Urlaubsreif^2 von flower_in_sunlight (auch ein Chef braucht mal Urlaub) ================================================================================ Kapitel 1: Mittwoch 18.3. ------------------------- Sie machte den Motor aus und stieg aus dem grauen Kombi. Gierig sog sie die Waldluft gemischt mit einem Hauch frischer Brise vom Meer ein. Jedes Mal, wenn sie hierher kam, hatte sie das Gefühl, ihr letzter Besuch wäre schon viel zu lange her gewesen. Aus dem Kofferraum schnappte sie sich ihre große Handtasche und trat von der schmalen asphaltierten Straße auf den Waldboden. Mal schauen, wenn sie finden würde. Matt blickte auf, als ihn etwas sanft an der Wange berührte. „Hallo, Matt“, begrüßte Martine ihn und ließ dem Küsschen eine Umarmung folgen, ungeachtet der Tatsache, dass die Gefahr bestand sich ihre Kleidung mit Blumenerde und Dünger zu versauen, da er sich gerade um die Frühjahrsbepflanzung kümmerte. „Ich hatte ganz vergessen, dass es schon wieder so weit im Jahr ist, dass du im Garten arbeitest.“ Er grinste sie an. „Und offensichtlich auch, dass wir einmal Französisch miteinander gesprochen haben, Petite?“ Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. „Das natürlich nicht“, wechselte die Sprache. „Nur war Englisch die letzten paar Wochen in Norwegen die bessere Wahl. Gibt's was Neues, das ich wissen sollte?“ „Wann hast du das letzte Mal hier angerufen?“, wollte er zuerst wissen. Für sie machte er zwar eine Ausnahme, aber er tratschte – wie sie genau wusste – nicht gerne. „Vor knapp einem Monat. Genauer gesagt hat mich Chef angerufen.“ Matts Blick wurde ernst. „Dann weißt du es noch gar nicht. Im Hotel ist alles in Ordnung, aber dein Lieblingsneffe verhält sich seltsam. Er kommt zu den Mahlzeiten, er arbeitet, aber dann ist er verschwunden. Cian hat letzte Woche herausbekommen, dass er sich immer ins Drachenzimmer zurückzieht. Du hast nicht vielleicht irgendeine Idee, woran das liegen könnte?“ „Nur einen Verdacht. Wenn überhaupt. Ich werde mal nach ihm sehen. Danke.“ Sie drückte ihn nochmal und er konnte in ihren Augen sehen, wie viel Sorgen sie sich tatsächlich machte, obwohl sie Chef noch nicht gesehen hatte. Er konnte nur hoffen, dass sie zu ihm durchkam. Denn sie selbst waren daran gescheitert. Jedes Mal, wenn Yuki zu ihm ging, um ihn zum Essen zu holen, hatte er sehen können, wir ihr Lächeln weniger wurde. Hans schickte Shin regelmäßig aus der Küche, weil er Angst hatte er könne sich selbst noch verletzen, nachdem er mit ihrem Vorgesetzten gesprochen hatte. Selbst Cians aufbrausendes Temperament entlockte ihm nicht mehr als ein kurzes Schulterzucken, bevor er sich wieder mit seiner Arbeit beschäftigte. Und er selbst blieb weiterhin der stumme Beobachter, hin und hergerissen zwischen seiner Loyalität ihm gegenüber und gegenüber der Familie Pegasus. Schnellen Schrittes ging Martine den Waldweg entlang. Unter anderen Umständen hätte sie sich über den leichten Schimmer frischen Grüns gefreut, wäre sogar stehen geblieben für ein paar Schnappschüsse. Doch nun achtete sie nur auf den Weg. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwarten würde. Er hatte, seit sie ihn kannte, immer wieder Phasen gehabt, in denen er sich von seinem Umfeld zurückzog, aber bis jetzt waren das nur Stunden gewesen, vielleicht mal ein Tag. Aber keine Wochen. Vor der Haustür nahm sie ihren Schlüssel aus der Hosentasche und schloss lautlos auf. Die Kinderzimmertür war nicht verschließbar, aber sie wusste sehr wohl, dass man sie von innen leicht versperren konnte. Etwas, das sie vermeiden wollte. Die Tasche ließ sie zurück und schlüpfte aus ihren Schuhen. Pantoffeln sparte sie sich, ohne war sie leiser. Auf Zehenspitzen durchquerte sie das Wohnzimmer und drückte sanft die Tür zum Drachenzimmer auf. An wie vielen Tagen hatte sie schon vergeblich versucht ihre Kinder aus diesem hinaus zu bekommen, weil sie lieber unter der wohlwollenden Aufsicht des weißen Drachen spielten, als unter dem strengen Blick ihrer Mutter. Sie hatte es immer wieder geschafft, doch das hier war von einem anderen Kaliber. Für einen kurzen Moment setzte ihr Herz aus. Sie hatte bewusst jeden Gedanken daran, was sie vorfinden könnte, unterdrückt, und dennoch stellte das hier alles in den Schatten, was sie sich hätte vorstellen können. Was hatte sie nur getan? Auf dem unteren Bett saß mit angezogenen Knien und darüber gezogenem grauem Pulli ihr Neffe. Die Arme hatte er um die Beine geschlungen und über allem thronte sein Kopf, wobei sie nur die wirr zu allen Seiten abstehenden Strähnen sah. Trotz seiner Körpergröße wirkte er wie ein kleines aufgeplustertes Küken, das vergeblich versuchte, sich gegen die ungewohnte Kälte der Welt zu schützen. Vorsichtig trat sie ein und machte den ersten Schritt auf ihn zu. Als er sich nicht regte, näherte sie sich ihm weiterhin, bis sie schließlich neben ihm auf dem Bett saß. Erst dann hob er den Kopf und blickte sie an, nein, durch sie hindurch, als könnte er nicht glauben, dass sie da wäre. „Du bist früh. Ich hatte dich erst in zwei Wochen erwartet“, brachte er mit rauer Stimme hervor. Nichts in seinen Augen deutete daraufhin, dass er es als Scherz meinte. „Aber ich hatte dir gesagt, dass ich heute kommen würde“, antwortete sie sacht. Wann hatte er das letzte Mal für länger als den kurzen Weg hierher das Sonnenlicht gesehen? Kraftlos schüttelte er den Kopf. „Nein, du sagtest 19. und heute ist erst der...“ - „18. Ich wollte die Strecke nicht an einem Tag fahren und hatte gehofft noch ein paar Aufnahmen vom Wald machen zu können.“ Irritiert wiederholte er: „18.? Aber … wir haben doch erst Anfang März und ...“ So wie er war schloss sie ihn in ihre Arme. Sie drückte ihn ein wenig fester als sie es sonst getan hätte, doch er ließ es ohne eine einzige Beschwerde zu. Seinen Kopf immer noch an ihrer Schulter fragte sie: „Was ist nach unserem Gespräch passiert?“ Ohne den Blick zu heben, flüsterte er: „Ich hab ihm die Nachricht geschrieben. Die Nachricht mit meinem Namen drin. Er hat mich die ganze Zeit danach gefragt und ich hatte es einfach … satt. Hab ihn damit vertröstet, es ihm bei seiner Heimkehr zu schreiben, in der Hoffnung, dass er von alleine drauf käme. Ein paar Mal hatte ich das Gefühl, er würde es schaffen. Ein anderes Mal, dass er … er Gefühle für mich hätte. Ich hab gedacht, dass ich es bei einem Spiel belassen könnte, dachte all meine Gefühle von damals wären tot. … Die ersten paar Tage danach war alles okay.“ Martine spürte, wie ihre Schulter langsam nass wurde. „Aber dann schlug alles über mir zusammen. Er hat sich nicht mehr gemeldet. Keine Reaktion, auf welche Art auch immer. … Hat mir noch einmal das Herz herausgerissen.“ Die nächsten Minuten war er nicht in der Lage, mehr zu sagen. Er brauchte einfach jemanden, der ihn fest hielt und nicht mehr losließ, bis er es wollte. Als sie spürte wie er sich etwas aufrichtete, lockerte sie die Umarmung, dennoch blieb er an ihre Schulter gelehnt. Allmählich passte sich sein unregelmäßiger Atem ihrem ruhigeren Rhythmus an. Vorsichtig strich sie ihm ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Wollte sie mehr wissen, so war es das Beste einfach zu warten, was er von sich aus erzählen würde. Und ihre Geduld wurde belohnt. Zaghaft fing er plötzlich an zu erzählen. Davon, wie er ihm eröffnete, dass er in den zwei Wochen auf dem Hotelgelände nicht würde arbeiten können, davon, wie er aus Sorge um ihn in den Wald ist, davon, wie sie gemeinsam mit dem Team den Valentinstag verbracht hatten und er nachts seine Lieblingsschokolade bekam, und dann schließlich von den Stunden, die nur ihnen allein gehört hatten. Während er sprach wechselte sein Gesichtsausdruck von neutral zu schelmisch und wieder zurück. Endlich war er wieder wie ein offenes Buch. Martine erfuhr so viel mehr als er wahrscheinlich beabsichtigte Preis zu geben und es half ihr zu verstehen. Joseph schwankte so stark zwischen seinen Gefühlen, dass er selbst kaum damit zurecht kam. Mal wollte er seine alte Liebe am Boden sehen, mal einfach nur in seine Arme schließen. Hass ist nicht das Gegenteil von Liebe, schoss es ihr durch den Kopf, sondern nur eine weitere, dunklere Facette von ihr. Chef endete mit seinem Hochgefühl nach dem Verschicken der E-Mail und löste sich von ihr. Seine dunkelbraunen Augen schienen in ihren Bestätigung zu suchen, während sie selbst immer noch darüber nachdachte, wie sie ihm helfen konnte. Bei ihrem letzten Gespräch hatte er gedacht, dass mit der Bekanntgabe seines Namens die Geschichte beendet war, doch sie wusste es besser. Sie waren gerade erst in der Ausgangsposition, um alles, was zwischen ihnen stand, aus dem Weg zu räumen. Die beiden mussten dringend miteinander reden und nach all den Jahren würden sie es endlich auf Augenhöhe tun können. Aber wie weit durfte sie selbst sich einmischen? Ihr letzter Beitrag hatte zu dem Häuflein Elend geführt, das nun vor ihr saß. Das Äußerste, das sie tun konnte, war dafür zu sorgen, dass sie die Chance auf ein Gespräch erhielten. Mehr nicht. Würden sie sich nicht in nächster Zeit endlich aussprechen, würde dies zumindest ihren Neffen von innen heraus zerstören – etwas, das sie nicht zulassen konnte. „Gefühle sind kompliziert“, fing sie vorsichtig an. „Es ist zwar wichtig, dass man versucht sie zu verstehen, aber man sollte sich nicht von ihnen beherrschen lassen. Es wird dir nicht viel bringen, wenn du dir nur Selbstvorwürfe machst - zu dieser Geschichte gehören nämlich zwei. Und ich verspreche dir, dass ich diesen Kerl ungespitzt in den Erdboden ramme, wenn er sich dir gegenüber weiterhin so benimmt und du dich deswegen einigelst.“ Die Vorstellung schien ihn zu erheitern, denn ganz kurz zuckten seine Mundwinkel nach oben, auch wenn sein Gesicht immer noch verquollen war von seinen Tränen. „Du bist einer der besten, nettesten und klügsten Männer deines Alters, die ich kenne, und wer das nicht erkennt, kann noch so oft als Genie betitelt werden, er bleibt ein Idiot.“ Sein Mund zitterte gefährlich, jedoch nicht, weil er gegen ein erneutes Weinen ankämpfte, sondern weil die Ernsthaftigkeit ihrer Worte einfach entwaffnend war. Zwei Augenblicke später kugelte er sich vor Lachen auf der Matratze und brachte etwas heraus, das klang wie „Martine, du bist klasse! Du würdest es auch fertig bringen …“. Doch der restliche Satz ging in seinem schallenden Lachen unter, das sie mit ihrem mädchenhaften Kichern begleitete. „Du solltest ins Bad gehen und dir das Gesicht waschen“, meinte sie nach einer Weile. Er hob die Hand und betastete es, bevor er ihr zustimmte: „Ja, sollte ich wirklich. Schlimm genug, dass du diesen Anblick ertragen musst, aber den anderen kann ich das wirklich nicht antun. Die kriegen noch den Schock ihres Lebens und sind die nächsten Tage arbeitsunfähig.“ Er stand auf und wechselte auf leicht wackeligen Beinen den Raum, während sie selbst zurückblieb und nun an seiner Statt auf den gemalten Drachen starrte. Er schien sich etwas gefangen zu haben, doch sollte sie darauf achten, wie er sich in den nächsten Tagen verhielt. Eigentlich hatte sie ihm von Mokubas E-Mail erzählen wollen, doch im Moment war es besser, diese Information vorerst für sich zu behalten. Seufzend stand sie auf und streckte sich. Chef sollte mittlerweile wieder akzeptabel aussehen und das leichte Knurren ihres Magens verriet ihr, dass es höchste Zeit fürs Abendessen war. Und selbst, wenn noch nicht, Hans würde ihr bestimmt was Kleines zubereiten. Der Blick in den Spiegel stellte ihn immer noch nicht zufrieden. Wie hatte er sich nur so hängen lassen können? Sein Spiegelbild wirkte zu dünn, seine Haare waren matt und unter den Augen lagen dunkle Schatten. Wenn er früher die Nächte durch gemacht hatte, hatte er danach deutlich besser ausgesehen. Er drehte den Wasserhahn noch einmal auf und hielt dann die Hände so darunter, dass das kalte Nass sich in ihnen sammeln konnte. Er klatschte sie sich ins Gesicht, bevor er mit noch feuchten Händen versuchte, seine Haare wieder nach hinten zu frisieren. Nur mäßig begeistert von dem Ergebnis rieb er das Waschbecken nach und trat hinaus ins Wohnzimmer. Martine saß nicht mehr im Kinderzimmer, hatte aber anscheinend die Bettdecke ausgeschüttelt und wieder ordentlich aufs Bett gelegt. Also war sie vermutlich schon im Flur. Fasziniert sah er ihr zu, wie sie sich ihre Stiefel wieder zu schnürte, bevor er selbst die Schuhe anzog. Er brauchte sie nicht fragen, er wusste es auch so. Sie würde Stillschweigen bewahren darüber, in welchem Zustand sie ihn gefunden hatte und was er ihr anvertraut hatte. Das war einer der wenigen Punkte bezüglich ihm selbst gewesen, bei dem er dem Eisklotz gegenüber vollkommen ehrlich gewesen war. Sie war seine Vertraute. Cian traute seinen Augen nicht, als die Tür zum Mitarbeiterraum aufschwang und hinter Martine sein Chef eintrat. Er wirkte immer noch erschöpft und etwas unsicher auf den Beinen, so wie die vergangenen Wochen, aber seine Augen funkelten wieder und das auf seinen Lippen sah sehr verdächtig nach einem Lächeln aus. Sie hatte es also geschafft - so wie immer. Martine bog gleich in Richtung Küche ab, während ihr Neffe etwas unschlüssig im Raum stehen blieb. Doch dann entdeckte er Cian und trat zu ihm. „Besser?“, fragte dieser schlicht und machte ihm etwas Platz auf der Bank. „Ein wenig“, kam die Antwort zurück, während er Platz nahm. „Ich werde morgen für eine Woche mit Martine nach Domino fahren. Es wird mir vermutlich gut tun, ein wenig hier raus zu kommen.“ Aus der Küche hörten sie Hans und Martine diskutieren. Anscheinend ging es darum, wann es Abendessen gab und ob er ihr vorher noch eine heiße Schokolade machen würde. „Privat oder hat sie einen Auftrag dort?“ Cian war bemüht, das Gespräch am Laufen zu halten. „Mehrere sogar. Ich werde also eine Menge Freizeit haben.“ Ein paar Minuten später fanden sich auch die anderen ein. Hans hatte sich wohl durchgesetzt und einfach das Abendessen ein wenig vorgezogen. Dem Chef entging der Blick, den Matt mit Martine wechselte, jedoch nicht die Freude, die sich auf Yukis Gesicht breit machte, als sie sich neben ihn auf die Bank zwängte. „Abend, Chef“, versuchte sie noch ein wenig mehr Platz zu erhalten, scheiterte damit aber bis Martine sich einmischte. „Rutscht du durch, Kleiner, damit ich mich auch setzen kann?“ „Wofür haben wir Stühle“, konterte er, gehorchte allerdings, als er sah, was Hans hereintrug. „Pfannkuchen zum Abendessen?“ „Wieso nicht? Matt hatte Martine bei mir angekündigt und sie hatte lange keine mehr.“ Grinsend wandte sich Chef seiner Tante zu. „Kannst du öfter vorbeikommen?“ Ihr Lächeln ließ ihre Augen aufblitzen. „Du willst doch nur noch mehr leckeres Essen!“ Daraufhin lehnte er sich schmollend zurück. „Gar nicht wahr.“ „Sehr wohl wahr.“ Während des Essens lachten und scherzten sie. Hans hatte genug gemacht, dass sie alle sich kugelrund danach fühlten und noch eine Weile sitzen blieben und weiter redeten. Martine ließ sich genau aufzählen welche Schokoladensorten Shin im Valentinstagsmenü hatte verschwinden lassen und erzählte ihrerseits dafür von Norwegen. Letzten Endes kam sie auch nicht drum herum mit Hans Notfallwhiskey zu demonstrieren, welche Trinksprüche sie gelernt hatte. „Wo schläfst du heute eigentlich?“, fragte Cian schließlich, der ebenfalls einen Whiskey ergattert hatte. „Nummer 3 ist zwar sauber, aber wir bekommen morgen Gäste dafür.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Macht nichts. Ich hatte eh vor, in meinem alten Zimmer zu schlafen.“ An dieser Stelle protestierte Chef: „Hey! Ich will meine Ruhe haben! Ich hab meinen letzten Übernachtungsgast gerade so überlebt, da brauch ich nicht auch noch meine verrückte Tante!“ Martine nahm noch einen Schluck und streckte ihm dann die Zunge raus. „Keine Angst. Ich meinte ganz oben. Und Cian...?“ „Ja.“ „Es reicht mir, wenn du mir einfach die Bettbezüge mitgibst. Musst also keinen Aufwand wegen mir betreiben.“ „Seit wann bist du Aufwand?“, wollte Shin wissen. „Sag ich doch. Aber momentan ist eh noch zu früh, um schlafen zu gehen. Haben wir noch was zu trinken da?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)