Urlaubsreif^2 von flower_in_sunlight (auch ein Chef braucht mal Urlaub) ================================================================================ Kapitel 14: Dienstag 24.3 ------------------------- Als er am nächsten Morgen in die Küche kam, staunte er nicht schlecht. Im Licht des neuen, aber nicht mehr ganz so jungen Tages saß Martine mit ihrer Kaffeetasse und las gemütlich ein Buch. Schnell blickte er auf seine Uhr. Aber nein, er hatte sich beim Aufstehen nicht geirrt und der Vormittag war tatsächlich bereits etwas voran geschritten. „Morgen“, grüßte er erstaunt und nahm dankbar die ihm prompt entgegen gehaltene zweite Tasse samt Inhalt entgegen. Während er sich setzte, hakte er nach: „Ich dachte, du hättest heute morgen einen Auftrag?“ „Hatte ich auch. Ich bin seit vier auf den Beinen und habe hagere junge Frauen fotografiert, die befürchteten, dass bereits Kaffee zu viele Kalorien hat. Ohne sie hätten das ein paar ziemlich coole Aufnahmen vom Hafen werden können.“ „Wie hoch war den die Gage, dass du es dir dann freiwillig angetan hast?“ „Hoch genug. So konnte ich mir wenigstens frisch Brötchen für ein zweites Frühstück und etwas Frisches für unser Abendessen leisten.“ Sie reichte ihm den Korb mit einer kleinen Auswahl an europäischen Brötchen und stellte dann ihre Tasse auf dem Tisch ab, um sich einen Bissen ihres Roggenmehltraums mit Erdbeermarmelade zu gönnen. „Das Buch ist ja anscheinend ziemlich spannend“, stellte Chef trocken fest und grinste sie an. Es war aber auch zu putzig, wie sie mit angezogenen und verknoteten Beinen auf dem Küchenstuhl saß und vor sich hin lächelte, während sie gleichzeitig ihr Frühstück aß und in dem dicken Wälzer verschwand. „Könnte man so sagen.“ Sie hielt kurz inne und wechselte wieder zu ihrer Tasse. „Apropos sagen. Ich hab gestern Abend Mokuba angerufen, um ihn zu beten, seinen Bruder an unser Duell zu erinnern. Aber er meinte bloß, der wisse schon Bescheid und stelle wie ein Verrückter sein Deck zusammen. Kannst du mir dazu irgendetwas Näheres sagen?“ Jetzt sah sie ihn direkt und ziemlich durchdringend an. Wieso waren diese Augen samt diesen Blicks nicht schon längst verboten worden? Schließlich gab er es auf und seufzte: „Vielleicht – aber auch wirklich nur vielleicht, habe ich ihn gestern im Zimmer der Direktorin getroffen und ihn kurz auf den Termin hingewiesen.“ Er schwieg und hoffte, dass die Sache damit erledigt wäre. „Und weiter?“ So konnte Mann sich irren. „Vielleicht habe ich ihn dazu überredet mit mir in die eine Karaokebar zu gehen und mir etwas vorzusingen. Und so rein zufällig habe ich dann angefangen ziemlich heftig mit ihm zu knutschen...“, wurde er zum Ende hin immer leiser. Wieso war ihm nie aufgefallen wie interessant europäisches Frühstück sein konnte? Er hob den Blick von seinem Teller erst wieder, als Martine ihn fragte: „Wie spät ist es eigentlich?“ „Kurz nach zehn.“ Und prompt war die gemütliche Atmosphäre auf ihrer Seite des Tisches dahin. Er konnte kaum so schnell gucken, wie sie mit einem „Muss zu meinem nächsten Auftrag! Sammel dich dann später in der Stadt ein!“ aus dem Raum verschwunden war. Nur eine Minute später, fiel die Wohnungstür laut ins Schloss. Doch die Zeit die sie durchs Schnüren ihrer Sneaker verloren hatte, würde sie durch die gewonnene Geschwindigkeit unterwegs wieder wett machen. Insgeheim war er froh, dass sie ihn so unerwartete alleine gelassen hatte. Manchmal war es wirklich gruselig, wie leicht sie Informationen aus ihm herausbekam. Zum Glück wollte sie nie im Voraus wissen, was sie zum Geburtstag bekam, denn sonst wüsste sie gleich alles über sämtliche Geschenke, die sie von der Familie zu erwarten hatte. Er stellte sich das Radio an und summte die Melodie eines Liedes, das er seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Er mochte den Kontrast zwischen der Stimmung der Musik und dem Text und genoss es einfach nur zuzuhören. Erst danach widmete er sich wieder seinem Essen und überlegte, was er bis drei Uhr nachmittags anstellen könnte. Das Wetter draußen war immer noch ein Traum und schien stabil zu sein – zumindest hatten sich, seitdem er von dem hellen Licht draußen geweckt worden war, keine Wölkchen mehr auf den blauen Himmel getraut. Er könnte ein wenig durch die Stadt bummeln, dabei etwas die Sonne genießen, und zum Schluss das Versprechen einlösen, das er Marik gegeben hatte. Plötzlich wurde er hibbelig, stellte das schmutzige Geschirr schnell in den Geschirrspüler und düste dann Richtung Badezimmer. Schnell erledigte er das Nötigste, damit er sich guten Gewissens unter Leute trauen konnte, und kramte dann im Schrank nach frischer Kleidung. Trotz Rauchverbots haftete an seinen Sachen vom Vortag einfach zu sehr dieser typische Kneipengeruch, den er trotz seiner feinen Nase gerade mal in drei Hauptbestandteile untergliedern konnte. Und wenn er ehrlich war, mochte er nur den Geruch nach der Holzpolitur, die er Barkeeper immer noch verwendete, davon. Im Flur sah er noch aus dem Augenwinkel Martines kleine Kamera, die sie für Schnappschüsse verwendete, und steckte sie neben Portemonnaie und Handy in seinen Mantel. Er hielt sich nicht damit auf, auf den Aufzug zu warten, nahm die Treppe und trat auf die Straße, wo ihn augenblicklich der Frühling in Empfang nahm. Die Temperaturen waren bestimmt zweistellig, er konnte die Vögel zwitschern hören und an den Bäumen entlang der Straße konnte er vereinzelt das erste frische Grün ausmachen. Kaum zu glauben, wie sich in einer einzigen Nacht die Welt so stark verändern konnte! Während er sich aus dem Stadtzentrum weg begab, knöpfte er nach und nach seinen Mantel wieder auf und ärgerte sich ein wenig, dass er ihn überhaupt erst geschlossen hatte. Wäre er nicht zu faul, ihn über dem Arm zu tragen, würde er vermutlich nur noch im Hemd herum laufen. Martine würde ihm bestimmt den Kopf abreißen, wenn sie ihn dabei erwischen würde und eine Moralpredigt bezüglich frühjährlicher Erkältungen halten. In manchen Momenten kam die Mutter in ihr leider zu sehr durch. Gut zwei Stunden schlenderte er durch die verschiedensten Stadtteile Dominos, bevor er sich auf den Rückweg machte. Die Stadt hatte wirklich einiges an Geld investiert, um das Stadtbild großflächig zu verändern. Wo früher nur selten gemähte Wiesen waren, befanden sich jetzt kleine Spielplätze und kurzer Rasen. Die Verkehrsinseln waren praktisch, jedoch schön bepflanzt. Zwar gab es jetzt mehr Mülleimer, doch dafür waren die Gehwege so sauber wie nie zuvor. Chef konnte es kaum fassen, wie sehr sich seine Heimatstadt gewandelt hatte, obwohl er stellenweise nicht ganz unschuldig war. Dank seines Namens waren endlich im Stadtrat ein paar seiner Vorschläge ernst genommen worden, die früher vermutlich allesamt im Müll gelandet waren. Wegen des üppigen, späten Frühstücks und der Aussicht auf eine warme Mahlzeit in der Wohnung später, fiel sein Mittagessen etwas kleiner aus. Aber dafür genoss er draußen vor dem Imbiss weiterhin die Sonne. Mit etwas Glück bekam er die erste Farbe für dieses Jahr und konnte so damit vor seinem Team argumentieren, wenn sie ihm das nächste Mal vorwarfen, er vergrabe sich viel zu sehr in seinem Büro. Kurz nach zwei machte er sich wieder auf den Weg. Die Stadtbücherei war in der Nähe und damit auch der Austragungsort eines Duells, das er sich definitiv nicht entgehen lassen würde, doch dorthin wollte er noch nicht. In Sichtweite seines späteren Ziels bog er in eine andere Straße ein und ging dort noch hundert Meter, die ihn schlagartig von dem Trubel der lärmigen Hauptstraße entfernten. Schon damals war ihm dieser plötzliche Abfall der Lautstärke aufgefallen. Als hätte man eine Decke über alles gelegt, um jegliches Geräusch zu ersticken. Einen letzten Moment stand er unschlüssig vor dem eisernen Tor und atmete tief durch. Er wusste selbst nicht wieso, aber sobald er sich auf dessen anderer Seite befand, schnürte es ihm die Kehle zu. Aber er hatte die Pflicht dort wenigstens ein Mal, wann immer er in der Stadt war, nach dem Rechten zu sehen. Das Tor ließ sich mit ganz wenig Kraft und ohne ein Quietschen öffnen und hinter ihm schließen. Wenigstens würde er wieder von hier weggehen können – was für den Rest der Leute hier nicht galt. Er schritt die Platten der schmalen Wege ab und hielt auf einmal inne, als er den vertrauten Namen las. „Hallo, alter Mann“, begrüßte er seinen Vater. „Lang nicht mehr gesehen. Nicht wahr?“ Er wusste genau, dass er keine Antwort erhalten würde, dennoch machte er eine Pause, als würde er auf diese warten. „Tut mir Leid. Aber es war wirklich Einiges los und Marik hat mir versichert, dass er regelmäßig nach dir schaut. Ich bin wirklich froh, dass er sich damals bereit erklärt hat, ab und zu nach dir zu sehen.“ Allmählich spürte er wie sich der gewohnte Kloß in seinem Hals aufbaute. Das letzte Mal hatte Ryan an seiner Seite gestanden, ganz ruhig, einfach nur still, und trotzdem hatte es ihm eine Menge Kraft gegeben. „Ich bin übrigens nicht mehr mit Ryan zusammen. Es hat nicht geklappt – aus den gleichen Gründen wie immer. So gesehen bewundere ich es schon ein bisschen, dass du und Mutter es so lange miteinander ausgehalten habt, um mich und Serenity zu bekommen und ein paar Jahre lang sogar gemeinsam zu erziehen. Ihr gefällt ihr Studium sehr gut. Serenity, meine ich. Sie hat bereits jetzt Angebote aus England von Professoren, die sie alle unbedingt an ihren Lehrstühlen haben wollen. … Keine Angst, ich checke natürlich vorher, ob sie wirklich nur akademisches Interesse an ihr haben. … Und ich hoffe du bist mir nicht böse, weil ich Maximillion mittlerweile Dad nenne – zumindest, wenn er nicht dabei ist. Sollte ich wohl demnächst offiziell nachholen.“ Er schwieg eine Weile und starrte nur auf den weißen Stein. Wie froh er war, dass es ein so schöner Tag war! Bei bedecktem Himmel oder gar Regen wäre es hier nicht zum Aushalten gewesen. „Aber es hat sich vor Kurzem einfach so ergeben. Und du wolltest ja nie, dass ich dich so nenne. So kann ich euch beide noch gut auseinander halten – sogar besser noch als vorher. Du bist der alte Mann und er ist Dad. Meinetwegen nenn ich dich aber auch wieder Vater.“ Jetzt drohte ihm wirklich die Stimme zu versagen und er zwang sich an etwas anderes zu denken. Vater. Martine, wie sie vor den Fotografien im Essbereich stand und schmunzelnd meinte, Ethan sehe ihrem Vater zusehend ähnlich. … „Martine gibt sich nachher die Ehre und verweist Seto Kaiba in seine Schranken. Ich freu mich schon seit Samstag auf dieses Duell. Du hast doch früher auch immer gesagt, dass dir der Typ viel zu arrogant ist – zumindest als dein Schwiegersohn. Vielleicht ist er es danach nicht mehr ganz so. … Wenn du wüsstest, wie oft ich mir wünsche, dass du hier wärst, um zu sehen, was ich mit meinem Leben angefangen und alles erreicht habe. Wie ich mir wünsche, noch einmal von dir zu hören, wie stolz du auf mich bist, weil ich den Sprung in ein neues Leben schaffen werde. … Du fehlst mir.“ Die einzelnen Tränen, die seine Wangen herunter liefen, ignorierte er. Eigentlich trauerte er schon lange nicht mehr, doch hin und wieder überrollten ihn die Erinnerungen und hielten ihn für eine Weile fest umklammert, bis er sich endlich wieder erinnern konnte, wie die Gegenwart aussah und, dass das Leben auch ohne ihn weiter gegangen war – irgendwie. Chef drehte den Kopf zu der Person um, die ihm ein Taschentuch vor die Nase hielt, sobald er erneut durch das Tor getreten war. „Danke“, nahm er es entgegen, wischte sich über die Wangen und schnäuzte sich dann gründlich. „Woher wusstest du, dass ich hier bin? Aber nicht schon wieder durch GPS-Ortung meines Handys?“ Energisch schüttelte Martine den Kopf. Sie musste sich zwischendurch umgezogen haben. Von den Sneakern, die sie meist für ihre Arbeit trug, war keine Spur zu entdecken. „Heiße ich etwa Maximillion Pegasus?“, fragte sie beleidigt. „Nein, aber Martine Pegasus. Das macht dich fast genauso schlimm.“ Sie streckte ihm einfach nur die Zunge heraus und ging die ersten Schritte zurück in die Hektik der nachmittäglichen Stadt. Brav folgte er ihr und steckte das Taschentuch in seine Manteltasche. „Ich hab für dich ein paar Bilder gemacht. Hab gedacht, du würdest gerne auch ein paar andere Ecken sehen als immer nur die, in die es die der Aufträge wegen verschlägt.“ „Danke, Süßer. Das ist lieb. Außerdem trainiert es deine natürliche Beobachtungsgabe. Bin schon gespannt darauf, mir die Bilder heute Abend anzusehen. Aber ich habe auch nachgedacht.“ Mit ernster Miene sah sie ihn an. Schon wieder diese Augen. „Du solltest mit ihm wirklich nochmal reden.“ Er musste nicht erst fragen, um zu wissen wen sei meinte. „Machen wir es so. Wir schließen eine kleine Wette ab.“ Sie hatte ihm schon an der Nasenspitze angesehen, dass er von diesem Thema nicht gerade begeistert war. „Wenn du gewinnst, musst du nichts weiter machen und ich lasse dich diesbezüglich in Ruhe. Verlierst du, gehst du morgen Abend mit ihm aus – mit allem was dazu gehört. Einverstanden?“ „Einverstanden. Und worum wetten wir?“ Sie waren nur noch wenige Meter von der Treppe, die in die Arena von der Straße aus führte, entfernt. „Um den Ausgang dieses Duells.“ Gemeinsam erklommen sie die Stufen. „Und? Was wettest du?“ Erwartungsvoll sah sie von der roten Außentür zu ihm. Chef musste nicht nachdenken. Die Antwort fiel ihm leicht. Ungeduldig blickte Seto Kaiba von der Uhr zu der Tür, zu seinem Deck und wieder zur Uhr. Seit geschlagenen zehn Minuten ließ sie ihn bereits warten. Was dachte diese Frau wer sie war? Zugegebenermaßen war er ein wenig zu früh da gewesen, doch eine gewisse Pünktlichkeit ihrerseits war doch nicht zu fiel verlangt. Er wollte sich gerade mit einer höhnischen Bemerkung über sie an Mokuba wenden, der es sich in der Mitte der untersten Bank bequem gemacht hatte, als die Uhr auf Punkt 15.00 sprang und sich die Tür nach draußen öffnete. Im Gegenlicht erkannte er sofort die schlanke Silhouetten der beiden Leute, die nun die Arena betraten. Ein leises Gemurmel ging durch die oberen Ränge, dort wo sich ein paar wenige Schaulustige eingefunden hatten, die irgendwie mitbekommen hatten, dass er sich heute duellieren würde. Sein Blick blieb automatisch an dem jungen Mann hängen, der Martine kurz nach ihrem Eintreten allein ließ und sich zu Mokuba gesellte. Die vertraute Art, wie sie sich begrüßten, versetzte ihm einen leichten Stich und auch das zurückkehrende kribbelnde Gefühl auf seinen Lippen vereinfachte die Situation nicht unbedingt. Seine Kontrahentin war währenddessen bis zur Mitte der anderen Seite vorgelaufen und sah ihn abwartend an. Da war wohl jemand von der alten Schule. Also begab er sich zu ihr, um sie zu begrüßen. Auf dem Weg zu ihr fielen ihm noch eine Reihe weiterer Details auf. Sie war ohne DuellDisk erschienen, weshalb er davon ausging, dass sie wirklich eine klassische Partie an den Terminals mit ihm spielen wollte. Ihre Kleidung war von Kopf bis Fuß schwarz, die hochhackigen Stiefel, die Hose, die bis zum Hals geschlossene Lederjacke. Ihre Haare waren streng nach hinten frisiert und fielen erst ab ihrem Nacken wieder lose auf ihren Rücken. Und dann erst ihr Blick, mit dem sie ihn nun bedachte. Er musste sich ernsthaft fragen, wie er noch am Freitag auf die Idee hatte kommen können, sie sei milde und warmherzig. „Guten Tag.“ „Guten Tag. Schön, dass Sie es einrichten konnten“, erwiderte sie. „Haben Sie schon das Duell ins System eingetragen?“ „Nein, noch nicht. Schließlich sind Sie darin noch nicht vermerkt.“ Ein spöttisches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Das lassen Sie Mal meine Sorge sein.“ Also drückte Seto einfach den Knopf, der die Sprachsteuerung des Systems aktivierte und befahl: „Neues Duell. Offizielle Wertung. Gegner. Seto Kaiba und“, er sah zu ihr hinüber, „Mar...“ Doch sie fiel ihm ins Wort: „M Crawford.“ Die nachfolgende Reaktion des Systems überraschte ihn. Zwar besaß es keine KI und nur eine begrenzte Logik, soweit sie eben bei Duel Monsters notwendig war, doch konnte er buchstäblich vor sich sehen, wie es vor ihr salutierte. Vor Jahren hatte er es so eingestellt, dass, sollte sich ein hochrangiger Spieler anmelden, es die Beleuchtung änderte und den Spieler begrüßte. Für sich selbst hatte er diesen Effekt deaktiviert, weswegen es ihn nun mehr als überraschte, die elektronische Stimme zu hören: „Guten Tag, Herrin.“ Nur mit Mühe konnte er sich unter Kontrolle halten. Herrin?! So hatte er das garantiert nicht eingestellt! Es sollte schlicht noch einmal der Name des Spielers wiederholt und nicht irgendwelche seltsamen Anreden verwendet werden. „Nach welchem Regelwerk möchten Sie spielen?“, fragte das System nun weiter. „Battle City. Das ist Ihnen doch auch hoffentlich Recht?“, antwortete Martine an seiner Stelle. Er brachte nicht mehr als ein Nicken zu Stande. Die halbe Nacht hatte er nach Aufzeichnungen von ihr gesucht, um einen kleinen Hinweis zu bekommen, wie ihr Stil war, hatte sämtliche Namenskombinationen ausprobiert, die ihm sinnvoll erschienen, doch der Gedanke, sie könne unter einem fremden Namen spielen war ihm nicht gekommen. „Wer ist Crawford?“ „Das ist der Mädchenname meiner Mutter. Und ich würde vorschlagen, dass wir mal langsam anfangen. Ich möchte Ihnen ja nicht unnötig viel von Ihrer kostbaren Zeit stehlen.“ Mit diesen Worten ging sie zu ihrem Terminal und übergab ihm ihr Deck. Mit leichten Zögern machte Seto es ihr nach und wartete dann, wen das System bestimmte, anzufangen. Die Wahl fiel auf ihn. Das Duell verlief enttäuschend normal ab. Er versuchte von Anfang an ein paar Monster zu rufen, die mächtig genug waren, um für seine weißen Drachen geopfert zu werden, während Martine erste kleine Erfolge über ihn verbuchen konnte, die ihm jedoch nichts ausmachten, hätte er doch mit seinen fusionierten Drei den Sieg in der Tasche. Das erste Mal, bei dem er aufhorchte, war, als sie sein angreifendes Monster mit einer Fallen Karte namens „Eiserne Schuhe der Königin“ zerstörte. An seinen Krallen erschienen Schuhe und es zuckte von den Beinen her seltsam für einige Augenblicke, bevor es verschwand. Bis dahin hatte er es als äußerst angenehm empfunden, dass sie so wenig ihre Züge kommentierte, doch nun auf einmal hätte er gerne gewusst, was genau eben passiert war. Trotzdem hätte er sich lieber die Zunge abgebissen, als sie danach zu fragen. Von nun an erschienen auf ihrer Seite immer mehr Karten, deren Ursprung eindeutig in Märchen lag und die alle die eine oder andere nützliche Fähigkeit entsprechend ihres Charakters aufwiesen. Aber die Karte, die ihn etwas verwunderte, lag verdeckt. Natürlich hatte sie ihm noch nicht verraten, um was es sich dabei handelte, und er verspürte eine gewisse Neugier, was es wohl sein könnte, bis zu dem Moment, an dem er seinen Sieg sicher vor sich sah. Alle drei seiner weißen Drachen mit eiskaltem Blick waren auf dem Feld, wofür er sämtliche seiner bisherigen Monster geopfert hatte, und er befahl ihnen gerade sie anzugreifen. Da fing sie plötzlich an zu lächeln und sämtliches Blut gefror ihm in den Adern. Mit dieser Regung ihrer bis eben noch ausdruckslosen, wenn auch konzentrierten Gesichtszüge hatte er nicht gerechnet. „Nicht so voreilig!“, sprach sie ruhig. „Ich drehe meine Karte „Drachenmutter“ um. Damit ist Ihr Angriff hiermit beendet.“ Ein Monster erschien auf ihrer Seite. Noch größer als sein eigener Drache, wenn auch genau so weiß. Es breitete seine Flügel beschützend aus und verwies mit einem einzigen Blick aus den bernsteinfarbenen Augen den anderen dreiköpfigen Drachen zurück an den äußersten Rand der Projektionsfläche. „Darüber hinaus ist es unmöglich, solange sie auf dem Feld ist, einen Drachen zu rufen, ihn zu opfern, mit ihm anzugreifen oder einen Angriff gegen ihn auszuführen.“ Kurz ließ sie diese Information bei ihm sacken und fragte dann süffisant: „Möchten Sie ihren Zug fortführen oder bin ich wieder an der Reihe?“ Er schüttelte nur leicht den Kopf. Das war nicht möglich! Sie hatte mit einer einzigen Karte sein halbes Deck unbrauchbar gemacht. Zwar schien sie im Umkehrschluss nun auch keine Drachenkarten mehr verwenden zu können, doch wies ihr Deck eine deutlich höhere Varietät auf, die ihm selbst fehlte. Das Einzige was ihm jetzt noch blieb, waren seine eher schwächeren Karten, die er eigentlich nur im Deck hatte, um sie für das Aufrufen seiner Drachen zu opfern. Sie legte zwei Karten verdeckt und beendete dann ihren Zug, ohne ihn anzugreifen. Die nächsten Züge schenkten sie sich nichts, auch wenn nun ihr Niveau bezüglich der Angriffsstärke deutlich gesunken war. Nach und nach verloren sie ihre Lebenspunkte, bis Seto sich nur noch einen weiteren Zug vom Sieg entfernt sah. Inzwischen hatte Martine nur noch ihre Drachenmutter auf dem Feld. Hätte sie sich damit verteidigen dürfen, hätte sie wohl eine Überlebenschance gehabt, auch wenn ihre Verteidigungspunkte nicht sehr hoch waren. Doch sie hatte sie bis jetzt kein einziges Mal zu Hilfe genommen. So auch jetzt nicht. Er befahl siegesgewiss den Angriff direkt auf ihre Lebenspunkte. „Gratuliere. Sie haben so eben das Duell beendet“, äußerte Martine, noch bevor die Attacke sie erwischte. „Ich weiß“, erwiderte er nur kühl. Wieso zögerte plötzlich sein Monster? „Aber es wird einen etwas anderen Ausgang haben als Sie es sich erhofft haben.“ Und schon wieder bescherte ihm ihr Lächeln eine Gänsehaut. „Da ich kein Monster mehr auf dem Feld habe, mit dem ich mich verteidigen könnte, aktiviert sich meine verdeckte Fallenkarte „Letzte Hoffnung“. Sie zieht von dem angegriffenen Spieler die Verteidigungspunkte aller seiner Monster von den Lebenspunkten ab. Bei dem angreifenden Spieler geschieht das Gleiche, nur werden bei ihm die Angriffspunkte seiner Monster dafür genommen.“ Panisch glitt Setos Blick über seine Seite des Feldes. Er hatte zwar nur noch ein Monster übrig, mit dem er sie angreifen konnte, doch gab es da immer noch... Nein! Nein, das durfte nicht war sein! Sie benutzte wirklich die Angriffspunkte seines weißen Drachen gegen ihn! Er konnte kaum so schnell schauen, wie die Anzeige seiner Lebenspunkte auf Null herunterrasselte. Er hatte verloren. Er hatte ernsthaft gegen diese... Moment mal! Er sah auf. Wenn er noch halbwegs etwas von Mathematik verstand und ihre Ausführungen der Wahrheit entsprachen... Auch die Anzeige seiner Gegnerin zeigte an, dass sie über keinerlei Lebenspunkte mehr verfügte. Nur um ihn nicht gewinnen zu lassen, hatte sie höchstpersönlich dafür gesorgt, dass auch ihre Anzeige auf Null gerauscht war. Dennoch grinste sie breit und rief etwas ihrem Neffen zu, das er noch nicht verstand. Viel zu sehr saß im der Schock in den Knochen, dass er sie nicht besiegt hatte, wenn auch zu dem Preis ihrer eigenen Niederlage. Erst eine männliche Stimme riss ihn in die Realität zurück. „Ich würde dich gerne zum Essen einladen. Morgen Abend. Hol mich einfach um 18 Uhr in der Wohnung ab. Um den Rest kümmere ich mich.“ Er nickte nur und räumte langsam sein Deck zusammen. Als er die drei Karten seines Lieblingsmonsters in der Hand hielt, gefror er mitten in der Bewegung. Es hätte ihm klar sein müssen. Mokuba hatte es ihm doch am Samstag gesagt und spätestens das große Drachenweibchen hatte Bände gesprochen. Ihr Wandgemälde war deswegen so überzeugend gewesen, weil sie diejenige war, die die Karte damals gezeichnet hatte - und wer ließ sich schon gerne von seiner eigenen Schöpfung nieder machen oder wollte sie zerstören, wenn man so sehr an ihr hing? Langsam und in Gedanken machte er sich auf den Weg nach draußen. „Du willst wirklich nicht mit uns essen? Ich hoffe, dir ist klar, dass du einen wunderbaren, frischen Fisch verpasst.“ Mokuba antwortete nur, er habe schon eine Verabredung. Dann hörte Seto wieder Martine, die ihn bat, mit ihrem Neffen schon kurz vorzugehen. Dann stand sie ihm unverhofft gegenüber. „Kein schlechtes Duell.“ Sie hielt ihm die Hand hin, um ihm zu gratulieren. Doch kaum hatte er sie ergriffen, packte sie so fest zu, dass es ihm schwer fiel nicht dagegen aufzubegehren. „Die Nummer ist ganz einfach. Brechen Sie ihm noch ein einziges Mal das Herz, wird mir es ein persönliches Vergnügen sein, dabei zu zu sehen, wie Sie zerbrechen.“ Einen kurzen Augenblick hielt sie noch den Kontakt, in dem er die Wahrheit in ihren Augen sehen konnte. Die Wahrheit über ihre Gefühle. Sie liebte Chef. Sie liebte ihn, hundertprozentig und bedingungslos. Aber nicht auf die Art und Weise wie er bisher geglaubt hatte. Da war nicht eine Nuance von romantischen Gefühlen. Sie liebte ihn, so wie er selbst Mokuba liebte, und das hieß, sie würde jeden zerstören, der es wagen würde, ihm weh zu tun. Für Außenstehende, aber auch ihre wartenden Familienmitglieder musste es so aussehen, als würden sie sich im Sinne des fairen Sportgeistes zu ihrem Unentschieden gratulieren. Doch sie hatte die Chance, das sie mit dem Rücken zu ihnen stand, genutzt, um ihn ihr wahres Gesicht zu zeigen. Denn kaum hatte sie sich von ihm abgewandt, um nun endlich ebenfalls nach draußen zu gehen, war sie wieder die herzliche, fröhliche junge Frau, die ihn zum Essen eingeladen hatte. Seto Kaiba folgte ihr mit einigem Abstand. Er würde nicht noch einmal den Fehler machen sie zu unterschätzen und sich von ihrer Maske täuschen lassen. Er war kein Narr, der offene Drohungen von Leuten, die ihm tatsächlich schaden konnten, ignorierte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)