Mesmerize Me! von Sky- (The Play of Snake and Lion) ================================================================================ Kapitel 34: Shen wird verhaftet ------------------------------- „Lord Bacon hat mit Recht gesagt, die Rache sei eine Art wilder Gerechtigkeit. Sie ist es und ohne diesen wilden und rauen Stamm gäbe es keine Gerechtigkeit in der Welt.“ Edmund Burke, irisch-englischer Staatsmann „So, Mr. Yuanxian. Dann wollen wir doch mal sehen, wie lange Ihnen noch zum Lächeln zumute ist.“ Geräuschvoll hatte Agent Sadie James die Akte auf den Tisch fallen lassen und ihr Dank klang mehr wie kaltschnäuziger und abwertender Sarkasmus. Gegenüber von ihr auf einem Stuhl saß niemand anderes als Shen Yuanxian, den sie heute Morgen festgenommen hatte, nachdem sie bei der Staatsanwaltschaft den dringenden Tatverdacht des mehrfachen Mordes und Menschenhandels begründen konnte. Sie hatte daraufhin die Gelegenheit genutzt, um auch gleichzeitig einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen und die Spurensicherung in das Anwesen des Mafiabosses zu schicken. Sie würde schon dafür sorgen, dass kein Stein mehr auf dem anderen blieb und das gesamte Haus auseinandergenommen wurde. Und vor allem würde sie dafür sorgen, dass dieser verdammte Psychopath vor ihr nicht so leicht davonkam. Allein schon ihr Ehrgeiz trieb sie dazu. Seit 20 Jahren war sie beim FBI und seit über 15 Jahren hatte sie den schlimmsten Abschaum festgenommen, den die menschliche Gesellschaft hervorgebracht hatte. Kinderschänder, Serienkiller, Psychopathen, Nekrophile und sogar zwei Kannibalen. Sie hatte schon genug gesehen, als dass sie sich von jemandem wie Shen einschüchtern lassen würde. Da konnte er noch so viele Leute auf seiner Seite haben, selbst Charles Manson war verurteilt worden. Schon als sie mit dem Durchsuchungs- und dem Haftbefehl vor seiner Tür stand, hatte Shen ein selbstsicheres Lächeln im Gesicht gehabt und selbst als man ihn daraufhin abgeführt hatte, war er die Ruhe selbst geblieben. Er hielt sich selbst für unantastbar und war sich sicher, dass es keinen einzigen Beweis gab, der ihn zu Fall bringen konnte. Dem mochte so sein, solange Sadie nur ein paar wackelige Zeugenaussagen hatte, während Shen ein scheinbar felsenfestes Alibi hatte. Es würde außerdem sehr schwer werden, ihm nachzuweisen, dass er etwas mit dem Slave Shipping Service zu tun hatte. Doch Sadie wäre nicht beim FBI, wenn so etwas sie aufhalten würde. Schließlich breitete sie die Fotos der Verstorbenen aus, die nach der Aussage von Sam Leens von Shen getötet worden seien. „Kommen Ihnen diese Personen bekannt vor?“ Shen blickte nur kurz auf die Fotos und verzog nicht einmal die Miene, sondern lächelte nur hochmütig. „Nein“, sagte er nur. „Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.“ „Das ist ja eigenartig“, meinte Sadie und beugte sich über den Tisch zu ihm herüber. „Weil nämlich diese zwei hier von Ihnen höchstpersönlich enthauptet worden sind.“ Sie deutete auf die Fotos von Asha und Yin und wurde deutlich aggressiver in ihrem Ton. „Muss wohl ein schönes Gefühl gewesen sein, nicht wahr? Sie haben es richtig genossen, Ihre Macht über sie auszuspielen und sie leiden zu lassen. Und dieser Frau hier haben sie erst die Hand gebrochen, auf sie eingetreten und ihr dann das Bein abgetrennt, sodass sie verblutet ist.“ Immer noch keine einzige Regung bei Shen. Doch Sadie wusste ganz genau, dass es in seinem Inneren anders aussah. Ja, diese Bilder tauchten vor seinen Augen auf und er genoss diese Erinnerung, zehrte von ihr und lebte dieses Gefühl der Macht vollständig in seiner kranken Fantasie aus. Das sah sie schon an seinen Augen und in der Hinsicht waren für sie alle narzisstischen Serienmörder gleich. „Es muss ein wirklich tolles Gefühl sein, über Leben und Tod verfügen zu können, nicht wahr? Es ist, als würde man einem Insekt die Beine und Flügel ausreißen. Wir alle kennen das, als wir Kinder waren. Nur sind Kinder zu naiv um zu wissen, was sie da tun. Und Insekten sind keine Menschen.“ „Und was unterscheidet uns großartig von den Insekten?“ fragte Shen spitzfündig und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wenn man einem Insekt die Beine ausreißt, fühlt es keine Schmerzen? Wenn wir einem Fisch den Körper aufschlitzen und ihm die Eingeweide herausnehmen, während er lebt, verspürt er da keine Todesangst? Der einzige Unterschied besteht doch darin, weil weder Fische noch Insekten in der Lage sind, sich ihrer Schmerzen zu entäußern. Sie schreien nicht, ihr Gesicht zeigt keinen Ausdruck von Leid, folglich also kümmert es uns nicht, was wir ihm antun. Wir weinen, wenn ein Vogel singt, aber nicht, wenn ein Fisch blutet. Aus dem einfachen Grund, weil eine Stimme mehr Wirkung hervorruft, als der bloße Anblick von Elend.“ „Für jemanden, der Menschen verstümmelt und tötet, sind Sie ja sehr philosophisch.“ „Ich habe niemanden getötet.“ „Und was ist mit dem Massenmord in dem Shanghaier Bordell?“ „Für einen angeblichen Massenmord in meiner Heimat können Sie mich hier in Boston nicht belangen.“ „Als ob mich das großartig interessiert. Glauben Sie mir, ich hab schon genug von Ihrer Sorte eingebuchtet und es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Fallbeil auch auf Ihren Kopf niedersaust, wenn Sie erst mal verurteilt sind. Sie sind nichts weiter als ein Mörder und wenn Sie erst mal im Gefängnis sitzen, wird Ihre Gefolgschaft sich schnell einen anderen Boss suchen.“ Doch Shen schien der anderen Meinung zu sein. Er faltete die Hände und sah der blonden Frau direkt in die Augen. Immer noch strahlte er Selbstsicherheit und Überlegenheit aus. „Wissen Sie, womit man sich Menschen am besten gefügig macht? Mit Verständnis, Nächstenliebe oder Barmherzigkeit? Nein, mit Angst. Indem man sich die Macht anderer Menschen zunutze macht, folgen sie einem ohne Sinn und Verstand. Wir werden von unserer Angst beherrscht und wer die Angst beherrscht, hat Macht über Menschen. Das ist ein natürliches Prinzip, denn wir sind genetisch so veranlagt, dass wir uns unserer Angst unterwerfen, weil sie in erster Linie unserem Schutz zu dienen scheint.“ „Und Sie haben Angst davor, ohne alles da zu stehen und wieder dort zu landen, wo sie aufgewachsen sind“, konterte Sadie James sofort, wohl wissend, dass sie ihn am besten aus der Reserve locken konnte, wenn sie ihn dort traf, wo es ihm am meisten wehtat. Und dazu brauchte sie nur seinen Stolz zu verletzen. Denn das war etwas, was jeden Narzissten zur Weißglut brachte, weil es ihren Glauben zerstörte, sie seien unfehlbar. „Ich kenne Ihre Geschichte. Sie und Ihr Bruder wurden von den eigenen Eltern im Kindesalter an die Yanjingshe verkauft und waren selber Sexsklaven. Ihr älterer Bruder starb vor Ihren Augen. Es muss wirklich grausam sein, von den eigenen Eltern im Stich gelassen zu werden und als Eigentum gebrandmarkt zu werden. Ist es nicht so, dass man Sie damals gebrandmarkt hat, genauso wie all diese Huren und Stricherjungen, die nur dann solange am leben bleiben durften, wie sie von Nutzen waren? Und wenn sie dann ausrangiert waren, hat man sie dann einfach getötet, oder an die Organhändler ausgeliefert. Ich kann mir denken, dass das keine sonderlich schöne Kindheit war. Wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre, dann hätte ich den Kerl, der meinen Bruder zu Tode gefickt hat, gleich den Schwanz abgeschnitten.“ Nun war eine leichte Verdüsterung in Shens Blick bemerkbar. Diese vulgäre Sprache und diese unschönen Geschichten, die ihn an jenes verhasste Kapitel in seiner Vergangenheit erinnerten, waren ganz und gar nicht sein Gesprächsthema. Und genau darauf fuhr Agent James ab. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie gerne über alles andere sprechen können. Dass er deinen Opfern die Beine abtrennte, um sie vollständig unter seiner Kontrolle zu haben, dass er gefährlich und einflussreich war. Doch dass sie seine Kindheit im Bordell ausbreitete, passte ihm ganz und gar nicht und es machte ihn wütend. „Sie haben keine Vorstellung, was es heißt, an so einem Ort aufzuwachsen“, sprach er schließlich mit einem verbitterten Unterton. „Also tun Sie nicht so, als hätten Sie Ahnung von solchen Dingen.“ „Das stimmt vielleicht, aber ich habe genug solche Dinge gesehen“, erklärte sie und setzte sich nun hin. Sie war vorsichtig, denn Shen trug keine Handschellen. Da er aufgrund seines kaputten Knies kaum laufen konnte, war er auf Gehhilfen angewiesen. „Aber Sie haben es geschafft, sich bis an die Spitze hochzuarbeiten. Sie konnten vom Sexsklaven zum einflussreichsten Mann in Shanghai aufsteigen und zum Oberhaupt jener Triade werden, die Ihnen Ihre Kindheit und Ihren Bruder geraubt hat. Sie haben alles erreicht, was es nur zu erreichen gilt. Aber eines haben Sie bis heute nicht geschafft.“ „Und was?“ „Sie können diesen einen schwarzen Fleck nicht entfernen. Nämlich dass Sie nach wie vor als Sklave gebrandmarkt sind. Selbst wenn Sie das Oberhaupt der Triade sind, so sind Sie immer noch das Eigentum einer Bande, die Kinder zur Prostitution zwingen und an irgendwelche pädophilen Perversen verkaufen. Und egal was Sie auch tun, nichts wird diese Tatsache ändern. Da können Sie noch so viele Menschen tyrannisieren oder ermorden, Sie können den größten Sklavenhandelring der Welt auf die Beine stellen, es wird nichts an der Tatsache ändern, dass Sie nach wie vor nichts Weiteres als ein Besitz sind. Und Sie rennen wie ein Feigling davor weg.“ „Beweisen Sie das erst mal!“ erwiderte Shen, der zwar innerlich ziemlich wütend war, sich aber äußerlich wieder vollständig gefangen hatte. Es ist alles in Ordnung, dachte er sich. Weder die Polizei noch das FBI haben irgendwelche Beweise, die mich überführen können. Da können sie noch so lange herumquatschen wie sie wollen, letzten Endes werde ich als Sieger hervorgehen, weil ihnen die Beweise fehlen, mit denen sie mich meiner Geschäfte überführen können. Es gibt keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen mir und dem Service. „Haben Sie irgendwelche Beweise, die belegen, dass ich persönlich mit diesen Dingen auch nur das Geringste zu tun habe?“ „Da haben wir genügend Anhaltspunkte“, erklärte Sadie James und legte ihm weitere Fotos vor. „Zwei Ihrer Opfer hatten dasselbe Brandzeichen wie Sie und es konnte eindeutig als das Zeichen Ihrer Triade identifiziert werden. Und sobald wir die Leichen von Reesa Sullivan, Asha Luan und Yin Wong exhumiert und untersucht haben, wird man sicherlich genauso so ein Brandzeichen finden. Und soweit ich weiß, fehlen den Opfern beide Beine.“ „Nur weil ihnen die Beine fehlen, bedeutet das noch lange nicht, ich hätte etwas damit zu tun.“ „Ein weiterer Zeuge hat ausgesagt, dass der Slave Shipping Service ein ausgebildetes Ärzteteam hat, das allein darauf spezialisiert ist, den Sexsklaven die Arme und Beine zu amputieren und gegebenenfalls die Stimmbänder zu entfernen. Yin Wong, Asha Luan und Reesa Sullivan waren ebenfalls Sexsklaven und deshalb wurden ihnen die Beine amputiert. Bei Reesa allerdings nur eines und ein Zeuge hat ausgesagt, dass Sie derjenige waren, der diese drei Menschen getötet hat. Wenn Sie angeblich nichts mit dem Service zu tun haben, warum sollten ausgerechnet Sie persönlich diese drei Menschen ermorden? Vielleicht, weil sie sonst etwas ausplaudern könnten?“ „Ich habe ein Alibi für diese Zeit.“ „Unser Zeuge hat sehr detaillierte Aussagen gemacht und wenn die Autopsie seine Aussagen belegt und wir auch nur den winzigsten Blutstropfen in Ihrem Keller finden, der von einem der Opfer stammt, dann kann ich Ihnen garantieren, dass Ihr gekauftes Alibi wie ein Kartenhaus zusammenfällt und das nächste, was auf Sie zukommen wird, die Todesstrafe sein wird.“ Diese Frau ging Shen so langsam aber sicher auf die Nerven. Was bildete sich dieses Weib eigentlich ein, in so einem unverschämten Ton mit ihm zu reden? Er war es, der am längeren Hebel saß und nicht sie. Er hatte die Trümpfe allein in seiner Hand und er würde sie schon noch früh genug aus dem Weg räumen. Das war doch nur geblufft. Sie hatte rein gar nichts in der Hand und diese Show hier war nur der verzweifelte Versuch, ihn aus der Reserve zu locken und ihn zu einer Aussage zu bringen, die ihm zum Verhängnis werden konnte. Doch darauf konnte sie noch lange warten. Und es würde sowieso nur eine Frage der Zeit sein, bis er sich auch ihrer entledigte, nachdem sie schon so unverschämt war und ihn beleidigt hatte. Doch er konnte sich auch in Geduld üben. „Und außerdem“, fügte Agent James noch hinzu „werden wir all Ihre Konten, Computer und Dokumente prüfen. Und ich schwöre Ihnen: finden wir auch nur eine einzige scheinbar harmlose Ungereimtheit, dann kriege ich sie dran und dann werden Sie nicht mehr so siegessicher lächeln.“ Hier aber sah Shen sie direkt an und seine matten und glanzlosen dunklen Augen offenbarten nichts als Finsternis. Und das Einzige, was er sagte, war nur „Ich will meinen Anwalt sprechen.“ Das Verhör zog sich über drei Stunden, in denen es zu keinem zufrieden stellenden Ergebnis kam. Stattdessen biss sich Sadie James an Shens Anwalt die Zähne aus. Han Tsiao, der die Position als Shens persönlicher Anwalt innehatte, war ein Anwalt, der sein Fach verstand und wirklich jeden Versuch abschmetterte, Shen in die Ecke zu drängen. Schließlich, nachdem sechs Stunden Dauerverhör vergangen waren, tauschte Agent James mit ihrem Partner. Sam hatte es sich nicht nehmen lassen, als Zeuge anwesend zu sein und das Verhör mitzuverfolgen. Natürlich hinter Spezialglas und unter der Voraussetzung, dass er ging, bevor Shen aus dem Verhörraum entlassen wurde. Sadie, die sich einen Kaffee geholt hatte, gesellte sich neben ihn. „Und wie sieht nun Ihre Strategie aus?“ fragte der Detektiv und ließ Shen keine Sekunde lang aus den Augen. „Wir halten ihn 48 Stunden fest und in der Zeit stellen wir sein Haus auf den Kopf. Wenn er nicht gesteht oder wir keinen erdrückenden Beweis haben, müssen wir ihn freilassen. In den meisten Fällen ist es leider so, weil Typen wie er niemals unvorbereitet vorgehen. Sie wissen genau, wonach die Polizei sucht und sind bestens vorbereitet. Aber in einem ist er anders als die Serienmörder, die ich festgenommen habe.“ „Inwiefern denn?“ wollte Sam wissen. Sadie trank einen Schluck Kaffee und erklärte „Psychopathen führen für gewöhnlich ein Doppelleben. Sie bauen sich eine perfekte Fassade auf und sind regelrechte Wölfe in Schafspelzen. Sehr oft sind sie perfekt in die Gesellschaft integriert und üben wichtige Aufgaben aus. Beispielsweise arbeiten sie in der Gemeinde und engagieren sich für soziale Projekte. Sie können sich so gut verstellen, dass niemand ahnt, dass sie zu grausamen Taten fähig sind. Nehmen Sie sich den Killer John Wayne Gacy als Beispiel. Er war überall beliebt, freundlich und niemand hätte ihm zugetraut, dass er knapp 33 Jungen und junge Männer entführt, stundenlang vergewaltigt, massakriert und dann ihre Leichen im Keller verscharrt. Ihr Ansehen in der Gesellschaft ist für sie die perfekte Tarnung und deshalb ist es auch so schwer, sie zu überführen. Er hier ist da anders. Er macht sich nicht die Mühe, sein Umfeld zu täuschen, sondern nutzt die Mafia für seine Zwecke, die ihm Sicherheit und Schutz gibt. Das ist recht ungewöhnlich. Nur sehr wenige Serienmörder gehen so vor. Wenn ich es vereinfacht und direkt sagen würde: er wirkt auf mich wie Hitler.“ Nun schüttelte Sam aber den Kopf. „Hitler war aber kein Serienmörder, sondern ein Diktator.“ „Das mag sein“, meinte Sadie und trank noch einen Schluck. „Aber die Rolle als Mafiaboss ist genau das, was sein narzisstisches Ego braucht. Er führt sich wie ein Gott auf und seine Leute bestätigen ihm das auch, weil die Mafiagesetze es vorschreiben, dass den Befehlen eines Oberhauptes bedingungslos Folge zu leisten ist. Und Psychopathen besitzen schon eine sehr manipulative Persönlichkeit und sie verstehen es gut, die Menschen das tun zu lassen, was sie wollen. Sie besitzen weder Mitgefühl noch Schuldgefühle. Sie zwingen anderen ihre Ansichten von Richtig und Falsch auf und führen sein selbstgerechtes Leben. Shen lässt seine Leute die Drecksarbeit erledigen, aber die eigentlichen Serienmorde gehen auf sein Konto. Nämlich die der drei Toten, sowie der Giftmord an Stephen Mason und die Folterung von Araphel und Ahava Mason. Das sind seine persönlichen Kunstwerke und deshalb müssen wir uns auf diese Fälle konzentrieren.“ „Also stimmt es. Shen ist ein Psychopath, der sich als Mafiaboss tarnt und als Diktator in seinem eigenen Reich herrscht.“ „Ganz genau. Und eben das schmeckt mir überhaupt nicht. Ich verwette meine Michael Jackson Alben darauf, dass es noch richtig Ärger geben wird, wenn sein Anwalt ihn erst mal rausgeboxt hat. Denn da ich ihn auf seine Kindheit und seine Zeit als Sexsklave angesprochen habe, ist er jetzt richtig angefressen und wird mich umbringen wollen.“ Dann hieß das also, sie hatte von Anfang an darauf abgezielt gehabt, Shen so heftig zu provozieren, dass er ihr nach dem Leben trachten würde? Obwohl sie wusste, wie gefährlich er war? Sam war sich nicht ganz sicher, ob das so eine gute Idee war. Immerhin waren schon so viele Menschen der Yanjingshe zum Opfer gefallen. „Agent James, ist das wirklich eine gute Idee?“ „Ach glauben Sie mir, es ist zwar ein absolutes Himmelfahrtkommando, aber wenn so narzisstische Persönlichkeiten in ihrem Stolz gekränkt werden, dann begehen sie Fehler und darauf ziele ich ab. Dass ich ihn als Feigling bezeichnet habe, ist für ihn ein rotes Tuch gewesen und er wäre am liebsten auf mich losgegangen, das habe ich ihm schon direkt angesehen. Aber manchmal muss man eben Risiken eingehen, um ans Ziel zu kommen. So und nun sehen Sie zu, dass Sie wieder zurückfahren. Denn jetzt geht der Spaß richtig los.“ Als Sam sich von ihr abwandte, um zu gehen, sah er noch mal kurz zu ihr zurück. Sadie James war wirklich eine ungewöhnliche Frau. Obwohl sie wusste, was Shen alles getan hatte, provozierte sie ihn so dermaßen, dass er ihr nach dem Leben trachten würde. War es Wahnsinn, Leichtsinn oder Selbstüberschätzung? Oder war ihre Erfahrung auf diesem Gebiet bereits so groß, dass sie selbst mit der Schlange von Boston fertig werden würde? Sam konnte sich nicht helfen, aber irgendwie hatte er in diesem Moment das Bild einer Frau vor sich, die eigenhändig eine Schlange bekämpfte und tatsächlich zu gewinnen schien. In den darauf folgenden Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Während Sam zusammen mit Dr. Heian und Morphius in einer Wohnung in einer sehr ruhigen und abgeschiedenen Wohnsiedlung am Bostoner Stadtrand lebten, bekamen sie hauptsächlich nur durch Steven Kazan und Sadie James mit, was gerade passierte. Wie sich herausstellte, war auf die FBI Agentin ein Mordanschlag verübt worden. Als sie nach Hause fahren wollte, hatte man eine Bombe unter ihrem Auto platziert. Sie war mit ein paar leichten Verbrennungen und Schrammen davongekommen, kurz danach hatten Unbekannte versucht, Kazan an einer Unterführung zu überfallen und ihn mit Messerstichen zu töten. Die Angreifer hatten fliehen können, doch der Verdacht lag nahe, dass es sich um Mitglieder der Triade handelte. Wenig später gerieten die beiden in eine Schießerei, doch auch hier überlebten sie. Es schien, als hätten sich Sadies Vermutungen bestätigt: Shen sann auf Rache für die erlittene Schmach. Sie hatte die Schlange aus ihrem Nest geholt und damit aus ihrer sicheren Deckung. Und nun wurde die Schlange aggressiv und griff an, weil sie nun selber angreifbar war. Nathan half auch, so gut er konnte und durchstöberte die konfiszierten Festplatten, glich sie mit den Daten auf der Internetseite des Slave Shipping Services ab und prüfte sämtliche Metadaten, IP-Adressen und was er sonst noch brauchte. Die Arbeit ging allerdings schleppend voran, denn nach einer besonders entkräftenden Chemotherapie musste er sich mehrmals erbrechen und hatte nicht mal mehr die Kraft, sich aufzusetzen. Da er aber trotzdem helfen wollte, schickte Sadie ihm einen IT-Spezialisten ins Krankenhaus, der die Vertretung übernahm. So lag Nathan im Bett und gab Anweisungen. Agent James kam ihn ab und zu besuchen und ermahnte ihn, dass er es nicht übertreiben solle, da sie niemanden gebrauchen könne, der nicht mal die Energie hatte, sich aufzusetzen. Trotz dieser harten Worte ließ sich nicht verleugnen, dass sie ihn regelmäßig besuchte, ihm auch mal etwas zu Essen mitbrachte und zudem lange Gespräche mit dem behandelnden Arzt führte. Sam hingegen schob die meiste Zeit Frust und das entging auch Dr. Heian und Morphius nicht, die alle im selben Haus einquartiert worden waren, was vor allem für das FBI leichter machte, sie zu beschützen. Dr. Heian seinerseits war in ein nachdenkliches Schweigen verfallen, sah die meiste Zeit aus dem Fenster und hatte den Blick in die Ferne gerichtet. Morphius hingegen war anscheinend der Einzige, den die Geschichte unverändert gelassen hatte. Er rauchte wie immer seine Zigaretten, ließ die eine oder andere zynische Bemerkung fallen und lief manchmal auf und ab und unterhielt sich mit den Leuten vom FBI. Als er bemerkte, in welch schlechter Laune Sam war, gesellte er sich schließlich zu ihm, reichte ihm eine Tasse Kaffee und setzte sich zu ihm hin. Dabei fragte der Detektiv sofort „Wie kann es eigentlich sein, dass du der Einzige bist, den das alles kalt lässt? Christine, Yin und Asha waren eure Freunde, Harvey ist auch dein Freund gewesen.“ „Egal ist es mir nicht, aber man muss in so einer Situation auch mal die Gefühle beiseite lassen, um einen kühlen Kopf bewahren zu können. Ansonsten wird man unvorsichtig und ist gleich der Nächste, der draufgeht. Und du machst dir Sorgen wegen Araphel, nicht wahr?“ „Er war so komisch, als er mich rausgeschmissen hat. So abweisend kenne ich ihn eigentlich nicht und ich verstehe nicht, warum er das alles macht.“ „Aggressivität ist bei manchen ein Zeichen von Sorge und Angst“, erklärte Morphius und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Ich denke, die Sache mit der Entführung ist ihm so sehr an die Nieren gegangen, dass er lieber mit dem Feind (also sprich die Polizei) zusammenarbeitet, als ein Risiko einzugehen. Die Angst, noch jemanden zu verlieren, ist ziemlich stark bei ihm ausgeprägt und im Grunde sind wir für ihn nur noch ein Ballast. Der Kampf geht so langsam aber sicher in die Endrunde und da sind wir für ihn keine Hilfe, sondern ein Hindernis. Denn wenn einer von uns in Shens Fänge gerät, dann ist Araphel in seinen Möglichkeiten begrenzt und die Schlange hat ihn in der Hand.“ „Trotzdem habe ich ein mieses Gefühl“, murmelte Sam und trank seinen Kaffee. „Irgendwie wirkte er so, als würde ihn etwas ganz Bestimmtes beschäftigen und als würde er… naja… wie soll ich es beschreiben?“ „Es ist, als würde er sich darauf vorbereiten, seinem Ende entgegenzutreten, so wie ein Verurteilter, der seinen letzten Gang zum elektrischen Stuhl antritt.“ Überraschend hatte sich Dr. Heian zu Wort gemeldet, der bislang kaum etwas gesagt hatte. Sam nickte und murmelte „Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn. Er wollte mir auch nicht sagen, was los war.“ „Weißt du etwas, was wir nicht wissen, Yu-chan?“ Eine Zeit lang überlegte der Arzt noch, legte sich seine Worte gut zurecht und erklärte „Ich habe mir diese ganzen Dinge durch den Kopf gehen lassen. Was glaubt ihr, warum Shen sich ausgerechnet Araphel zu seinem Lieblingsopfer auserkoren hat und warum er jeden tötet, der Araphel nahe steht? Ich bin zwar nicht vor vier Jahren dabei gewesen, als Araphel in Shens Gefangenschaft war, aber eines ist mir in Gedächtnis geblieben: Shen bezeichnete sich immer als Schöpfer und Araphel als Zerstörer. Shen hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ein Monster zu erschaffen, das in der Lage war, das zu zerstören, was Shen nicht zerstören kann. Bedenke mal, welchen Prinzipien die beiden folgen: Beherrsche, was du nicht zerstören kannst, das ist Shens Lebensweise. Und Araphel folgt seiner Lebensweise Zerstöre, was du nicht beherrschen kannst. Ich frage mich, was in Shens Kopf vor sich geht und warum ausgerechnet Araphel ihm so wichtig bei seinen Plänen ist.“ „Psychopathen haben eine verdrehte Logik“, erklärte Morphius. „Er sieht Dinge, die kein vernünftiger Mensch sieht. Und ich glaube auch nicht so wirklich, dass da ein logischer Sinn dahintersteckt. Das ist wie bei dem Fall David Berkowitz, der unzählige Morde begangen hat, weil der Hund seines Nachbarn ihm das befohlen haben soll.“ „Wenn du besser über den Fall Bescheid wüsstest, dann wüsstest du auch, dass das eine Farce war, um Berkowitz als geisteskranken Killer darzustellen, obwohl offensichtlich eine Sekte dahintersteckte. Nein, ich beginne langsam zu glauben, dass Shen seine Unsterblichkeit anstrebt und er dafür Araphel braucht.“ „Unsterblichkeit?“ fragte Sam verwundert. „Wieso Unsterblichkeit?“ Dr. Heian nahm seine Brille ab und begann nun die Gläser zu putzen. „Wie erlangt man als Mensch Unsterblichkeit? Ganz einfach: man wird unvergesslich. Sänger werden unsterblich, weil sie zeitlose Werke kreieren und damit für immer im Gedächtnis der Menschen bleiben. Serienmörder erreichen Unsterblichkeit, indem sie Morde begehen, die sie einzigartig machen. Wie zum Beispiel Jeffrey Dahmer, John Wayne Gacy oder Ted Bundy. Sie sind das, was man als amerikanischen Alptraum bezeichnet und sie haben sich für alle Zeiten verewigt, weil man sie selbst nach knapp 30 Jahren für ihre grausamen Morde kennt. Shen verspricht sich die Unsterblichkeit, indem er etwas erschafft. Nämlich ein Monster. Er will Araphel zu einem Monster machen, das er sich in seiner kranken Fantasie ausgemalt hat und dafür muss Araphel das Gleiche durchmachen wie er. Nämlich den Verlust seiner Freunde und Familie miterleben, Erniedrigung, Machtlosigkeit, Schmerzen und Demütigungen erleben… aber vor allem zu lernen, dass die einzige Chance, sich durchzusetzen darin liegt, Menschen zu manipulieren, sie zu tyrannisieren und sie das Gleiche erleiden zu lassen. Das wäre ihm beinahe gelungen, als er dich entführt und im Keller gefangen gehalten hat, Sam. Araphel stand da bereits an der Schwelle, zu dem Monster zu werden, was Shen erschaffen wollte, aber wir haben ihn davon abgehalten. Darum bestand die logische Schlussfolgerung für Shen darin, uns alle loszuwerden. Denn dann würde niemand mehr da sein, der Araphel zur Vernunft bringt. So wie ich die Sache sehe, sieht Shen Araphel als seine persönliche Schöpfung an und es würde mich nicht verwundern, wenn er sich sogar von Araphel töten lassen würde, um auf diese Weise unsterblich zu werden. Er würde als der Schöpfer eines Monsters in die Geschichte eingehen und er würde quasi durch Araphel weiterleben. Das ist seine Logik, auch wenn sie für uns vielleicht nicht zu hundert Prozent nachvollziehbar ist. Aber es ist so, dass Psychopathen bei ihren Opfern Spuren hinterlassen um zu zeigen, dass allein sie die Macht über sie haben und dass die Opfer allein ihnen gehören. Darum nehmen sie auch immer Trophäen mit. Selbst Shen wird eine Trophäe von Araphel und Ahava haben, da bin ich mir sicher und danach sucht auch das FBI. Kurzum würde ich also sagen: alles gehörte von Anfang an zu Shens Plan, selbst seine eigene Ermordung durch Araphel. Und um das Chaos perfekt zu machen, benutzt er die Gesetze der Vendetta, um einen internationalen Mafiakrieg auszulösen. Dann wird die Shanghaier Triade in Boston angreifen und dann würde die Hölle losbrechen. Das wäre das Ende für die Mason- und die Camorra-Familie.“ Das hieß also: egal wie man es drehte und wendete, auf Shens Tod würde ein blutiges Massaker folgen? Sam wurde schlecht bei dem Gedanken und er fragte sich, ob Araphel das alles auch schon bereits erkannt hatte und was er diesbezüglich nun vorhatte. Ob er vielleicht einen Weg gefunden hatte, das Ganze zu verhindern? Oder plante er vielleicht etwas ganz anderes? Irgendwie war dem 28-jährigen überhaupt nicht wohl bei der ganzen Geschichte. 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