Mesmerize Me! von Sky- (The Play of Snake and Lion) ================================================================================ Kapitel 36: Letzte Vorbereitungen --------------------------------- „Sein Auge auf Vergeltung richten heißt, sich in seinen Taten von anderen abhängig machen und nie eigentlich vorwärts kommen.“ Rudolf Georg Binding, deutscher Schriftsteller In den darauf folgenden Tagen überschlugen sich die Ereignisse regelrecht. Nachdem Sam wieder in dem Haus aufgewacht war, in welchem ihn das FBI einquartiert hatte, wurde er von Sadie James regelrecht zusammengestaucht, doch er versuchte noch ein weiteres Mal, Araphel zu sehen. Als er aber die Mason-Villa erreichte, war diese verlassen und es gab keinerlei Hinweise darauf, wohin Araphel gegangen sein könnte. Die nächste Hiobsbotschaft folgte, als es zu der Gerichtsverhandlung gegen Shen Yuanxian kam. Der Staatsanwalt hatte wirklich alles getan, um die Jury von der Schuld des Triaden-Oberhauptes zu beweisen. Sam, Dr. Heian und Morphius machten ausführliche Aussagen, Araphel selbst kam nicht zu der Verhandlung und war offenbar auch nicht als Zeuge geladen worden. Sam hatte sich auf einiges gefasst gemacht, doch Shens Anwalt hatte ihre Aussagen erbarmungslos auseinandergepflückt und jedes unschöne Detail zutage gefördert. Schließlich hatte der Verteidiger auch noch Sams Beziehung zu Araphel benutzt, um seine Glaubwürdigkeit zunichte zu machen. Und dass Morphius und Dr. Heian ebenfalls Mitglieder der Mason-Familie gewesen waren, nutzte er aus. Der Staatsanwalt kämpfte mit harten Fakten dagegen, doch letzten Endes gab die Jury dem Verteidiger Recht, dass all diese Verbrechen nicht direkt mit Shen in Verbindung gebracht werden konnten. Zwar lag es nahe, dass die Triade darin verwickelt war, aber mit Shen selbst konnte keines der Verbrechen in Verbindung gebracht werden. Und so war Shen Yuanxian trotz allem von der Jury freigesprochen worden. Gleich schon während der Gerichtsverhandlung hatten sich allerdings noch andere Dinge getan. Mehrere Mitglieder der Triade waren ermordet worden und das zeitgleich. Knapp 15 wichtige Unterbosse, darunter auch Liu Cheng, der Shens rechte Hand war, waren in ihren eigenen Wohnungen erschossen worden, zudem hatte es noch Tote unter dem so genannten „Fußvolk“ gegeben. Gleichzeitig waren bei der Polizei und beim FBI Informationen über zwei Warenhäuser in Boston und noch weiteren 30 an der gesamten Ostküste und 20 an der Westküste eingegangen, wo der Slave Shipping Service die aus aller Welt verschleppten Kinder und Jugendlichen unterbrachten und in welchen von den Warenhäusern die Operationen durchgeführt wurden. Es war ein Skandal, der die ganze Welt erschüttern sollte. Die Zeitung meldete über nichts anderes mehr als über diesen „wahr gewordenen menschlichen Horror“, wie sie ihn nannten. Der Sturm war losgebrochen und der Mafiakrieg war eskaliert. Sam verfolgte das alles mit Interesse und Entsetzen zugleich und fragte sich, was Araphel wohl vorhatte und ob es zu seinem Plan gehörte, dass er Shen damit endgültig zur Weißglut trieb. Denn fest stand, dass dies nicht ohne Konsequenzen bleiben würde. Und er sollte damit richtig liegen, denn es gab kurz darauf mehrere Meldungen von Schießereien, bei denen auch Mitglieder der Mason-Familie und der Camorra-Familie zum Opfer gefallen waren. Es war, als hätten sich alle abgesprochen. Genau in dem Moment, wo alles vor Gericht gescheitert war, hatten sich die beiden alt eingesessenen Mafia-Clans verbündet und gemeinsam zum Schlag gegen die Triade ausgeholt. Und der Verlust der wichtigsten Unterbosse und Berater sowie die Razzien gegen die Warenhäuser hatten einen schweren Verlust für die Yanjingshe bedeutet und ein großes Chaos verursacht. Das war unter anderem auch Nathan zu verdanken, der wirklich komplett aufgeräumt hatte und sogar im Ausland weitere 150 Standorte lokalisieren konnte, sodass sich schließlich auch Interpol einschalten musste. Doch Sam hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Wenn Araphel so aufs Ganze ging und Shen absichtlich provozierte, konnte es doch nur bedeuten, dass er sich auf einen Frontalangriff vorbereitete. Ja, er setzte alles auf eine Karte und griff die Schlange erbarmungslos an, solange sie noch nicht vollständig in ihr schützendes Nest zurückgekehrt war. Und gemäß dem Fall, dass Araphel wusste, was Shen wirklich im Sinn hatte, konnte sein Plan eigentlich nur so aussehen, dass er Shen töten würde und gleichzeitig dafür sorgte, dass seitens der Yanjingshe keine Vendetta durchgeführt werden konnte. In dem Fall würde das bedeuten, dass Araphel ebenfalls starb… Angst überkam Sam, als er daran dachte. Konnte das wirklich sein? Hatte Araphel allen Ernstes vor, sich zu opfern, um sie alle vor der Rache der Yanjingshe zu beschützen? Für einen Moment überlegte er, ob er Agent James oder Agent Kazan deswegen sprechen sollte, doch den Gedanken verwarf er sofort wieder. Die würden keine große Hilfe sein. Solange es nur Vermutungen, aber keine stichhaltigen Beweise gab, die seine Theorie bestätigten, würde nichts passieren. Es gab nur eine Möglichkeit: er musste verschwinden, Araphel suchen und ihn aufhalten. Während des Essens blieb Sam sehr verschwiegen und legte sich seinen Fluchtplan zurecht. Von hier abzuhauen, war zum Glück nicht so schwer, da es ein einfaches Einfamilienhaus war und er hatte als Detektiv schon des Öfteren unerkannt in Häuser oder Büros einsteigen müssen, um an Informationen zu kommen. Und ebenso hatte er auch wieder unerkannt verschwinden müssen und inzwischen hatte er ja schon eine gewisse Routine. Er konnte durch das Badezimmerfenster verschwinden und dann den Wagen kurzschließen. Ein Trick, dem Christine ihm mal gezeigt hatte. Im Anschluss würde er ins Krankenhaus fahren und Nathan um Hilfe bitten, falls dieser in der Lage war, ihm zu helfen. Doch gerade, als er in sein Zimmer ging und das Wichtigste zusammensuchen wollte, klopfte jemand an die Tür und Morphius und Dr. Heian kamen ins Zimmer. Der Arzt rückte seine Brille zurecht und bemerkte „Sieht aus, als wollte da jemand wieder abhauen.“ „Versucht nicht, mich abzuhalten“, sagte Sam und stellte sich den beiden entgegen. „Wenn ich nichts unternehme, wird Araphel sterben und das kann ich nicht zulassen. Und deshalb kann und will ich nicht länger hier bleiben.“ Die beiden sahen sich kurz an und Morphius verschränkte daraufhin die Arme. „Wer sagt denn, dass wir dich aufhalten wollen?“ fragte er. „Ich will dir helfen.“ „Araphel hat uns vor der Triade beschützt“, erklärte Dr. Heian. „Und aus dem gleichen Grund hat er uns dem FBI anvertraut. Araphel ist nicht nur mein Patient, sondern auch ein guter Freund, ebenso wie er für Makoto ein guter Freund ist. Und darum haben wir überlegt, was wir tun können. Alleine gehen lassen können wir dich nicht. Darum wird Makoto mit dir gehen und dir helfen und ich werde hier bleiben. Sollte etwas Unerwartetes passieren, wird Makoto über einen Pager ein kurzes Signal geben und ich werde die Herrschaften vom FBI benachrichtigen.“ Sprachlos sah Sam sie beide an und konnte nicht glauben, dass die beiden das wirklich tun wollten. Und gerne nahm er das Angebot an, stand aber dann noch vor einer Frage: wo sollten sie nach Araphel suchen? Der Informant erklärte hieraufhin, dass er bereits nachgeforscht hätte, weil er ebenfalls den Verdacht gehabt hatte, dass Araphel etwas in der Art planen könnte. „Im Großen und Ganzen ergeben so einige Dinge jetzt Sinn“, begann der 30-jährige. „Der Patriarch hat seinen Tod in Kauf genommen, damit sich die beiden Mafia-Clans gegen die Triade zusammenschließen konnten. Daraufhin planten Araphel und Victor die Tötung sämtlicher Unterbosse während der Gerichtsverhandlung, wo Shen abwesend war. Und als dann auch die Warenhäuser aufgeflogen sind, hat die Triade ziemlich viel Stress bekommen und das Kartenhaus droht zusammenzubrechen. Und da Shen halt nicht gerade der Typ Mensch ist, der sich so etwas gefallen lässt, hat Araphel uns deshalb dem FBI überlassen, damit wir in Sicherheit sind und der Plan problemlos durchgeführt werden kann. Denn wäre einer von uns in Shens Gefangenschaft geraten, hätte Araphel ein Problem gehabt.“ „Und nun, da die Unterbosse und die rechte Hand tot sind und die Warenhäuser hochgenommen wurden, herrscht Chaos innerhalb der Triade und das nutzt Araphel aus, um Shen aus seiner Deckung hervorzulocken“, ergänzte Sam und erkannte, dass sie wohl beide denselben Gedanken hatten. „Und bei seiner narzisstischen Persönlichkeit wird er sicherlich rasend vor Wut sein und unvorsichtig werden. Darauf spekulieren Araphel und Victor, um ihn dann zu erwischen. Aber das nützt uns nichts, solange wir nicht wissen, wo sich Araphel aufhält und wo die Konfrontation stattfinden soll.“ „Das überlass mal mir“, meinte Morph. „Ich habe genug Kontakte, um mich durchzufragen und ich denke schon, dass ich da was herausfinden kann. Sobald wir die Info haben, machen wir beide uns aus dem Staub, okay?“ Damit war Sam einverstanden und er hoffte, dass Morph etwas herausfinden konnte, bevor es zu spät war. Araphel hatte sich eine heiße Dusche gegönnt, um sich zu sammeln. Er würde noch alle Kraftreserven benötigen für das, war bevorstand und auch wenn sich alles in ihm sträubte, so nahm er doch sein Handy mit der unterdrückten Nummer zur Hand und wählte Shens Nummer. Bevor er den grünen Hörer wählte, atmete er noch ein Mal tief durch und trank einen Schluck aus seinem Cognacglas. Dann schließlich tat er es doch und drückte den Hörer. Es dauerte, bis Shen ans Telefon ging und auf Chinesisch sprach. „Ja hallo?“ Allein beim Klang seiner Stimme kam dem 31-jährigen die Galle hoch. Unbändige Wut stieg in ihm auf, aber auch die entsetzlichen Bilder der letzten vier Jahre. Ahava… Christine… Yin und Asha… er selbst… Allein bei der Erinnerung an diese Erniedrigungen und Demütigungen spürte er wieder, wie seine Narben schmerzten, insbesondere seine alte Brandnarbe. Zwar hatte Dr. Heian gesagt, dass diese Schmerzen nur Einbildung waren, doch er spürte sie oft. Insbesondere wenn er daran zurückdachte, wie sehr Shen ihn gequält hatte. Mehr noch als ihn hatte er sich selbst verabscheut, dass er das alle hatte mit sich machen lassen, weil er dachte, er könne auf diese Weise seine Schwester retten. Hoffnungen, die allesamt zerschlagen worden waren. Und als er diese so verhasste Stimme hörte, überkam ihn ein Schauer des Widerwillens. Nicht, dass es Angst war. Nein, Araphel Mason war niemand, der so schnell Angst empfand. Schon gar nicht vor Shen. Diesen Gefallen würde er diesem widerlichen Psychopathen sicher nicht gönnen. „Ich bin es, Shen.“ Araphel hielt es für sicherer, auf Chinesisch zu sprechen für den Fall, dass irgendjemand unverhofft zuhören könnte. „Araphel!“ ertönte es vom anderen Ende der Leitung und der 31-jährige hatte Mühe, ruhig zu bleiben und nicht aus der Haut zu fahren. „Das ist ja schön, dass du mich anrufst. Weißt du, ich habe gerade an dich denken müssen. Und natürlich an deinen kleinen Lover. Hast du wirklich geglaubt, du könntest ihn vor mir in Sicherheit bringen, indem du ihn beim FBI lässt? Du weißt, was dir blüht, wenn du es dir mit mir verscherzt. Ich warne dich, du willst mich nicht wütend erleben…“ „Als ob du das nicht schon längst wärst. Du bist so gut wie am Ende, das wissen wir beide. Deine Leute verehren dich wie einen Gott und dachten selbst, du seiest unantastbar und nun haben sie miterlebt, wie du vor Gericht gezerrt wurdest und nicht mal imstande warst, die Tode deiner Unterbosse zu verhindern. Ich habe dir versprochen, dich ein für alle Male fertig zu machen und dich ein für alle Male zu vernichten. Und ich will es zu Ende bringen. Entweder du oder ich.“ Ein Lachen war zu hören. Es war ein eiskaltes und grausames Lachen, doch Araphel hörte dennoch die Anspannung heraus. Shen wusste, dass mit den Spielchen jetzt Schluss war und es auf einen Zweikampf zwischen ihnen beiden hinauslaufen würde. Der lang ersehnte Höhepunkt seines perfiden Spiels rückte näher und sie beide wussten, dass es unvermeidlich war. Die Würfel waren gefallen, nun mussten nur noch die Figuren gesetzt werden. „Du willst mich also unbedingt stürzen, ja? Du weißt schon, was dir blüht, wenn du scheitern solltest. Dann gehörst du mir und ich werde dich zu meinem Lieblingsspielzeug machen. Dann wirst du mir nicht noch mal entwischen und als nächstes werde ich mir deinen Lover, deinen Arzt und deinen Informanten holen. Du weißt, es gibt eine Menge hungriger Wölfe, die nach Frischfleisch lüstern und du weißt, was es aus deiner Schwester gemacht hat.“ Araphel presste die Zähne aufeinander und versuchte nicht daran zu denken. All die Jahre hatte er sich von Shen provozieren lassen, doch dieses Mal würde er nicht diesen Fehler machen. Das hatte auch Victor ihm eingeschärft. „Das brauchst du mir nicht unter die Nase reiben, klar? Hören wir endlich mit diesen Spielchen auf und regeln das jetzt ein für alle Male.“ „Fein“, kam es von Shen, der recht unbeeindruckt blieb und sich seiner Sache wohl ziemlich sicher war. „Dann treffen wir uns an einem neutralen Ort, um die Chancen gleich zu halten. Kennst du die alte Fabrikhalle an der Bridge Street? Die steht zurzeit leer und dort sind wir auch ungestört vor der Polizei. Und? Ist das für dich zufrieden stellend?“ Die Fabrikhalle an der Bridge Street. Wenn sich sein Gedächtnis nicht täuschte, waren dort mal Lebensmittel in Konserven verarbeitet worden, bis das Unternehmen bankrott ging und aufgrund schädlicher Stoffe im Boden und anderer Mängel war das Gebäude aufgegeben worden. Es war ideal und es erstaunte ihn, dass Shen sich so einen Ort ausgesucht hatte, aber andererseits… Shen legte es darauf an, getötet zu werden, denn dann würde die Hölle in Boston losbrechen. Und für ihn gab es keinen besseren Tod, als durch seine eigene „Schöpfung“ getötet zu werden, so bizarr das auch klang. „In Ordnung“, sagte Araphel schließlich. „Heute Abend um 21 Uhr.“ Damit war alles Nötige gesagt und Araphel beendete damit das Gespräch. Wieder atmete er tief durch und sammelte sich, bevor er eine andere Nummer wählte, nämlich die von Victor. Er hatte mit ihm vereinbart, ihn sofort zu benachrichtigen, sobald er mit Shen telefoniert hatte. Es klingelte keine drei Male, bis Victor abnahm. Hier unterhielt sich Araphel sicherheitshalber auf Russisch mit ihm, um ganz sicher zu gehen. In dieser heiklen Situation durfte nicht das Geringste schief gehen. „Ich habe Shen auf heute Abend 21 Uhr festgenagelt. Ich treffe mich mit ihm in der alten Fabrikhalle in der Bridge Street.“ „In Ordnung“, sprach Victor in einem nicht ganz so fließenden Russisch, wie sein seliger Vater es beherrscht hatte. Es war jedoch gut verständlich und Victor konnte sich sehr gut ausdrücken. „Dann arrangiere ich alles Weitere. Ich werde dafür sorgen, dass alles planmäßig verläuft und werde dir den Rücken freihalten.“ „Ich verlasse mich auf dich. Es muss alles perfekt verlaufen, eine zweite Chance haben wir nämlich nicht. Ich will, dass der ganze Laden bis auf die Grundmauern abbrennt.“ Victor versicherte, dass er sich darum kümmern würde, dass alles reibungslos verlief und er sich persönlich darum kümmern würde, dass es keine Probleme gab. Damit war das letzte Telefonat beendet und Araphel legte sein Handy beiseite, stattdessen nahm er noch einen Schluck Cognac. Sonderlich viel spürte er aber nicht, was aber auch daran lag, weil er außerordentlich trinkfest war und es sogar geschafft hatte, mit Sergej mitzuhalten, der als Halbrusse das Talent besessen hatte, dass er Wodka wie Wasser trinken konnte. Und während er die klare und goldfarbene Flüssigkeit in seinem Glas betrachtete, dachte er an den alten Patriarchen, der sich geopfert hatte, um ihm den Weg zu ebnen. Dabei fragte er sich, wie lange Sergej wohl über diesen Plan gesessen hatte. Immerhin hatte er seinen eigenen Tod geplant und alles, was danach passieren würde. Er hatte nichts dem Zufall überlassen und bewiesen, dass er eigentlich die wahre Nummer eins der Bostoner Unterwelt war. Denn selbst nach seinem Tod hielt er noch die Fäden in der Hand. Was für ein gerissener Fuchs, dachte sich Araphel und ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen. Ob er wohl Gedanken lesen konnte, als Victor ihm über den Plan informiert hatte? Aber letzten Endes hatte es gezeigt, dass er sich immer auf Sergej verlassen konnte. Der Patriarch hatte ihn nie im Stich gelassen und auch wenn sie geschäftlich gesehen kaum miteinander zu tun gehabt hatten, so hatte er ihn immer als einen zweiten Vater angesehen, ihn respektiert und auch bewundert. Und manchmal hatte er das Gefühl, dass Sergej ihn besser verstand als Stephen, sein Adoptivvater. Sergej war ein treu sorgender Familienvater gewesen, der selbst früh zur Waise wurde und der auch gewusst hatte, dass es niemals Araphels Wunsch gewesen war, ein Mafioso zu werden. Er hatte seinen Kindern die Entscheidung überlassen, ob sie seinen Weg weitergehen wollten oder nicht und es war Victors freier Wille gewesen, den Platz seines Vaters einzunehmen. Stephen Mason hatte weniger Verständnis für Araphel gehabt. Er war auch in einer intakten Familie groß geworden und es war für ihn selbstverständlich gewesen, dass er genauso Mafioso werden würde wie sein eigener Vater. Er war damit groß geworden, aber Araphel hatte immer nur einen einzigen Antrieb gehabt: am Leben zu bleiben. Er war mit Ahava aus Israel geflohen, weil er ein besseres Leben wollte. Und dafür hatte er sich nie erlaubt, selbst zu träumen oder Wünsche zuzulassen. Lediglich diesen einen kleinen bescheidenen und selbstsüchtigen Wunsch hatte er gehabt. Alles aufzugeben und sämtliche Geschäfte niederzulegen frei nach dem Spruch „Lasset fahren dahin“, um daraufhin seinen ganz eigenen Weg zu gehen. Doch er hatte es nicht getan. Zuerst hatte er es Ahava zuliebe getan, weil er ihr das Leben bieten wollte, welches sie verdient hatte. Danach hatte er es getan, um Rache zu nehmen. Tja und jetzt war sein Tod wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, um ein für alle Male aus diesem Sumpf herauszukommen. Aber er bedauerte es nicht. Er hatte damals getan, was er für richtig hielt und auch als Shen auf den Plan getreten war, hatte er alles getan, was er konnte. Zwar war es nicht genug gewesen, um das Unglück zu verhindern, aber jetzt, nachdem er sehr lange über all diese Dinge nachgedacht hatte und wusste, dass alles bald vorbei sein würde, war er wieder ins Gleichgewicht gekommen. Er konnte gewisse Dinge jetzt aus einer objektiven Sichtweise betrachten und wusste nun, dass er nichts mehr zu bereuen hatte. Nein, es gab nichts dergleichen zu bereuen. Damals, als Ahava entführt worden war, hatten die Ereignisse ihn überrascht und er hatte alles in seiner Macht stehende getan, um sie zu retten. Genauso wie er alles getan hatte, um Christine, Yin und Asha zu retten. Zwar hatte er niemanden von ihnen retten können, aber es war ein tröstlicher Gedanke, dass er den dreien wenigstens vier schöne Jahre schenken konnte, nachdem sie der Hölle aufgewachsen waren. Und seine Schwester war von ihrem Leid erlöst worden. Vielleicht hätte man sie retten können, vielleicht auch nicht. Es war eh sinnlos geworden, darüber nachzudenken. Araphel hatte für sich alleine mit all diesen Themen inzwischen abgeschlossen und für sich gesagt, dass er sich keine Vorwürfe mehr machen musste. Er hatte alles gegeben, aber Shen war ihm halt überlegen gewesen. Das war nun mal die Realität der Mafia. Der Schwächere hatte die Verluste zu tragen. Ob Sergej irgendwann auch so darüber nachgedacht hatte und deshalb so leicht mit dem Leben anderer spielen konnte? Ob sein Adoptivvater ebenso gedacht hatte? Was hätte Stephen Mason wohl getan, wenn er erfahren hätte, dass seine Kinder in den Fängen des Feindes waren? Nun, er war zwar ein guter Vater gewesen, aber Araphel hätte seine Hände nicht dafür ins Feuer gelegt, dass sein alter Herr alles getan hätte, um ihn und Ahava zu retten. Die Mafia hatte bei ihm an alleroberster Stelle gestanden, das hatte Araphel immer gewusst und es akzeptiert. Aber es gab manchmal Momente, in denen er sich gewünscht hätte, sein Adoptivvater wäre mehr wie Sergej, dem das Wohl seiner Kinder sogar noch über der Existenz des Clans stand. Denn wie pflegte der alte Patriarch zu sagen? „Königreiche werden gegründet und werden gestürzt. Imperien werden errichtet und zerfallen. Und genauso werden Mafiafamilien aufgebaut und eines Tages zerschlagen, wenn sie nicht von alleine zugrunde gehen. Selbst die eigene Ehefrau kann kommen und gehen. Man kann sich eine neue anheiraten. Aber Kinder kann man nicht ersetzen. Sie sind unsere Zukunft, unser wertvollster Schatz. Und deshalb gilt es sie zu beschützen, egal welchen Preis wir dafür zahlen müssen. Wenn ich vor der Wahl stehen sollte, lasse ich meinen Clan zugrunde gehen. Ich kann meine alte Macht jederzeit wiederherstellen. Aber nichts auf der Welt kann mir das Leben meiner Kinder ersetzen.“ Araphels Blick nahm eine Spur Melancholie an, als er sich die Worte wieder durch den Kopf gehen ließ und in seinem tiefsten Herzen wünschte er sich, es wäre damals Sergej gewesen, dem der Privatjet gehört hatte. Dann wären er und Ahava vermutlich niemals mit der Welt der Mafia in Berührung gekommen. Und wahrscheinlich wäre auch sein eigenes Leben anders verlaufen. Hieraufhin hob Araphel wie zum Toast sein Glas und sprach „Zum Wohl“ in Gedenken an seinen Mentor, seinen Zweitvater und seinem engsten Freund. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)