Liebe führt, wie zu erwarten, zu Dummheiten von Lyndis ================================================================================ Kapitel 2: Kaltes Feuer ----------------------- Es war schwierig in dieser Klasse mal seine Ruhe zu haben. Oder eher in dieser ganzen Schule. Umso erstaunter war er immer wieder, dass dieser Kai es so gut schaffte sich von den anderen abzukapseln. Mittlerweile wusste er, dass er in einer der Parallelklassen war, die untereinander auch sehr viel miteinander zu tun hatten. Der Junge mit den roten Augen ging ihm auch die restliche Woche nicht aus dem Kopf, er versuchte aber, sich das nicht anmerken zu lassen. Er war nicht scharf darauf, dass durch eine Dummheit heraus kam, dass er auch durchaus etwas mit Männern anfangen konnte und Menschen merkten erstaunlich schnell den Unterschied zwischen normaler Neugierde oder normalem Interesse und dem Wunsch einem anderen näher kommen zu können. Er wollte sicherlich nichts von Kai, aber er bemerkte selbst, dass der andere ihn auf gewisse Art und Weise faszinierte. Das konnte unglaublich schnell zu Missverständnissen führen. Glücklicherweise erfuhr er auch so genug von dem Anderen, wenn auch nur Gerüchteweise und enorm oberflächlich. Wenn er die Informationsstückchen die er so aufschnappen konnte, weil sich jeden Tag ein anderer über den stillen Jungen und dessen Verhalten aufregte, zusammensetzte, dann war der mal ein ganz übles Mobbingopfer gewesen, nachdem er aus Russland her gekommen war, bis er irgendwen mal krankenhausreif geschlagen hatte. Seitdem wurde er wohl in Ruhe gelassen. Die Angaben zu diesem Opfer waren dabei aber komplett unterschiedlich und so musste Rei vermuten, dass nicht nur einer dran hatte glauben müssen. Insgesamt war er sich nicht ganz sicher, was nun wirklich stimmte. Vielleicht war Kai auch nie gemobbt worden, vielleicht war er tatsächlich nur ein Schläger. Man sagte ihm sogar nach, er würde sich Ritzen, weil man wohl mal einige Narben an dessen Armen gesehen hatte. Aber jeder Besitzer von Tieren wie Katzen wusste, dass das nicht unbedingt von Selbstverletzendem Verhalten herstammen musste. Alles in allem hatte er also viel gehört, wusste aber noch immer gar nichts. Nun ja. Wahrscheinlich sollte er sich da auch raus halten. Das ging ihn nichts an und in einem Jahr würde er hier sowieso nichts mehr mit zu tun haben, also sollte er es dabei belassen. Bei diesem Gedanken musste Rei seufzen. Dummerweise war er unglaublich neugierig und hatte sich schon immer für Außenseiter und allgemein auffällige Verhaltensweisen interessiert. Er würde sich nicht von ihm fern halten können und irgendwie musste er sich das eine Jahr über ja auch beschäftigen, nicht? Jetzt stahl sich ein kurzes Schmunzeln über seine Lippen. Das war die hellere Seite der Medaille: Da er sowieso nur eine begrenzte Zeit hier war, konnte er eigentlich tun was immer er wollte. Er war nicht an soziale Zwänge gebunden und nutzte diese Tatsache gerne mal für sich. Ein paar Monate später wäre er in einem anderen Land, weit weg von allen Problemen die er provoziert hatte. Er versuchte das eigentlich zu vermeiden, aber manchmal wie im Moment, juckte es ihm in den Fingern damit anzuecken, sich einfach für diesen Jungen zu interessieren. Aber noch traute er sich nicht wirklich und wusste eigentlich auch gar nicht, wie er das überhaupt anfangen sollte. Aber es war ja erst eine Woche um, es war noch Zeit. Es war Samstag als er die Wohnung verließ, in der er derzeit mit seinen Eltern wohnte, und sich daran machte die Stadt zu erkunden. Sie waren zwar schon über einen Monat hier, aber die Stadt war groß und in der Wohnung fiel ihm so allein die Decke auf den Kopf. Er war schon immer ein Mensch gewesen, der gerne draußen war, gerne neue Orte erkundete und so war es zu einem regelmäßigen Hobby geworden. Wie immer hatte er sich zwei Bücher, etwas zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen mitgenommen um, wenn er einen schönen Platz gefunden hatte, dort ein wenig zu verweilen. Er wanderte erst eine ganze Weile durch die Stadt selbst, ehe es ihn dann doch eher nach außerhalb zog. Den Kern kannte er schon recht gut, es war endlich an der Zeit, die äußeren Viertel zu erkunden. Nachdem es ihn erst in einen wohl recht alten, etwas heruntergekommenen Stadtteil verschlagen hatte, in dem er sich gar nicht wohl fühlte, fand er sich irgendwann in einer recht noblen Gegend wieder. Es waren keine sündhaft teuren Villen zu sehen, aber doch durchaus gehobenere Familienhäuser. Es hatte einen leichten Vorstadtflair, schien aber weitaus anonymer und weniger Klischeehaft zu sein. Keine gerade angelegten Straßen mit immer den gleichen Häusern und immer den gleichen Vorgärten wie man es typischerweise aus Amerika kannte. Nein, es wirkte eher wie ein größeres 'natürlich gewachsenes' Dorf nur bestehend aus noblen, gut gepflegten Häusern. Sehr interessant. Neugierig sah er sich etwas um. Die Atmosphäre hier schien angenehm, er fühlte sich keinesfalls beobachtet und wenn mal ein Mensch seinen Weg kreuzte, beachtete der ihn nicht. Ganz das Gefühl einer Großstadt also. Sehr angenehm, wie er zugeben musste. Er war sicherlich eine Stunde durch diesen Teil seines neuen Wohnortes geschlendert, als er einen großen Park entdeckte. Sofort ergriff ihn eine angenehme Aufregung, die er immer empfand, wenn er einen potentiellen neuen Lieblingsplatz entdeckte. Er liebte Stadtparks in solchen Vierteln. Meistens sahen sie sehr natürlich aus, waren einladend mit vielen Möglichkeiten sich an einem versteckten Plätzchen nieder zu lassen und einfach die Seele baumeln zu lassen. Hoffentlich war das hier auch so ein Park! Mit schnellen, fast schon ungeduldigen Schritten betrat er das Stück Natur, die kleine Oase mitten in der Asphaltwüste. Sofort fühlte er sich wesentlich wohler! Er war in einem winzigen Dorf in China aufgewachsen, immer umgeben von purer Natur, da war so ein Fleckchen wie der Himmel für ihn. Hoffentlich hielt der Ort, was er versprach. Auch nach fast einer halben Stunde stellte sich kein bisschen Enttäuschung bei dem Schüler ein. Der Park schien riesig, sehr weitläufig und er würde sicherlich einige Tage damit zubringen können ihn näher zu erkunden. Sicherlich würde es einige hervorragende Plätze geben, an die er sich zurück ziehen konnte. Jetzt aber gab er sich damit zufrieden sich an ein Geländer zu lehnen und von einem kleinen Vorsprung aus einen Garten zu betrachten, der mitten in dem eher natürlich gewachsenen Terrain extra angelegt worden war. Kurz stahl sich ein eher trauriges Lächeln über Reis Gesicht, als ihm ein Zitat in den Sinn kam, dass sich wie automatisch aus seinem Mund stahl: "Wir müssen die Natur nicht als unseren Feind betrachten, den es zu beherrschen und überwinden gilt, sondern wieder lernen, mit der Natur zu kooperieren." Er zuckte zusammen als er nur unweit neben sich eine Stimme hörte, die sich ihm auch noch langsam näherte: "Sie hat eine viereinhalb Milliarden lange Erfahrung. Unsere ist wesentlich kürzer." Verwundert wandte er sich zu der Stimme um und erstarrte regelrecht. Er hätte mit vielen Menschen gerechnet, aber nicht mit ihm: Kai. Der Junge lehnte sich neben ihn an das Geländer und schaute nun seinerseits nach unten über den Garten. "So ernste Worte, bei einem so schönen Anblick." Die Worte kamen kühl und überlegt über die Lippen des anderen und verwirrten Rei damit endgültig. Abschätzend musterte er den Neuankömmling, der im Gegensatz zu der Begegnung vor einer Woche diesmal ganz ruhig schien. Er strahlte immer noch eine gewisse Autorität und Kühle aus, wirkte aber so viel entspannter, dass sich Rei kurz nicht sicher war, ob das die selbe Person war. Er wusste nicht genau was er tun sollte, allerdings war das wohl die einzige Gelegenheit die sich ihm in nächster Zeit bieten würde. So verdrängte er die finsteren Gedanken und den Ärger darüber, dass Kai sich gerade ganz normal verhielt, obwohl er ihm vor ein paar Tagen noch mit Prügel gedroht hatte. Er sah wieder hinunter als er bedacht antwortete: "Aber es ist doch wahr, nicht? Die Menschen müssen immer allem eine Form verleihen, müssen die Natur mit in diese Formen zwängen, statt ihr einfach freien Lauf zu lassen. Ich finde diesen Anblick nicht besonders schön, auch wenn er eine gewisse Ästhetik mit sich bringt. Es ist der Versuch die Welt und besonders die Natur nach einem System zu ordnen, in das sie einfach nicht hinein passt. Und wie du so schön ergänzt hast, bilden wir uns auch noch ein etwas schöneres aus Bestehendem zu kreieren, das wesentlich mehr Erfahrung hat als wir." "Hm." ... Rei hatte mehr als eine solche Antwort erwartet, wenn der Andere schon ein Zitat von ihm vervollständigte und mit sogar einem zusätzlichen Satz ein Gespräch anfing. Er legte die Stirn etwas ratlos in Falten, konnte aber nicht verhindern, dass Kai nur immer interessanter für ihn wurde. Er wäre wohl ein wenig enttäuscht gewesen, wenn der ihm jetzt sein Herz ausgeschüttet hätte. "Es gibt nicht viele, die dieses Zitat einfach so vervollständigen können." Aus den Augenwinkeln sah Rei, wie der Andere nur die Schultern zuckte. "Kennst du sonst noch was von Hans-Peter Dürr?", versuchte er es weiter. "Nur das Zitat über Materie." Reis Augen weiteten sich: "Auswendig?" Wieder ein Schulterzucken, doch diesmal antwortete Kai: "Schon." Nein, besonders gesprächig war der wirklich nicht, aber die Antwort war mehr als erstaunlich. Er kannte das Zitat auch, nur nicht auswendig. Irgendwas von Materie und dass es die eigentlich gar nicht gab, sondern nur ein Konstrukt aus Beziehungen... oder so ähnlich. "Interessierst du dich für Physik?", fragte Rei deshalb verwundert. "Ein wenig." Rei schwieg eine Weile, weil er nicht genau wusste, was er sagen oder wie er weitermachen sollte. Doch gar nichts mehr zu sagen kam nicht in Frage, denn vielleicht ergab sich das hier nie wieder. Er wollte Kai besser kennen lernen, aber wie? Nachdenklich betrachtete er die Menschen unter sich und dachte nach. Kai sprach kaum, wie konnte er ihn also aus der Reserve locken? Und das ohne ihn gleich wieder zu verschrecken? Rei war sich sicher, dass erauf die Frage, warum er denn plötzlich geradezu freundlich war, nicht antworten würde, ja, wahrscheinlich sogar einfach wieder gehen würde. Aber was sonst? Es fiel ihm schwer an etwas anderes als diese Frage zu denken. Vielleicht sollte er es aus einem anderen Blickwinkel versuchen und ein wenig provozieren: "Du verscheuchst mich ja diesmal gar nicht." Er bemerkte wie Kai leicht den Kopf in seine Richtung drehte und ihn aus den Augenwinkeln prüfend ansah, also weiter. "Ist wohl nicht 'dein' Park." Er betonte das 'dein' absichtlich ein wenig, versuchte so zu provozieren ohne den anderen gleich in eine Ecke zu drängen. Er stichelte nur ein wenig. "Nein", kam die trockene Antwort und Kai wandte sich wieder ganz dem Treiben unter sich zu. Rei musste wirklich fast lachen, verkniff es sich aber extra, damit er nicht den Eindruck erweckte, sich über ihn lustig zu machen. Er mochte diese trockene, direkte Art und empfand sie je nach Situation als sehr erheiternd. Das hier war so eine Situation. Dennoch war er leider nicht weiter gekommen. Sollte er noch weiter gehen? Dann würde er sich aber gefährlich nahe an einer Grenze bewegen, die er eigentlich auf keinen Fall überschreiten wollte. Er wollte nicht verletzend werden, aber dennoch kribbelte es ihm so sehr in den Fingern.. oder eher der Zunge. "Wohnst du etwa hier?" Damit spielte Rei eindeutig auf die Frage von vor einer Woche an, die ihm versehentlich heraus gerutscht war. Die Frage danach, ob er auf der Straße lebte und sich deshalb selbst als 'Straßenköter' bezeichnete. "Ja." "Was? Hier... hier im Park?" Ein knurren drang an sein Ohr, als er sich verwundert zu Kai umwandte, ihn mit großen, verwirrten Augen ansah. Lebte der Junge etwa tatsächlich auf der Straße? Nach dessen Reaktion hatte er das eigentlich nicht mehr erwartet gehabt. Feuerrote Augen trafen ihn wie zwei Blitze. Es war nicht wie in der Schule. Sie sahen anders aus. Wut brachte sie zum lodern, auch wenn es noch immer kalte Flammen waren, sie waren vorhanden. War das vielleicht doch nicht Kai? "Ich hab dir doch gesagt du sollst mit diesen dummen Behauptungen aufhören! Willst du doch noch Ärger? Der Welpenschutz ist langsam ausgeschöpft!" Wie so oft in letzter Zeit, war Rei sich nicht sicher, was er sagen sollte. Er war sich auch nicht sicher, ob Kai das jetzt sagte, weil er es verleugnen wollte, oder weil er tatsächlich nicht obdachlos war. Der Blickkontakt dauerte aber nur einige Sekunden, ehe Kai wohl zufrieden wieder über die Brüstung blickte. Das musste man nicht verstehen, oder? "Hör auf so dumm zu grinsen." Rei stutzte ehe ihm auffiel, dass er den anderen immer noch ansah und dabei wohl angefangen hatte zu schmunzeln. Schnell wandte er den Blick wieder ab, zurück auf die Blumenbeete und versuchte, das Lächeln aus seinem Gesicht zu bekommen. Das wollte ihm aber nicht so recht gelingen. Nicht mehr jetzt, wo ihm klar war, dass er einen Menschen getroffen hatte, der weitaus interessanter war, als die meisten anderen seiner Bekanntschaften. Sie standen einfach nur da, sahen sich das Treiben unter ihnen an, bis die Sonne sich langsam dem Horizont zuwandte. Es war angenehm einfach neben Kai zu stehen. Es war keine unangenehme Ruhe, die der Junge ausstrahlte. Nicht hier. Nicht außerhalb der Schule. Die Frage, warum er hier so viel netter war, war zwar immer noch nicht geklärt, aber Rei hatte beschlossen, es erst einmal einfach so hin zu nehmen. Auch wenn das ein merkwürdiges Gefühl war. Er hatte noch nie jemandem verziehen ohne, dass der sich nicht wenigsten entschuldigt, oder zumindest Reue gezeigt hatte. Kai nahm es einfach als selbstverständlich hin zu ihm zu spazieren und ein Gespräch zu beginnen. Das passte nicht zu Reis Moralvorstellungen und erst recht nicht in seine Vorstellung von anständigem Sozialverhalten. Deshalb einigte er sich auch darauf, dem Anderen nicht zu verzeihen, aber den Groll ob seiner Tat erst einmal fallen zu lassen. Es war ein kleiner Vertrauensvorschuss und er würde sehen, ob er den eines Tages bereuen würde. Jetzt im Moment war es ganz friedlich. "Es wird bald dunkel", kam es überflüssigerweise von seinem stummen Gesprächspartner. "Und?" Aber eine Antwort bekam Rei nicht mehr. Seltsamer Kauz, aber er schien nicht der Typ zu sein, der etwas ohne jeglichen Hintergrund einfach so sagte. Was also konnte er gemeint haben? "Ich muss nicht heim.", meinte Rei dann aber nachdenklich und schien die Absichten des Anderen getroffen zu haben. Der sah ihn kurz von der Seite aus an. "Meine Eltern kommen erst in ein paar Tagen wieder nach Hause. Es wartet also niemand mit Essen oder so." Wieder herrschte Schweigen. Wieder wandte sich der andere Junge von Rei ab. Das war wirklich schwer. "Was ist mit dir?", fragte er dann. "Du scheinst es auch nicht eilig zu haben. Wartet auf dich auch niemand?" Nun, wenn Kai tatsächlich im Park lebte, war das wohl eine logische Schlussfolgerung, aber letztendlich war es ein weitere kläglicher Versuch von Rei, irgendwelche Informationen zu bekommen. "Nicht hier.", war die trockene Antwort. "Wo dann?" "Moskau." Bei dem dunklen Tonfall iwurde es dem Chinesen richtig flau im Magen. Warum? "Warum bist du dann nicht dort?" Kai antwortete nicht mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)