Devil's Sanctuary von Zekeia_galad (A Yuka x Luzifer Story) ================================================================================ Kapitel 1: Begegnung -------------------- Jeder Mensch vermag wohl dem Gedanken zustimmen können, dass es manchmal Tage im Leben gab, die man einfach nicht vergessen konnte. Sowohl die guten Tage, an denen man Spaß hatte oder an denen man etwas Schönes erlebte, wie auch die schlechten Tage, an denen einfach man am besten im Bett geblieben wäre, um die damit verbundenen Erfahrungen nicht machen zu müssen. Manchmal stand man bereits mit dem falschen Fuß auf oder hatte ein ungutes Gefühl, aber im Grunde begannen solche Tage oftmals auch ganz normal. So normal, dass man sich nicht einmal im Entferntesten vorstellen konnte, was noch alles geschehen sollte. Für sie war dieser Tag einer von jenen gewesen. Sie hatten erst Anfang der Woche nach einer langen Schifffahrt den Hafen erreicht und seitdem ging es drunter und drüber im Hause Eto. Das Einräumen und die Gestaltung des neuen Heims schienen kein Ende nehmen zu wollen. Überall stapelten sich die Umzugskartons und deren Inhalt wartete darauf, einen neuen Platz zu bekommen. All die Artefakte und Fundstücke, die ihre Eltern bei ihren Forschungsreisen mitgebracht hatten. Heute, am Freitag, war Kestrel zumindest mit dem Einrichten ihres Zimmers fertig geworden. Mit stolz in die Seite gestemmten Fäusten stand sie mittendrin und begutachtete zufrieden ihr Werk: Es war ganz schön anstrengend gewesen, doch nun zierten helle Grüntöne ihre Wand, passend zu dem weißen Mobiliar und bunten Bildern von verschiedenen Blumen und Landschaftsgemälden. Ihre Bücher waren ordentlich aufgereiht im Regal, das Bett frisch bezogen und gemacht. Das Fensterbrett darüber zierten einige Blumen in weißen Töpfen. All der kleine Schnickschnack, der sich in den letzten Jahren angesammelt hatte, befand sich in den Fächern ihrer Kommode, über welcher auch Shiranui seinen Platz gefunden hatte. Ihre Eltern hatten die Klinge bei einer ihrer Forschungsreisen entdeckt und mitgebracht, und Kestrel hatte ihr gesamtes Erspartes dafür geopfert, Shiranui ihr eigen nennen zu können. Dafür war sie sogar jobben gegangen, hatte hier und dort Botengänge erledigt, beim Verkauf in Läden geholfen und auch sonst einige Gelegenheitsarbeiten ergriffen. „Perfekt!“, lobte sich die junge Frau selbst für ihren Fleiß. Ihre Eltern waren für einige Besorgungen unterwegs und konnten deshalb das Ergebnis nicht kommentieren. Aber das störte Kestrel nicht. Sie genoss die Ruhe und ließ sich rücklings auf ihre weiche Matratze fallen. Ihre Arme und Beine ausstreckend gönnte sie es sich, tief durchzuatmen. Trotz der Anstrengung der letzten Tage, in denen sie die Wand gestrichen, ihr Mobiliar hin und her geschoben und alles fünfmal umgeräumt hatte, fühlte sie sich gerade erstaunlich energiegeladen, und so schoss sie recht bald wieder in die Höhe. Es war erst kurz nach Mittag. Sie hatte eigentlich erwartet, dass sie länger für ihr Zimmer brauchen würde. Dass dem nicht so war, bescherte ihr gerade unerwartet freie Stunden. Was könnte sie denn noch tun bis ihre Eltern abends zurückkehrten? Mit einem „Hmmm…“ wippte Kestrel am Rand des Bettes ein wenig vor und zurück, sah sich im Zimmer um. Da es gerade so ordentlich war, wollte sie nicht gleich wieder Chaos verursachen, indem sie hier etwas anrührte. „Ah!“ Sie hatte doch irgendwo eine kleine Stadtkarte, die ihr ihre Eltern gegeben hatten! Die braunen Augen leuchteten prompt auf, dann schoss der Körper empor und näherte sich der Kommode. Auf dieser hatte sie das zusammen gefaltete Stück Papier abgelegt. Nun nahm sie es wieder an sich. Ein Rascheln ertönte als sie die Karte auseinander faltete und sie sich genauer besah. Sie konnte die Zeit ja nutzen, um sich noch ein wenig in der näheren Umgebung umzusehen! Bereits wenig später war sie in ihrem knielangen und ärmellosen Kleidchen auf dem Weg in die Bibliothek. Der Weg dorthin war zwar etwas länger, aber sie mochte Bibliotheken sehr und bei der Sommerhitze war es dort sicher schön kühl! Unterwegs entdeckte sie sogar noch eine Eisdiele und konnte sich den Fußmarsch mit einer Kugel Vanilleeis zusätzlich versüßen. Eine Kugel Eis feierte sie im August ebenso wie eine funktionierende Klimaanlage oder einen Ventilator, der ihr kühle Luft ins Gesicht blies. Es war nur schwierig, mit der einen Hand die Waffel mit dem Eis zu halten und mit der anderen die Karte. Irgendwann kam, was kommen musste, und das Eis des Tollpatsches klebte an dem Papier. „Oh nein!!“ Zum Glück hatte sie nicht gerade ihre aktuelle Route erwischt sondern ein anderes Eck der Stadt. Ob sie die Karte noch retten konnte? Kestrel sah sich eilig um, konnte aber nichts zum Abwischen entdecken. Also musste ein Tuch aus ihrem kleinen Täschchen herhalten. In diesem hatte sie einiges, um auf genau solche Situationen vorbereitet zu sein. Und ihr kleines Notizbuch, in dem sie sich alles Mögliche notierte. Ihre Gedanken, wie auch Erlebnisse. Extra für den Umzug hatte sie sich ein neues Büchlein gekauft. Bisher hatte sie allerdings nur hinein gekritzelt, wie sie sich ihr neues Zimmer vorstellte, und welche Pläne sie für die Zeit nach dem Umzug hatte. Zum Beispiel neue Freunde finden. Und sich verlieben. Beides würde vielleicht von selbst passieren wenn die Schule wieder anfing. Das dauerte allerdings noch, denn die Sommerferien hatten erst vor zwei Wochen begonnen. Wo war denn nun eigentlich ihre Packung mit den Taschentüchern? Sie hatte Mühe, mit der Linken in der Tasche zu kramen, und mit der Rechten immer das Eis zu den Lippen zu führen bevor dieses dank der Sonne endgültig schmolz. Endlich ertasteten die Finger die Packung und zogen eines der Tücher daraus hervor, damit sie vorsichtig über die Karte wischen konnte. Ob das wohl wieder trocknete und man etwas erkannte? Sie würde sich wohl überraschen lassen müssen. Immerhin war das Ganze genug Action gewesen, damit sie prompt geradeaus weiter lief obwohl sie gerade eigentlich hätte abbiegen müssen. Das fiel Kestrel erst später auf, als die Straße auf einmal zu Ende war. „Hä!?“ Mit gerunzelter Stirn stand sie vor der Mauer. Hier war sie doch irgendwie falsch!? Wo war sie denn jetzt gelandet? Verwirrt wurde erneut die Karte zu Rate gezogen. Gott, sie hätte vor drei Straßen schon rechts abbiegen müssen! Oh Mann. Das konnte doch auch nur ihr passieren! Glücklicherweise nahm Kestrel das mit Humor. Dann eben zurück. Die paar zusätzlichen Meter würden sie schon nicht umbringen. „Mh?“ Als sie sich umdrehte entdeckte sie nur wenige Meter entfernt einen Jungen mit etwa kinnlangem Haar, ebenso blond wie sie, der ihr den Rücken zuwandte und in genau die Richtung marschierte, in die sie wollte. Mit den Händen in den Hosentaschen ging er zielstrebig voran und Kestrel, die ihm folgte – weil sie in die gleiche Richtung wollte! – entdeckte kurz darauf, dass er nach drei Straßen links abbog. Nanu? Wollte der etwa auch in die Bibliothek? Ui! Allerdings vermied es das Mädchen, den Fremden anzusprechen. Er schien nichts davon bemerkt zu haben, dass sie ebenfalls in die gleiche Richtung unterwegs war, und so fühlte sich Kestrel gerade als die Meisterdetektivin, die einer verdächtigen Person folgte. Das machte Spaß! Also blieb sie immer an der Ecke stehen, wann immer sie aufzuholen drohte, und wartete dort ab, bis der Junge weiter gegangen war. Hihihi! Das Versteckspiel ging noch einige Minuten. Dann verschwand der Blonde erneut hinter dem Eck eines Hauses. Kestrel folgte ihm flink und schoss ebenfalls um das Eck. Aber da war auf einmal niemand mehr! Sie blickte nach rechts, nach links, wieder nach rechts. Keiner da. Also richtete sie ihren Blick geradeaus, blickte auf ein paar Stufen und danach zum Eingang der Bibliothek. Juhu, sie war da! Aber wo war der Junge? War er etwa schon drinnen? Kestrel nahm zwei Stufen auf einmal, doch kaum setzte sie einen Fuß über die Schwelle überkam sie ein Gefühl von Ehrfurcht. „Wow!“ Die Bibliothek war ja riesig! Der Junge war für den Moment vergessen aufgrund des überwältigenden Anblicks. Links und rechts waren Theken, nahezu bewacht von strengen Blicken hinter dicken Brillengläsern. Puh, die passten bestimmt auf, dass es hier nicht laut wurde! Ein wenig eingeschüchtert betrat die Blonde die große Halle, nickte zögerlich gen der Bibliothekarin und deren nicht minder streng wirkenden Gehilfen. Besser, sie verscherzte es sich mit den Beiden nicht, denn wenn das Gebäude schon so imposant war, dann würde sie sicher öfter hierher kommen um all die Schätze zu entdecken, die sich hier in den Regalen befanden. Für den Moment aber gab sie sich damit zufrieden, einfach nur durch die Reihen zu schlendern und den Blick schweifen zu lassen. Ohne ein bestimmtes Ziel im Hinterkopf. Im Erdgeschoss, dann im ersten Stock, schließlich erklomm sie die Treppe zum zweiten. Erst dort drangen Stimmen an ihr Ohr. Irgendwie befremdlich bei der zuvor herrschenden, beinahe drückenden Stille, die diesen Ort neben dem Geruch nach altem Papier – Geschichte – nahezu mystisch gemacht hatte. Sie konnte nicht hören, was genau gesprochen wurde. Doch selbst an den Wortfetzen und sekundenlang dazwischen dringendem Gelächter war zu erkennen, dass es irgendwelche Jungen oder Männer waren. Hm, da blieb sie wohl lieber etwas weiter weg. An Männergesprächen wollte sie nicht wirklich teilhaben. Die redeten eh nur immer über das Eine, obwohl es da doch noch so viel mehr gab. Kestrel unterdrückte ein Schnauben und wollte ihre Schritte schon zurück zur Treppe lenken als ein Geräusch an ihre Ohren drang, das dem Zerreißen von Papier sehr nahe kam. Nicht doch…! Was machten die da?! An einem der vollen Regale vorbei erhaschte sie einen Blick, entdeckte drei Gestalten. Einer von ihnen lehnte sich mit verschränkten Armen gegen das Regal, die anderen beiden hatten auf den Sesseln Platz genommen und ihre dreckigen Schuhe auf einem weiteren platziert. Unverschämtheit, darauf wollten vielleicht manche Leute noch sitzen!? Kestrel verzog die Lippen, dann entdeckte sie den blonden Haarschopf. Der Junge von vorhin und zwei weitere Männer! Nichtsdestotrotz war das absolut unhöflich, was die da abzogen. Aber woher kam das reißende Geräusch? Keiner der drei machte etwas, was es hätte verursachen können. Ob da noch jemand war? Sie beugte sich weiter vor. Ihr Blickfeld erweiterte sich um einen Jungen, der etwas abseits von der kleinen Gruppen dasaß und mit ausdruckslosem Gesicht eine Seite nach der anderen aus einem der Bücher riss. Die Bewegungen waren ruhig und gezielt und beförderten Seite für Seite auf den Boden. Im Vorbeiflattern erlaubte das Papier einen kurzen Blick auf den schwarzen Einband mit dem goldenen Kreuz in der Mitte. „He…!“, wollte sich Kestrel in jenem Moment schon beschweren, was das sollte, aber sie hatte sich eindeutig zu weit nach vorne gebeugt und verlor just in diesem Moment das Gleichgewicht. Mit einem kurzen „Bamm“ landete sie ebenfalls auf dem Boden, der Länge nach. „Autsch!“ Das Gespräch der Drei stockte abrupt und die Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Dass deren Blicke auf ihr ruhten meinte sie förmlich spüren zu können. Himmel, wie peinlich war das denn? Ein kurzes Prusten erreichte ihre Ohren, doch als sie sich eilig aufrappelte und sich nach dem Verantwortlichen umsah, schienen die drei bereits wieder in ihr Gespräch versunken zu sein. „Hey!!“, machte Kestrel erneut auf sich aufmerksam und trat dabei ein paar Schritte näher, bereits mit der Hand gen des Typen mit dem Buch zeigend. „Die Bücher hier sind nicht dazu da, dass sie jemand kaputt macht! Wieso sagt ihr dem da nicht, dass er aufhören soll!?“ Die waren zu dritt und der andere Kerl alleine. Und so bedrohlich, wie die aussahen, würde der doch bestimmt die armen Bücher in Ruhe lassen. Apropos bedrohlich… „… Äh …“ Waren die vorher auch schon so groß gewesen? Gerade, wo sie aufstanden und zu ihr blickten – ziemlich finster, wohlgemerkt – bemerkte Kestrel jetzt erst, wie groß die eigentlich waren. Der Blonde war wohl der Kleinste unter ihnen, aber selbst der überragte sie bestimmt um einen halben Kopf. Und die anderen waren noch größer. Kestrel trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. Ouh, die sahen gefährlich aus! Der Blonde mit seinen vielen Ohrringen. Der Brillenträger hatte eine Narbe an seiner linken Wange und die braunen Haare wohl mit viel Gel bearbeitet. Und der Dritte im Bunde hatte seine kurzen schwarzen Haare auf der linken Seite komplett wegrasiert und biss gerade ziemlich genervt auf die Zigarette zwischen seinen Lippen. „Geh’ uns nich’ auf’n Sack, du Göre.“ Wäääh, der Dritte kam ihr ganz schön nahe und pustete ihr auch noch den ekligen Zigarettenqualm ins Gesicht. Pfui! Mit einem Husten trat Kestrel weitere Schritte zurück. „Ich… ich hab’ doch nur…“ Sie hatte doch nur die drei dazu bringen wollen, dass sie den anderen Jungen im Eck auf sein Verhalten ansprachen. Aber da hatte sie wohl die Falschen erwischt, wenn die sich scheinbar genauso wenig darum scherten, welche Regeln es in diesen vier Wänden wohl gab. Sie beschmutzten mit ihren Schuhen das Polster der Sessel und sie rauchten neben den Büchern. Und sie, ein einzelnes Mädchen, hatte sich eingebildet, die würden auf sie hören und den Jungen kritisieren? Sie stand alleine gegen drei und sie bekam gerade ziemlich Angst! Der Junge würde ihr wohl kaum zu Hilfe kommen und sich den drei Schlägertypen in den Weg stellen… Ehe sie es sich versah berührte sie mit dem Rücken das Regal hinter ihr während die anderen drei Typen näher kamen und sich drohend aufrichteten. Kestrel war wie erstarrt, brachte noch nicht einmal einen Schrei heraus, der vielleicht weiter unten jemanden alarmiert hätte, der ihr zu Hilfe gekommen wäre. Zu viel Angst! „Verschwinde, bevor ich dir deine hübsche Fresse poliere.“, knurrte der Hüne sie an und hatte inzwischen auch die Zigarette aus dem Mund genommen. Kestrel wäre es lieber gewesen, sie wäre dort geblieben. Denn die Hand mit der Kippe näherte sich gezielt ihrem Gesicht. Der wollte doch nicht etwa…!? Die Erkenntnis ließ sie die Augen nochmals aufreißen und die Lippen öffnen, doch im nächsten Moment kniff sie beides zusammen. Oh Gott, bitte nicht!! So hilf ihr doch jemand! Irgendjemand! Dass dieser Jemand kam überraschte sie allerdings dann doch. Vor allem, als sie lediglich ein kühles „He.“ vernahm als sie darauf wartete, dass der Kerl tatsächlich seine Zigarette an ihrer Haut ausdrückte. Und wartete. Und wartete. Und irgendwann doch wieder zögerlich blinzelnd die Augen öffnete, weil der erwartete Schmerz nicht eintrat. Ihr Blick traf auf klare, eisblaue Augen, die sie hinter braunen Strähnen verborgen anstarrten. Scheinbar hatte sich der vierte Junge nun doch geregt, war aufgestanden und hatte dem großen Kerl offensichtlich die Zigarette weggenommen, die nun zwischen seinen eigenen Lippen klemmte. Irgendetwas an seinem Blick machte Kestrel Angst. Mehr Angst als die anderen drei. Und doch fühlte sie sich gerade imstande, um Hilfe zu schreien. Sie öffnete die Lippen, doch der Braunhaarige war schneller als sie und erstickte mit grober Hand den Laut, drückte Kestrel noch fester gegen das Regal. „Hör zu, du kleiner Moralapostel.“ Die Finger der linken Hand tasteten gelassen nach der Zigarette im Mund und fixierten diese zwischen Zeige- und Mittelfinger als er die Hand neben Kestrel’s Kopf am Regal abstützte. Sein Gesicht kam dem ihren immer näher während Kestrel zu keiner Seite fliehen konnte – schon weil seine Rechte sie so fest hielt, dass es schier unmöglich schien. „Hier gelten meine Regeln. Befolge sie oder ich mache dir dein mickriges Leben zur Hölle. Kapiert?“ Der Griff seiner Rechten lockerte sich ein wenig. Genug, um ihr die Andeutung eines Nickens zu erlauben. Daraufhin lächelte er. Und Kestrel hatte noch nie etwas Grausameres gesehen. „Braves Mädchen.“ Im Bruchteil einer Sekunde löste sich der Klammergriff und der Junge entfernte sich von ihr. Mit einem „Gehen wir.“ wandte er sich an die anderen drei, die ihm prompt und widerstandslos in Richtung der Treppe folgten. Keiner machte mehr Anstalten, sich Kestrel zu nähern, die am Regal festgewachsen zu sein schien. Der Blick ging starr geradeaus, wagte sich erst zur Seite, als sie sich sicher sein konnte, dass sie weg waren. Erst dann sank ihr Leib gen Boden und Kestrel machte sich möglichst klein. Was war das denn gewesen!? Sie hob eine zitternde Hand. Sie bebte ja förmlich vor Angst. Wäre ein Spiegel hier, so hätte Kestrel außerdem einen Blick auf ein erblasstes, ängstliches Gesicht erhaschen können. Die Hände suchten schützend nach ihren Schultern, legten sich darauf. Den Kopf darauf bettend bemerkte sie, dass ihre Haut nass war. Ob es sich um Schweiß, Tränen oder eine Mischung aus beidem handelte, konnte sie nicht sagen. Dafür wusste sie etwas anderes mit Gewissheit: Diesen Typen – allen voran dem mit dem kalten Blick – wollte sie nie, nie wieder über den Weg laufen! Nie wieder…! Kapitel 2: Wiedersehen ---------------------- Seit jenem Tag konnte sich Kestrel an keine einzige Nacht mehr erinnern, in der sie gut geschlafen hätte. Nacht für Nacht träumte sie denselben merkwürdigen Traum. Ihre Sicht war verschwommen, einzig ein schwarzer großer Schatten mit mächtigen Schwingen zeichnete sich einigermaßen klar von der zerstörten Umgebung ab. Sie umfasste den Griff ihres Schwertes fester und stürmte los in Richtung eben jener Gestalt. Dann ging alles viel zu schnell: Mit immensem Druck wurde ihr die Waffe entrissen und im nächsten Moment verspürte sie nur noch Schmerz. Keuchend lehnte sie die verschwitzte Stirn gegen die Schulter des Schwarzgeflügelten. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, doch sie konnte die Worte nicht verstehen. Dennoch öffnete sie ihre Lippen zu einer Antwort, die ihm eine verächtliche Erwiderung erlaubte. Ein angedeutetes Lächeln schlich sich in ihre Mundwinkel, doch bereits im nächsten Moment wurde sie von etwas gänzlich anderem abgelenkt als von dem kurzen und unverständlichen Wortwechsel: Der Griff um ihre Hüfte, der sie bis gerade eben noch gehalten hatte, lockerte sich und sie fiel. Die in Richtung des Mannes ausgestreckte Hand fasste ins Leere. Sie konnte Schreie hören während sie sich zunehmend dem harten Untergrund näherte. Und jedes Mal wachte sie nur knapp vor dem Aufprall auf, schweißgebadet und zitternd. Etwa vier Wochen war die unheilvolle Begegnung in der Bibliothek her und Kestrel hatte sie eigentlich bereits schon wieder vergessen. Schließlich war sie eigentlich eine Frohnatur, die sich nicht gerne an solche Momente erinnerte, und so hatte Kestrel bis heute nicht festgestellt, dass es einen Zusammenhang geben könnte. Anfangs hatte sie es nur für einen Zufall gehalten, erst nach etwa einer Woche war sie skeptisch geworden weil sich diese Szenerie im Traum stetig wiederholte. Und kaum war diese Erkenntnis gewonnen fiel es ihr unsagbar schwer, sich überhaupt noch an eine ruhige Nacht zu erinnern. Wie war es damals gewesen als sie die Nächte traumlos bis zum Morgen verbrachte? Oder kichernd einschlief und sich die größten Abenteuer ausmalte? Nie im Leben hatte sie vorher solche Angst gehabt wie in diesen Träumen. Beim Erwachen dauerte es länger, sich zu beruhigen. Erklären konnte sie sich all das auch nicht. Warum träumte sie so etwas? Und um wen ging es da? Sie wusste es nicht. Was sie aber stattdessen wusste, war, dass mit dem gestrigen Tag die Sommerferien geendet hatten und sie somit heute zum ersten Mal ihre neue Schule besuchen würde. Das würde sie bestimmt von diesen Träumen ablenken und außerdem war sie schon sehr gespannt, was sie wohl erleben mochte. Hoffentlich traf sie dort nette Klassenkameraden, mit denen sie sich anfreunden konnte. Mit viel Glück galt das auch für die Lehrer. Ob sie sich wohl zurechtfinden würde? Anfangs vielleicht noch nicht, aber irgendwann bestimmt. Hach, das würde sicher toll werden! Auf jeden Fall war die Schule recht nah und so konnte sie diese zu Fuß in etwa fünfzehn Minuten erreichen. Fünfzehn Minuten, in denen sie wach werden und sich in ihrer Gedankenwelt verlieren konnte. Da war auch schon das Schultor. So kurz vor Unterrichtsbeginn tummelten sich noch einige Schüler auf dem Schulhof der Phoenix High. Mehrere steinerne Wege führten zu dem Brunnen im Zentrum des Geländes, einige Straßenlaternen erhellten des Nachts die Strecken. In vielen kleinen Grüppchen hatten sich die Schüler und Schülerinnen zusammen getan, standen lachend beieinander, saßen nahe des Brunnens auf den Bänken oder eilten in Richtung des doch recht imposant wirkenden Lehrgebäudes, dessen verschiedenen Trakte miteinander verbunden waren. Kestrel war jedoch die Einzige, die aus dem Staunen nicht mehr heraus kam und deswegen stehen geblieben war. Mitten im Tor, allen anderen ein Hindernis, dem sie teils leise grummelnd ausweichen mussten um einen Zusammenstoß mit dem blonden Tollpatsch zu vermeiden. „Wow!“, flüsterte das Mädchen, nichts anderes von ihrer Umgebung mitbekommend. Sie hatte vorab Bilder von der Schule gesehen, aber dass die so groß war und so viel besser aussah als auf den Fotos hätte sie nicht erwartet. Der Anblick weckte zwar Bedenken, dass sie sich hier jemals zurechtfinden würde, aber gleichzeitig auch den Drang, alle Geheimnisse zu entdecken. Bestimmt gab es hier den ein oder anderen durchaus interessanten Raum. Und vor allem viele Gleichaltrige, mit denen sie sich anfreunden und über alles Mögliche quatschen könnte. Sie war zuversichtlich, dass sie sich in dieser Schule wohlfühlen würde. Mit neuer Entschlossenheit folgte sie also einem etwas größeren Strom, der durch lautes Glockengeläut an den bevorstehenden Schultag erinnernd die Schüler in das Gebäude lockte. Eine zwar kleine, aber dafür breite Treppe führte in Richtung zweier Flügeltüren – wohl der Eingang des Gebäudekomplexes. Der Strom floss an einem jungen Mädchen vorbei, das wie eine Porzellanpuppe jenen Durchlass zierte. Blaue Augen blinzelten klar unter einem schwarzen gleichmäßig geschnittenen Pony hervor und mit einem Lächeln wurden alle vorbei kommenden und höflich nickenden Schüler begrüßt. Was für ein hübsches Mädchen, fand Kestrel. Bis sich die Fremde in ihren Weg schob und sie von dem Strom, dem sie folgte, trennte. „Eto, Yuka?“, fragte die glockenhelle Stimme höflich. „Hä?“ Woher wusste sie denn ihren Namen? „Äh… ja?“, entgegnete Kestrel nach kurzem Zögern, als sie die Verwirrung überwunden und sich einigermaßen wieder gefasst hatte. „Mein Name ist Kiryu, Azusa.“, stellte sich die Schwarzhaarige ihrerseits vor und machte dann den Weg durch einen Schritt zur Seite wieder frei. Eine Hand hebend wies sie Kestrel an, einzutreten. „Folge mir bitte. Ich zeige dir das Schulgebäude.“ Ach, hatte sie auf sie gewartet? Und sie würde ihr alles zeigen? Das war nett! Kestrel, die gerade doch kurzzeitig Angst gehabt hatte, sie hätte unbewusst irgendetwas angestellt und sollte nun zur Rechenschaft gezogen werden, entspannte sich merklich und atmete erleichtert auf. „Cool, danke!“ Der Rundgang dauerte eine Weile, aber in Azusa hatte sie scheinbar eine sehr kompetent wirkende und geduldige Führerin gewonnen. Die Wege waren linear, nicht zu verworren, so dass man sie sich leicht merken konnte, und sie erklärte die einzelnen wichtigen Räume in ihrer Bedeutung und Funktion. Kestrel musste also nichts weiter tun als alles auf sich wirken zu lassen und vielleicht dann und wann mal eine kurze Frage zu stellen, die prompt und mit gewählten Worten beantwortet wurde. Puh! „Mann, du bist mir echt eine große Hilfe! Ich dachte schon, ich muss mich hier alleine zurechtfinden. Hätte nich’ mal gewusst, wo mein Klassenzimmer ist…!“ Sogar beim Sekretariat waren sie vorbei gekommen und nach einer kurzen Vorstellung hatte Kestrel auch dort noch einige Informationen erhalten. Und vor jenem Klassenzimmer, in dem sie fortan lernen sollte, standen die beiden Mädchen nun. Kestrel nutzte die Gelegenheit, um sich bei Azusa für die Führung zu bedanken. „Vielen lieben Dank, Kiryu-san!“, platzte es sofort aus ihr heraus, denn später würde sie wahrscheinlich keine Zeit mehr dafür haben. Dachte sie noch als sie hinzufügte: „Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder?“ „Ganz sicher. Du kommst in meine Klasse.“, erwiderte die Angesprochene lächelnd, wirkte aber bei ihren weiteren Worten gar ein wenig schüchtern: „Oh, und … Azusa reicht völlig.“ „Echt? Dann nenn’ mich doch bitte Yuka. Oder Kes-…“ Weiter kam sie nicht, denn der Klassenlehrer hatte wohl etwas von ihrer Ankunft mitbekommen und öffnete gerade die Tür. Seine Augen blitzten kurz auf als wollten sie sagen, dass sie ihr Kaffeekränzchen auf nach dem Unterricht verschieben sollten statt es vor dem Klassenzimmer abzuhalten. Doch Kestrel meinte, kurz darauf ein Zwinkern zu sehen, und auch die Stimme klang keineswegs belehrend als er sie mit einem „Das ging schnell. Kommt rein.“ hereinbat. Kestrel atmete noch einmal tief durch und folgte dann Azusa über die Türschwelle. Die Schwarzhaarige steuerte sogleich einen freien Platz in der ersten Reihe an, nahe der Tür, und ließ sich auf diesem nieder. Das blonde Mädchen hingegen blieb noch neben der Lehrkraft stehen, nicht so recht wissend, was sie nun machen sollte außer wenigstens schon mal ein „Hi!“ in den Raum zu werfen. Auf den ersten Blick konnte sie keinen freien Platz entdecken. Erst nachdem der Blick brauner Iriden über die anwesenden Köpfe wanderte und neugierigen fremden Blicken begegnete, entdeckte sie in der vierten und letzten Reihe zwei freie Plätze nebeneinander. „Ihr habt ja bereits mitbekommen, dass wir ab heute eine neue Schülerin haben. Darf ich euch nun Eto, Yuka vorstellen?“ „Ähm…!“ Gerade bekam sie noch die Kurve und unterdrückte den Drang, dem Lehrer in die Vorstellung reinzureden. Aber bevor er weitersprach wollte sie doch lieber selbst etwas über sich erzählen. „Ja… äh… Hi nochmal. Ihr könnt mich gerne Yuka nennen. Oder Kestrel, das ist mir noch lieber.“ Nicht, dass sie etwas gegen den Namen hatte, den ihre Eltern vor siebzehn Jahren für sie aussuchten… aber es gab einen guten Grund für die alternative Ansprachemöglichkeit. „Ich bin vor ein paar Wochen mit meinen Eltern hierher gezogen und freue mich, dass ich ab heute in eurer Klasse sein kann. Hoffentlich werden wir gute Freunde!“ Mit den letzten Worten verneigte sie sich eilig. Das war für den Moment alles, was sie sagen wollte. Schließlich wollte sie den Unterricht nicht zu lange aufhalten. Kestrel wandte den Kopf zur Seite, suchte den Blick des Lehrers um herauszufinden, was sie nun machen sollte, aber da hatte der schon längst wieder das Wort ergriffen: „Gut, Eto. Nimm doch dort hinten Platz.“ Wie erwartet deutete der Lehrer gen der beiden freien Plätze. Cool! Da würde sie doch gleich den Fensterplatz nehmen! Diesen steuerte sie zwar zunächst noch zielstrebig an, aber als auch den Anderen klar wurde, wo sie Platz nehmen wollte, wurde sie sogleich mit einem „Halt, nicht da. Daneben!“ aufgehalten. Nanu? Die braunen Iriden sahen etwas verdutzt zu dem Lehrer. Warum denn nicht am Fenster? In den vorderen drei Reihen war dieser Platz doch auch besetzt. Und der sah doch ganz normal aus? „Sorry.“ Sie konnte sich zwar das Verhalten nicht erklären oder irgendeine Besonderheit an diesem Platz ausmachen, aber gut. Dann setzte sie sich eben auf den freien Platz daneben. War ihr ja relativ egal und so hatte sie wenigstens einen Banknachbar, mit dem sie quatschen könnte. „Hallo, freut mich!“, begrüßte sie jenen, der allerdings nur ein sehr kurz angebundenes „Hallo.“ zurückgab. War bestimmt nur Einbildung, dass sich das unfreundlich anhörte. Trotzdem wirkte Kestrel noch ein wenig verwundert, zuckte dann aber mit den Schultern und setzte sich, ehe sie in ihrer Tasche nach etwas zum Mitschreiben kramte. „Eto.“, wurde da nochmals jäh ihre Aufmerksamkeit eingefordert. „Äh, ja?“ Sofort schoss Kestrel wieder in die Höhe und brachte mit der schreckhaften Reaktion ein paar einzelne Schüler zum Kichern. „Wenn du Fragen hast, wende dich jederzeit an die Schülersprecherin.“ Wer war denn…? „Azusa-hime wird dir gerne weiterhelfen.“ … Okay, ungestellte Frage gleich mal beantwortet. Von hier hinten hatte sie eigentlich sogar einen relativ guten Blick auf die Schwarzhaarige, die sich gerade noch umdrehte und sie ermunternd anlächelte. Hm. Kestrel platzierte ihre Ellenbogen auf dem Tisch und stützte ihren Kopf mit den Handinnenflächen. Schülersprecherin also. Kein Wunder, dass die auf sie zugekommen war und sich so sicher bei der Führung verhalten hatte. Wahrscheinlich war sie das gewohnt. Und bei ihrem hübschen Aussehen und ihrer sympathischen, hilfsbereiten Art wunderte es Kestrel kein bisschen, dass sie dieses Amt innehatte. „Beneidenswert.“ Das perfekte Mädchen, wie? Kein Wunder, dass sie wie eine Prinzessin benannt wurde. Sie sah wie eine aus und verhielt sich tadellos, ohne eingebildet zu sein. Kestrel könnte sich Azusa auch sehr gut in entsprechender Robe vorstellen. Stunden später heftete sich der Blondschopf also gleich mal an die Fersen besagter Schülersprecherin, die offensichtlich für jedermann hier wie eine Prominente war. Jeder schien sie zu kennen und jeder sprach sie ehrfürchtig und höflich an. Selbst die älteren Schüler und Schülerinnen verbeugten sich und machten den Weg zur Mensa frei. „Du bist echt krass, Azusa…“, bemerkte Kestrel mit ehrlicher Anerkennung, erntete damit allerdings zunächst nur ein etwas irritiert wirkendes „Bitte?“ Hoppla. Sie sollte wohl besser erst denken und dann reden. „Äh… ich meinte, du bist ziemlich cool. Siehst gut aus und bist total lieb und nett. Kein Wunder, dass du Schülersprecherin bist. Dich scheint jeder zu kennen und zu respektieren…“, verbesserte sich Kestrel eilig und versuchte, Azusa zu erklären, wie sie ihre Worte gerade eben gemeint hatte. Musste sich für sie ja angehört haben als vergleiche Kestrel sie mit irgendeiner furchterregenden Gangsterbraut. „N-nicht doch…“, murmelte das schwarzhaarige Mädchen bescheiden. „Wenn es hier jemanden gibt, den jeder kennt und respektiert, dann ist das-…“ Bamm. Kestrel war voraus gelaufen, hatte die großen Türen geöffnet und lief nach weiteren zwei Schritten in einen anderen Schüler hinein. Dieser überragte sie ein gutes Stück und sie wusste gar nicht, wie sie den hatte übersehen können. „Pass doch auf!“, wurde sie eisig angeschnauzt. „S-sorry!“, entschuldigte sie sich sofort und mit eiligen Verbeugungen. Verdammt noch mal, das war keine Absicht gewesen. Sie wollte sich doch nicht ausgerechnet schon am ersten Schultag blamieren! Und das auch noch vor Miss Perfect-Azusa! Mit einem entschuldigenden Blick in deren Richtung wollte sich Kestrel wohl vergewissern ob die das überhaupt mitbekommen hatte. Scheinbar ja. Denn Azusa sah zurück, auch wenn im Mittelpunkt ihrer Iriden wohl eher die Person stand, die Kestrel versehentlich angerempelt hatte. „O-sama.“ Waaaas? Kestrel schluckte etwas ängstlich. Prinzessin und König? Hatte sie Azusa’s Vater angerempelt? Oh nein! Und bei ihrem Glück war der jetzt garantiert ganz klischeehaft der Direktor der Schule oder irgendwie so etwas. Irgendeine Persönlichkeit, in die man besser nicht hinein rannte. Außerdem wurde er von einer kleinen Gruppe begleitete. Die Leibgarde? Irgendwelche Sicherheitsbeamte, die sie für diesen Frevel gleich erschießen würden? Kestrel gab ein fiepsendes Geräusch von sich und wagte kaum, den Kopf zu heben. Aber das wäre ja furchtbar unhöflich! Und sie wollte das Ganze nicht noch schlimmer machen als es bereits war. „E-es tut mir wirklich, wirklich fur-…“ –chtbar leid, wollte sie sagen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken als sie bemerkte, wen sie da angerempelt hatte. Keinen älteren Herren, was von der Stimme her schon gar nicht gepasst hätte. Garantiert auch nicht Azusa’s Vater. Viel schlimmer! „D-der Kerl aus der Bibliothek!!!“ Das durfte doch einfach nicht wahr sein! Ihre nächtlichen Albträume setzten sich am helllichten Tag fort. Sie hatte diesen Kerl nie wieder sehen wollen. Ihn nicht und seine fies aussehenden Freunde auch nicht! Und jetzt stand der vor ihr, in ähnlicher Bekleidung, und mit dem leeren – zum Glück nicht voll beladenen! – Tablett in der Hand, mit dem er scheinbar gerade sein Mittagessen hatte holen wollen. „Ach.“, schien der sie gerade auch wieder zu erkennen und seine Mundwinkel verzogen sich zu demselben Grinsen wie das, das er ihr damals gezeigt hatte. Überheblich. Kalt. Schnell weg hier, entschied sich Kestrel und nahm mit einem gen Azusa gehauchten „Sorry, hab’ was vergessen!“ ganz schnell die Beine in die Hand. Der Typ machte ihr Angst! Genug, um auf das Mittagessen zu verzichten. Wo konnte sie sich denn jetzt verstecken bis der Unterricht wieder begann? Da wäre sie wenigstens sicher vor ihm. Das war ihr einziger Lichtblick gewesen, der ihr den Tag hätte retten können. Vor dem Mittagessen hätte sie sich wahrscheinlich jedes Mal drücken können um diesem Kerl nicht noch ein drittes Mal über den Weg zu laufen. Aber jene dritte Begegnung kam deutlich früher zustande, noch am selben Tag. Denn Kestrel, die sich in irgendeinem leeren Klassenzimmereck verschanzt hatte und innerlich vor sich hin fluchte, kehrte nach dem lauten Gong, der das Ende der Mittagspause verkündete, zurück in ihr eigenes Klassenzimmer. Der Magen knurrte und nervte sie damit ziemlich, aber sie würden keine zehn Pferde in die Mensa bringen! Vorsichtig wagte sie Blicke nach links und rechts ehe sie das leere Zimmer verließ und sich nicht von verwunderten Gesichtern beirren ließ. Kein braunhaariger, blauäugiger Mistkerl weit und breit. Sie flitzte zum nächsten Eck, wiederholte die Prozedur. Bis sie an ihrem Klassenzimmer ankam, gerade noch rechtzeitig vor dem Lehrer in dieses hinein huschte. Puh, geschafft! „Dein Platz ist da hinten, Eto.“, meinte der Lehrer wohl, sie erinnern zu müssen, wo sie saß. Scheinbar dachte er, sie hätte es vergessen, weil sie wie erstarrt auf halbem Weg stehen blieb, und ganz blass wurde. Aber das war nicht der Grund. Der Grund hatte braune Haare, blaue Augen, eine Brille auf und saß direkt neben ihrem Platz am Fenster. An dem Platz, der vorher noch leer gewesen war. An dem Platz, an dem nun dieser Kerl saß! „A-aber… aber…!“ Neiiiin, sie wollte da nicht hin! Der würde sie in der Luft zerreißen! Warum war der überhaupt da? War er doch vorhin auch nicht gewesen! Sie verstand das nicht. Was sie aber verstand, war der gut gemeinte Rat des Lehrers, der nur leider viel zu spät kam: „Setz’ dich und verhalte dich ruhig solange O-sama da ist.“ O-sama, das war ja offensichtlich dieser Bastard, denn auch Azusa hatte ihn vorhin so angesprochen. Kestrel’s Schritte in seine Richtung waren wie mechanisch und es kostete sie viel Mühe, gegen den eigenen Widerwillen anzukämpfen. Gott, was hatte sie getan, um so bestraft zu werden? Kreidebleich ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen und rückte mit diesem vorsichtshalber noch ein Stück weit weg von diesem Kerl. Sie traute sich nicht, zur Seite zu blicken, denn da wartete garantiert wieder dieses unheimliche Lächeln! Und schon bei dem Gedanken daran wurde ihr schlecht. Am Morgen war sie noch zuversichtlich gewesen und jetzt, mittags, gab es für sie nichts Schlimmeres mehr als diese Schule, diese Klasse, diesen Platz. Diesen Banknachbarn! Das würde sie keine Woche überleben! „Hey.“, wurde von links gezischt. Unverkennbar seine Stimme. Neiiiin! Sie kniff die Augen zusammen und antwortete nicht, schon der Angst wegen nicht, was der dann machen würde. Keine Antwort zu bekommen gefiel dem Kerl wohl aber noch weniger, denn mit einem Mal boxte er ihr mit der Rechten ziemlich hart in die Seite. „Aua!!“ „Ignorier mich nicht, Göre.“ Sollte sie nicht? Kestrel atmete tief ein und nahm all ihren Mut zusammen um sich beim Lehrer über den Schlag zu beschweren: „Herr Lehrer, kann ich woanders sitzen? Der hat mich geschlag-…!“ Der Blick des Lehrkörpers weiter vorne begegnete ihrem. Gott sei Dank! Aber er überging die Worte, die er garantiert vernommen hatte, völlig und wandte sich mit einem abrupten Themenwechsel der Tafel zu als sei der Unterrichtsstoff viel wichtiger als die Tatsache, dass hier gerade ein Kerl gegenüber der neuen Schülerin Gewalt angetan hatte. „Haben Sie nicht geh…“, versuchte es Kestrel noch einmal und stand dafür extra noch einmal auf, empört über diese Ignoranz, die ihr auch die anderen Klassenkameraden entgegen brachten weil sie stur nach vorne sahen statt ihr zu helfen. Was ging denn hier ab?! Ein verächtliches Schnauben zu ihrer Linken ließ sie wieder auf den Verursacher der Schmerzen in ihrer Seite aufmerksam werden. „Keine Chance, Kleine.“ wurde ihr kühl die offensichtliche Wahrheit entgegen gebracht. „Ich habe dir gesagt, hier gelten meine Regeln.“ Was tun? Sie hatte Angst. Aber gleichzeitig war sie auch stinksauer. Und verwirrt, weil sein Verhalten von allen ignoriert und damit stillschweigend geduldet wurde. Wer war der Kerl, dass er sich das erlauben konnte? Und wer war sie, dass sie das mit sich machen ließ? Mit einem „Grr!“ ließ sich Kestrel wieder auf ihren Stuhl sinken. Bei aller Panik… sie durfte sich das nicht gefallen lassen. Nicht von ihm. Wenn sie nachgab, würde er damit immer weiter machen. Und sie hatte keine Lust darauf, dass der ihr jetzt ihre restliche Schulzeit verdarb! Der Körper zitterte zwar, aber ihr Blick in seine Richtung war herausfordernd. „Damit kommst du nicht durch!“, fauchte sie. „Werden wir ja sehen.“, kam von ihm nur mit einem Schulterzucken zurück. Ja. Das würden sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)