Urlaubsreif^2 von flower_in_sunlight (auch ein Chef braucht mal Urlaub) ================================================================================ Kapitel 10: Sonntag 22.3. ------------------------- Möglichst leise schloss Martine die Wohnungstür auf und stellte ihre Kamera im Flur ab. Das Shooting hatte deutlich länger gedauert, als sie ursprünglich angenommen hatte. So war sie erst kurz nach eins in der Bar eingetroffen, die ihr Mokuba genannt hatte. Es hatte ihr Leid getan, dass sie seine Freude über den zum Essen eingeladenen Seto hatte zerstören müssen. Denn bei ihm schrillten alle Alarmglocken, sobald sie ihm erzählte, dass sie ihn mit ihrem Neffen allein gelassen hatte. Da sie unter diesen Umständen beide nicht so schnell nach Hause wollten, blieben sie, bis die Bar um fünf Uhr morgens dicht machte und waren danach noch durch die Straßen getigert. Die frischen Brötchen legte sie auf den Küchentisch, bevor sie Richtung Bad schlich. Doch auf Höhe von Chefs Tür hörte sie Geräusche. Mantel und Schuhe ihres Gastes hatten an der Garderobe gefehlt, also würde sie die beiden wohl kaum inflagranti erwischen. Vorsichtig öffnete sie die Tür und wusste sofort, dass der Abend kein wirklich gutes Ende genommen hatte. Chef stand mit dem Rücken zu ihr, das letzte seiner Wurfmesser in der Hand. Auf der Holzplatte gegenüber der Tür, die er immer als Zielscheibe nahm, hatte er ein Bild gepinnt, das verdächtig nach dem Ausdruck irgendeines Zeitungsartikels aussah. Um das abgebildete brünette Antlitz steckten bereits die restlichen Messer. Es war mehr als ungewöhnlich, dass er sie nutzte, um sich abzureagieren. Ohne groß zu überlegen, nahm sie ihm das letzte Messer aus der Hand. Doch statt es zur Seite zu legen, warf sie es seinen Brüdern hinter her, bevor sie sich an ihn wandte. „Was hältst du von Frühstück?“, fragte sie gelassen. Chef nickte nur. Noch war er unfähig den Blick von der Stelle zu nehmen, an der seine Tante getroffen hatte. Genau zwischen die strahlend blauen Augen. Anscheinend tat es Martine wirklich leid, dass sie ihn am Abend im Stich gelassen hatte, denn selbst für ihre Verhältnisse, war das Frühstück üppig. Neben frischen Brötchen, gab es Rührei mit Speck, mehrere Fruchtsäfte, Grapefruits, Tomaten und eine Menge anderer Köstlichkeit. Sie aß schweigend, bis sie die ersten zwei Tassen Kaffee getrunken hatte. Dann sprach sie über Banalitäten, wie das leider nicht mehr so schöne Wetter und die Torten, die sie beim Bäcker gesehen hatte. Sie musste innerlich fast verrückt werden, weil sie mit ihm eigentlich über ganz andere Themen reden wollte – das sah er ihr an – aber er zog es vor zu schweigen und eine der gefüllten Datteln zu probieren. Gemeinsam räumten sie eine Stunde später den Tisch wieder ab. Im Kühlschrank zeigte er ihr den Anteil des aufgehobenen Nachtischs und betonte, wie lecker er gewesen war. Die Erinnerungen, die er nun damit verband ignorierte er, bis er sich allein in der Küche befand. Martine hatte er ins Bad geschickt, damit sie sich in Ruhe frisch machen konnte. Sie hatte nach Arbeit, Schweiß und einer ganzen Bar gerochen, als hätte sie dort die gesamte Nacht verbracht. Beinahe andächtig spülte er die Messer, die nicht in den Geschirrspüler durften. Ihm gefiel der Anblick, wie das Wasser am kalten Stahl entlang floss. Kalt. Setos Augen waren so kalt gewesen, als ihm endlich aufging, mit wem er es die ganze Zeit über zu tun gehabt hatte. Seine Methode, es ihm beizubringen, war vielleicht nicht gerade die sanfteste gewesen, doch hatte er sich eine etwas andere Reaktion erhofft. Wieso hätte er denn sonst die ganze Zeit im Hotel nach Wheeler gefragt? Klar, wenn man es genau nahm, hatte er ihn angelogen, aber seit wann bitteschön ließ ein Seto Kaiba es einfach so zu, dass er angelogen wurde? Und außerdem, er hatte ja nicht vor, irgendetwas von dem, was er über ihn erfahren hatte, gegen ihn zu verwenden. Er wäre definitiv der Letzte... Vor Schmerz zuckte er zusammen. Er hatte sich so sehr in seine Wut hineingesteigert, dass er nicht mitbekam, wie er das Messer etwas zu energisch abtrocknete. Die Klinge fuhr ihm einmal von oben bis unten durch die linke Handfläche. Fluchend schmiss er das Messer in die Spüle zurück und untersuchte danach über ihr den Schnitt. Er war sauber und nicht annähernd so tief, wie er angenommen hatte. Doch sollte er ihn behandeln. Würde er jetzt ins Bad stürmen, würde Martine sich nur wieder aufregen und vermutlich eins und eins zusammen zählen. Also gab er sich mit den limitierten Möglichkeiten des erste Hilfe Kastens in der Küche zufrieden. Stoppte die Blutung, desinfizierte alles und machte sich anschließend einen kleinen Verband. In drei bis vier Tagen würde sie wieder einsatzfähig sein, schließlich war nur die Haut verletzt worden. Er entfernte die verräterischen Spuren in der Spüle und ging dann in sein Zimmer. Zwar hatte er sich bereits früh morgens geduscht und umgezogen, doch würde es ihm gut tun sich ein wenig hinzulegen – und sei es auch nur, um das Verletzungsrisiko zu minimieren. Von seinem Bett aus konnte er auf das Holzbrett sehen, in dem noch immer die Wurfmesser steckten. Sie würden dort wohl auch noch eine Weile bleiben. Nur Martines Wurf irritierte ihn. Wieso hatte sie ihn eingeladen, wenn sie Seto augenscheinlich so wenig ausstehen konnte? Die Möglichkeit, dass sie einfach nur daneben getroffen hatte, bestand für ihn nicht. Eine halbe Stunde später klopfte es an seine Zimmertür. „Wie weit bist du?“, fragte Martine. Etwas verständnislos blickte er zu ihr auf. „Was hast du denn vor?“ „Ich wollte mit dir ein bisschen in die Stadt.“ „An einem Sonntag? Da haben doch alle Geschäfte zu! Ich hatte mich eigentlich auf einen ruhigen Tag im ...“ „Das kannst du auch im Hotel haben. Lass dich einfach mal überraschen! Ich glaube, es wird dir gefallen.“ Er konnte nur für sie hoffen, dass die Qualität ihrer Überraschungen sich steigern würde. Denn so eine wie am Vorabend wollte er für den Rest der Woche garantiert nicht mehr. Während sie sich anzogen, gelang es ihm seine Hand vor ihr zu verstecken und ließ sie, sobald sie auf dem Bürgersteig standen, in seiner Manteltasche verschwinden. Das Wetter hatte wirklich angezogen und ein kühler Wind pfiff durch die Straßen. Mit leichter Besorgnis bemerkte er, dass ihr Haare noch etwas feucht waren, doch bevor er noch etwas sagen konnte, versteckte sie sie vollständig unter einer Schirmmütze. Dann hakte sie sich bei ihm auf der rechten Seite ein und führte ihn die Strecke zu einem Laden in einer Seitenstraße der Fußgängerzone. Die Schaufenster gingen nicht bis ganz auf den Boden, erlaubten jedoch genug Einblick, sodass man die Unmengen an britischen Antiquitäten im Inneren sehen konnte. Ihr Lieblingsantiquariat. An der alten, grünen Holztür hing von Innen ein „Closed“-Schild. Doch davon ließ sich Martine nicht aufhalten. Wie selbstverständlich drückte sie die Klinke herunter und betrat den Laden, wobei sie Chef mitzog. „Martine, der Laden hat zu. Ich glaube nicht, dass...“ „...ihr nicht doch hier willkommen seid“, führte ein Mann Ende zwanzig den Satz für ihn fort. „Hallo, Joey. Ich hoffe du verzeihst deiner Tante und mir die kleine Finte.“ Im nächsten Moment wurde Chef zur Begrüßung fest umarmt – von einem anderen Mann in seinem Alter. Nach einer Weile krächzte er: „Ryo, würdest du mich bitte loslassen? Ich freue mich auch dich zu sehen, aber ich brauche Luft zum Leben! Wenn du jemanden zu Tode knuddeln willst, mach das gefälligst mit Marik!“ Schmollend ließ der Weißhaarige ihn los. „Marik wird nicht zu Tode geknuddelt. Wer soll mir sonst die Nächte versüßen?“ Von der Schüchternheit während ihrer Schulzeit war wirklich nicht mehr viel übrig geblieben. Auch Mariks stürmischen Kuss erwiderte er ohne mit der Wimper zu zucken. Aber bevor die beiden noch über einander herfielen, ging Chef dazwischen. „Was macht ihr eigentlich hier?“ „Arbeiten.“ „Genauer gesagt, Ryo arbeitet und ich bin nur hier zur Zierde - und weil ich keine Lust habe, alleine in der Wohnung zu sitzen.“ „Arbeiten?“ „Jepp, seit drei Wochen gehört nämlich uns der Laden. Die alten Besitzer haben sich ihren Traum erfüllt und sind nach England ausgewandert.“ „Und da wir eh ihre besten Kunden waren“, Marik warf Ryo einen bösen Blick zu, „haben sie uns gefragt, ob wir nicht Lust hätten, den Laden zu übernehmen. Und dann hat deine Tante angerufen, um nach den Öffnungszeiten zu fragen. Somit schließt sich der Kreis wieder.“ Auf diesen Schock ließ sich Chef erst einmal in einen Sessel fallen und schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie war das letzten Monat? Da hast du doch noch gemeint, Ryo wäre total klatsch nass vom Büro nach Hause gekommen.“ „Stimmt doch auch. Ich mach das hier erst seit ein paar Wochen. Apropos. Martine, ich hab vorgestern ein paar sehr schöne Vasen reinbekommen, die ich dir gerne zeigen würde.“ Damit verschwanden beide in die Tiefen des Ladens und ließen Marik mit Chef zurück. Ab und zu hörten sie die beiden noch über dieses oder jenes Stück diskutieren, doch achteten sie beide nicht wirklich darauf. „Willst du vielleicht einen Tee?“, fragte Marik, während er sich ihm gegenüber hinsetzte. „Gerne. Wieso hast du mir nicht gesagt, dass ihr vorhabt euch selbstständig zu machen?“ Er nahm seine Tasse aus feinem Porzellan entgegen und wartete gespannt auf die Antwort. „Naja, du hattest letztes Mal nicht wirklich viel Zeit, wenn ich dich daran erinnern darf. Außerdem wollten wir noch nicht so früh die Pferde scheu machen. Und keine Angst, meinen Job habe ich auch nach wie vor, falls Ryo das Ganze hier“, er machte eine allumfassende Geste, „wider Erwarten an die Wand fahren sollte. Aber bis jetzt macht er es gar nicht mal so schlecht. Da spricht dann doch der Grabräuber aus ihm.“ „Und du als ergebener Grabwächter unterstützt ihn noch in seinem Tun“, neckte Chef ihn. „Ein wenig. Schließlich habe ich Geschmack!“ „Wenn du meinst. Zumindest kannst du mittlerweile Tee kochen. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.“ „Hey! Wer lässt sich täglich von gleich zwei Köchen verwöhnen? Wie geht’s dem Haufen – außer, dass ihr ne Menge Stress habt?“ „Ganz gut, soweit. Die Auftragslage ist gut und wir haben zunehmend sehr gut zahlende Gäste. Neulich erst war zum Beispiel Kaiba da und für den Sommer sind wir bereits jetzt komplett ausgebucht. Wenn ich wollte, könnte ich die Zimmeranzahl verdoppeln und wir müssten immer noch Gästen absagen.“ Geräuschvoll verschluckte sich Marik an seinem eigenen Tee und nur mit Mühe konnte er die Tasse retten. Ryo hätte ihn einen Kopf kürzer gemacht, wenn sie zerbrochen wäre. Zu Tode knuddeln wäre da noch die angenehmste Strafe, die ihm dann drohte. Er musste sich verhört haben! Vorsichtshalber suchte er nach Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtung. „Kaiba? Der Seto Kaiba, dein und Ryos ehemaliger Mitschüler, Albtraum deiner schlaflosen Nächte? Bei dir ihm Hotel? Und der lebt noch?“ Chef nickte bloß. Er könnte sich selbst verfluchen, weil er seine Klappe nicht hatte halten können. Wieso musste er ausgerechnet Kaiba als Beispiel nehmen? Lag vermutlich daran, dass er ihm seit einem Monat nicht mehr aus dem Kopf wollte. „Und du lebst auch noch?“ „Siehst du doch.“ Wieso tat Marik plötzlich so besorgt? Es war ja nicht so, dass es ihn gleich den Verstand kostete, wenn er Seto sah. Es war nur eine sehr harte Probe seiner Vernunft. „Wenn du meinst. Aber wenn wir es gerade von den Lebenden und den Toten haben. Warst du schon bei ihm?“ „Nein. Hatte ich aber für die nächsten Tage noch vor.“ Das Thema war zwar auch nicht einfach für ihn, aber zumindest wühlte es ihn nicht mehr so sehr emotional auf. Acht Jahre reichten anscheinend aus, um das alles zu verarbeiten. „Dann ist ja gut. Wie versprochen, schaue ich regelmäßig nach ihm. Aber ich glaube über einen Besuch von dir, würde er sich freuen.“ Er nickte einfach nur wieder. Es war schon irgendwie seltsam, dass der Mann, der sich als Kind so gegen seine Berufung als Grabwächter gesträubt hatte, nun dieser Aufgabe freiwillig nach ging. „Danke.“ Nach einem Schluck Tee fügte er hinzu: „Und bei euch scheint ja alles rund zu laufen.“ Mariks Grinsen war mehr als doppeldeutig und eindeutig eine Spur zu dreckig. „Kann mich nicht beklagen.“ Er hatte die Tasse abgestellt und streckte sich genüsslich. „Ich habe fast Mitleid mit unseren Yamis, dass sie so sehr mit ihrem Wunsch nach Weltherrschaft zu tun hatten. Haben echt was verpasst. Erst neulich hat Ryo mich...“ „Keine Details bitte!“, unterbrach Chef ihn mit sichtlich geröteten Wangen. Zwar hatte sein bisheriges Liebesleben auch nicht gerade nur aus Blümchensex bestanden, doch war es ihm peinlich, wenn sein Kopfkino ihm Szenen zeigte, wie sich seine engsten Freunde miteinander vergnügten. „Ach ja, der Herr ist ja auf Abstinenz. Aber wenn du willst, können wir das Gespräch jeder Zeit nachholen.“ Der Ausdruck auf Mariks Gesicht war für seinen Geschmack eine Spur zu bösartig. „Nein, Danke. Ich verzichte. Außerdem ist es eine selbstgewählte Abstinenz. Würde ich es darauf anlegen, hätte ich Kaiba bereits vor einem Monat verführt – oder spätestens gestern Abend. Aber ich wollte einfach nicht. Kapiert?“ Marik antwortete schlicht mit einem ironischen „Natürlich“ und machte es sich jetzt erst recht lächelnd auf dem Sessel bequem. Sie brauchten dringend irgendetwas, über das sie sich unterhalten konnten, ohne dass aus Versehen Setos Name dabei auftauchen würde, sonst würde er sich noch mehr verplappern. Und leider war Marik in dieser Beziehung leider nicht gerade der Sensibelste. Glücklicherweise fing er von alleine an, den derzeitigen Intendanten der Oper in Domino zu loben und im gleichen Atemzug den aktuellen Dirigenten nieder zu machen. Nach einer Stunde bekamen sie endlich Ryo und Martine wieder zu Gesicht, die mit einem Notizblock bewaffnet an der Kasse standen und Beträge zusammenaddierten. Martine bezahlte alles mit Karte und drehte sich dann zu ihrem Neffen um. „Ryo hat mir einen Vorschlag gemacht. Du bleibst noch eine Weile bei ihnen und ich kann nach Hause gehen und schlafen.“ Kurz überlegte er. „Hört sich gut an. Ich frag mich zwar, was du mit so viel Schlaf willst“, er wusste ganz genau, dass sie sich die Nacht um die Ohren geschlagen hatte, „aber bei so einem Angebot kann ich wohl kaum nein sagen. Aber die Einkäufe trägst du selbst nach Hause!“ „Nicht notwendig“, fiel ihm Ryo ins Wort. „Wir haben bereits alles in Kisten verpackt, die ich morgen in die Post gebe. Die sollten dann spätestens nächste Woche bei dir im Hotel ankommen. Ist eh alles für das eine Haus.“ Wieso sagte er denn überhaupt noch was, wenn er eh nicht mehr gefragt wurde? Martine verabschiedete sich von Ryo und Marik und wandte sich kurz an ihn. „Sei bitte spätestens um 17 Uhr in der Wohnung. Wir haben heute Abend noch was vor.“ Damit gab sie ihm einen Abschiedskuss auf die Wange und war verschwunden. Er mochte diese kleine Geste von ihr. Natürlich hätte sie ihm auch peinlich sein können, doch für ihn war sie das Zeichen, dass er zu ihrer Familie gehörte. „Und was machen wir jetzt?“, fragte er seine Freunde. „Uns von Marik vergiften lassen“, schlug Ryo lachend vor. Sein Freund verteidigte sich prompt, grummelte, dass er sehr wohl mittlerweile kochen könnte und er nur einfach zu verwöhnt sei. Bevor er noch ernsthaft beleidigt wäre, umarmte Ryo ihn und flüsterte, dass er das doch längst wisse. Kurz fühlte Chef die Eifersucht auf ihre Beziehung in sich aufsteigen, doch als Ryo ihn einfach mit in die Umarmung zog, war auch dieses Gefühl verflogen und zurück blieb nur noch die Freude, endlich wieder seine Freunde zu sehen. Setos Rücken hatte sich unangenehm verspannt. Das hatte er jetzt davon, dass er über seiner Grübelei in der Nacht eingeschlafen war. Die Couch war zwar eigentlich bequem, doch so wie er vor einer Stunde auf ihr aufgewacht war, konnte das einfach nichts werden. Sein Oberkörper war halb von den Polstern gerutscht und es glich einem Wunder, dass er, als er langsam zu sich kam, nicht auf dem Kopf gelandet war. Kopfschmerzen hatte er so oder so schon. Wäre also nicht weiter tragisch gewesen. Er glaubte sich daran zu erinnern, dass er sich mit ein paar wenigen Tatsachen abgefunden hatte. Dazu gehörte vor allem, dass der Köter nun den Nachnamen Pegasus trug. Was ihn daran beruhigte war, dass er von der Familie adoptiert worden war, nicht in sie eingeheiratet hatte. Dennoch konnte er immer noch nicht verstehen, was sein Hündchen dazu bewogen hatte. Aber diese Überlegung hob er sich für später auf. Wichtiger für ihn war nun zunächst die Analyse des Abendessens. Martine hatte Chef – zähneknirschend versuchte er diesen Namen beizubehalten – offensichtlich nichts von ihm erzählt. Hatte ihnen beiden aber soweit vertraut, dass sie sie alleine gelassen hatte. Vielleicht wusste sie gar nichts von ihrer Vergangenheit? Wenn Chef genauso wenig auskunftbereit wie früher war, würde sie unter Umständen gar nichts von ihnen beiden wissen. Wahrscheinlich hatte sie ihn nur als Mokubas Bruder und als langjährigen Geschäftspartner ihres Bruders eingeladen. Gut. Nein, nicht gut! Sie hatte Chef von seiner Frage erzählt. Was bedeutete, dass sie sich sehr wohl über ihn unterhalten hatten! Doch auch das war momentan eher nebensächlich für ihn. Was ihn viel mehr umtrieb, war die Frage, ob er sich richtig verhalten hatte. Joseph Wheeler hätte er den Marsch geblasen und verbal so nieder gemacht, dass dieser irgendwann sprachlos aufgegeben hätte. Früher. Doch jetzt? Er hatte mehr oder minder die Flucht ergriffen! Klar, der andere war wütend gewesen, aber hatte er ihm nicht sogar vorgeschlagen, den Abend fortzuführen? Er könnte sich in den Arsch beißen für seinen falschen Stolz! Er hätte vielleicht noch eine Menge mehr erfahren können über ihn und das, was er in den letzten acht Jahren getrieben hatte. Hätte irgendetwas faseln können, er hätte sich so sehr geändert, dass man ihn nicht mehr erkennen würde. Hätte das wie ein Kompliment klingen lassen können. Falsch. Es wäre ein Kompliment gewesen! Was er aus sich gemacht hatte war wirklich beachtlich. Er konnte nicht glauben, wie sehr er sich ärgerte. Wie sehr er sich über sich selbst ärgerte! Er spann den Abend in Gedanken weiter. Sie hätten sich, nachdem die Wogen etwas - aber nicht zu sehr – geglättet gewesen wären, einen schönen Abend mit dem restlichen Nachtisch und gutem Wein gemacht. Vielleicht auch einen sehr schönen. Vielleicht wäre es möglich gewesen, ihre restliche Wut in etwas Produktiveres zu wandeln. Die Sofas im Wohnbereich hatten durchaus einladend ausgesehen. Und er hatte es regelrecht verbockt, indem er einfach gegangen war. Natürlich hätte Wheeler schon deutlich früher etwas sagen können, doch er war doch derjenige, der so stolz darauf war, seine Geschäftspartner so leicht durchschauen zu können! Wieso war es ihm einfach nicht aufgefallen? Es hatte so viele Situationen gegeben, in denen ihm ein Licht hätte aufgehen können! Er... Ohne Klopfen wurde die Tür aufgerissen. Seto fuhr herum, um denjenigen, der es wagte ihn zu stören, zum Abreagieren zu missbrauchen, doch dann sah er, dass es Mokuba war, der ihn besorgt musterte. „Hier bist du also. Ich hab dich schon im ganzen Haus gesucht!“ Ohne zu fragen, setzte er sich einfach neben seinen Bruder und sprach weiter: „Ich hab sogar den Wachmann in der KC angerufen, damit er nachschaut, ob du dich vielleicht in deinem Büro mal wieder eingeschlossen hast. Sorry, dass ich erst jetzt komme, aber ich hab mich nach dem Frühstück nochmal hingelegt. Dachte, dass du mal wieder in deine Arbeit vertieft bist. Naja, aber ich hab dich dann ja jetzt gefunden.“ „Und wieso hast du mich überhaupt gesucht?“ In seinen Ohren machten die Worte seines kleinen Bruders kaum Sinn. Wieso hätte er beim Frühstück sein sollen? Und außerdem, wieso sollte er sich an einem Sonntag in der KC einschließen? … Sonntag? Mist! Er hatte wirklich ihr Frühstück vergessen. Genauer gesagt, er hatte heute schon den ganzen Tag über nichts gegessen. „Du hast mich doch gestern darum gebeten, dass ich dich erinnern soll, dass du heute Abend in die Oper gehst. Schon vergessen?“ „Nein, natürlich nicht.“ Er hatte es vollkommen verdrängt. Und außerdem brauchte er jetzt etwas in den Magen. Dieser hatte sich nämlich bei dem Wort „Frühstück“ neugierig geregt. „Aber was hältst du davon, wenn wir, bevor ich mich fertig mache, noch eine Kleinigkeit essen?“ Mokuba stimmte zu und verließ mit ihm im Schlepptau das Zimmer. Mit Seto stimmte doch etwas nicht! Er musste dringend bei Martine nachfragen, ob sie bereits Genaueres wusste. Aber das würde er erst nach dem Essen machen. Schließlich knurrte auch ihm der Magen. Das Stück war einfach nur traumhaft gewesen! Noch halb in der Musik, die in seinem Kopf nachklang, schwelgend, trat Seto durch die Tür, die die Loge vom oberen Gang im Theater von Domino trennte. Es war reines Glück, dass er die Aufführung von „Turandot“ entdeckt hatte. Und als ihm mitgeteilt wurde, wie selten es gezeigt wurde, hatte er sich sogar ein wenig mehr gefreut. Gespannt hatte er verfolgt, wie die stolze Prinzessin immer mehr dem fremden und unbeugsamen Prinzen verfällt. Als sie schließlich vor ihren Vater trat, um ihm den Namen des Fremden zu nennen, hatte er Gänsehaut gehabt. „Du hattest Recht. Live ist es einfach tausendmal besser“, stimmte gerade ein Mann vor Seto seiner Begleiterin zu. Sie waren soeben aus der Tür zu einer anderen Loge getreten und hatten ihn nicht bemerkt. Sie, in einem langen, schwarzen Abendkleid und mit hochgesteckten Haaren, hatte sich bei ihm eingehakt und schenkte ihm ein breites Lächeln. Doch schnell verwandelte es sich in ein leichtes Schmollen, als er in seinem roten Anzug leise zu ihr sang „Bella, bella Turandot“. Er hatte dieses Rot doch schon einmal gesehen. Nein! Nein, das konnte nicht war sein! Am liebsten wäre er stehen geblieben, doch die Masse von hinten schob ihn weiter. So musste er in Hörweite der beiden bleiben, bis sich die Treppe im unteren Foyer verbreiterte. „So schlimm bin ich doch nun auch nicht. Außerdem lass ich meine Männer immer am Leben.“ „Aber was kann ein Leben ohne dich schon sein? Außerdem musst du zugeben, dass du in dem Kleid der Sängerin der Turandot zum Verwechseln ähnlich siehst!“ Das konnte selbst Seto nicht ganz leugnen. „Nur dass sie mindestens 10 Zentimeter kleiner und 15 Kilo schwerer ist als ich. Aber ich weiß was du meinst.“ Sie seufzte. „Also einverstanden. Du darfst mich Turandot nennen. - Aber nur, wenn du mein Kalaf bist!“ „Meinetwegen. Komm, wir beeilen uns. Vielleicht müssen wir dann nicht so lange auf unsere Mäntel warten.“ Erleichtert stellte Seto fest, dass sie das Ende der Treppe erreicht hatten. Länger hätte er das auch kaum ertragen können. Die beiden wirkten einfach zu vertraut miteinander. Außerdem hatte die Erkenntnis ihn wie einen Paukenschlag getroffen. Hatte Chef nicht auch während seines Urlaubs etwas gesagt über Turandot und Kalaf. Der Namenlose, der dennoch das Herz der Prinzessin erobern kann? Turandot war es letztlich egal gewesen, wir er nun hieß, für sie zählte nur noch, dass er ihr gezeigt hatte, was Liebe ist. Er wurde von hinten angerempelt, doch statt sich aufbrausend zu beschweren, setzte er sich einfach wieder in Bewegung und steuerte den Ausgang an. Zufällig entdeckte er in der Menge vor sich wieder das Paar von vorhin. Und eine weitere Erkenntnis traf ihn. Kalaf hatte alles verloren, sogar sein Vater als letzter Familienangehöriger war gestorben, doch Chef hatte eine Familie, hatte ein Leben. Wäre überhaupt noch Platz darin für ihn? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)