Secret von ellenchain (Bittere Geheimnisse) ================================================================================ Kapitel 11: ------------ Mit noch restlichen Tränen in den Augen stand ich an der S-Bahn Haltestelle und wartete auf die Bahn. Gleich würde ich in seine Augen sehen. Was sollte ich ihm sagen? Entschuldigen würde ich mich, aber sonst? Ich verschwieg ihm die Wahrheit, habe deswegen ein schlechtes Gewissen. Er denkt, wir hätten uns ordentlich gezofft und macht sich Vorwürfe... Besser konnte es ja nicht kommen … Ich stieg mit gemischten Gefühlen in die volle Bahn ein und suchte nach ihm. Ich ging hin und her, soweit das in der Masse möglich war, doch nirgendwo sah ich ihn. Leichte Panik machte sich in mir breit. Ich habe ihn doch nicht verärgert? Oder ist er krank geworden? Er hatte sich nicht bei mir gemeldet, also - Jemand zog an meinem Hosenbein. »Wie oft willst du denn noch, an mir vorbeigehen?«, lächelte Julian mich sitzend an. Ich seufzte sofort erleichtert auf und bemühte mich ebenfalls um ein Lächeln. »Ich habe dich wirklich nicht gesehen ...«, entschuldigte ich mich und stellte mich neben ihn. »Komm, setz dich«, forderte er mich auf und klopfte auf seinen Schoß. Ich zögerte jedoch. Nach diesem Traum... Nach allem, was passiert ist... »Passt schon, die 10 Minuten kann ich stehen. Wir sitzen sonst auch den ganzen Tag.« »Wirklich, du kannst dich ruhig setzen ...«, bat er ein zweites Mal. Ich verneinte freundlich. Dann stand er abrupt auf. »Setz dich.« Das klang harsch, dachte ich. Ich blickte in seine Augen, etwas verwirrt, suchte ich zwischen seinen Pupillen einen Anhaltspunkt für seine Ungeduld. Und nach einem Grund, wieso ich mich unbedingt setzen sollte. »Okay … danke«, murmelte ich und setzte mich auf den Platz. Jetzt stand er zwischen den Leuten und schwieg, während er sich an meinem Sitz festhielt. Wir mieden jeglichen Augenkontakt. In den Fensterscheiben konnte ich ihn jedoch in Ruhe beobachten. Ein leidender Gesichtsausdruck formte seine sonst schönen Züge. Er sah streng zu Boden. Kaum ein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Eine furchtbare Stimmung lag auf uns. Erst als Mike an der U-Bahnhaltestelle zu uns stieß, lockerte sich die drückende Stille. Julian unterhielt sich mit ihm über einen neuen Film. Ich hörte einfach nur schweigend zu. Meine Gedanken schweiften irgendwann ab. Sahen den grauenvollen Julian sich an mir vergehen. Brutal und unerbittlich. Schmerzvolle Erinnerungen, die mir Gänsehaut bescherten. Als wäre der immer noch tief sitzende Schmerz von Samstagnacht nicht schon genug gewesen. Als Micky grade noch so die U-Bahn erwischte und zu uns stieg, merkte die natürlich sofort, dass mit ihrem Freund was nicht stimmte. »Alles klar, Schatz? Du bist heute so abwesend«, erkundigte sie sich bei ihm mit dem gereizten Unterton, den sie seit Wochen an den Tag legte. Julian starrte nur aus dem Fenster in die Dunkelheit der U-Bahn. Mike klinkte sich sofort aus dem Gespräch und spielte mit seinem Ipod. »Hm, bin noch was müde«, antwortete Julian knapp und kaum hörbar. Mickys Miene wurde schlagartig finster. 'Abwesenheit' war ihr Lieblingsthema bei Julian. »Was? Du bist doch sonst nie müde!« »Entschuldigung, dass ich es mal bin!«, zischte er ihr wütend entgegen. Mit einem Mal zuckte sie zusammen. Ich glaube, ich habe Julian noch nie so aggressiv sprechen hören. Doch Micky ließ sich das nicht gefallen und gab Konterschlag. »Ach, lass deine scheiß Laune nicht an mir aus!« »Tust du doch auch immer, Fräulein.« »Red nicht so mit mir!« »Ich rede, wie ich will!« Seine Stimme wurde immer bebender. »Aber nicht mit deiner Freundin!« »Du bist ein Mensch, wie jeder andere in meiner Umgebung!« »Wie bitte?!«, schrie Micky schließlich los. Die Leute um uns herum hoben bereits ihre Blicke und starrten uns an. Mike hob beide Augenbrauen und sah überrascht zu Julian. »Nerv mich einfach nicht, klar?«, murmelte Julian immer noch genervt und drehte sich um, sodass wir nur noch seinen Rücken sehen konnten. Micky dagegen hob nur abwehrend die Arme und drehte sich zu uns. »Was ist denn mit dem los?«, fragte sie empört und sah mir dabei feste in die Augen, als hätte sie bereits eine Vermutung, wer wieder Schuld an allem war. Ich zuckte mit den Schultern. »Constantin? Habt ihr euch gestritten, oder was?«, hakte sie so laut nach, dass es auch Julian mitbekam. »Denn, wenn, so war der ja noch nie drauf!« »Nein, wir haben uns nicht gestritten«, gab ich zurück und deutete an, dass ich keine Lust hatte, darüber zu reden. Micky schüttelte nur erneut den Kopf und ließ es gut sein, indem sie sich ihren Mp3-Player in die Ohren steckte und jeglichen Augenkontakt bis zur Uni vermied. Wieso Julian auf einmal so schlechte Laune hatte, konnte ich mir auch nicht wirklich erklären. Na ja, oder vielleicht doch ...   In der Mittagspause kam Susa auf mich zugestürmt. Verärgert. Mit einem richtigen fiesen Gesichtsausdruck. »Ich muss mit dir reden.« »O-Okay?« Damit zog sie mich von der Mensa weg und schleifte mich auf den Campus. Mike sah uns nur verwundert hinterher, während die anderen unser Verschwinden nicht weiter bemerkten. »Du hast Julian gesagt, dass ihr euch gestritten habt?«, fragte sie mit leicht empörten Unterton. »J-Ja … Aber was sollte ich denn sonst sagen?« »Irgendetwas anderes! Aber doch nicht so was! Der Arme macht sich die übelsten Vorwürfe, weil sein ganzer Rücken aufgeschürft ist!« Oh. Der Rücken. Das ... »Er glaubt doch nicht, dass wir gekämpft haben?« »Oh, doch, genau das denkt er nämlich!« Ich schluckte. Super, Constantin. Das hast du ja mal wieder richtig gut hinbekommen. »Ich habe ihm gesagt, dass ihr euch einfach nur einen Spaß erlaubt habt, deswegen auch der Knutschfleck«, fuhr sie fort, »doch er wollte mir nicht glauben.« »Hat er deswegen auch so … schlechte Laune?« »Schlechte Laune hat er? Keine Ahnung, ich hab ihn heute noch nicht gesehen. Er mich gestern angerufen, nachdem du weg warst und hat sich nach seinen Wunden erkundigt. Ob ich wüsste, woher die stammen. Und dann stand ich ziemlich in Erklärungsnot da, als er mir deine Lüge aufgetischt hat.« Wieder schluckte ich. »Es tut mir Leid, Susa ...«, murmelte ich kleinlaut und spielte nervös an meiner Tasche. »Bei mir brauchst du dich nicht entschuldigen. Mach das mal lieber mit Julian aus. Der Arme macht sich Vorwürfe ohne Ende.« Ich seufzte und nickte. Verdammt, das schient wirklich von Nöten zu sein; eine Erklärung. Eine richtige Erklärung. Ihm sagen, was los war. »Und keine Lügen.« »Keine Lügen«, stimmte ich leise zu und behielt meinen Blick reumütig gen Boden.   Als wir zur Mensa zurückgingen, saß Julian ganz alleine an einem Tisch; weit weg von Micky und Mike. Verwundert, aber doch ohne weiter nachzudenken, setzte ich mich zu ihm. Erst dann bemerkte ich, dass Susa mir nicht folgte, sondern zu einem Tisch schräg gegenüber ging, an dem Micky und Mike saßen. »Was ist denn hier los?«, fragte ich zurückhaltend und sah Julian in die Augen. Er hob eine Augenbraue und gab mir eine schroffe Antwort. »Wundert mich, dass du hierher gekommen bist.« »... Ich sitze immer bei dir... was ist denn passiert?«, fragte ich erneut. Er zuckte mit den Schultern und wendete seinen Blick ab. »Die haben keine Lust auf mich. So wie alle hier.« »Alle? Ich habe Lust auf dich«, versuchte ich aufmunternd zu lächeln. »Achja? Meidest seit neuestem ja auch meine Nähe.« »... Das war doch nur heute morgen«, setzte ich zu meiner Verteidigung ins Gespräch. Tut mir Leid, Julian. Ich muss dich vergessen. Und bei dir auf dem Schoß sitzen macht es nicht einfacher. Wieder zuckte er mit den Schultern und stocherte in seinem Essen rum. »Jedenfalls sind die jetzt alle verärgert.« »Oh je...« Er nickte und tat so, als wäre es ihm egal. Ein bisschen trotzig sah er aus. »Darf ich denn... fragen, was los ist? Warum du so gereizt bist? Ist es wegen mir?« Eigentlich wollte ich gar nicht fragen. Am liebsten hätte ich den kompletten Abend in den Papierkorb geschoben und die Partition neu aufgelegt. Einfach Neustart drücken. Aber so was geht nur bei Computern. Im echten Leben braucht es einen neuen Weg. Vergessen war die Devise. Er schien zu überlegen. Zumindest zögerte er lange, bis er das Wort ergriff. Wieder schroff und empört zugleich. »Das fragst du noch so scheinheilig? Immerhin hast du mir den Rücken vor Wut zerkratzt! Ich weiß gar nicht, was ich gemacht haben muss, dass du mich auf einmal so hasst? Das wurmt mich. Und niemand will mir sagen, was jetzt eigentlich los war. Du ja mit eingeschlossen.« Ich fing an zu zittern. Holte tief Luft und sah auf mein Tablett. »Ich war nicht sauer auf dich, ich wollte dich ärgern und hab etwas zu tief gegriffen … Tut mir Leid.« Constantin, das war eine Lüge. »War das vor oder nach dem Streit?« »Ich denke.. äh, davor. Weswegen wir uns gestritten haben, weiß ich wirklich nicht mehr. Aber es war nicht wild.« Eine erneute Lüge. »Erzähl mir nicht, dass es nicht wild war. Du meidest mich seitdem wie die Pest. Wenn ich betrunken bin, greife ich gerne mal über die Strenge, das weiß ich. Aber, dass das so ausgeartet sein muss, ist mir neu.« Ich zögerte. Suchte nach einer passenden Aussage. Die Wahrheit wäre passend gewesen. Aber ... es musste natürlich eine weitere Lüge her. »Du … du hast mich einfach ein bisschen aufgezogen.« »Worüber?« Sein Blick bohrte verlangend. »Wieso willst du das so genau wissen? Ist doch wieder alles in Ordnung und wir belassen es dabei?« Ich wurde immer nervöser. Er sollte aufhören zu fragen, mir gingen die Lügen aus. »Pf... dann sag mir wenigstens woher ich diesen riesigen Knutschfleck habe. Ich konnte ihn grade so vor Micky verstecken.« Ich biss mir auf die Unterlippe. »... Von mir.« Er schien nicht überrascht. Stattdessen nickte er einfach nur und setzte ohne weitere Fragen das Essen fort. Kein Wundern. Kein Hinterfragen. Da war es wieder. Dieses stille Hinnehmen. Dieses »es ist mir egal, dass du das gemacht hast, weil du darfst alles«. »Stört dich das nicht?«, fragte ich ernüchtert. Er sah mir wieder in die Augen. »Wieso? ... Sollte es?« »Typen machen sich normalerweise keine Knutschflecken, oder?« Ich lächelte vielsagend. Doch er senkte seinen Blick. Überlegte kurz. Nickte dann. »Ja, da hast du Recht.« Trauer spiegelte sich in seinen Augen wieder. Sein Blick, ich konnte ihn nicht weiter deuten. Was dachte er? War das jetzt alles? Er gab mir Recht und gut ist?  Auf der einen Seite so locker und auf der anderen ging die halbe Welt unter? Nahm ihn das wirklich so mit? Oder wusste er insgeheim die Wahrheit und wollte nur, dass ich darüber mit ihm rede? Oder war er traurig über die Tatsache, dass es nicht mehr so goldig zwischen uns lief? Ich griff nach seiner Hand, die auf dem Tisch ruhte. Er wechselte den Blick dorthin. »Es tut mir Leid ...«, flüsterte ich grade so noch hörbar. Ich glaube, ich war schon wieder den Tränen nahe. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Zu viele Lügen umgaben mich. »Constantin ...« Er drückte seinen Daumen gegen meinen. »Was ist denn nur los mit uns?« Da war Zittern in seiner Stimme. Ahnte er es endlich? Was ich damit zeigen wollte? Hatte er selber Angst davor, was passieren würde, wenn es einmal so weit käme?   Auch der Dienstag verlief nicht schöner. Wir redeten zwar wieder mehr in der Bahn, wenn wir alleine waren, aber über so unglaublich oberflächige Dinge, dass wir uns auch genauso gut erst ein paar Tage kennen würde. Da waren die Gespräche in unserer Kennenlernzeit intensiver und tiefgründiger gewesen. In der Mittagspause fragte mich Julian erneut, was mit uns los sei. Um Tränen zu kaschieren, umarmte ich ihn einfach. Er drückte mich an sich, fragte wiederholt. Ich antwortete einfach nicht, tat so, als hätte ich es nicht gehört. Alles spitzte sich zu. Susa mahnte mich mit jedem Blick, es ihm endlich zu sagen. Mike verdrehte nur ständig die Augen, wenn er Julian und mich trauernd nebeneinander sitzen sah. Micky war dauergenervt von ihrem Freund, der sie wohl sehr vernachlässigte und wieder einmal mehr Energie in die Beziehung zu mir als zu ihr investierte.   Jedes Mal musste ich mich in seiner Nähe dazu zwingen nicht in alte Muster zu fallen. Nicht wieder an ihm zu kleben, seine Hand zu nehmen oder ihn auf die Wange zu küssen. Manchmal glaubte ich zu verstehen, wieso Julian so traurig war. Es war die fehlende Liebe. Dieser Entzug, auf den ich ihn und mich setzte, tat niemandem gut. Wahrscheinlich verstand er einfach nicht, wieso ich mich von ihm distanzierte und machte sich Vorwürfe, es läge an ihm. Ob er sich die alte Zeit herwünschte?   Diese Gedanken fraßen mich auf. Ich konnte einfach nicht mehr. Langsam brauchte ich ein Ventil, um Luft auszulassen. Ich brauchte Raum für meine Gedanken. Zuflucht. Meine letzte Anlaufstelle, nämlich Julian, hatte ich mir auch verbaut. Wonach mir war …   Lucy kam am Mittwoch auf mich zu. »Du leidest, wie ich sehe«, begann sie unser Gespräch nach den Vorlesungen mitten auf dem Campus. Ich steckte mir eine Zigarette an. »Danke, und wie geht es dir?«, antwortete ich sarkastisch und drehte mich ein Stück von ihr weg. Da kamen schon wieder Tränen. Seit wann war ich so nah am Wasser gebaut? »Das ist aber gewiss keine Lösung.« Ich wusste erst nicht, was sie meinte, doch ihrem Unterton zufolge, störte es sie gewaltig. Ihr Blick durchbohrte mein Gesicht. Als ich mich langsam wieder zu ihr umdrehte, entnahm ich ihren Augen einen Hauch von Wut. Schließlich deutete sie mit einem Kinnnicken auf meine Fußfessel. Zwischen Hose und Schuhe blitzte ein weißer Verband. Ich sah verlegen weg. »Es geht mir danach besser.« »Weiß Susanne davon?« »Nein.« »Ich schätze Julian auch nicht.« »Ja.« »Gibt es davon noch mehr?« »Wieso fragst du, du siehst doch sonst alles in meinen Augen«, gab ich ruppig zurück und rauchte passiv-aggressiv meine Zigarette. »Du vermeidest aber jeglichen Augenkontakt mit mir.« Ich schnaubte aus. »Was willst du?«, fragte ich schroff. Lucy blieb unbeeindruckt und bewegte sich keinen Millimeter. »Entweder du sprichst dich mit Julian aus oder du gehst. Aber ihn drei bis vier Mal am Tag weinend zu umarmen ist keine Lösung für immer. Julian leidet mittlerweile genauso sehr wie du.« Ich hielt die Zigarette zittrig vor meine Lippen. Diese Sucht hatte ich Julian zu verdanken. Und sie gab mir nicht den Halt, den ich hoffte, zu erreichen. »Gibt's denn überhaupt Hoffnung?«, quälte ich durch meine Lippen. Lucy blieb regungslos. Als nach mehreren Sekunden keine Antwort kam, winkte ich zynisch lachend ab. »Sag doch einfach nein.« Damit ging ich.   Den Rest der Woche versuchte ich Julian aus dem Weg zu gehen. Ich stieg extra in einen anderen Wagon, aß alleine auf dem Campus und schwieg während der Vorlesung. Er versuchte immer wieder mit mir zu sprechen. Jedes Mal, wenn ich mir keine Träne mehr zurückhalten konnte, ergriff ich die Flucht. Julian hinterließ ich mehr oder weniger genauso traurig.   Zu Hause war die Schere mein Freund. Es war so unglaublich dumm, so etwas zu tun. Und genauso unglaublich dumm fühlte ich mich auch, während ich es tat. Ich schnitt, wenn ich weinte, wenn ich an ihn dachte, wenn ich nichts spürte. Wenn ich es mir besorgte und an ihn dachte. Ich befriedigte mich oftmals drei Mal in der Nacht. Jedes Mal träumte ich von Julian, wie er mich misshandelte. Wie er mich erniedrigte und schlug. Wie er mir Schmerzen zufügte und sich alles mit Lust zusammenfügte. Jedes Mal, wenn ich kam, ein Schnitt. Es fühlte sich richtig an. Ich Lügner. Ich war selbst Schuld. Ich hasste mich für jeden Gedanken, den ich an ihn verschwendete. Ich wollte ihn doch vergessen. Eine einzige Enttäuschung, das war ich. Wieso hatte es nur diesen Lauf genommen? Wann würden diese Träume enden? Wann würde das alles enden? Wann könnte ich aufhören, ihn zu lieben? Wieso konnte es ihm nicht egal sein? Mit seinem ständig verzweifelten Gesicht, machte er es mir nicht einfacher.   Wieder verging eine Woche. Das Wochenende blieb ich zu Hause. Susa rief ein Mal an. Besorgt fragte sie, ob es mir gut ginge. Natürlich war nichts in Ordnung, aber soweit war es okay. Sie hatte von Lucy gehört, dass ich mich selbst verletzen würde. Da wollte sie Bestätigung. Die bekam sie auch. Entsetzt bat sie mich, damit aufzuhören. Sagte ebenfalls, es sei keine Lösung. Und ich sagte, es gab auch nie eine.   Die Watte kam in mein Leben zurück und umhüllte mich. Ich rauchte viel, ich schnitt viel. Das einzige, wovon ich Abstand hielt, war der Alkohol. Der erinnerte mich viel zu sehr an Julian. Als ich es einmal probierte hatte betrunken zu sein, weinte ich die ganze Nacht durch. Seitdem kein Alkohol mehr. Nur Kippen.   In der Woche darauf lief es ähnlich zur Woche davor. Julian kam einmal auf mich zu, zog mich an der Hand zum Campus und stellte mich zur Rede. Ich schwieg einfach. »Was ist los, Constantin? Was habe ich dir angetan, dass du mich so meidest? Auf der einen Seite weinst du in meinen Armen unerbittlich und auf der anderen Seite behandelst du mich wie irgendjemand von der Straße! Wieso verschließt du dich so?«, sagte er sichtlich verletzt. Ich sah ihm tief in die Augen. Verzweiflung, Trauer und Unverständnis. Ich ging mir mit dem Handgelenk über die Augen. Sagte aber nichts. Als es anfing zu regnen, gingen wir in die Eingangshalle, wo es sich wesentlich schlechter unterhalten ließ. Zu meinem Vorteil. Ich umarmte ihn noch einmal feste, entschuldigte mich und versprach ihm, dass ich bald damit aufhören würde. Dann ging ich. Beziehungsweise ließ er mich schweren Herzens gehen.   Ich merkte, wie sehr ihm meine Verfassung auf den Magen schlug. Dass er sich so um mich bemühte war doch ein Zeichen, oder? Aber ich traute mich nicht. Was, wenn er mich abweisen würde? Jetzt nach all dem Theater hatte er sicherlich keine Lust mehr. Ich befand mich in der Spirale der Verdammnis und ich sah keinen Weg hinaus.     Am Donnerstag kam Susa auf mich zu. Mit ernster Miene drückte sie gegen meine Augenringe im Gesicht. »Du siehst furchtbar aus«, teilte sie mir monoton mit. »Danke, ich finde dein Kleid heute sehr hübsch«, gab ich mit einem müden Lächeln zurück. »Ich hab's ihm gesagt. Alles.«   Mein Lächeln versiegte. Die Gesichtszüge entgleisten schlagartig. Mir hing ein Kloß im Hals. Meine Temperatur stieg, mein Atem wurde schneller, genauso mein Puls. Mit einem Mal zerbrach alles. Die sicht wurde schwammig. »Du hast was?«, quietschte ich verzweifelt aus. Sie nickte ernst. »Es war nötig. Du gehst damit unter und ziehst ihn gleich mit. Jetzt weiß er's.« »Moment, du hast ihm gesagt, was ich für ihn empfinde?!«, brachte ich nun weitaus lauter heraus. Schockiert, blamiert und gefühlt dem Tode nahe. »Nein, nein. Das habe ich ihm nicht gesagt. Aber mit ein bisschen Menschenverstand wird er da wohl selbst draufkommen. Hab ihm gesagt, dass ihr euch geküsst habt, dass ihr im Bad wart und wahrscheinlich Petting hattet. Deswegen die Kratzer und der Knutschfleck am Hals, den Micky übrigens gesehen hat und deswegen wahnsinnig sauer ist.« Ich wendete meinen Blick ab. Schluckte mehrmals, seufzte und schüttelte den Kopf. Susa fuhr einfach fort: »Ich hab ihm auch gesagt, dass du deswegen so schlecht drauf bist und ihn versuchst zu meiden. Nicht, weil es dir peinlich ist, sondern weil du vor seiner Reaktion Angst hast.« Ich hielt mir langsam die Ohren zu und schüttelte weiter den Kopf. »Er war … Etwas erschüttert, hat es jedoch besser hingenommen, als erwartet, wirklich. Du kannst mir glauben, dass er nicht wütend auf dich ist. Diese Entscheidung es ihm zu sagen, haben Lucy, Mike und ich gemacht. Wir konnten nicht weiter tatenlos zusehen, wie ihr beiden euch gegenseitig zerstört. Zudem verletzt du dich selbst, das muss ein Ende haben. Ich denke er wird -« »Halt's Maul!«, rief ich verzweifelt aus dem Affekt. »Halt einfach deinen Mund!«, rief ich erneut, die Hände zittrig um mein Gesicht geschlungen. »Wie konntest du nur? Wie?« Das war also ein totaler Nervenzusammenbruch. Wenn die Ohren klingeln, die Sicht schwarz wird, das Herz gegen die Brust hämmert und man sich selber als Echo wahrnimmt. Ich packte unkoordiniert meine Sachen in die Tasche und verschwand so schnell ich konnte. Sie rief mir noch irgendetwas hinterher, was genau, konnte ich nicht verstehen. Es regnete. Ich weinte. Wie passend. Danke, Hollywood, das muss natürlich dramatisch werden. Denn ich lief wie ein Verrückter durch den Regen zur U-Bahn. Tränen verschlechterten mir die Sicht, manchmal stolperte ich etwas. Ich glaube, einmal bin ich sogar gegen einen Baum gerannt.   Ich schlenderte den Weg vom Bahnhof wie ein Halbtoter nach Hause. Auch in der S-Bahn konnte ich mich nur minimal beruhigen. Meine Augen waren immer noch rötlich gereizt und voller Wasser, sodass ich den Weg nur erahnen konnte. Das Herz beruhigte sich genauso wenig wie mein Gemüt. Jetzt wäre alles zu Ende. Mein bester Freund wusste nun alles. Und ich war selbst daran Schuld, dass wir daran untergingen.   Als ich nach vorne sah, ums Haus ging und die Haustür halb blind ansteuerte, saß er davor. Durchnässt. Traurig. Verletzt. Und nicht minder überrascht als ich, als sich unsere Blicke trafen. Wir sahen uns eine Weile an. Schwiegen und warteten darauf, dass einer von uns das erste Wort fasst. Dann stand er auf. »Wieso?«, fragte er mit zittriger Stimme. Ich sah beschämt zu Boden. »Wieso hast du mir nichts gesagt?«, wiederholte er seine Frage ausführlicher. Ich presste meine Lippen aufeinander und drückte die Augen zusammen. Bitte, geh einfach. »Constantin, wieso?«, fragte er nun wesentlich lauter. Da entwich mir ein lautes Schluchzen. Er kam sofort auf mich zu, streckte eine Hand nach  mir aus. Instinktiv wich ich einen Schritt nach hinten und hielt schützend die Arme vor meine Brust. »Wieso, fragst du?«, schrie ich ihn an. »Weil du mich so verdammt unsicher machst! Du bist wie ein Buch mit sieben Siegeln, das macht mir Angst!« Er sah mich überrascht über mein plötzlich aggressives Verhalten an; verstand wohl nicht ganz, worauf ich hinaus wollte. Trotzdem streckte er erneut seine Hand aus, um mich zu umarmen. Ich ließ meine Tasche demonstrativ auf den Boden fallen. Sofort wurde auch der Rest des Leders in Wasser getränkt. »Fass mich nicht an...«, wimmerte ich wehleidig. Er zuckte zusammen. »Ich verstehe dich nicht, Constantin! Wieso bist du jetzt so abweisend? Wir beide haben rumgemacht, okay, aber wir waren doch betrunken!« »Ist das deine Erklärung? Betrunken sein? Vögelst du jeden, der betrunken ist?« Meine Stimme bebte vor Angst. Gleich wäre alles vorbei. »Was...? Natürlich nicht - warum sagst du so etwas? ... Ich will nur damit sagen, dass das doch nichts schlimmes ist; wir beide waren einfach nicht ganz zurechnungsfähig. Wieso machst du da so eine große Sache draus? Was ist dein Problem?« »Du bist das Problem!« Verzweifelt warf ich meine Hände über den Kopf. »Ich? Dann... erklär mir doch, was ich falsch gemacht habe!« Julians Knie zitterten. Das war alles, was ich von ihm sah. Ich konnte meinen Blick nicht nach oben wenden. Sein Blick würde mich in tausend kleine Stücke brechen lassen. Mit viel Überwindung fasste ich die Gedanken in meinem Kopf zusammen. Da war Wut, da war Trauer. So viele Gefühle auf einmal und eigentlich wollte ich ihm nur um den Hals fallen, ihm "Ich liebe dich" ins Ohr flüstern und mich von ihm ins  Bett tragen lassen, wo wir für immer drin liegen bleiben würden. Doch alles, was aus mir herauskam, waren Vorwürfe. »Raffst du es denn wirklich nicht? Wieso, glaubst du, hing ich immer so viel bei dir? Wieso, denkst du, bin ich dir auf Schritt und Tritt gefolgt; wie so ein räudiger Köter?« Wieso war ich nur so aggressiv? Ich verstand es selbst nicht. Wieso konnte ich ihn nicht einfach umarmen und ihm sagen, dass ich ihn liebe? Dann würde er vielleicht lachen und sagen, dass er sich geschmeichelt fühlt. Oder so was. Aber da war so viel Aufgestautes. So viel Kummer und Leid von all dieser Zeit. All das wollte raus. Jetzt. Und ich warf es ihm vor, als wäre er Schuld an allem. Dabei war ich der Schuldige. Als keine Antwort kam, sah ich doch hoch. Sein Blick war unergründlich. Das Gesicht vom Regen durchnässt und kreidebleich. Da war kein Glanz mehr in seinen Augen. Diese Knopfaugen, die so Blau wie der Himmel waren, wirkten nur noch grau. Ich habe ihnen den Glanz genommen. Ich war schuld an seinem schwindenden Lächeln. Ich war der Grund, wieso er nicht mehr lachen konnte. Seine Mundwinkel fielen immer weiter nach unten. Wurden seine Augen etwa glasig? »Hast du denn nie ein Problem gesehen? ... So wie wir uns verhalten haben? Kam dir das nicht mal ... komisch vor?«, fragte ich wesentlich ruhiger und wischte mir immer wieder Tränen und Regen aus dem Gesicht. Julian schien zu überlegen. Langsam fiel sein Blick zu Boden, er fuhr sich kurz mit der Zunge über die Lippen und zog leicht die Schultern an. Er öffnete den Mund, brachte erst kein Wort raus, sah mich wieder an und murmelte weinerlich vor sich hin. »Wieso, hätte ich? War doch in Ordnung mit uns, wie es war, oder nicht?« »Nein, war es nicht«, wurde ich schlagartig wieder lauter. Hat er denn wirklich nie etwas gesehen? Jeder hat es gesehen, nur er nicht? Für ihn war mein Verhalten normal? Bitte, sag doch einfach, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst! Während ich nach Worten suchte, ihm weiterhin durch die Blume zu verstehen zu geben, dass ich mich in ihn verliebt hatte, wurde er ungeduldig. »Constantin, rede doch mal Klartext mit mir! Was ist los? Wir hängen viel miteinander ab, haben Spaß und sind glücklich. Das war doch alles perfekt, oder nicht? Wir haben einen kleinen Fehler gemacht, aber das kann's doch nicht sein? Wo ist dein Pro -«   Mein Problem? Du. Und bitte schön, dann werde ich eben klarer in meiner Aussage.   Ich machte einen Ausfallschritt auf ihn zu, noch bevor er seinen Satz beenden konnte, griff nach seinem Gesicht und warf mich an seinen Körper. Mit all meiner Liebe drückte ich ihm meine Lippen auf seine. Regentropfen fielen zwischen unsere Lippe und tropften von Nase und Kinn. Julian blieb wie angewurzelt stehen, riss sehr wahrscheinlich die Augen auf. Sicher war ich mir nicht, denn ich kniff meine so weit es ging zu. Trotz des Regens roch ich kurz seinen typischen Duft. Zog ihn ein, nahm ihn auf. Ich spürte seine Hand sich bewegen. Doch sobald er mich berühren konnte, löste ich mich von ihm. Langsam öffnete ich meine Augen und suchte seine. Überrumpelt von meiner Aktion, fixierte er mich mit offen stehendem Mund und brachte kein Wort raus. Für einen kleinen Moment lehnte ich mich erneut gegen ihn und berührte kurz seine Lippen. »Das ist der Klartext«, flüsterte ich gegen seine nasse Haut und strich ihm ein letztes Mal über die Wange. Mit traurigem Blick ließ ich letztendlich von ihm ab und ging einen Schritt zurück. Julian blieb weiterhin wie eine Salzsäule erstarrt, sah dann meiner Hand hinterher, die ihn an der Wange berührt hatte. Verzweifelt suchte er nach einer passenden Antwort. »Constantin, ich weiß nicht, was …« Doch ich hob die Hand, die ihn sofort mitten im Satz stoppen ließ. »Lass einfach gut sein. Ich kann mir denken, was du mir sagen möchtest. Und es ist in Ordnung.« Ich blickte traurig zu Boden, um nicht weiter in seine entsetzten Augen zu blicken. Er schwieg. Es kam keine gegenteilige Antwort. Er bestritt nichts. Er nahm mich nicht in den Arm. So wie er es sonst tun würde. Er sprach mir nicht zu, er versuchte nicht mich aufzumuntern. Es war vorbei, richtig?   Ich musste auch nicht lange auf eine Bestätigung meiner Gedanken warten.     »Es tut mir Leid ...«, flüsterte er schließlich.     Meine Lippen zitterten. Erneut schossen Tränen in meine Augen. Bis vor einer Sekunde hatte ich unterbewusst noch die Hoffnung gehegt, er würde meine Gefühle erwidern können. Auch wenn ich es abstritt, diese Hoffnung nährte mich all die Wochen. Und mit nur einem Satz starb sie mir weg. Mit einem mal wurde es taub um mich herum. Ich zuckte mit den Schultern und versuchte ihn anzulächeln. »Mir tut es Leid, dass ich unsere Freundschaft zerstört haben.«   Mit diesen Worten nahm ich meine durchnässte Tasche und ging schnellen Schrittes zu unserer Haustür. Er blieb starr stehen, mit dem Rücken zu mir. Verlassen, irgendwo zwischen den Welten. Als ich im Haus war, schloss ich schnell die Tür und brach noch im Flur zusammen. So viele Tränen, ich weinte unerbittlich. So laut und so intensiv, dass ich mich selbst verschluckte und manchmal keine Luft bekam. Auf allen Vieren krabbelte ich den Boden in mein Zimmer entlang. Weinte und Weinte. So wie noch nie. So schmerzhaft wie noch nie. Es war aus. Ich hatte es ihm gestanden. Er entschuldigte sich dafür, dass er meine Gefühle nicht wiedergeben konnte. Wie immer höflich, bis zum Ende. Es war einfach zu Ende. Vielleicht war es gut so.   Vergessen. Das musste ich jetzt tun.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)