Amnesia von dani (Wenn die Erinnerung streikt) ================================================================================ Kapitel 35: Kapitel 35 ---------------------- ~Aoi POV~ Wie ich es versprochen hatte besuchte ich diesen Seelenklempner. Es war nicht halb so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Praxis war ein heller, freundlicher Ort. Die Wände waren weiß, es gab große Fenster, Möbel aus Holz und gemütliche Polstersessel. Die Sekretärin, eine kleine, freundliche Dame mit grauem, schütteren Haar, rotem Lippenstift und Nickelbrille, war schon längst nicht mehr in dem Alter, in dem sie mich als Mitglied einer berühmten Band erkannt hätte. Außer mir waren keine anderen Patienten anwesend. Auch das beruhigte mich etwas. Ich brauchte keine Schlagzeile über mich, in der es hieß, dass ich bei einem Psychologen gesichtet wurde. Das fehlte mir noch zum krönenden Abschluss. Sie bat mich ihr zu folgen und führte mich in einen Raum. Schon beim Eintreten raubte mir der Ausblick den Atem. Die komplette Außenfassade war verglast, weshalb man eine unvergleichbare Aussicht direkt auf die Bucht genießen konnte. Sie holte noch zwei Gläser und einen Wasserkrug, stellte alles auf das kleine, hölzerne Beistelltischchen und deutete auf die Couch. „Bitte nehmen Sie Platz. Der Doktor ist gleich für Sie da!“ Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Er wirkte nicht sonderlich schaurig. Keine Sessel mit Gurten, auf denen man festgeschnallt wurde, keine Liegen oder Medikamentenschränke. Nur ein Sessel und eine braune Couch, auf der weiße Zierkissen drapiert waren. Was wohl die Miete für diese Praxis kostete? Eigentlich war ich froh darüber es nicht zu wissen. Nicht nur die Lage der Praxis, sondern auch die Einrichtung zeugte davon, dass der Besitzer alles andere als arm war. Obwohl man versucht hatte sie recht schlicht wirken zu lassen überzeugten die wuchtigen Bücherregale, der Schreibtisch aus dunklem Holz, der Perserteppich und die Malereien (verdammt war das Bild in der Mitte ein Monet?) vom Gegenteil. Als ich nach weiteren fünf Minuten immer noch alleine im Raum war, beschloss ich sie mir genauer anzusehen. Uruha hätten diese Bilder mit Sicherheit erfreut. Malerei war etwas, das ihn begeistern konnte. Ich selbst sah dort meistens nur Farbkleckse, die ein Kind genauso gut hätte auf die Leinwand spritzen können. Doch diese Bilder gefielen mir. „Mögen Sie die Malerei?“ Beinahe wäre ich vor Schreck zusammengezuckt. War ich so sehr in der Betrachtung der Bilder versunken gewesen, dass ich nicht gehört hatte, wie sich die Tür öffnete und wieder schloss? Ich drehte mich um und verbeugte mich vor dem Herrn, der nun das Zimmer betreten hatte. Auch er widersprach meinem Bild von einem Psychologen. Mit seinem vollen braunem Haar, das bereits von einigen silbernen Streifen durchzogen wurde, der glatten Rasur und seinen Rundungen sah er Sigmund Freud so gar nicht ähnlich. „Nein, eigentlich nicht. Ein Freund von mir ist begeistert davon. Doktor Adachi, nehme ich an?“ Er nickte, „In der Tat, das bin ich. Sie müssen Shiroyama-san sein?“ Er setzte sich in den Sessel und überließ es mir, ob ich lieber stehen blieb oder ob ich mich auf die Couch setzte. Ich tat Letzteres, weil es für mich seltsam war mich im Stehen zu unterhalten. „Aber nachdem Sie die Bilder so eingehend studiert haben, nehme ich an, dass sie Ihnen gefallen.“ Überrascht sah ich ihn an. Ich hatte damit gerechnet, dass er mich gleich über das ganze Prozedere hier aufklären, mir eine Preisliste vorlegen und dann eine Fragerunde starten würde. Dass wir uns über diese Bilder unterhalten würden, stand sicher nicht auf meiner Liste. „Naja ich verstehe sie, wissen Sie? Mit Landschaften kann ich etwas anfangen aber die Interpretation von diesen abstrakten Malereien überlasse ich dann doch lieber den Profis!“ Er nickte zustimmend. „Also sind Sie ein Mann der Tat und nicht der Gedankenspinnereien?“ Ich stockte bei der Frage wieder. Eigentlich sollte sie nicht so schwer zu beantworten sein, sie forderte mich dennoch. „Ich weiß es nicht.“ Meine Antwort war ehrlich. „Eigentlich weiß ich nicht wirklich wer ich bin. Ich nehme an Sie haben meine Akte angefordert?“ Als er nickte fuhr ich fort. „Dann wissen Sie auch, dass ich vor ziemlich genau einem Jahr einen schweren Unfall hatte. Ich lag mehrere Monate im Koma und als ich schließlich wach wurde konnte ich mich an nichts mehr erinnern. Das ist auch bisher nicht der Fall.“ „Das habe ich Ihren Akten entnommen, ja.“ „Um zu Ihrer Frage zurückzukommen. Ja ich denke schon, dass ich ein Mann der Tat bin. Andererseits bin … war ich Musiker von Beruf. Ich denke in diesem Bereich muss man seinen Gedanken freien Lauf lassen. Sonst würden bestimmte Melodien niemals komponiert werden. Allerdings glaube ich, dass es ein anderes Gedankenspinnen ist als das, was Sie gemeint haben.“ Oh scheiße … wann war ich denn unter die Philosophen gegangen? Seltsamerweise gefiel es mir sogar! „Wissen Sie das, oder denken Sie das nur?“ Ich stockte wieder und überlegte mir die Antwort genau. „Nun, eine Melodie zu entwickeln ist wie malen. Maler malen mit Pinsel und Farben, Musiker mit Instrumenten und Tönen. Was er schließlich sieht bleibt dem Betrachter überlassen. Nur der Künstler alleine weiß, was er mit dem Endprodukt aussagen möchte, stimmen Sie mir da nicht zu?“ Er sagte weder ja noch nein, sondern erwiderte meinen Blick. „Sie haben interessante Ansichten. Wollen Sie was trinken?“ Er selbst schenkte sich bereits Wasser in sein Glas. Seine Art gefiel mir. Er zwang mich zu nichts, machte das, was er tun wollte und nahm nicht übertrieben Rücksicht. „Ja, gerne!“ „Soweit ich mich entsinne sind Sie auch wegen Bildern hier, nicht wahr?", fragte er, nachdem wir uns beinahe eine halbe Stunde über alles Mögliche unterhalten hatten. Es war die erste Frage, die er mir bezüglich meines Termins heute stellte. „Ja, so kann man es auch sagen.“ Er hob nur die Augenbrauen, doch alleine diese Geste brachte mich schon dazu zu reden wie ein Wasserfall. „Ich habe Alpträume. Schlimme Alpträume. Seitdem ich wieder hier in Mie bin ist keine Nacht vergangen, in der ich nicht völlig verstört und mit Herzrasen wach geworden wäre. Da sind diese Bilder … wenn ich aufwache sind sie da, direkt vor meinen Augen. Ich kann sie erkennen, jedes einzelne. Doch wenn ich versuche danach zu greifen, entschwinden sie wieder. Nur die Empfindungen bleiben.“ Etwas verstört sah ich auf das Wasserglas in meiner Hand hinunter. „Welche Empfindungen? Was fühlen Sie, wenn Sie wach werden?“ Ich hob den Blick wieder und runzelte die Stirn. Was ich fühlte? „Verzweiflung. Hilflosigkeit. Angst. Panische Angst! Aber da ist noch etwas … ich habe nicht das Gefühl, dass es um mich geht, verstehen Sie? Ich habe nicht Angst vor diesen Bildern …“ Ich stockte. Verdammt das klang doch ziemlich daneben. Doch er machte nur eine leichte Bewegung, die andeutete, dass ich weitersprechen sollte. „Meine Hände zittern und ich habe oft starke Kopfschmerzen.“ „Was glauben Sie, was die Bilder Ihnen zeigen?“ Mein Blick glitt zum Fenster und hinauf in den blauen Himmel. „Was sie mir zeigen?“ Seine Stimme war irgendwie beruhigend. „Nun ja. Ich denke Sie wissen im Unterbewusstsein sehr wohl, welche Bilder es sind. Sie können sie nur nicht klar sehen.“ Eine Weile herrschte Schweigen zwischen uns. „Der Unfall … ich glaube ich träume vom Unfall!“ Das Wasser schwappte im Glas umher, als ich es an meine Lippen hob und einen kleinen Schluck trank. Ich war gerade viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als dass ich mich noch groß hätte unterhalten können. Mit meiner Vermutung hatte ich Recht, das wusste ich. Aber ich verstand nicht, warum diese Bilder jetzt kamen. Warum nicht schon kurz nach dem Unfall? Diese Frage stellte ich ihm auch. „Ganz sicher kann ich mir noch nicht sein, aber bei Ihnen wurde eine Amnesie diagnostiziert. Ich vermute, dass Sie sich kurz nach dem Unfall einfach wegen dieser Amnesie nicht erinnern konnten. Doch jetzt kehren Ihre Erinnerungen langsam zurück. Dafür muss es einen Auslöser gegeben haben. Können Sie sich daran erinnern, wann diese Alpträume das erste Mal vorkamen?“ Überlegend runzelte ich die Stirn. Die Träume hatten in der Nacht angefangen, in der sich Uruha von mir getrennt hatte. War das der Auslöser? Oder gab es einen anderen? Als ich nicht antwortete nickte er leicht. „In Ordnung, lassen Sie die Frage einfach auf sich wirken. Wir sprechen in der nächsten Sitzung darüber.“ Ich nickte automatisch. So wirklich hatte ich nicht mitbekommen, was er gerade gesagt hatte. Er gab mir noch ein bisschen Zeit um mich wieder zu fangen. Dann sprachen wir über die Zeit nach dem Koma. Wie es war wieder ins Leben einzusteigen, mein Beruf, das Gitarrespiel, Uruha. Ja ich erzählte ihm auch von meinem Exfreund, auch wenn ich eigentlich der Meinung war, dass er hier in diesem Raum nichts verloren hatte. Aber wenn ich mir Hilfe erwartete, musste ich wohl oder übel auch kompromissbereit sein. Außerdem gab es ja das Arztgeheimnis, was bedeutete, dass alles was ich erzählte hier in diesem Raum bleiben würde. Zuerst hatte ich geglaubt, dass zwei Stunden für so eine Sitzung extrem lang wären. Doch jetzt erkannte ich, dass es viel zu wenig Zeit war. Ich hatte nicht einmal die Hälfte von dem erzählt, was tatsächlich vorgefallen war. Doch Dr. Adachi schien sehr zufrieden mit mir zu sein. Er nahm mir das Versprechen ab noch mal über den Auslöser der Alpträume nachzudenken. Jetzt, wo ich mit jemanden über die gesamte Situation gesprochen hatte, fühlte ich mich irgendwie … besser. Beinahe erleichtert. Ich ließ mir einen weiteren Termin geben und verabschiedete mich sowohl vom Arzt, als auch von der Sekretärin. Dann zog ich meine Jacke über und lief die Stufen des Gebäudes nach unten. Nach den ganzen Offenbarungen konnte ich nicht still stehen - ich brauchte ganz dringend Bewegung. Zu Hause angekommen fanden meine Füße von selbst den Weg zum Strand hinunter. Ich wollte ein bisschen alleine sein um meine Gedanken ordnen zu können. Die Wände in meinem Zimmer konnte ich einfach nicht mehr sehen. Obwohl es bereits Mitte April war, war es immer noch recht kühl, weshalb ich den Reißverschluss der Jacke noch etwas höher zog. Meine Schritte lenkten mich am Strand entlang. Die Luft war frisch und schmeckte salzig. Auch wenn ich es nicht gerne zugab, das Gespräch hatte gut getan. Mit einem Unparteiischen zu sprechen und einfach einmal alle Gedanken, die in meinem Kopf herumschwirrten, los zu werden, hatte mir geholfen alles klarer zu sehen. Seltsamerweise ließen sich meine konfusen Gedanken jetzt ein bisschen besser ordnen. Ich war nach wie vor davon überzeugt die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Das Schlimmste wäre für mich, wenn Uruha mir eines Tages vorwarf, dass er wegen mir alles aufgegeben hatte. Andererseits hatte mein Vater in einem Punkt recht: Vielleicht hatte ich vorschnell gehandelt. Vielleicht hätte ich es einfach laufen lassen müssen. Das Schicksal ging hin und wieder verworrene Wege, wodurch man das Endergebnis nicht immer absehen konnte. Möglicherweise kam noch irgendwo eine Weggabelung – weiter hinten, die man von diesem Standpunkt aus nicht sehen konnte. Ich kletterte auf einen der Felsen und starrte gedankenverloren aufs Wasser hinaus. Warum zerbrach ich mir darüber immer noch den Kopf? Das mit Uruha war vorbei. Die Band hatte ich verlassen. Ich wollte hier einen neuen Anfang wagen. Doch so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte, war es nicht. Die Ketten umgaben mich noch immer, auch wenn ich geglaubt hatte sie zerreißen zu können, wenn ich Tokyo verließ. Meine Gefühle und Gedanken abzustellen war allerdings schwieriger, als meinen Hintern in eine andere Präfektur zu verfrachten. Schade, eigentlich. „Hey Brüderchen! Wie lange willst du noch Statue spielen? Lass uns nach Hause gehen, bevor du dich erkältest!“ Erschrocken drehte ich mich um und konnte ein Grinsen nicht verkneifen, als ich Kazuya hinter mir stehen sah. „Erschreck mich nie wieder so! Was machst du hier?“ „Mum hat mich zum Essen eingeladen! Klingt als gäbe es heute ein Festmahl!“ Ach ja? Hatten wir heute was zu feiern? Andererseits kochte Mum sehr gerne und da sich Kazuyas Freundin auf einer Reise befand war er ausnahmsweise abkömmlich. Vielleicht versuchte sie sich an einem neuen Rezept. „Mit hier meinte ich eigentlich hier am Strand.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich mache es genauso wie du! Wenn ich über etwas nachdenken muss, gehe ich oft am Strand spazieren. Das hilft!“ „Du hast Sorgen?“ „Nicht direkt Sorgen … ein schwieriger Fall im Krankenhaus. Dabei ist die Kleine erst drei Jahre alt und schon so tapfer!“ Es war ein vertrautes Gefühl neben ihm nach Hause zu laufen. Er erzählte mir von seinem Job im Krankenhaus. Aus der Art, wie er erzählte schloss ich, dass er mit Leib und Seele Arzt war. Selbst jetzt konnte er nicht ausschalten, sondern sinnierte laut über mögliche Behandlungsmethoden seiner kleinen Patientin. „Du weißt schon, dass ich dir in diesem Bereich nicht helfen kann, oder?“, fragte ich schließlich, als er weitere Therapien aufzählte. Ein leises Lachen entkam ihm. „Ja, ich weiß. Aber ab und zu hilft es mir laut zu denken.“ „Na dann…“ Vielleicht sollte ich das auch mal versuchen. Wir waren beinahe zu Hause angekommen, als uns ein einzelner Fußgänger entgegenkam. Er war sehr schlank und trug einen knielangen, schwarzen Mantel, dessen Kragen aufgestellt war. Der Schal flatterte im Wind nach hinten. Ohne erkennbaren Grund machte mein Herz plötzlich einen aufgeregten Hopser und begann schneller zu klopfen, meine Handflächen wurden nass, mein Atem ging hastiger. Nervös begann ich an meinen Ärmeln zu zupfen, während meine Augen wie hypnotisiert jede Bewegung des Unbekannten verfolgten. Mein Bruder, der ihn noch nicht bemerkt zu haben schien, erzählte munter weiter. Die Gestalt kam mit festen Schritten direkt auf uns zu. „… habe mir überlegt, dass wir vielleicht … Yuu, hörst du mir überhaupt zu?“ Kazuya sah mich fragend von der Seite aus an und folgte schließlich meinem Blick. „Sieh mal einer an, mein Bruder bekommt Besuch!“ Seine Worte rissen mich aus der Trance. Das war kein Trugbild! Er war hier! Verdammt! Er war tatsächlich hier! Und er war genauso schön, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Seine dichte Mähne fiel über seine Schultern, seine dunklen Augen blitzten auf, als sich unsere Blicke trafen. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Wo zum Teufel war das verfluchte Loch im Boden, wenn man mal eines brauchte?! „Hallo Kazuya. Hallo Yuu.“ Seine Stimme war Balsam für meine geschundene Seele, umhüllte mich warm und zärtlich wie Honig. Ich hatte sie so sehr vermisst. Sofort wurde mein Herzschlag ruhiger. Noch immer hatte er diese Wirkung auf mich. „Hey Kouyou, schön dich mal wieder zu sehen. Ich denke du willst zu ihm! Dann bin ich ja überflüssig.“ Dabei warf Kazuya mir einen kurzen, warnenden Blick zu, ignorierte mein stummes Flehen, er möge bleiben und marschierte an uns vorbei zum Haus meiner Eltern. Uruha sagte kein Wort, sah mich nur aus diesen verführerischen, dunklen Augen an, in denen ich immer wieder versinken konnte. Sein Parfum stieg in meine Nase – Gucci Rushes. Ob er wusste, wie sehr ich diesen Geruch liebte? Immer noch konnte ich ihn nur anstarren. Niemals hatte ich damit gerechnet, dass er hierher kommen würde! Er hatte mir unmissverständlich klar gemacht, dass er mich nie mehr wieder sehen wollte. Dennoch stand er gerade vor mir – viel zu nahe und doch viel zu weit weg. „Was machst du hier?“ Ich schluckte trocken. Meine Stimme war heißer, die Kehle wie zugeschnürt. „Ich wollte dich sehen.“ Überrascht riss ich die Augen auf. „Und mich bei dir entschuldigen!“ Ich öffnete die Lippen und schloss sie gleich wieder. Mein Kopf fühlte sich an wie leergefegt. Ein klarer Gedanke – unmöglich. „Deine Cousine, Ru-chan, war gestern im Proberaum.“ Und seinem Erscheinen nach hatte sie zweifellos das ganze Missverständnis aufgeklärt. „Es tut mir so unendlich leid. Meine Reaktion und jedes Wort, das ich zu dir gesagt habe. Ich hätte dich ausreden lassen sollen, aber ich Idiot war so festgefahren in der Meinung, du hättest mich betrogen, dass ich dir gar nicht zuhören wollte.“ Mit gespreizten Fingern fuhr er sich durch die Haare und lachte leise auf. „Ich habe die ganze Nacht kaum geschlafen. Hab immer wieder Szenarien durchgespielt. Ich habe mir überlegt, was ich dir sagen möchte. Und jetzt … jetzt kann ich mich an keines der schönen Worte erinnern, die ich mir für dich zurechtgelegt hatte.“ Mit einem Mal fühlte ich mich aufgekratzt, ganz kribbelig. Stehen zu bleiben und ruhig zuzuhören war unmöglich. „Hast du was dagegen, wenn wir ein paar Schritte laufen?“, fragte ich dazwischen. Er schien erleichtert zu sein, dass ich ihm zumindest zuhörte und stimmte zu. Der Sand knirschte leise unter unseren Schritten, als wir eine Weile wortlos nebeneinander herliefen. Gerade als ich nachfragen wollte, weshalb er hergekommen war, räusperte er sich. „Ich war so ein Narr, Yuu. Die Zeit nach dem Unfall war unglaublich schwer für mich. Zuerst musste ich Angst haben, dass du es nicht schaffst und ich alleine zurückbleiben würde. Dann wachst du auf und fragst mich, wer ich wäre. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Schock für mich war. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit! Ich hatte entsetzliche Angst dich zu verlieren! Da du dich nicht mehr an mich erinnert hast war plötzlich alles so … unsicher. Ich befürchtete, dass du mich verlassen würdest!“ Er schloss die Augen, als hätte er Schmerzen und drückte seine Hand auf seinen Bauch. „Unsere ganze Beziehung stand auf Messers Schneide und drohte auf die eine oder andere Seite zu kippen. Ich liebte dich, aber ich war mir nicht sicher, inwiefern du diese Liebe erwiderst und ob ich dir tatsächlich etwas bedeutete. Du hast mir nie irgendwelche Anhaltspunkte gegeben. Du warst so gleichgültig gegen alles, was ich machte. Nein, nicht gleichgültig … du hattest Angst vor mir! Aber ich wusste, ich könnte dir beweisen, dass wir zusammengehören, wenn ich nur mehr Zeit mit dir verbringen dürfte. Ich schwor mir, dass du dich wieder in mich verlieben würdest. Ich konnte nicht akzeptieren dich zu verlieren!“ Er stockte erneut und presste die Lippen aufeinander. Der Wind spielte mit seinen Haaren und wehte sie über seine Schulter nach vorne, weshalb ich nicht erkennen konnte, welche Emotionen sich auf seinem Gesicht spiegelten. Kurz darauf schien er sich wieder gefangen zu haben. „In solchen Momenten neige ich dazu … sehr zu klammern, wie dir vielleicht aufgefallen ist. Wäre der Unfall nicht gewesen und du hättest von einer Frau solche Videobotschaften bekommen … ich hätte mich totgelacht darüber. Ich hätte dir niemals vorgeworfen, dass du mich betrügen würdest. Es wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen.“ Uruha sah scheu zu mir hinüber und schluckte trocken. Seine Finger spielten nachlässig mit einem der Armbänder, die er trug. „Aber … nach diesem Unfall habe ich dir nicht mehr vertraut. Nicht, wegen dem Unfall selbst, sondern weil du plötzlich nicht mehr der Mann warst, den ich kannte. Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Dabei habe ich dir noch groß erklärt, dass unsere Beziehung auf Vertrauen basierte.“ Er atmete tief durch und bückte sich. Als er sich wieder erhob hatte er einen kleinen Stein in der Hand. Langsam strich er mit dem Daumen darüber, holte aus und ließ ich auf dem Wasser springen. Drei Mal klappte es, dann ging er unter. „Als ich erkannte, dass diese Frau die Bitch war, die du im Club abgeschleppt hast, ist bei mir eine Sicherung durchgebrannt. Ich war wirklich überzeugt davon, dass du mich seit Monaten hintergehst. In dem Moment waren meine schlimmsten Ängste Realität geworden. Ich hätte mit allem leben können. Aber nicht mit dem Wissen, dass du mit einer Frau schläfst oder sie küsst während wir zusammen sind. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass du sie im Arm hältst, mit ihr kuschelst und ihr die Worte ins Ohr flüsterst, die du sonst mir zuhauchst.“ Seine Stimme war ein dunkles Knurren. Obwohl ich ihn nicht unterbrechen wollte, musste ich mich einschalten, als ich merkte, dass er von falschen Tatsachen ausging. „Mach mal halblang Kouyou! Mit ihr lief nie etwas, mit ihr läuft nichts und mit ihr wird auch nichts laufen!“ „Du bist mit ihr-“ „Das einzige, das ich im Club getan habe war, sie zu küssen, weil ich wissen wollte, wie es ist ein Mädchen zu küssen.“ „Aber-“ „Soll ich dir was verraten? Du küsst tausend Mal besser.“ „Idiot!“ Er schnaubte und schüttelte den Kopf. „Sie hatte ihre Finger an deinem Schwanz und du bist mit ihr zu den Nischen gegangen! Ich hab euch gesehen.“ Ich hob die Augenbrauen. „Blödsinn! Setz das nächste Mal gefälligst deine Brille auf und guck bis ganz zum Ende zu! Als ich kapiert habe für was die Dinger gut sind und was sie von mir wollte, hab ich sie stehen lassen, hab mir einen Whiskey geholt und bin zu unserem Platz zurückgegangen! Glaubst du wirklich ich hätte nach meinem Krankenhausaufenthalt sofort mit der Ersten geschlafen, die mir über den Weg läuft? Noch dazu, wenn ich weiß, dass ich eigentlich seit drei Jahren in einer festen Beziehung lebe? Ich wusste doch, was du für mich empfindest.“ Ohne es zu wollen, war ich etwas lauter geworden. „Oh … das … naja….“ Ich seufzte leise. „Die Nachricht, die du gelesen hast war eine von vielen, die ich von ihr bekommen habe. Ich bin nie zu ihr gegangen, kein einziges Mal. Ich wollte sie anzeigen, weil sie mich nicht in Ruhe ließ …“ „Ich weiß.“ Wieder senkte sich Stille über uns. Uruha schien diese Infos erstmal verdauen zu müssen. „Verzeihst du mir, dass ich so ein Dummkopf war?“, flüsterte er schließlich. „Du hast eine Haarbürste nach mir geworfen!“ Auch wenn ich seine Wut nachvollziehen konnte, war ich doch noch schockiert darüber, dass er in Kauf genommen hatte mich zu verletzen. Seine Wangen färbten sich vor Verlegenheit rot. „Ich war so sauer … und ich … wollte dich nicht mehr sehen! Plötzlich standest du im Türrahmen und hast mich nicht mehr aus dem Bad gelassen … Du hast so wunderschön ausgesehen. Deine Haare waren noch nass und deine Lippen rot, vom Küssen. Ich wusste, wenn du erst reden würdest, würde ich dir alles verzeihen. Aber ich befürchtete nur Lügen zu hören. Ich musste gehen, bevor ich weich werden würde. Und … du warst so stur …“ Er biss sich auf die Unterlippe und schluckte trocken. Mit diesem Geständnis hatte ich nicht gerechnet. Er war wütend und verletzt gewesen und dennoch hatte er mich begehrt? Ein gutes Gefühl. Selbst im Nachhinein, wie ich feststellen musste. Mein innerer Gott jubelte vor Freude darüber. „Jetzt sag ich dir auch etwas und ich will, dass du mir aufmerksam zuhörst!“ Uruha hörte auf mit dem Armband zu spielen und atmete durch. Dann nickte er knapp und sah mich ernst an. „Wir haben beide Scheiße gebaut. Hier geht es nicht darum, ob ich dir verzeihe oder du mir verzeihst. Was passiert ist, ist passiert. Ich kann mich nicht dafür entschuldigen derjenige zu sein, der ich bin. Der Unfall hat uns beide verändert. Ich denke wir müssen hier einen Schlussstrich ziehen …“ Uruha wurde mit einem Mal extrem blass und zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. „… und neu anfangen.“ Da es bereits langsam dunkel wurde, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht so genau sehen, aber ich glaube er lächelte. „Du hast Recht. Ich hatte Angst. Aber nicht vor dir und auch nicht vor einer Beziehung mit einem Mann. Ich hatte Angst dich zu enttäuschen! Du warst immer für mich da, hast mir geholfen, wo du konntest und ich konnte dir nicht geben, was du gebraucht hättest! Ich hab dir angesehen, wie schwer es dir gefallen ist mich nicht liebevoll zu berühren oder mich zu küssen. Du hättest nach allem was passiert war Halt gebraucht und den konnte ich dir nicht geben. Ich war nicht für dich da, als du mich am Dringendsten gebraucht hast. Ich musste erstmal mit mir selbst klarkommen.“ „Das wusste ich doch! Ich habe von dir nicht erwartet, dass du dich um mich kümmerst. Aber ich hätte wissen müssen, dass du dir den Kopf darüber zerbrichst. Du warst schon immer so, wolltest dich immer um mich kümmern. Deshalb li-“ Er stockte wieder und sah auf das Wasser hinaus. „Was?“ Er schüttelte den Kopf. „Ach nichts!“ „Die Sache mit dieser … Dame hätten wir dann offensichtlich geklärt, oder?“, fragte ich dann, um die unangenehme Stille zu durchbrechen. Uruha nickte und biss sich nervös auf die Unterlippe. Ein leises Knurren entwich mir. Verdammt wenn er das tat wollte ich ihn küssen. Dabei war ich mit meiner Ansprache nicht einmal halb fertig! „Eine Sache schreibst du dir gefälligst ein für alle Mal hinter die Ohren! Ich würde dich nie, nie, nie … NIEMALS betrügen!“ „Ich weiß! Es tut mir Leid.“ Seine Stimme klang brüchig. Unvermittelt griff er nach meiner Hand und hielt mich am Handgelenk fest. Ich blieb stolpernd stehen und drehte mich perplex zu ihm um. Er drückte meine Hand sanft und streichelte mit dem Daumen über meinen Handrücken. Seine Haut fühlte sich warm an. Sein Blick war ernst und fest auf mich gerichtet. „Ich bitte dich, gib mir noch eine Chance, Yuu. Die ganze Zeit ohne dich war eine Qual. Ich habe es vermisst mit dir zu sprechen oder in deinen Armen zu liegen. Ich habe es vermisst neben dir einzuschlafen und am nächsten Morgen wieder neben dir aufzuwachen. Ich habe es vermisst dich zu küssen oder dich zu streicheln. Gott … Yuu, ich habe dich so schrecklich vermisst. Du bist das Wichtigste in meinem Leben. Ohne dich fühlt sich alles so seltsam leer und sinnlos an. Ich würde alles für dich aufgeben, selbst die Musik, würdest du das von mir verlangen. Ich … ich liebe dich!“ Erst als er seine Hände wieder wegzog bemerkte ich, dass er mir einen Ring angesteckt hatte. Er war silbern, doch in der Mitte war ein dunkelbraunes Lederband eingeflochten. Ich erinnerte mich, dass wir diese Ringe kurz vor unserer Trennung in einem Laden gesehen hatten. „Wir haben darüber gesprochen uns Ringe zu besorgen um zu zeigen, dass wir zusammengehören und unsere Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen. Wenn du mich nicht mehr willst, dann steht es dir frei mir den Ring zurückzugeben. Aber wenn du mich immer noch liebst, bitte ich dich ihn weiterhin zu tragen, damit alle sehen können, dass du mir gehörst. Ich liebe dich, mehr als alles andere auf dieser Welt. Gib uns noch eine Chance, bitte.“ Als ich meine Finger zu einer Faust schloss und mit dem Daumen liebevoll über den Ring streichelte, entkam ihm ein leises Schluchzen. Erschrocken sah ich auf. Hatte ich etwas falsch gemacht? Ich hasste es, wenn er weinte – wenn er wegen mir weinte. Uruha war eigentlich keine Heulsuse, weshalb mich sein Weinen aus dem Konzept brachte. Mit einem Schritt überbrückte ich die Distanz, die sich noch zwischen uns befand, presste meinen Körper an seinen und schlang meine Arme um seinen Nacken. Überraschung blitzte in seinen dunklen Augen auf. Seine Lippen öffneten sich einen Spalt. Sein heißer Atem streifte meine Lippen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich mich auf die Zehenspitzen stellte und meine Lippen hauchzart über seine gleiten ließ. „Natürlich liebe ich dich! Mehr, als du dir je vorstellen kannst, Kouyou. Und … gibst du auch mir eine Chance?“ Er erschauderte und beugte sich vor, um mich in einen unendlich zärtlichen Kuss zu verwickeln. Meine Lider schlossen sich flatternd. Seine Lippen bewegten sich warm und weich gegen meine, schmeckten etwas salzig von seinen Tränen. Ich spürte, wie sich seine starken Arme um meine Taille legten und mich näher an seinen harten Körper zogen. Es fühlte sich so unglaublich gut an, so richtig, als wir in einem leidenschaftlichen Zungenspiel versanken. Beinahe konnte ich spüren, wie das Band der Liebe, das uns verband erneut entflammte. Ich gehörte ihm. Mit Leib und Seele. Und er gehörte für immer und unwiderruflich mir. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)