Secret von ellenchain (Bittere Geheimnisse) ================================================================================ Kapitel 15: ------------ Sein heißer Atem in meinem Nacken weckte mich. Vorsichtig drehte ich mich noch verpennt um und musste grinsen, als ihm etwas Speichel aus dem Mundwinkel lief. Ich strich ihn vorsichtig weg, bemüht ihn nicht zu wecken. Doch da zuckte er schon zusammen und öffnete schließlich seine roten Augen. »Constantin?«, fragte er sichtlich überrascht mich an seiner Seite zu sehen. »Guten Morgen, Sonnenschein. Soll ich dir eine Aspirin holen?«, begrüßte ich ihn etwas sarkastisch und strich ihm ein Haar aus dem Auge. Er stöhnte kurz auf, fasste sich an die Stirn und nickte still. Sofort erhob ich mich, stieg über ihn aus dem Bett und ging in die Küche runter. Natürlich waren wir immer noch alleine. Annette und Jenny blieben wohl länger weg. Nach einigem Suchen entdeckte ich sowohl Aspirin als auch neue Gläser und nahm mir bei der Gelegenheit gleich einen Orangensaft mit. Langsam ging ich wieder in sein Zimmer und ließ die Aspirintablette ins Wasser fallen. Julian hatte sich mittlerweile aufgesetzt und saß noch halb unter der Bettdecke. Ich reichte ihm das Glas und gesellte mich wieder zu ihm. Vorsichtig nippte ich am Orangensaft, während er sich die Aspirin rein kippte. »Wann bist du gekommen?«, fragte er heiser. Ich grinste, sichtlich über seine raue Stimme amüsiert. »Gegen halb 12.« »Oh je. Daran kann ich mich gar nicht erinnern ... Hab ich was Dummes gemacht?« »Jede Menge.« »Oh, nein. Oh ...« Er fasste sich an die Stirn und rieb die Schläfen. Wieso kam mir dieses Gespräch, nur in verdrehten Rollen, so bekannt vor? Julian entwich ein Seufzer. »Hau raus, was ist passiert? Und bitte diesmal die Wahrheit.« Mein Lächeln versiegte. »Wirklich?« »Ja, hau raus! Ich find's furchtbar, wenn du Dinge weißt, von denen ich nichts weiß, bei denen ich aber beteiligt war.« »Was ja auch schon öfter vorgekommen ist ...«, ermahnte ich ihn und hob eine Augenbraue. »Ich weiß. Der Alkohol.« »Hör einfach damit auf, okay?« Er schwieg einfach und vermied den Augenkontakt. Verwies dann einfach wieder auf seine Bitte, dass ich ihm alles erzählen sollte. Schulternzuckend begann ich mit der Einleitung, dass er mich nicht reinlassen wollte, mich als Homo beschimpft hat und schließlich betrunken auf dem Boden landete. Er entschuldigte sich sofort, als ich die Beleidigung erwähnte. Jedoch winkte ich ab und erachtete es als nichtig. Denn an dem Abend fielen noch weitere beleidigende Worte, wie ich ihm berichtete. Dann noch, wie er sich einen Porno angeschaut hat und wie er mich danach bat, ihm einen zu blasen. An der Stelle versank sein Gesicht in eine Starre und er verfolgte nur schwer meine Erzählung. Als ich ihm von der Ohrfeige erzähle, nickte er und gestand ein, dass sie verdient war. Ich grinste und entschuldigte mich trotzdem noch einmal. Aus Spaß hielt er mir den Teddy hin, den ich ihm geschenkt hatte. »Den musst du hauen, hab ich doch gesagt«, scherzte er und setzte ihn zwischen seine Beine, um ihn während meiner fortführenden Erzählungen zu kraulen.   Dann kam ich zum großen Weinen. Er schluckte einen riesigen Kloß runter, als ich ihm in etwa den Grund für das Weinen beibrachte. Genau konnte ich ihm nicht wiedergeben, was er mir sagte, aber erzählte ihm die wichtigsten Punkte seiner mehr oder weniger verständlichen Rede. Zwischendurch schloss er die Augen und atmete energisch aus. Wahrscheinlich schämte er sich. Doch ich konnte ihn beruhigen, dass ich mich trotz der haarigen Situation sehr über seine Worte gefreut hatte. Doch mehr als ein müdes Lächeln bekam er nicht zustande. Zu guter Letzt berichtete ich ihm von unserem Kuss. Und dass er derjenige war, der die Initiative ergriffen hatte. Mehrmals. Leidenschaftlich. Innig und sehnsuchtsvoll. Sofort vergrub er seinen Kopf in seine Hände. »Will ich weiter wissen?«, fragte er zittrig und spähte durch einen Schlitz seiner Finger. Ich konnte mir ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen. »Ich hab dich abgehalten. Aber du hättest gerne.« Er seufzte von sich selbst enttäuscht laut auf. »Es tut mir so Leid. Ich muss dir sicherlich immer das Gefühl geben, dass es super läuft und jetzt, wenn ich wieder nüchtern bin, mach ich alles kaputt.« »Wo wir zur Wette kämen ...« Das süffisante Grinsen wandelte sich in ein hämisches. Eigentlich wollte ich die Wette unter den Tisch fallen lassen, aber ... Julian sollte schon von sich selber erfahren, wenn er betrunken war. Und Betrunkene sagen doch immer die Wahrheit oder? Er stutzte sofort. »Wette …?« »Du hast mit mir die Wette abgeschlossen, dass, wenn du dich traust mich im nüchternen Zustand nach Sex zu fragen, ich ja sagen muss. Wenn du dich nicht traust, darf ich dir vorwerfen, dass du feige bist und ich mir eine Gemeinheit überlegen darf. Sozusagen zur Strafe, dass du deinen Wetteinsatz nicht einlöst.« Sein Atem stockte. Verunsichert sah er mich an und zog eine Augenbraue hoch. »Eine solche Wette habe ich mit dir abgeschlossen?« Ich nickte. »Unter welchem Vorwand?« »Damit wir es ausprobieren und du dann weißt, ob es gut wird, oder nicht.« »... Klingt nach mir«, seufzte er erneut. »Wie kann ich so oberflächig werden, wenn ich getrunken habe? Als ob alles aus Sex bestände ...« »Tja«, sagte ich und zuckte die Schultern, »du bist ziemlich rollig, wenn du getrunken hast.« »Es tut mir so Leid ...«, entschuldigte er sich zum tausendsten Mal. Mein Lächeln versiegte sofort und ich sah ihn ernst an. »Dann hör auf zu saufen.« Julian hielt die Luft an. Seine Lippen zogen sich nach unten. »Ich war eben enttäuscht ... und wütend.« »Hat man gemerkt.« »Sorry, echt.« »Dann rede doch vorher mit mir.« »Du weißt, dass ich das Thema, wenn möglich, nicht anschneide.« »Ich weiß. Aber eine Lösung bringt Trinken nicht mit sich.« Als Julian mir keine Antwort darauf gab, sondern nur leer auf die Decke starrte, trank ich einfach meine Orangensaft weiter. Dann hörte ich ihn sich kurz räuspern. »Du bist jetzt wieder enttäuscht, oder?«, fragte er kleinlaut. Ich überlegte gespielt lange. »Ganz ehrlich?« »Ich bitte drum.« »Ja, und zwar ziemlich«, gestand ich ein und sah ihn durchdringen an. Natürlich konnte ich mich weitaus besser fassen, als an Susas Geburtstag. Grade weil Julian Bescheid wusste, er mir seine Eifersucht und die Angst, ich könnte das Interesse an ihm verlieren, gestand. Das machte mir mehr Mut als zuvor. Aber davon wollte ich ihn nichts spüren lassen. Ich wollte seine unverfrorenen Gefühle noch einmal hören und zwar nüchtern. Doch er schwieg. Spielte mit seinen Fingern an dem Glas in seinen Händen und nickte. Wahrscheinlich traute er sich nicht mehr irgendetwas dazu zu sagen, aus Angst, er könne es noch schlimmer machen.   »Küss mich«, befahl ich ihm. Erwartungsvoll lächelte ich ihn an und sah in seine Augen. Überrumpelt traf mich sein verwirrter Blick. »Constantin, ich gehe Micky nicht fremd.« »Julian, das bist du schon. Und das schon zum zweiten Mal«, bemerkte ich spitz. Er zuckte heftig zusammen und kniff verletzt die Augen zusammen. »Ich weiß«, murmelte er schließlich und schien sich selber zu verfluchen. Ich schüttelte nach mehreren ungenutzten Sekunden einfach nur den Kopf. »Du musst es nicht tun, wenn du es nicht willst. Aber verstehe, dass ich nicht schlau aus dir werde, wenn du gestern noch mit mir schlafen wolltest und dich jetzt nicht mal mehr traust, mich zu küssen.« »Ich weiß ...«, murmelte er wieder kaum verständlich. »Ich … Ich will dir nur keine Hoffnungen machen und sie dann zerschlagen, wenn es doch nichts wird. Verstehst du?« Wie immer besorgt. Es war echt immer was anderes, was ihn davon abhielt, mir entgegen zu kommen. Dabei war es so einfach! Es ging nie um Gefühle, als wäre das gar nicht Thema. Sondern einfach nur Kleinigkeiten, die ihm im Weg standen. Als müsste vorher alles perfekt sein, bis wir eine Beziehung beginnen könnten. Nicht mit einem Wort stand jemals das Thema Homosexualität im Raum. Jeder normale Mann hätte mir einfach zu verstehen gegeben, dass er nicht auf Männer stand. Nicht Julian. Der würde, wie ich nun auch bereits aus seinem betrunkenen Mund gehört hatte, sich sofort mit mir in die Kiste begeben; nur um es mal auszuprobieren. Einfach mal gucken, wie es ist, einen Mann zu vögeln. Dann könnte man sich ja immer noch entscheiden. Aber genau diese immerwährende, lockere Art von ihm, machte es so schwer, einen Startpunkt zu finden. Einen Punkt, von dem ich ausgehen konnte. Von dem auch er ausgehen konnte. Er stand sich selber im Weg. »Ich verstehe, dass du mir nicht unnötig wehtun willst. Aber ich bin ein Masochist, es ist also okay, wenn es ein bisschen wehtut«, ließ ich es zweideutig im Raum stehen. War ja nicht mal gelogen … Er grinste sofort und sah mich kopfschüttelnd an. »Du bist doch kein Masochist.« »Natürlich. Ich ritze mich. Und wenn ich dir den Hintergrund dafür erzähle, wirst du mir zustimmen.« Eine Augenbraue hob sich und das Lächeln verschwand aus Julians Gesicht. »Hintergrund? Ich dachte... du tätest das aus Trauer? Es hat also einen anderen Hintergrund? Und es hat sicherlich mit mir zu tun, oder?«, fragte er misstrauisch. Ich wartete einige Sekunden bis ich zustimmte. »Wenn du es wissen willst, musst du auch über deinen Schatten springen.« »...Und schon wieder erpresst du mich! Lass das, das schürt keine gesunde Beziehung.« »Noch haben wir keine, also nutze ich die Dinge, die gut  funktionieren«, lachte ich hämisch auf und knuffte ihn in die Seite. »Oh, man, oh, man. Constantin ... Dass du jemals so ehrlich zu mir sein würdest, hätte ich in meinem Leben nicht gedacht. Dabei warst du immer so ein Mäuschen...« Nicht weiter von seiner Erkenntnis, dass ich ihm gegenüber kein Mäuschen mehr war, stören lassend, rutschte ich ein Stück auf ihn zu und berührte sein Ohr mit meiner Nase. Dann flüsterte ich mit schnellem Herzschlag kaum hörbare Worte hinein…   Mit einem Mal wich er zurück. Große Augen starrten entsetzt in meine. »Was? Das ist dein Ernst?«, fragte er sichtlich geschockt. Ich nickte. »Du stellst dir vor, dass ich … dass ich … Also, ich mein, so richtig? Ich würde dir nie so weh tun!«, rief er abermals empört. Ich nickte weiterhin. »Weiß ich doch.« Auch wenn es irgendwo schade war, dass er niemals der böse Julian aus meinen Träumen sein wird. Nicht, dass ich extremer Fan von so etwas war, doch einen gewissen Reiz hatte eine sanfte Bestrafung. Besonders eine von Julian. Er schluckte, noch die Informationen verarbeitend, einen Kloß runter. Schließlich gestand er ein, dass ich nicht ganz Unrecht hatte. »Okay, ich muss eingestehen, dass du … jedenfalls die Tendenz dazu hast. Also zum Masochisten.« Ich lachte leicht verlegen und legte meinen Kopf auf seine Schulter. »Küsst du mich jetzt?«, hakte ich nach. Julian schien über den Deal weiterhin nicht sehr erfreut zu sein. Aber nach dem gestrigen Abend konnte er mir nicht mehr weiß machen, dass er nicht auch darüber nachdachte, es zumindest mal mit mir auszuprobieren. Dass da nicht auch Gefühle im Spiel sind, von denen er nun wusste, dass sie für mich schlagen. Natürlich war meine Bitte Micky gegenüber sehr hinterhältig. Ich verführte Julian, obwohl der klar und deutlich angegeben hat, dass er Micky nicht fremdgehen wollen würde. Doch ich spielte die Trumpfkarte "bester Freund" und begann in Julian ein Rad zu drehen. Welches sich jetzt von alleine drehte.   Mit einer langsamen, überlegten Bewegungen, legte er seinen Kopf auf meinen. Einige Sekunden verstrichen schweigend. Anscheinend dachte er über meine drängende Bitte nach.   Dann hielt er mir den kleinen Finger hin. »Versprich hoch und heilig, dass niemand, absolut niemand erfahren darf, dass wir so etwas getan haben, tun und tun werden.« Vorsichtig hob ich meinen Kopf von seiner Schulter und sah ihn überrascht an. Ernsthaft? Ein Deal? »... Absolut niemand?« »Nicht einmal deine Mama.« Ich kicherte los. Tat ich das grade wirklich? Ich tätigte einen Packt mit Julian, der ein Schweigen auf unsere Affäre legte? Julian war wirklich bereit dieses Risiko einzugehen? Und überhaupt: Tat er das grade wirklich? Er versuchte es mit mir? Er ging mit mir eine Affäre ein? Ohne weiter über sein Angebot nachzudenken, drückte ich feste mit meinem kleinen Finger seinen. »Versprochen«, flüsterte ich ihm entgegen, als ich meinen Hals nach ihm ausstreckte. Unsere Nasenspitzen berührten sich etwas. Er lächelte sanft. »Brich es nicht.«   Unsicher berührten sich unsere Lippen. Für eine ganze Weile verharrten wir bewegungslos. Der erste Kuss. Nüchtern. Mit beidseitigem Einverständnis. Nach einigen Sekunden löste ich mich von seinem Finger und strich über seine Wange. Und als wäre meine sanfte Berührung ein Umschaltknopf gewesen, begann kurz darauf ein inniger Kuss, während seine Hand auf meinem Bein ruhte. Immer und immer wieder küssten wir uns leidenschaftlich, bis er sich abrupt von mir löste, aber kaum auf Abstand ging. »Rieche ich noch sehr nach Alkohol?«, fragte er schüchtern. Ich zuckte mit den Schultern. »Spielt das eine Rolle?« »Micky hasst es, wenn -« »Ich bin aber nicht Micky, denk dran«, flüsterte ich ihm unterbrechend zu und küsste ihn zur Bestätigung sanft auf die Lippen. Julians Blick sank auf die Bettdecke. Als würde ihm immer klarer werden, dass ich seine Eigenarten wesentlich großzügiger tolerieren würde, als Micky es je getan hatte. Dass vor ihm Constantin saß, sein ehemaliger bester Freund, und nicht Micky, die nervige Freundin. »Ich kann kaum glauben, dass wir das wirklich machen … So verrückt. Aber das bin ich dir nach allem wirklich schuldig... « Wieder zuckte ich die Schultern. »Es liegt ganz in deinem Ermessen, was wir tun oder lassen.« Ich zwinkerte ihm kurz zu. Meine Zweideutigkeit ließ ihn auflachen. Er lachte so natürlich und rein, wie schon lange nicht mehr. Und genauso glücklich, wie er zu sein schien, packte er mich an den Armen und drückte mich auf sein Bett, nur um mich erneut leidenschaftlich zu küssen. Vorsichtig führte ich meine Zunge in seinen Mund und ertastete sein Innenleben. Immer wieder umspielte seine Zunge meine, bis sie schließlich in meinen Mund glitt. Fest umschloss ich seinen Kopf. Vereinigt. Ich hörte ihn hin und wieder kichern, wenn ich an seiner Lippe knabberte. Zusammen. Zwischendurch pausierten wir die Küsse und strichen wir mit unseren Nasen auf der Haut des jeweils anderen. Unzertrennlich füreinander gewonnen. Mein Herz sprang nur so in die Höhe. Endlich gehörte er mir. Zwar nicht nur mir, aber er schenkte mir eine derartige Zuneigung, wie ich sie mir immer gewünscht hatte, freiwillig. Ohne Alkohol. Nur er und ich. Küssend auf seinem Bett. Jetzt hätte ich sterben können.     Und das tat ich buchstäblich, als ich Julian und Micky am Freitag in der U-Bahn küssend betrachten musste. Zwar sah man Julian an, dass es ihm unangenehm war, sie zu küssen, während ich dabei stand, aber das war der Pakt. Und schon bereute ich, einen solchen Vertrag jemals geschlossen zu haben. Es war einfach zu schön um wahr zu sein, dass ich dieses Fegefeuer betreten habe. Traurig blickte ich an dem Freitagmorgen einfach aus dem schwarzen Fenster. Jeden Tag wurde es immer dunkler und kälter. Ich war am Donnerstag noch bei Julian geblieben. Wir kuschelten uns ineinander, schauten etwas fernsehen, schoben uns eine Pizza rein und küssten uns hin und wieder. Julian war furchtbar schüchtern, wenn ich auf ihn zukam. Er gestand, dass es wirklich eine Umstellung war, mich von nun an als "Partner" zu sehen. Ich belächelte es einfach. Natürlich ist es eine Umstellung, jemanden zu küssen, den man gar nicht liebt und auch noch das 'falsche' Geschlecht hat. So zumindest stellte ich mir Julians Innenleben vor. Obwohl er einen gewissen Grad an Zuneigung nicht abstritt, als ich ihn über seine Gefühlslage fragte. Er war sich nur nicht sicher, wie er diese zu deuten hatte. Bis dato würde ich definitiv davon profitieren, versprach er mir. Er würde alles daran legen, dass wir beide aus unserem 'Loch' entkommen würden. Aber Micky. Sie lag mir quer in der Magengegend. Wie würde sie drauf reagieren, wenn sie es erfahren würde? Entweder würde sie mich steinigen, oder Julian. Oder uns beide. Doch weil sie so unsterblich in ihn verliebt war, auch nach knapp zwei Jahren, wäre ich wohl das Opfer. Mir würde ja niemand glauben, dass Julian im betrunken Zustand meine Nähe suchte und nicht umgekehrt.   Als ich Susa in der Mittagspause am Kantinentisch sitzen sah, wie sie sich mit Lucy unterhielt, machte ich einen großen Bogen um sie und setzte mich extra an das andere Ende des Tisches. Sie bemerkte mein abweisendes Verhalten sofort und sah mich verkniffen an. Entweder bereute sie ihre Aktion oder hielt mich für eine eingeschnappte Zicke. Aber sie war diejenige, die mich und Julian mit dieser Kuss-Aktion ausspielen wollte. Sie war die Böse. Nicht ich. Als Julian sich mit seinem vollen Tablett neben mich setzte und nicht neben Micky, protestierte diese: »Och, Schatz. Ich will neben dir sitzen ...«, quengelte sie aus welchem Grund auch immer. Doch Julian konterte geschickt: »Du sitzt mir gegenüber. Dann kannst du mir in die Augen sehen, das ist doch viel schöner.« Dann lächelte er sie wieder mit seinem perfekten Lächeln an. Sie zuckte nur die Schultern und begann zu essen. Ob ich auch irgendwann so resistent gegen sein Lächeln werden würde? Im Moment zerschmolz ich jedes Mal, wenn er es einsetzte. Während sich die anderen gut unterhielten, spürte ich kurz seinen kleinen Finger an meinem Bein streicheln. Als ich zu ihm aufsah, sah er mich entschuldigend an und bot mir den besagten Finger an. Ich lächelte und umschloss seinen Finger mit meinem. Unser Versprechen. Geheim unter dem Tisch, bei versammelter Mannschaft. Mehr war nicht drin, aber mehr als erwartet. Als jemals auch nur erdacht. Lucy sah mich durchdringend an. Dann Julian. Sie ahnte es wahrscheinlich schon. Wieso sie und Andreas seit einiger Zeit bei uns saßen, verstörte mich etwas. Ihr Blick ähnelte immer dem von Alma. Ganz zu schweigen von ihrem äußeren Erscheinungsbild. Genauso schien sie auch in uns lesen zu können. Ihr Blick fiel sofort danach zu der unwissenden Micky, die fröhlich mit Susa plapperte.   Und als hätte ich es geahnt, kam Lucy nach den Vorlesungen auf mich zu, während ich auf Julian wartete. »So, so. Herzlichen Glückwunsch«, begrüßte sie mich kühl. »Ich glaube, da verstehst du was falsch«, gab ich schnippisch zurück, ohne den Hintergrund von der Gratulation abzuwarten. »Da läuft im Grunde immer noch nichts.« »Die anderen magst du vielleicht täuschen, aber mich nicht.« »Aha. Was hast du denn gesehen?«, fragte ich mit einer angehobenen Augenbraue. Normalerweise vergrub ich meine Hände in meiner schwarzen Röhrenjeans und würde Kreise auf den Boden schaben. Aber bei Lucy half eine schüchterne Art und Weise einfach nicht. »Julian ist dir verfallen.« »Schön wär's.« Ich musste lachen. »Micky ist immer noch die first Lady.« »Vielleicht spielt er  und das vor, aber wenn ich dir ein Kompliment machen darf: Du hast wirklich gute Arbeit geleistet den Armen so auf dich zu fixieren, dass er die Rollen von dir und Micky vertauscht hat.« »Hey, sag mal, warum so giftig? Ich dachte immer, ihr würdet es befürworten, dass es läuft?« »Wir befürworten dein Wohl und das von Julian. Wenn ihr es gemeinsam findet ist das eine Sache, aber dass Micky dabei die unwissende Leidende spielt, ist nicht richtig.« »Du verweist also auf Betrug?«, fragte ich gereizt. Ich habe ihr von der Suppe erzählt, um ein wenig Ballast loszuwerden, aber doch nicht, damit sie drin schwimmen würde. »Micky ist eine Freundin von mir und Julians feste Freundin. Er geht mit ihr aus, hat aber gleichzeitiges Techtelmechtel mit dir. Das nennt man Betrug.« Ihre Augen stachen feste durch ihren langen schwarzen Pony. Doch ich ließ mich nicht beeindrucken. »Soll ich jetzt also den Helden spielen und Julian sagen, dass es so nicht weiter geht? Und was heißt Techtelmechtel? Ich wusste nicht, dass das schon beim Umarmen beginnt.« »Ich dachte, du willst eine gesunde Beziehung mit Julian und ihn für dich alleine? Und jetzt gibst du dich als Zwischenmahlzeit zufrieden? Nur, um das zu bekommen, wonach dir ist? Ist das nicht etwas schlampig -« »Constantin! Hey, Lucy«, begrüßte uns Julian mit einer Zigarette in der Hand. In der anderen hielt er einige Papiere. »Bin fertig im Sekretariat. Können also los«, lächelte er mich an. Doch dann bemerkte er die kühle Atmosphäre zwischen Lucy und mir. Er sah hin und her, zog an der Zigarette. Dann ratterte es wohl. »Es geht also grade um was Ernstes? Lasst mich raten ...«, raunte er sogar etwas amüsiert vor sich hin. »Sei einfach gewarnt, Constantin.« Damit verabschiedete sich Lucy und ging ihre Wege. Julian sah mich nur fragend an, während ich zähneknirschend ihrer Person mit den Augen folgte. »Alles klar? Hat sie wieder gemutmaßt?« »Tz. Die hat mich Schlampe genannt. Das nenn ich mehr als Mutmaßen.« Sofort zuckte Julian zusammen und stellte sich mit weit geöffneten Augen in mein Sichtfeld. »Sie hat dich wie genannt? Das hat die doch nicht ernst gemeint?« »Ich denke schon. Lass uns gehen, dann erzähl ich dir alles.« Sofort gingen wir in den englischen Garten, wo wir uns in den Biergarten setzten. Zwar musste wir weiterhin in dicken Jacken und Schal nebeneinander eingehakt sitzen, um nicht zu erfrieren, doch gefiel mir die Atmosphäre. Wie ein Paar, dachte ich, sitzen wir im Biergarten nebeneinander und halten Händchen, während ich ihm alles über Lucys Anmaßung erzählte. Er schien geschockt. »Woher wusste sie von uns?«, fraget er schließlich und zündete sich erneut eine Zigarette an. Dabei bot er mir auch eine an. »Sie hat wahrscheinlich unsere Zweisamkeit während der Mittagszeit gesehen«, nahm ich den Glimmstängel an. In einer solchen Zeit tat eine Zigarette auch mal gut. Gemeinsam rauchten wir eine, während ein immer kälterer Wind aufkam. »Machst du am Wochenende was mit Micky?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln; ich wusste, dass er die Frage bejahen würde. Er nickte auch sofort, sah aber wenig begeistert aus. »Nicht gut?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Ich befinde mich schon nach einem Tag in dieser Zwiespalt-Phase. Weißt du, einem von euch muss ich wehtun. Früher oder später.« Ich nickte abwegig. »Ist nicht einfach, sich zu entscheiden, hm?« »Ganz und gar nicht«, gestand er und zog an seiner Zigarette. Ich grinste zufrieden. »Das freut mich schon sehr, das zu hören.« »Du ergötzt dich also an meinem Leid?«, lachte er und pustete mir etwas Rauch ins Gesicht. Wedelnd grinste ich ihn an. »Du weißt, wie ich das meine. Natürlich finde ich es nicht toll, dass es dir im Moment nicht sonderlich gut geht.« Vorsichtig legte ich meinen Kopf auf seine Schulter. Julian lachte noch etwas, dann nickte er verständnisvoll. Nach einigen Minuten Stille und Lauschen der Menschen um uns, flüsterte er in seinen Schal etwas Unverständliches. Ich horchte auf und sah ihn fragend an. Doch anstatt seinen gemurmelten Satz zu wiederholen, drückte er traurig seine Zigarette aus. »Bewundernswert, wie locker du an die Sache rangehen kannst.« Ich stieß einen verzweifelten Lacher aus. »Sicher nicht.« »Wirkst aber ziemlich locker.« »Mag sein, aber in mir dreht sich alles.« Sein Blick senkte sich, dann seufzte er. »Wieso ist es nur so schwer ...« »Gott mag keine homosexuellen Menschen, deswegen macht er uns das Leben schwer.« »Hah? Du glaubst an Gott?«, fragte er mich leicht spöttisch. Ich zuckte mit den Schultern. »Irgendwer muss ja Schuld sein, oder?«, belächelte ich seine Frage und küsste ihn sanft auf die Lippen. Sofort zuckte er zusammen und wich zurück. »Doch nicht hier«, flüsterte er mir zu und sah sich erschrocken um. »Hast du Angst, jemand könnte uns sehen, der uns kennt?«, flüsterte ich zurück und berührte wieder seine Lippen, ohne ihn wirklich zu küssen. Sein Blick fiel sofort in meine Augen. Er spannte seine Lippen an. Ich grinste und verdrehte gespielt die Augen. »Tut mir Leid. Wenn ich zu viel von dir erwarte, bitte weise mich zurecht, ja?«, sagte ich schließlich höflich und ließ von ihm ab. Er versuchte zu lächeln und nickte mit dem Kommentar: »Ich lass deine Leine schon nicht zu lang werden.«   Als es uns doch zu kalt wurde, gingen wir zur U-Bahn. Dort durfte ich mich sogar nach mehrmaligem Umblicken an ihn kuscheln und mich unter seiner Jacke aufwärmen. Ich konnte einerseits verstehen, wie er sich fühlen musste, ständig auf der Hut zu sein, andererseits gefiel es mir so, wie es war. Etwas verrucht, immer bemüht nicht gesehen zu werden, hatte seinen Reiz. Ich war mir sicher, dass dieser schnell verfliegen würde, doch im Moment war ich einfach glücklich bei ihm sein zu dürfen. Und da kamen mir Lucys Worte zurück in den Kopf. Schlampig. Ein wenig Recht hatte sie schon. Ich bat mich Julian an, wann immer er wollte. Zwar basierte das weniger auf Sex, aber das könnte ja noch kommen. Um ehrlich zu sein, schreckte ich davor nicht zurück. Dann würden wir eben nur Sex haben, wenn ihm danach war. Aber Hauptsache wir hätten welchen. Und das war gewiss schlampig. Ich war die Affäre. Das war alles so gar nicht meine Art. Dreiecksbeziehungen mit einem Mann führen. Und so. Aber ich wollte mich ja ändern. Mit gutem Gewissen konnte ich endlich sagen: Ich hatte mich geändert. Ich war kein Mullemäuschen mehr. Ich hatte eine Meinung und sagte sie. Ich gab meine Gefühle preis, wenn mir danach war. Ich konnte sowohl Ja als auch Nein sagen. Für mich war das ein gewaltiger Fortschritt.   Aber vielleicht war es auch genau das, was Julian so verstörte. Vielleicht liebte er nur den stillen Constantin?   Als ich mich von Julian in der S-Bahn verabschiedete, erhaschte ich einen Kuss und ließ ihn gehen. Sobald er weg war, kamen sie wieder. Diese Gedanken. Dieses Leid. Vielleicht liebt er ja den alten Constantin mehr als mich? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)