie verschrecken?“, fragte Ethan, der mit wippenden Beinen auf einem Stuhl neben seiner Schwester saß, die verträumt ein Bild an der gegenüberliegenden Wand anstarrte und scheinbar nicht zuhörte. Doch jetzt antwortete sie ihm: „Weil Maman die meisten Leute einschüchtert, selbst wenn sie zu ihnen nett ist.“ Chef verschluckte sich an einem Stück Kartoffel und konnte erst wieder richtig atmen, nachdem Maximillion ihm mehrmals kräftig auf den Rücken geschlagen hatte. Martine lächelte einfach nur traurig. Die beiden wurden viel zu schnell erwachsen. Dabei würden sie im Sommer doch erst sieben werden und sie bemühte sich, ihnen eine möglichst unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Ethan schien mit der Antwort nicht ganz einverstanden und erwiderte: „Aber sie ist doch lieb! Die anderen sind einfach nur zu doof!“ Statt sich auf die Diskussion einzulassen streckte Clara ihm die Zunge raus und rutschte dann von ihrem Stuhl, bis sie mit den Füßen auf den Boden kam. „Maman, darf ich spielen gehen?“ „Sicher, meine Süße.“ Sie gab ihr einen kleinen Kuss. „Du darfst auch spielen, wenn du magst, Ethan.“ Doch der schmollte und blieb auf seinem Stuhl sitzen. So zog das Mädchen allein von dannen, fröhlich ein Lied vor sich hin singend. Still aßen ihre Mutter und ihr Cousin, der noch einen Nachschlag erhalten hatte, auf. „Kommst du mit ins Wohnzimmer? Du darfst noch eine halbe Stunde spielen, bis du ins Bett musst“, versuchte Martine es noch einmal bei ihrem Sohn und streckte die Hand nach ihm aus, die er ergriff und erst wieder los ließ, als er in Mitten der Bausteine Clara entdeckte, die verzweifelt versuchte, daraus einen Turm zu errichten. „So klappt das nicht! Schau mal.“ Er nahm sich ein paar der noch nicht verbauten Steine und schichtete sie auf. Eine Weile wurde er überlegend gemustert, dann stieß Clara ihr Fundament um und baute das nach, was er angefangen hatte. Als ihr Turm immer höher wurde, umarmte sie ihn und bat ihn stumm ihr bei dem Rest zu helfen. Gemeinsam gelang es ihnen gerade noch bis zum Schlagen der großen Standuhr alle Steine zu verbauen. Stolz blickten sie Hand in Hand auf ihr Meisterwerk, bevor sie sich zu ihrer Mutter umdrehten, die sie die ganze Zeit gedankenversunken beobachtet hatte. „Darf Chef uns ins Bett bringen? Wir sind auch ganz brav“, bettelten sie unisono. Brav gaben sie ihr und ihrem Onkel einen Gute-Nacht-Kuss und zogen ihren Cousin dann in Richtung ihres Schlafzimmers, sobald sie die Erlaubnis erhalten hatten. Müde ließ sich Martine in das weiche Himmelbett fallen. Sie hatte Lion einfach nicht davon überzeugen können, dass so ein Prinzessinnenbett nicht mehr ganz altersgemäß war, doch an Tagen wie diesen war sie froh darüber. Chef hatte doch ihre Hilfe gebraucht, als ihr Nachwuchs im Badezimmer anfing eine Wasserschlacht zu veranstalten, statt sich kurz das Gesicht zu waschen und anschließend die Zähne zu putzen. So war es nach acht Uhr gewesen, als die beiden endlich in ihren Betten lagen und ihre Gute-Nacht-Geschichte gehört hatten. Sie hatten sich Rapunzel gewünscht und so war es dann doch wieder an ihr gewesen, sie zu erzählen, während Chef hinter ihrem Rücken Pantomime machte, wodurch die Kleinen ab und zu an seltsamen Stellen zu kichern begannen. Aber jetzt schliefen sie endlich tief und fest – sie hatte sich selbst noch einmal davon überzeugt, bevor sie sich umzog. Doch über alle dem hatte sie nicht vergessen, dass sie sich noch Gedanken machen musste, was sie nun mit Kaiba machen sollte. Er hatte ihre Warnung ignoriert und das konnte sie nicht einfach so übergehen, als ob nichts gewesen wäre. Sie hatte auch schon eine Idee, doch wäre dafür ein wenig Recherche notwendig. Schon leicht schlaftrunken griff sie nach ihrem Smartphone auf dem Nachtisch und blickte wie hypnotisiert auf das Display. Kurz überlegte sie, wie der Sperrpin lautete und vertippte sich fluchend beim ersten Versuch. Doch der zweite Anlauf funktionierte. Die Anzeige, dass sie zehn neue E-Mails hätte, übersah sie geflissentlich. Dafür zog eine SMS ihre Aufmerksamkeit auf sich. Was wollte denn Yuki von ihr? Wärst du bereit im Sommer Haus 3 für deinen besten Freund und dessen Bruder zu räumen? Sag Chef nichts. Danke. LG Yuki Wie bitte? Was wollte Mokuba ihm Hotel? Und dann auch noch mit seinem Bruder? Irgendetwas kam ihr daran seltsam vor. Mokuba hätte sie doch selbst gefragt, wenn er vor hätte zu kommen. Also musste die Anfrage von Seto Kaiba gekommen sein. War der wirklich so bescheuert? Der konnte doch seinen Urlaub sonst wo machen, da musste er doch nicht bei Jo absteigen. Genervt legte sie das Gerät an seinen Platz zurück und kuschelte sich weiter in ihre Decke ein. Oder er wachte endlich auf und wollte aktiv werden. Na dann. Vielleicht hatte sie gerade einen Weg gefunden, ihm eine Lektion zu erteilen und ihren Neffen am Ende zu seinem Glück zu verhelfen. Siegesgewiss verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. Aber da war sie auch schon eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)