Der Fluch des Mauren von Tamara_Arts ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Verträumt schaute ich aus dem Fenster. Es war eine sternklare Nacht und der Mond, nicht mehr als eine hauchdünne Sichel, stand hoch am Himmel. Ich schreckte aus meinen Wachträumen auf, als es plötzlich wie wild hupte und schaute auf die Straße hinab. »Mar, beeil’ dich, das Taxi ist da«, rief ich meiner Freundin zu, die immer noch im Bad stand. Hastig begann ich damit, meine Handtasche zu sortieren und prüfte gleichzeitig, ob ich auch an alles gedacht hatte. Als Mar schließlich aus dem Bad trat, kam mir ein leises “Wow” über die Lippen. Ihr zartblaues Kleid schmiegte sich wie Wasser um ihren schlanken Körper. Schon beinah neidisch ließ ich meinen Blick über sie wandern, während sie ihre Handtasche zusammenpackte. Mar hatte immer die tollsten Kleider. Neben ihr sah ich schon beinah schäbig aus. Doch heute nicht. Heute fühlte ich mich ebenfalls schön, Dank meiner wundervollen Mutter. Sie hatte mir ein wunderbares Kleid genäht. Ein smaragdgrünes, traumhaftes Flamencokleid, was schon viel zu lange unbenutzt im Schrank hing. Das Kleid war fast bis zu den Knien enganliegend und breitete sich dort mit drei großen Volants aus, die hinten eine kleine Schleppe bildeten. Es war ärmellos und komplett mit Spitze überzogen. Es war kein typisches Tanzkleid und für die Feria, die spanische Kirmes, viel zu schade. Doch nun war sein Abend gekommen. Seit zwei Monaten fieberte ich diesem Abend entgegen, denn heute fand ein Maskenball exklusiv auf der Alhambra statt. Eine Sensation, so etwas hatte es noch nie gegeben. Abermals ertönte das ungeduldige Hupen des Taxifahrers. Grinsend übergab mir Mar meine grüne Maske und wir warfen einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, bevor wir meine Wohnung verließen. Als das Taxi schließlich vor der Alhambra hielt, musste ich schwer schlucken. Die Festung ragte ehrfurchtgebietend in den schwarzen Himmel hinauf und das gelbliche Licht, mit dem das maurische Gemäuer beleuchtet wurde, ließ es noch magischer und imposanter erscheinen. Schon als ich klein war, faszinierte mich diese Burg. Für mich war sie die Schönste in ganz Spanien. Zuhause hatte ich duzende Bücher über sie: von historischen Texten bis hin zur fantasievollsten Geschichte. »Sol, komm endlich!«, rief mich Mar und holte mich aus meinen Gedanken. »Zieh deine Maske auf! Da vorne stehen schon die Leute.« Mar nahm mich an die Hand und zog mich hinter sich her. Am Eingang drängelten die Menschen. Die Frauen trugen traumhafte, farbenfrohe Kleider, die Männer schicke Smokings. Trotz den Masken dachte ich, hier und da bekannte Personen zu erkennen. Jeder lachte und unterhielt sich ausgelassen, freute sich über dieses ungewöhnliche Ereignis. Ich konnte nicht aufhören zu lächeln und hüpfte leicht auf und ab, als an dem Kassenhäuschen ein Mann erschien. Die Menge verstummte, als er uns willkommen hieß: »Verehrte Gäste, willkommen auf der Alhambra. Der Maskenball findet im Innenhof des Palastes von Karl dem Fünften statt. Bitte halten Sie Ihre Eintrittskarten bereit.« Mar quietschte vergnügt und zerquetschte mir beinah meine Hand. Doch ich teilte ihre Freude und lächelte sie an. »Das wird der coolste Abend, den wir je erlebt haben! Da bin ich mir sicher!«, jubelte sie. Ich nickte eifrig und erwiderte: »Das wird unvergesslich.« »Bitte bleiben Sie zusammen«, sagte der Mann, nachdem er die Tore nach dem Eintreten der Gäste wieder geschlossen hatte. »Auf der Alhambra ist es sehr dunkel. Nur unser Weg zum Palast ist beleuchtet. Ich bitte Sie daher, zusammen zu bleiben und sich nicht unerlaubt zu entfernen.« Und dann ging es los. Wir wurden durch die obere Alhambra geführt und ich musste zugeben, dass es ziemlich unheimlich war. Alles war so dunkel und still. Selbst die Gäste, die vorher laut gelacht hatten, wurden leise oder flüsterten nur. Unbehaglich sah ich mich um. Die Laternen, die unseren Weg beleuchteten, warfen skurrile Schatten, die sich zwischen den Ruinen der ehemaligen Wohnhäuser hin und her bewegten. Ein schwacher Wind kam auf und raschelte spielerisch durch die Blätter der umliegenden Bäume. Ich klammerte mich an Mars Arm fest. Wahrlich, um nichts auf der Welt würde ich mich von dem vorgegebenen Pfad entfernen. »Gruselig, nicht?«, hauchte Mar mir ins Ohr. Mein Blick wanderte zu ihrem und ich blieb erschrocken stehen, als ich hinter ihrem Kopf eine Gestalt ausmachte, die im Schatten eines Baumes stand. »Hey! Bleib doch nicht einfach stehen!«, brummte ein Mann, der fast in mich hineingelaufen war. »Entschuldigung«, stammelte ich und sah zu dem Mann auf, der jedoch nur den Kopf schüttelte und weiter seines Weges ging. »Sol? Was ist denn?«, fragte meine Freundin und sah sich ebenfalls um. Ich schaute zu dem Baum, wo ich die Gestalt ausgemacht hatte, doch sie war nicht mehr da. »Nichts«, erwiderte ich schließlich. »Ich dachte nur, ich hätte jemanden bei den Bäumen gesehen.« Mar schnaubte abfällig. »Du glaubst doch nicht etwa an den Geist von 'el chico' oder?« Erwartungsvoll sah sie mich an. El Chico war der Spitzname des letzten maurischen Königs Mohammed XII, der in Granada regierte. Er war sehr klein gewesen und deswegen nannten ihn die Spanier ‘den Kleinen’. Ich schüttelte den Kopf und lachte auf. »Nein. Natürlich nicht. Wahrscheinlich hat mir mein Verstand nur ein Streich gespielt.« Ich zuckte mit den Schultern und wir gingen weiter. Dennoch hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Und das ließ mein Unbehagen noch wachsen. Als wir schließlich im Innenhof des Palastes angekommen waren, ließ mich dessen Anblick alles vergessen. Der Innenhof war rund und lag im Freien, da das Dach beim Bau eingestürzt war. In der Mitte hatte man eine kreisrunde Bühne aufgestellt, auf der ein Orchester bereits zu spielen begonnen hatte. Runde Laternen hingen über dem Hof und warfen bunte Lichter auf den Boden unter ihnen. Überall waren Stehtische mit weißen Hussen aufgestellt und liebevoll geschmückt. Jasminbäumchen waren im Hof verteilt und versprühten ihren lieblichen Duft. Ich grinste breit. Diesen Abend konnte nichts mehr ruinieren, da war ich mir hundertprozentig sicher. Wir tanzten ausgelassen miteinander und ein paar Mal wurden wir auch von Männern aufgefordert, die ziemlich attraktiv wirkten. Vielleicht lag es auch nur an den Masken, weil sie dadurch geheimnisvoll erschienen. Aber das war uns egal. Mir fiel ein Mann auf, der sich eher im Hintergrund hielt. Er tanzte und trank nicht und schien auch zu niemandem zu gehören. Keiner beachtete ihn. Er stand einfach nur da und ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Es tat mir schon fast leid, ihn so allein zu sehen. Aber ich traute mich auch nicht, ihn anzusprechen. Dafür war ich dann doch viel zu schüchtern, trotz der Maske. Immer wieder kehrte mein Blick zu ihm zurück. »Hey, suchst du jemanden bestimmtes?«, flüsterte mir Mar ins Ohr. »Nein«, erwiderte ich, als ich mich ihr wieder zuwandte. Sie grinste breit. »Wirklich nicht? Denn es sieht so aus. Hast du jemanden gefunden, der dir gefällt?« »Mach dich nicht lächerlich. Hier sehen doch alle fast gleich aus.« Skeptisch zog sie eine Augenbraue hoch. Ich rollte genervt mit den Augen. »Ist dir denn der Kerl da hinten nicht aufgefallen?«, fragte ich und deutete mit dem Kopf in die grobe Richtung. »Welcher? Der blonde, der von Frauen umringt ist?« »Nein. Ich meine den, der ganz allein an der Mauer steht.« »Wo denn?« »Na der,« sagte ich und wollte nun mit dem Finger auf ihn zeigen, obwohl ich wusste, dass es sich nicht gehört, doch er war nicht mehr da. »Wo ist er denn hin?«, fragte ich verwirrt. »Eben stand er da noch.« »Wer denn?« Ich seufzte laut. »Da vorne stand die ganze Zeit ein Mann an der Wand. Ganz allein.« »Und er gefällt dir, hab ich recht?« »Nein! Ich fand es nur seltsam, dass er allein war und nur die Leute beobachtete.« »Vielleicht gehört er zu den Veranstaltern«, erwiderte Mar und zuckte mit den Schultern. Sie hatte womöglich Recht mit ihrer Aussage. Dennoch kam er mir sehr seltsam vor. Und das Gefühl beobachtet zu werden, kam mit voller Wucht zurück. Ich versuchte vehement, mich abzulenken und dieses Gefühl abzuschütteln, was jedoch kaum funktionierte. Auch Mar merkte, dass mit mir etwas nicht stimmte und fand, dass es Zeit wäre, um uns ein paar Drinks zu gönnen. Mit Alkohol würde ich angeblich wieder auflockern. Leider verschlimmerten die Drinks meine Verfassung. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen und ich sah den komischen Mann plötzlich überall. Egal wohin ich ging oder sah, er stand da und sah mich an. Die Musik und die Menschen wurden unerträglich laut. So etwas war mir noch nie passiert, ich bekam regelrecht einen Panikanfall. Ich hatte das Gefühl, erdrückt zu werden und wandte mich zum gehen. Mar rief nach mir, doch ich winkte ab, wollte meine Ruhe haben. Also verließ ich den Palast und achtete nicht darauf, wohin ich lief. Ich schloss die Augen um mich zu sammeln. Als ich sie wieder öffnete, stand ich mitten in einem Flur. Jedenfalls glaubte ich das. Es war viel zu dunkel um etwas zu erkennen. Vorsichtig lief ich weiter und versuchte mich zu orientieren. Auch wenn ich schon sehr häufig die Alhambra besucht hatte, hatte ich bisher noch nie eine Nachtführung gemacht. Im Dunkeln sah alles ganz anders aus, teilweise beängstigend. Ich kam zu dem Schluss, dass ich mich verlaufen hatte und wollte schon umdrehen, um nach dem richtigen Weg zu suchen, als ich ein leises Schluchzen hörte. Ganz langsam lief ich in die Richtung, aus der das Weinen kam, bis ich schließlich in einen weiteren Flur bog, an dessen Ende ich schwaches Licht ausmachte. Und jetzt wusste ich auch wieder, wo ich war. Ich lief geradewegs durch den Stalaktitensaal zu dem Löwenhof, einem der bedeutendsten und schönsten Orte auf der Alhambra. Ich schlich zu den Torbögen, die zum Löwenhof führten und lunzte um die Ecke und da saß er, der seltsame Mann. Er saß vor dem Löwenbrunnen, mit hängendem Kopf und schluchzte leise vor sich hin. Und obwohl ich ihn seltsam fand, bewegten sich meine Füße fast wie von selbst. Er tat mir unsagbar Leid und ich fragte mich, was ihn so traurig machte. Als hätte er mich gehört, hob er den Kopf und ohne sich umzudrehen sprach er mit außergewöhnlich sanften und dunklen Stimme: »Ihr solltet nicht hier sein.« »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören«, erwiderte ich, ein wenig verwundert über seine altertümliche Wortwahl. »Ich habe mich verlaufen.« Er seufzte schwermütig und stand dann auf. »In der Dunkelheit kann das schon vorkommen«, stimmte er mir zu, als er sich zu mir umdrehte. Ich kniff die Augen zusammen und musterte ihn. Der Mann war recht klein und von schmaler Statur. Er trug einen dunklen Anzug und sein Gesicht wurde von einer dicken, gläsernen Maske verdeckt. Doch seine dunklen Augen bohrten sich in meine. Er kam mir bekannt vor, aber ich konnte nicht recht zuordnen, wo ich ihn schonmal gesehen hatte. Anmutig kam er auf mich zu. »Hat man Euch nicht darüber unterrichtet, Euch nicht unerlaubt von der Feier zu entfernen?« »Das gleiche gilt wohl auch für Sie, würde ich behaupten«, erwiderte ich ein wenig schnippischer als gewollt und reckte das Kinn. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Touché. Dennoch wäre es womöglich besser, wenn ich Euch zurück bringe.« »Wäre es wohl«, gab ich zu, bewegte mich jedoch nicht vom Fleck. Auch er machte keine Anstalten, zurück auf den Ball zu gehen. Er schaute mich einfach nur an und sein Blick wurde wieder trauriger. »Hören Sie«, sagte ich. »Ich wollte wirklich nicht stören. Ich wollte nur ein wenig ...« »Allein sein?«, unterbrach er mich fragend und nickte dann. »Ja, das kann ich sehr gut nachvollziehen. Auch mir wurde es ein wenig ... zu viel. Aber wird Eure Begleitung Euch nicht missen?« »Was? Meine Begleitung?«, ich kicherte. »Nein ich habe für heute Abend keine Begleitung. Ich bin mit einer Freundin hier und die wird sich wohl gerade irgendeinen Kerl unter den Nagel reißen.« Der Mann runzelte verwirrt die Stirn. »Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte ich. Der Mann machte mich neugierig. »Ich? ... Mein Name ist ... Momo«, erwiderte er unsicher, was mich wieder zum Kichern brachte. "Und mein Name ist Soledad", erwiderte ich und setzte zum Begrüßungsküssen an, wie man es eben so tat, doch Momo wich zurück und schaute mich entgeistert an. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen, war das Begrüßungsküsschen doch gang und gäbe. Peinlich berührt schaute ich zu Boden. »Verzeiht«, sagte er, »Ich wollte Euch nicht kränken. Es ist nur...« Ich schaute auf und reckte erneut mein Kinn. Natürlich war ich gekränkt. Jeder wäre gekränkt bei so einer Reaktion! »Es ist nur was?«, fragte ich zickig und verschränkte die Arme vor der Brust. Er setzte zur Antwort an und warf dann verzweifelt seine Arme in die Luft. Nun war ich es, die die Stirn verwirrt in Falten zog. »Kennt Ihr die Legende um den Geist von Boabdil?« Ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Sicher, die kennt doch so gut wie jeder. Man erzählt sich, dass der Geist des letzten maurischen Königs Mohammed XII noch immer in seiner Burg verweilt, dass er sie nie verlassen konnte. Dazu verdammt, auf ewig hier zu bleiben. Nachts könne man ihn sogar weinen hören. Er weint um seine Alhambra und um Granada, die er beide bei der "reconquista", der Wiedereroberung Spaniens durch die katholischen Könige verloren und die er doch so sehr geliebt hatte.« Ich fröstelte ein wenig bei diesem Gedanken. Denn Boabdil, hatte tatsächlich um die Alhambra geweint. Weshalb eine Passhöhe südlich von Granada danach benannt worden war: el suspiro del moro, der Seufzer des Mauren. »Aber Boabdil starb nicht hier. Er wurde ja verjagt. Warum sollte sein Geist dann hier gefangen sein? Seit ich die Legende zum ersten Mal gehört hatte, frage ich mich das,« ich lachte auf. »Himmel, ich kann gerade die Stimme meines Großvaters hören, der mir immer antwortete...« »Weil er sie so sehr geliebt hat«, fiel mit Momo erneut ins Wort und ich schaute ihn verblüfft an. »Ja ... Woher wissen Sie das?« Er wandte sein Gesicht von mir ab und schloss die Augen. »Weil es wahrhaftig so ist.« Ich musste mich ernsthaft zusammenreißen, um nicht sofort loszulachen. »Haben Sie ihn gesehen?«, fragte ich und hielt mir eine Hand vor den Mund. Er seufzte erneut und schüttelte den Kopf. »Niemand hat ihn bisher gesehen... Niemand außer Euch«. »Was? Ich?«, ich lachte laut und er schaute mich entgeistert an. »Wo soll ich Boabdil bitte gesehen haben?« »Nun«, räusperte er sich. »Ich stehe vor Euch, oder?« Mein Lachen erstarb, als ich sein ernstes Gesicht sah. Er meinte es tatsächlich ernst. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Der Kerl war doch komplett gaga ... »Streckt Euren Arm aus«, sagte er bestimmend. Ich zögerte, wenn er irgendein Wahnsinniger war, könnte das ganz schnell nach hinten losgehen. Doch mein Arm war wohl nicht ganz meiner Meinung. Langsam streckte ich ihm meine Hand entgegen und er tat selbiges. Mein Atem stockte als seine Hand einfach durch meine hindurchglitt und nichts hinterließ, als eine seltsame Kälte. Ich traute meinen Augen und meinem Verstand nicht. Das war doch nicht möglich! Geschockt sah ich ihm in die Augen. Doch alles was ich sah, war diese tiefe Trauer. Und, so wahnwitzig wie es jetzt auch klingen mag, ich fing an ihm zu glauben. »Wie ist das möglich?«, hauchte ich und bewegte meine Hand, die weiterhin durch seine glitt. »Wie was möglich ist? Das ich als Geist hier gefangen bin oder die Möglichkeit, dass Ihr die einzige Person seid, die mich sehen kann?«, erwiderte er. »Sowohl als auch. Vielleicht werde ich verrückt? Oder ich träume!« »Sehr unwahrscheinlich. Aber es ist auch für mich eine sehr ungewöhnliche Situation. Ihr habt mich von Anfang an sehen können. Das fand ich sowohl erfreulich, als auch seltsam.« »Und deswegen waren Sie so allein auf dem Ball. Und niemand hat Sie beachtet«, stellte ich fest. »Moment, sagten Sie eben, dass Sie es erfreulich fanden, dass ich Sie sehen kann?« »In der Tat.« »Warum?«, fragte ich und zog meine Hand zurück. »Nun, Ihr seid eine wunderschöne Frau und die erste, die mich seit meinem Tod sehen kann. Und für einen Moment, dachte ich...«, abrupt brach er mitten im Satz ab, was mich aufhorchen ließ. »Sie dachten was?«, fragte ich skeptisch und überging sein Kompliment. »Ich möchte Euch nicht mit meinen Problemen belasten«, erwiderte er und drehte mir den Rücken zu. »Tut mir Leid, Momo, aber dafür ist es jetzt zu spät. Ich kann Sie sehen!« »Ich hatte gedacht, Ihr könntet mir helfen«, erwiderte er schließlich. »Ich hatte es sogar gehofft.« »Bei was helfen?« »Mich zu befreien. Mir meinen Frieden zu geben!«, sagte er gequält und drehte sich abermals zu mir um. »Ich bin verflucht! Seit Jahrhunderten wandere ich Tag für Tag und Nacht für Nacht in dieser Burg umher. Musste zusehen, wie sie zerfiel und teilweise wieder restauriert wurde. Ich sehe zu, wie die Menschen sie besichtigen und kaum ihre Schönheit berücksichtigen. Seht her! Der einst so prachtvolle Löwenbrunnen ist ruiniert! Man musste ihn abtrennen, weil die Besucher darauf herumgesprungen sind! Rücksichtslos und ungehemmt! Wenn die Menschen zu meinen Lebzeiten schon egoistisch waren, dann sind sie es heute umso mehr! Nur selten gibt es noch Personen, die die wahre Schönheit der Alhambra bemerken und zu schätzen wissen! Ich kann es nicht mehr! Es quält mich! Und es quält mich, sie verloren zu haben ... Oh Soledad, wenn Ihr hättet sehen können wie sie früher war! So prachtvoll, so schön! Ich liebte es, durch ihre Gärten zu laufen und die Aussicht auf Granada und der Sierra Nevada zu genießen. Wahrlich, ich kann nicht mehr...« Als er geendet hatte, musste ich schwer schlucken. Tränen liefen mir die Wangen hinab und mit gebrochener Stimme erwiderte ich: »Ich kann es mir nur vorstellen, wie es damals war. Doch ich kann Ihre Liebe zu ihr sehr gut nachvollziehen. Auch mich hatte sie schon sehr früh in ihren Bann gezogen.« Er nickte anerkennend. »Also«, sagte ich entschlossen, »Wie kann ich Ihnen helfen Boabdil?« Hoffnungsvoll sah er zu mir auf und lächelte zaghaft. »Ich danke Euch von Herzen. Es ist eigentlich sehr einfach. Für mich jedoch ist es unmöglich.« »Was muss ich tun?« »Seht Ihr die Maske auf meinem Gesicht? Sie hält mich hier fest. Sie wurde mir von einer alten Zigeunerin geschenkt, als ich regierte, kurz bevor ich die Burg den Königen Isabella und Karl den Fünften übergeben musste. Was ich nicht wusste war, dass sie verflucht war. Erst als ich starb und mich als Geist hier wiederfand wurde mir klar, dass die alte Hexe von der reconquista wusste und mich verfluchte. Den Grund dafür werde ich wohl nie erfahren. Aber an dieser Maske hängt meine Seele. Sie muss zerstört werden, um sie zu befreien und mich somit zu erlösen, jedoch vermag ich es nicht, dies zu tun. Ich kann sie nicht einmal absetzten.« »Na wenn’s weiter nichts ist. Geben Sie sie mir, ich lass sie einfach hier auf den Boden fallen.« »So einfach ist es aber leider nicht. Das Glas zerbricht leider nicht so leicht. Sie muss von sehr weit oben runtergeworfen werden, damit sie in tausend Teilen zerspringt.« »Oh ... In Ordnung.« Ich überlegte und sah mich um. Und da fiel mir der Comares Turm in die Augen. »Der Comares Turm ist der höchste aller Türme der Alhambra«, sagte ich. Boabdil folgte meinen Blick und strahlte mich plötzlich an. Ich grinste. »Können Sie mich nach ganz oben bringen?«, fragte ich, da ich wusste, dass der Zutritt in den Turm teilweise versperrt war. »Natürlich, aber Ihr müsst gut aufpassen. Es ist leider sehr gefährlich dort oben.« »Das lassen Sie mal meine Sorge sein.« Er nickte erneut und zeigte auf eine kleine Laterne die neben dem Brunnen auf dem Boden stand und von der auch das schwache Licht kam, das ich gesehen hatte als ich hier her kam. »Nehmt sie, sie wird Euch mehr Nutzen bringen als mir«, erklärte er und bedeutete mir dann, ihm zu folgen. Der Comares Turm gehörte zu dem Comares Palast, durch den mich Boabdil führte. Es war stockduster, trotz der kleinen Laterne. Doch Boabdil achtete darauf, dass ich nirgends gegen stieß. Ich konnte nur nicht zuordnen, ob er um meine Sicherheit besorgt war, oder nicht wollte, dass seine kostbare Alhambra mehr Schaden nahm. Ich tippte auf letzteres. Als wir den Turm betraten, ermahnte er mich abermals, aufzupassen. Vorsichtig betrat ich die Stufen, eine nach der anderen bis ganz hinauf. Ich fragte nicht nach, wie es ihm gelang, die Tore zu öffnen und aus irgendeinem Grund stellte ich meine Mission nicht in Frage. Ich war völlig entschlossen, ihm zu helfen. Als wir oben auf dem Turm ankamen, blieb er vor mir stehen. »Ich werde Euch dafür auf ewig dankbar sein«, sagte er. Ich lächelte ihn aufmunternd an und griff nach seiner Maske. Kaum dass ich sie ihm abnahm, erkannte ich ihn auch. Er sah genauso aus, wie auf den Portraits in meinen Büchern. Seine Maske lag schwer in meinen Händen, doch ich konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden. Es war so faszinierend. Er stand wahrhaftig vor mir. Der Geist von Boabdil. Ich lächelte und erlaubte mir einen kleinen Scherz. »Eure Majestät, es ist mir eine Ehre, Euch zu dienen.« Ich machte einen Knicks, oder zumindest versuchte ich es in diesem Kleid. Er lachte rau und sah hinüber zu den Zinnen. »Dort ist es am höchsten, die perfekte Stelle, um die Maske zu werfen.« Ich nickte und lief zu der genannten Stelle. Die Lücke zwischen den Zinnen war recht eng und ich konnte nicht herunter sehen. Ich wollte sichergehen, dass die Maske wirklich in die Tiefe stürzte und nicht irgendwo hängenblieb. Im Werfen war ich nie sonderlich gut, weshalb ich schon damit rechnete, dass die Maske vor meinen Füßen landen würde. Vor einem König wollte ich mich ungern blamieren. Also entschied ich leichtsinnig, auf die Zinnen zu klettern. Ich wunderte mich nicht, das Boabdil mich nicht aufhielt. Womöglich konnte er es kaum erwarten, endlich befreit zu werden. Doch als ich auf den Zinnen stand und zum Wurf ansetzte, spürte ich einen starken Windstoß in meinem Rücken. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte, konnte mich jedoch noch an einem Vorsprung im Fels festhalten. Ich schrie um Hilfe so laut ich konnte. Boabdil erschien dort, wo ich eben noch gestanden hatte und blickte abfällig auf mich herab. »Helfen Sie mir, Majestät, ich kann mich nicht mehr lange halten«, bat ich verzweifelt und versuchte mich hochzuziehen. »Euch helfen? Ich glaube nicht, dass ich Euch helfen werde.« Fassungslos sah ich zu ihm hinauf. Wieder kam ein Windstoß, der kräftig an meinen Kleid zog. Ich schrie aus Leibeskräften. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich versuchte panisch mit meinen Füßen Halt zu finden. Doch das einzige, was ich erreichte war, dass der Stoff meines Kleides riss. Ich flehte Boabdil weiter an, ich habe ihm doch nur helfen wollen. Ich verstand einfach nicht, warum er aufeinmal so anders war. »Die einzige Möglichkeit mir zu helfen, ist zu sterben, schönste Soledad.« Erschrocken riss ich die Augen auf. Ich konnte nicht fassen, was er da sagte. »Wieso?«, schrie ich. »Was habe ich denn getan?« »Ihr nicht, meine Liebe. Aber dafür Eure Vorfahren.« »Ich verstehe nicht ...« »Nun, dann lasst mich Euch erklären. Wie Ihr ja wisst, wurde ich von den katholischen Königen dazu gezwungen, ihnen Granada zu übergeben und das Land zu verlassen.« »Aber was hat das denn mit mir zu tun?«, fragte ich verzweifelt und versuchte erneut Halt zu finden und mich hochzuziehen. Doch der Wind war stark und drückte mich weiter runter. Mir wurde klar, dass der Wind von ihm ausging. Meine Arme schmerzten und ich hatte mir wohl die ein oder andere Schramme zugezogen, denn ich spürte mein Blut an den Armen hinabwandern. »Na, na. Ihr bleibt bitte da wo Ihr seid. Zu Eurer Frage wollte ich soeben kommen. Also wo war ich? Ach ja. Der König hatte hier in Granada einige Mätressen. Natürlich ohne Wissen der Königin. Nur sein engster Vertrauter wusste davon. Er war auch derjenige, der dem König immer neue Mätressen zuführte. Nun wie dem auch sei, einige dieser Frauen wurden schwanger, doch nur Eine trug ein Kind aus. Sie wurde vom Vertrauten des Königs zum Stillschweigen verurteilt und zwangsverheiratet, bevor man erkennen konnte, dass sie ein Kind Seiner Majestät erwartete. Ich könnte Euch den kompletten Stammbaum aufzählen, bis hin zu Euch, meine Liebe.« Ich hing am höchsten Turm der Alhambra und hörte dem Geist von Boabdil zu. Und als ob das noch nicht verrückt genug wäre, erzählte er mir, dass ich ein Nachkomme des Königs war? Jetzt war ich an dem Punkt angelangt mich, sollte ich das hier überleben, einweisen zu lassen. »Aber, warum soll ich sterben? Was bringt Ihnen das?« »Nun, da ich mich am König selbst nicht rächen kann, räche ich mich an seinen Nachkommen. Und Ihr seid die letzte der Blutlinie.« »Aber warum ich? Warum jetzt? Es gab doch noch andere Nachkommen.« »Die gab es, aber Ihr seid die einzige, die mich sehen konnte. Schon immer.« »Wie bitte?« »Ihr könnt Euch nicht erinnern? Ich wusste, dass Ihr diejenige seid, die mich befreien kann, seit dem Tag, wo Ihr zum ersten Mal durch diese Tore gekommen seid. Damals wart Ihr noch ein Kind und ihr konntet mich schon damals sehen. Jedoch musste ich auf den richtigen Augenblick warten, um an Euch Rache zu nehmen. Es war immer Tag und Ihr wart immer in Begleitung.« Verwirrt versuchte ich mich zu erinnern, doch das war nicht so einfach, wenn man gerade Gefahr drohte, in die Tiefe zu stürzen. Aber er hatte recht. Ich hatte ihn als Kind gesehen. Und auch später immer mal wieder, zwischen den Mauern oder in den Gärten. Aber ich wusste nie, wer er war. »Aber was bringt es Ihnen, sich zu rächen?« Ich versuchte Zeit zu schinden und überlegte fieberhaft, wie ich mich aus dieser Situation retten könnte. »Was es mir bringt?«, schrie er zu mir herab und sein sonst so melancholisches und sanftes Gesicht war hassverzehrt. »Ihr wisst nicht, welche Schmach ich erdulden musste! Vor meinen Untertanen musste ich die Burg den Königen übergeben, sie anbetteln um den Krieg zu beenden und ihnen versprechen, das Land augenblicklich zu verlassen! Meine Mutter hat mich dafür gescholten. Und als ich über meinen Verlust weinte, beleidigte sie mich sogar! Sie sagte ich solle nicht wie ein Weib beweinen, was ich zuvor nicht wie ein Mann hatte verteidigen können! Meine eigene Mutter, die mich hätte unterstützen müssen! Ich verlor mein Gesicht und mein Herz! Deshalb schwor ich mir Rache! Denn das ist es, was mich hier festhält! Rache, nicht diese Maske. Die war nur ein Vorwand. Und nun ist die Zeit gekommen!« Der Wind wurde wieder stärker und zog abermals an meinem Kleid, lange würde ich mich nicht mehr halten können. Ich weinte und schluchzte laut, jedoch nicht mehr nur um mich. »Es tut mir Leid Boabdil!«, schrie ich schluchzend. »Es tut mir Leid, was Ihnen widerfahren ist. Dass Sie Granada verloren haben, dass Ihre Mutter Sie so behandelt hat. Sie hat es nicht verstanden! Aber ich verstehe es. Sie haben die Stadt nicht grundlos übergeben! Sie haben Ihr Volk dadurch vor vielen Toden bewahrt und den Krieg beendet! Das hat Ihre Mutter nicht gesehen! Und natürlich haben Sie geweint, als Sie weggehen mussten ... Sie sind hier geboren und aufgewachsen! Es war Ihre Heimat! Jeder hätte deswegen geweint! Und ich verstehe, dass Sie Rache an mir ausüben wollen. Und ich verzeihe Ihnen. Ich verzeihe Ihnen!« Tränen verschleierten mir die Sicht. Doch es war alles gesagt. Ich wünschte ihm Frieden, denn er hatte es verdient, nach all den Jahrzehnten der Qual. Ich schloss die Augen und ließ los. Ich spürte, wie etwas Kaltes mein Handgelenk umschloss und öffnete die Augen. Boabdil hielt mich fest. Sein Blick war nicht mehr zornig und hasserfüllt, sondern wieder traurig und sanft. Verwirrt sah ich ihn an. War das nicht, was er gewollt hatte? Warum rettete er mich dann? Er zog mich hoch auf die Zinne, wo ich zitternd vor Schmerzen liegen blieb und mich festkrallte. Mohammed kniete neben mir. »Eure Worte erwärmen mir das tote Herz, schönste Soledad. Niemand zuvor hatte mich verstanden. Mich immer nur ausgelacht. Ich war so von Hass und Rache geblendet und zerfressen, sodass ich beinah eine unschuldiges Leben ausgelöscht hätte. Ich hoffe, Ihr vergebt mir.« Erleichterung durchflutete mich, doch bevor ich ihm antworten konnte, schimmerte über uns ein Licht. »Mein Sohn!«, hörten wir eine weibliche Stimme. »Du hast nun wahrlich wie ein Mann gehandelt.« »Mutter?« fragte Boabdil schon beinah flehentlich. »Ja mein Sohn, mein lieber Junge. Nur ein wahrer Mann hätte ein unschuldiges Mädchen verschont und seiner Rache entsagt. Und das hast du. Du bist über dich hinausgewachsen. Nun bist du frei!« »Ich bin frei?«, hauchte er ungläubig. »Ja, Kind. Komm zu mir, mein Sohn. Deine Familie wartet schon so lange auf dich.« Boabdil lächelte und Tränen glitzerten in seinen Augen. Dann sah er mich an und erstrahlte förmlich. »Danke, schönste Soledad. Ich danke Euch aus tiefstem Herzen.« Ich lächelte und nickte ihm zu. Er leuchtete auf und zusammen mit dem Licht seiner Mutter verschwand er. Einen Moment lang starrte ich zu der Stelle, wo er eben noch gewesen war. Dann brach ich kraftlos zusammen. Das Piepsen meines Handys riss mich aus meinem Schlaf. Ich richtete mich erschrocken auf und schaute mich verwirrt um. Ich war in meinem Schlafzimmer. Gleißend helles Sonnenlicht schien durch mein Fenster. Hatte ich alles nur geträumt? Ich griff nach meinem Handy und sah, dass ich eine SMS von Mar erhalten hatte. -Sol! Du bist gestern einfach verschwunden. Ist alles okay? Ich hoffe du bist gut nach Hause gekommen und hattest Spaß mit deinem mysteriösen Fremden. Ruf mich an. Küsschen- Ich schüttelte den Kopf und wollte gerade aufstehen, als etwas mit lauten Poltern auf den Boden fiel. Als ich danach schaute, blieb ich erschrocken mitten in der Bewegung stehen. Ungläubig starrte ich auf die gläserne Maske, die in der Morgensonne glitzerte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)