이상한 경우 (Isanghan Kyeong'u) von Chrolo (Seltsame Situationen) ================================================================================ Prolog: -------- Die Polizei – unser Freund und Helfer. Das war wieder einer dieser hilfsbedürftigen Slogans, denen man jedwede Pauschalität absprechen konnte... zumindest dieser bornierte Krawattenträger meinte es ganz offensichtlich nicht sehr gut mit mir. Um ihm eine Chance zu geben, bastelte ich mir zunächst die Hypothese, dass er seit geschlagenen acht Stunden an seinem verstaubten Schreibtisch säße und wie ein Feldwebel durch den achtzig Zentimeter hohen Stapel an Akten gefegt wäre, so dass er sich nun seine wohlverdiente Mittagspause derart stark ersehnte, dass ihn – ganz verständlich! – für einen Moment seine Manieren verließen. Aber besagter Aktenstapel erwies sich schon bei einem flüchtigen Blick als ziemlich staubig und daher tendentiell seit einigen Tagen nicht angerührt; außerdem war noch keine Mittagszeit und die Wache erst seit mageren zwei Stunden besetzt. „Da lob ich mir die deutsche Arbeitsmoral!“, sagte ich mir innerlich, aber im nächsten Moment schossen mir schon eine Vielzahl an Beispielen durch den Kopf, welche diese gewagte Behauptung sofort wieder in all ihre Atome zerrissen. Im Folgenden dachte ich dann halbwegs zufrieden, dass man in Asien wenigstens pünktlich ein- und abfahrende Züge hatte; aber freilich, mein plötzlich zufriedener Gesichtsausdruck brachte wiederum den unfreundlichen Polizisten am anderen Ende des staubigen Tisches auf die Palme, wie er es mir nonverbal mit einem ganz finstereren Blick mitteilte. Ich entschied mich nach einem kurzen Abwägen zum Gehen und tat dies so wortlos, wie ich zuvor begrüßt wurde. Das Problem war nun, dass mein Anliegen noch Bestand hatte. Ich vermisste meine Brieftasche und mit ihr sämtliche Karten, mein Bargeld und zu allem Übel auch noch meinen Haustürschlüssel. „Gut, dass ich kein Auto besitze“, sagte ich mir zur Aufmunterung, aber einen zumeist großköpfigen Autoschlüssel hätte ich aufgrund Platzmangels in meinem Portemonnaie wahrscheinlich sowieso anderswo aufbewahrt. „...Mist!!!!“ Es soll ja Leute geben, die ihr Auto als Zuflucht oder sogar Wahres Zuhause bezeichnen. Mir fiel bei diesem Gedanken der Manga Homunculus ein, den ich einige Jahre zuvor gelesen hatte. Sicherlich traf auf diese Serie am ehesten das Prädikat „abgefahren“ zu, aber der Hauptcharakter sah sein Auto eindeutig als seine Heimat an und hätte mit dem Verlust eines Wohnungsschlüssels sicherlich weniger zu kämpfen gehabt, als ich in diesem Moment. „Nun was solls... der Herd ist aus, die Fenster geschlossen, Haustiere kaum vorhanden... nun ja, Spinnen verhalten sich tendentiell wie Kakteen, die gehen ohne Nahrung nicht so schnell ein.“ Während ich noch dabei war, meine zwischen totaler Frustration und verzweifelter Rosabrille steckenden Gedanken zu ordnen, erspähte ich zehn Meter vor mir auf dem Bürgersteig einen äußerst sonderbaren Menschen. Er fiel schon dadurch auf, dass er im trüben Novemberwetter oberkörperfrei auf einem umgedrehten Putzeimer stand und seinen präsentierten Körper einige interessante Tätowierungen und Piercings zierten. Erneut dachte ich für einen Moment an Homunculus, musterte den Kerl dann aber ohne Hinzuziehen irgendwelcher Referenzen. Er hatte auch immerhin ein paar Haare auf dem Kopf und unterschied sich so doch deutlich von der fiktiven Figur, die kurz zuvor in meinem Kopf herumspukte. Interessant wurde es, als ich schließlich die offensichtlich mit einem Pinsel hingeklecksten Lettern auf dem Schild erblickte, welches er in der Hand hielt: Ich WEIß, was Sie am MEISTEN begehren – unabhängig davon, ob Sie es selbst wissen Das war vielsagend. Auch ein wenig irreführend, aber in meiner verzweifelten Lage entschied ich mich spontan dazu, dem seltsamen Mann die provozierte Frage zu stellen: „Na, und was ist es, was ich derzeit am meisten begehre?“ Er musterte mich kurz mit leicht verdrehten Augen und antwortete dann mit überraschend tiefer Stimme: „Im Moment ganz offensichtlich ein heißes Bad und ein wenig Ruhe.“ Ganz abgesehen davon, dass er nicht Unrecht hatte, war ich über die ernste Antwort verwundert (erwartete ich doch irgendwas Abgefahrenes, wohl noch im Zusammenhang mit irgendeiner Sekte stehend). Überrascht führte ich den Dialog fort: „Verraten Sie mir, wie Sie darauf kommen?“ „Nun, das war nicht schwierig. Sie zittern wie Espenlaub und die Rotation ihrer Gesichtsmuskeln verrät eine große innere Spannung.“ Hatte er wirklich Rotation gesagt? Leicht amüsiert und umso mehr erstaunt bemerkte ich schnell, dass mein Körper tatsächlich auf die innere Unruhe reagierte. Seltsamerweise antwortete ich ohne groß nach zu denken „Es ist schon irre, dass Sie hier halbnackt bei 10 Grad im Freien stehen und kein bisschen zittern, während ich in meinem dicken Mantel nach einem wärmenden Bad lechze...“ „In der Tat. Sie können mir gerne erzählen, was Sie zu ihrem Gemütszustand geführt hat. Dann kann ich eventuell tatsächlich...“ „Helfen?“ „Natürlich.“ „Ganz schön selbstbewusst.“ „Nicht ohne Grund.“ „Ich bin skeptisch...“, sagte ich, meine ziemlich aufgeschmissene Situation bedenkend, ungewöhnlich voreingenommen. Aber wer wäre beim Anblick dieses sonderbaren Mannes nicht skeptisch... „Nicht ohne Grund.“, sagte er erneut, steckte die linke Hand in die linke Tasche seiner recht interessant designten Hose und holte einen Stapel verschiedenfarbiger Karten heraus, welche auf der Rückseite zudem mit je einem chinesischen Zeichen beschriftet waren. „Dies hier... keine Sorge, sind keine Karteikarten zum Lernen von Hancha. Es sind Visitenkarten von speziellen Orten. Manche der Orte befinden sich nicht in nächster Nähe, aber ich versichere Ihnen, dass sie Probleme lösen. Jedes Problem.“ „Aaaah ja“ war meine verdutzte Antwort. „Es ist allerdings nur ein einziger Ort für Sie bestimmt. Und diesen müssen wir zuerst herausfinden.“ „Und ist schon einmal jemand von seinem Ort zurückgekehrt?“, antwortete ich zunächst flapsig, wurde dann aber doch von einem gewissen Interesse bemannt, zu erfahren, welcher interessante Ort wohl für michbestimmt wäre. Den etwas ausdrucklosen Blick des Mannes wertete ich nicht als abschätzig und kam einer Antwort zuvor: „Unabhängig davon – wie finden Sie diesen einen zu mir passenden Ort heraus?“ „Im Grunde benötige ich ein paar Infos, aber das wichtigste ist meine Eingebung. Ich besitze so eine Art übernatürliche Begabung...“ Nun wurde ich beinahe etwas ungehalten, da er mich offensichtlich für dumm verkaufte, aber aus reiner Neugierde hielt ich mich trotzdem zurück und brachte mich sogar dazu, die grundsätzlichen Informationen über meine Situation preiszugeben, da ich meiner Meinung nach nichts mehr zu verlieren hatte. Außer vielleicht meinen Stolz. „Nun verstehe ich Ihre innere Unruhe.“, entgegnete der Tätowierte mit demselben ausdruckslosen Blick, machte mir aber mittels einer Geste mit seinem Zeigefinger unmissverständlich klar, dass er auch für derlei Probleme eine Lösung zu wissen schien. „Anhand dieser Informationen kann ich die Wahl bereits sicher auf zwei Orte einschränken. Den Rest...“ Er wählte aus seinem Stapel zielsicher eine lavendel-farbene Karte mit dem in seinen vielen Bedeutungen auf Geburt und Existenz zentrierten Zeichen 生und in Folge eine matt giftig-grüne mit dem Zeichen 虹 für Regenbogen hervor. Die anderen ließ er wieder in seiner Tasche verschwinden, bevor er die beiden ausgewählten Karte mit der Rückseite nach oben in die offene Handfläche seiner Linken legte. „Regenbogen klingt gut... ich habe gehört, dass man am Ende eines Regenbogens nach Gold suchen kann.“, murmelte ich etwas verdrossen, wartete aber gespannt auf die Wahl einer der Karten und vor allem dem sich dahinter versteckenden Ergebnis. Mit der rechten Hand fuhr der seltsame Mann in Folge fünfmal in einer Kreisbewegung über die beiden Karten in seiner linken, bis er die Bewegung abrupt anhielt und für etwa zehn Sekunden ausharrte. „Ja... das ist eine Entscheidung. Eine Lösung für Ihre Probleme werden Sie hier finden.“, sprach der Magier mit viel Selbstbewusstsein in der Stimme, und drehte mir unverzüglich die lavendel-farbene Karte hin, auf dessen Vorderseite nur drei Zeilen standen. SonderBAR – Entdecken Sie... 412, Hangang-daero Jung-gu, Seoul 100-714 Etwas verwirrt betrachtete ich die Zeilen eine Weile und schaute dann leicht argwöhnisch den Mann an, der mir den Ort meiner Bestimmung in die Hand gedrückt hatte. „Wenn Sie also Ihr wahres Glück suchen... finden Sie die SonderBAR und entdecken Sie...“ „Alles klar, dann weiß ich ja Bescheid.“ „Sie halten das für einen miesen Scherz.“ „Ich bin kein guter Schauspieler...“ „Wahrlich nicht.“ „Und was halten Sie davon, wenn ich trotzdem zu diesem Ort gehe?“ „Das bleibt allein Ihre Entscheidung. Ich helfe Leuten gerne... aber ich leite sie nur an“ „Ziemlich egoistisch“ „Ach...?“ Für einen kurzen Augenblick fühlte ich eine falsche Überlegenheit, aber nach einem Moment fand ich diese Unterstellung genau so daneben wie die Piercings im Gesicht des Mannes, welche sich an beiden Wangen, an der Nase, dem rechten Ohr und neben dem linken Auge befanden und in drei verschiedenen Größen und tendentiell bronzenem Farbton (mochte es leichter Rost sein?) einen wirklich seltsamen Eindruck machten. „Nein, Sie verlangen ja kein Geld.“ „Ist das so...?“ Für einen kurzen Moment erschauderte ich und fühlte einen kalten Stromschock durch meine Adern fließen, aber im nächsten schon lächelte der Mann und drückte amüsiert eine Entschuldigung für seine Neigung zu üblen Scherzen aus. „Nun, ich werde dann mal weitergehen. Passen Sie auf sich auf.“, waren letztendlich meine Abschiedsworte und sie waren genauso unsicher gewählt, wie der komplette Dialog mit dem tätowierten Zauberer. Ich ärgerte mich schon im selben Moment darüber. „Passen Sie auch auf. Viel Glück...... und... entdecken Sie!“ Ich drehte mich um und ging ohne groß darüber nachzudenken zurück in die Richtung aus der ich zuvor kam, an der Polizeistation und einigen Restaurants und Geschäften vorbei. Dabei ignorierte ich zwei hochmotivierte Straßenverkäufer, die mich wohl für Handyhüllen, Schals und seltsame Socken begeistern wollten. So etwas passierte öfters und ich schob es irgendwann auf mein leicht ausländisches Aussehen. Aber zu mir verliere ich später ein paar Worte... Nach einer Weile musterte ich die Umgebung und entschied, mit der U-Bahn zur Seoul Station zu fahren, von wo aus es nicht weit bis zu der auf dem Kärtchen angegebenen Adresse wäre. Ich wusste das zufällig genau, da zwei Häuser weiter die Deutsche Botschaft residierte. Auf dem Weg zum nächsten U-Bahnhof dachte ich darüber nach, was wohl auf der grünen Karte mit dem Zeichen für Regenbogen gestanden hätte. Ich überlegte kurz, ob ich zurückgehen und den Mann fragen sollte, aber als ich mich umdrehte, gab mir irgendetwas Unbegreifliches das Gefühl, dass ich den Mann nicht mehr an seinem Platz fände, falls ich zurückgehen würde. Ein weiterer Gedanke sagte mir im Kontrast dazu, dass ich den tätowierten Mann trotz allem nicht zum letzten Mal gesehen haben sollte – und während ich den ersten Gedanken bis heute nicht überprüfen kann, sollte ich mit dem zweiten Recht behalten. Kapitel 1: Eine seltsame Nacht ------------------------------ Während ich mir in Deutschland manchmal gewünscht hatte, dass das U-Bahn-System dort irgendwann mal an die ostasiatische Struktur angepasst werden würde, war es mir jetzt natürlich ein Hindernis, dass ich ohne meine T-Money-Card, welche hinter meinem Kleingeld im Portemonnaie steckte, nicht einfach die U-Bahn benutzen konnte. Ich überlegte kurz, schaute auf meinem alten Smartphone mit 32% Restakku schnell auf Google Maps und stellt erfreut fest, dass der Zielort zu Fuß wahrscheinlich in knapp einer Stunde erreichbar wäre und zusätzlich das Haus meines Vermieters in ungefähr derselben Richtung lag – zweifelsohne meine nächste Station, da dieser einen Ersatzschlüssel zu meiner Wohnung besaß. Um zumindest an mein Bett, eine heiße Dusche und das Handy-Ladekabel zu gelangen. Wenigstens hatte ich jüngst einen längeren Urlaub von meinem Job genommen, so dass ich immerhin in diesem Bereich nicht ganz so aufgeschmissen war. Nun, längerer Urlaub... das sind hier in Korea auch schon fünf Tage. Insgesamt haben viele Leute nur ganze fünfzehn im Jahr, exklusive spezieller Feiertage. Aber ich habe mir ganze acht in Folge frei genommen. Mit der Begründung eines Kreatiefs zur Grenze an einen Burnout. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber ohne die nötige Schwere sind acht Tage Urlaub am Stück hier kaum zu bekommen. Viele Vorgesetzte würden nicht mal einen Burnout ernst nehmen. Mein Chef war natürlich nicht sehr erfreut, aber er zeigte letztendlich die nötige Cholanz und segnete es ab. Allerdings nicht ohne mir vor dem Urlaub noch zwei Wochen lang das gefühlt doppelte Material auf meinen Schreibtisch zu stellen. Jaja... wenn ich wirklich Burnout-gefährdet wäre, könnte man ihn in anderen Ländern wohl wegen versuchten Mordes anklagen. Aber ich nahm es wortlos hin und ackerte wie ein Irrer. Eine meiner positiven Fähigkeiten ist doch immerhin, dass ich unter Druck nicht zerbreche, sondern normalerweise noch eine ganze Schippe draufpacken kann. Ich möchte auch gar nicht leugnen, dass ich etwas stolz darauf bin. Kurz überlegte ich, ob mein Chef mich mit den Akten herausfordern wollte und mir im Falle, dass ich nicht ohnmächtig zu Boden sänke, den Burnout absprechen würde. Aber er nahm meine Energieleistung anerkennend entgegen und gönnte mir schließlich die freien Tage. Nach einer halben Stunde Fußmarsch überquerte ich eine große Straße und verlor dabei eine Menge Zeit. Aufgrund der hohen Arbeitszeit rechnet der gemeine Anzugträger in Asien tendentiell immer mit einem Verlust von Zeit, wenn er diese sinnlos irgendwo verstreichen lässt. Der Sinn steckt hierbei durchaus in der Vergnügung, aber definitiv nicht im reinen Warten auf irgendetwas. Was das Überqueren von Straßen angeht... mein persönlicher Rekord liegt bei 18 Minuten, als ich einmal quer über die riesige Kreuzung bei der Gongdeok-Station gelangen wollte. Seitdem nehme ich wann immer möglich die Abkürzungen durch die in Seoul sehr zahlreich vorhandenen U-Bahn-Stationen. Aber hier gab es leider keine und ich wartete geschlagene dreizehn Minuten, bis ich endlich ohne Beeinträchtigung weiterlaufen konnte. Es war jetzt 12 Uhr und ich verspürte einen für diese Uhrzeit ungewöhnlich starken Hunger; wohl begründet dadurch, dass mein Frühstück nicht lange im Magen geblieben war. Ach pardon, ich habe gar nicht erzählt, wie es zu dem Verlust meiner Börse kam. Ich möchte es hier nachholen. Nun, ich verbrachte die vergangene Nacht hauptsächlich in einem Club im Seouler 'Reichenviertel' Gangnam. Zwar bin ich eigentlich kein großer Clubgänger, aber als allein lebender Mann ziehen mich dann und wann schon mal die Reize der Abwechslung, vorzugsweise die des anderen Geschlechts in Gegenden, in denen ich normalerweise nicht verkehren würde. So auch gestern, als ich von einer Bekanntschaft zunächst in einen Noraebang eingeladen wurde. Karaoke ist toll; ich singe nicht gut, aber gerne. Es gibt im Übrigen auch Abende, in denen es sich dort nicht nur um heiteren Singsang dreht... Ich dachte an diesem Abend zwar nicht wirklich daran, dass im Noraebang etwas... passieren sollte. Aber ich war doch etwas überrascht, als meine Bekanntschaft noch unangekündigt drei Freunde mitschleppte und einer der beiden männlichen Begleiter schon nach einer halben Stunde darauf drückte, dass wir den Abend schnellstmöglich in einem angesagten Club fortsetzen sollten. Diese 'Bitte' wurde auch ziemlich früh umgesetzt und so fanden wir uns etwas später im Club Octagon wieder, einem der bekanntesten Szene-Clubs in Gangnam. Wir standen zwar auf keiner Gästeliste – und das kann vor allem in besagter Gegend teuer werden –, aber die weibliche Begleitung meiner Bekanntschaft drückte einem der beiden Türsteher ihre goldene Kreditkarte in die Hand und nach einem gefühlten Händeschnippen fanden wir uns auch schon an einem nahe der Tanzfläche gelegenen Tisch wieder, gut versorgt mit Wodka, Whiskey und dem in letzter Zeit in Korea sehr beliebten Jägermeister – mit dem ich im Übrigen aufgrund meiner deutschen Wurzeln schon manchmal unfreiwillig in Verbindung gebracht wurde. Aber dazu ein Andermal... Wir waren nicht lange zu fünft, da sich alsbald mehrere andere Gäste zu uns gesellten. Vorzugsweise Leute ohne VIP-Bändchen, von denen sich besonders in Gangnam viele auf die auserwählten Vertreter des anderen Geschlechts fixieren, um deren Vorteile mitnutzen zu können – oder alleine weil Geld geil macht. Für gewöhnlich ist das nicht mal Heuchlerei, sondern wird offen gezeigt. Ziemlich widerlich... dachte ich immer, aber an dem Punkt der Geschichte befand ich mich selbst zwischen zwei Schönheiten, welche ich kaum einfach wegschicken konnte. Die blonde zu meiner Linken war ziemlich offensiv und massierte mir mit ihren Händen abwechselnd die linke Schulter und benachbarte Körperstellen, während die dunkelhaarige Lady zu meiner Rechten eher dem Alkohol zugewandt schien und uns immer wieder Whiskey und Jägermeister nachschenkte. Hier begann das Unglück so langsam, denn mein Magen hat aus irgendeinem Grund etwas gegen Whiskey und meine Situation verbot mir leider, die Shots abzulehnen... eigentlich finde ich das sehr schade. Ich liebe es, Leuten mit Whiskey-Kenntnissen beim Plaudern zuzuhören. Auch wenn ich selbst nicht nachvollziehen kann, wieso ein Connemara nun süßer als ein Tyrconnell und pelziger als ein Glennfiddich schmecken soll, aber nicht so würzig wie... ach egal. Es macht Spaß. Selbst Blender könnten mich auf diese Art und Weise beeindrucken... Nach einem ersten Ritt auf die Tanzfläche wäre fast noch ein drittes Mädchen auf meinen Schoß gelandet, aber als ich den gespielt empörten Blick meiner Bekanntschaft bemerkte, entschied ich mich dazu, die Schöne auf einen freien Platz fern meiner Eigen zu verweisen. Zu dem Zeitpunkt ging es mir schon nicht mehr so gut, der Whiskey schaukelte in meinem Magen und das einmal fast bis zurück nach oben. Nach einer Weile bat ich die Ladies deshalb um etwas Geduld, da ich die Toilette aufsuchen wollte... doch dazu sollte es wohl nicht kommen. Auf dem Weg ein Stockwerk höher (der Hauptteil des Clubs liegt mehr oder weniger im dritten Untergeschoss, die angenehmeren Toiletten befinden sich im Stock darüber) wurde ich von einem adrett gekleideten, zugleich aber unglaublich nach Cognac stinkenden Mitdreißiger angerempelt, der mit absoluter Sicherheit nicht mehr bei klarem Verstand war, aber in Folge die Schuld an dem Zusammenprall bei mir suchte. Ich empörte mich und es dauerte nicht lange, bis er mir eine langte. Und auch wenn sein Schlag so kraftlos wie der eines Teenagers war, brachte die Überraschung (oder der Whiskey) mich dazu, den Halt zu verlieren und meinen Hintern spontan auf dem leicht klebrigen Discoboden vor der Treppe abzusetzen. Alles was danach passierte, kann ich nicht mehr richtig wiedergeben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich irgendwo erbrach und ich kann in den hinteren Winkeln meiner Ohren auch noch das Schreien des gewalttätigen Säufers hören, tendentiell so als würde er von wem anders weggezogen werden. Außerdem hat sich das Bild einer seltsamen Fratze in mein Hirn gebrannt – ein Gesicht wie das einer Ratte, mit hervorlukenden Schneidezähnen und kleinen, zur Gesichtsmitte hin kurvig nach unten verlaufenden Augen. Aber ich weiß nichts direkt damit anzufangen. Wie ich sowas hasse...! Trotz allem wachte ich heute morgen nicht etwa in dem Club oder gar auf einer Toilette auf, sondern vor meiner Haustür. Ich will nicht wissen, wie viele Leute aus den Nachbarhäusern mich dort gesehen haben, denn dank meiner leichten Sitzhaltung war ich sicher einfach zu identifizieren. Aber immerhin schien keiner der Nachbarn aus dem Haus meiner eigenen Wohnung informiert, denn ich lehnte zum Zeitpunkt des Aufwachens mit vollem Gewicht an der Eingangstür. Was mich aber freilich am meisten wunderte, war der Mantel, den ich halb offen über meinem schwarzen Hemd trug. Offensichtlich nicht mein eigener (außer ich gab jemandem dafür volltrunken meine Brieftasche im Austausch), aber dafür ein ziemlich hochwertiger Ciguardian von Cinque in schönem Beige. Der adrette Stehkragen wusste zu gefallen und die Innentaschen waren hochwertig mit weichem Pelz gefuttert. Ich kann mir vorstellen, dass man zwischen 300.000 und 500.000 Won für einen neuen bezahlt hätte. Zwar keine Seltenheit in den wohlhabenderen Straßen von Gangnam, aber ein Preis, den ich selbst allenfalls für eine komplette Garnitur ausgeben würde. Zum Zeitpunkt meines Erwachens war es cirka 10 Uhr und die Sonne stand verdeckt hinter einigen leichten Wolkenschwaden am graublauen Himmel. Trotz der knappen zehn Grad war mir zu dem Zeitpunkt noch nicht allzu kalt; wohl wegen dem Restalkohol in meinem Blut. Nachdem ich die Möglichkeit, bei einem Nachbarn zu klingeln, ausschlug, versuchte ich die Bekannte zu erreichen, die mich am Vorabend zum Singen eingeladen hatte – leider ohne Erfolg. Meine erste Station war dann ein guter Freund, aber auf halbem Weg zu ihm fiel mir ein, dass Seung bereits auf der Arbeit sein musste und als operierender Arzt für gewöhnlich das Handy abschaltete. Nächste Anlaufstelle war ein Mc.Donald's, wo ich meinen vorne im Briefkasten versteckten Notgroschen an zwei Cheeseburger verschwendete, welche meinen Körper pünktlich genau dann wieder verließen, als ich schließlich auf der Polizeistation um einen Durchruf über abgegebene Fundsachen quer durch Seoul bat. Diese orale Ejakulation führte wohl auch zu dem inakzeptablen Verhalten des Polizisten, welcher meine Bitte mit dem Argument ausschlug, dass ich doch persönlich zur U-Bahn-Haltestelle Jeongno-sam gehen solle, an der sich angeblich ein verwaltendes Fundbüro befand. Der Kontakt zwischen diesen Stellen und der Polizei war scheinbar nicht wirklich vorhanden. Geld für den Bus gab er mir auch keines... Soviel jedenfalls zu meiner derzeitigen Situation. Leider fehlen mir noch entscheidende Puzzleteile und vor allem ein paar klimpernde Münzen, um der Lösung meines Problems näher zu kommen. Aber vielleicht entscheidet sich mein Schicksal ja tatsächlich in dieser SonderBAR... Ach und ich bitte an dieser Stelle noch um Verzeihung für den Wortwitz mit dem Blender. Kapitel 2: Eine seltsame Bar ---------------------------- Nach einer weiteren halben Stunde kam ich an der Hangang-daero bei dem großen Gebäude an, in dem auch die Deutschen Botschaft und ein VISA-Center ansäßig waren. Ich war im vergangenen Jahr einmal hier, ebenso früher vor meinem längeren Deutschland-Aufenthalt zwecks Antrag für ein Visum. Und hinter diesem Kraftpaket aus Beton sollte nun diese mysteriöse SonderBAR zu finden sein. Plötzlich dachte ich zum ersten Mal daran, dass dieser seltsame Freak mich auch einfach hätte verarschen können und hoffte plötzlich inständig, dass das Gebäude auch wirklich existierte, ganz ungewiss was mich dort dann erwarten könnte. Aber zunächst hatte ich Glück. Der Haupteingang war zwar nicht direkt an der Hauptstraße, aber es gab immerhin ein Schild, auf dem (meiner Schätzung nach) im Schriftfont Matura MT die Lettern 'SonderBAR' prankten; jetzt etwas schmutzig matt, aber abends höchstwahrscheinlich beleuchtet. Ich überlegte kurz, wie man auf die Idee kommt, eine Bar so zu nennen. In Deutschland hatte ich mal eine Comedy-Serie im Fernsehen gesehen, welche WunderBar hieß. Auch wenn ich nicht jeden Witz verstand, empfand ich die Darstellung mit der Bar als Treffpunkt der verrückten Akteure recht amüsant, vor allem die kölsche Komödiantin Carolin Kebekus hatte ein gewisses Etwas. Während ich in derlei Erinnerungen schwelgte, öffnete sich die Eingangstür der Bar und ein langhaariger Mann, den Gesichtszügen nach zu urteilen Japaner, stürmte recht flott heraus und schnurstraks an mir vorbei. Er schien offenbar nicht ganz amüsiert zu sein. Aber er zerschlug meine nächste Sorge – dass die Bar eventuell erst abends geöffnet hätte. So konnte ich nun darauf hoffen, vielleicht sogar etwas Essbares zu bekommen, was mein Magen mittlerweile heftigst verlangte, wie er mir mit halbminütig einsetzendem Knurren mitteilte. Die morsche Holztür war ziemlich schwer, wahrscheinlich beidseitig dick beglast. Sie gab ein leises Knartschen von sich, als ich sie öffnete. Ich trat ein. Im Barinneren erspähte ich spontan drei Menschen, bevor ich den etwas düsteren Innenraum begutachtete – zweie saßen an verschiedenen Tischen, davon ein Mann mit einer Zeitung und Zigarre im Mund, sowie eine junge Frau, die auf mich einen adretten und ziemlich gutaussehenden Eindruck machte. Hinter der Bar wienerte ein wie ein typischer Barkeeper gekleideter Mann gerade Biergläser. Mit dem Rücken zu mir fragte er brummig: „もう一度 ... 今何かがあるか?“ „Entschuldigen Sie...“, begann ich, wusste aber nicht so Recht was ich zum Einstieg überhaupt sagen sollte. Aber der Barkeeper drehte sich überrascht um und unterbrach mich: „Entschuldigen Sie, ich hatte Sie verwechselt. Naja, wahrscheinlich sind Sie dem Burschen begegnet, der gerade hinausgestürmt ist.“ Ich nickte. „Ein unangenehmer Zeitgenosse... kommt manchmal mittags her und lässt hier seine schlechte Laune ab.“ „Einfach so...?“ „Nein nein... aber das ist eine lange Geschichte. Egal... was führt Sie um diese Zeit in meine Bar?“ „Sind Sie der Inhaber? Das ist gut... ehrlich gesagt weiß ich so Recht nicht, was mein Plan ist, aber Ihre Bar wurde mir als Stätte der Lösung für mein Problem empfohlen.“ „Oh... nun zunächst bin ich nicht der eigentliche Inhaber – aber ich mag es, den Schuppen als meine Bar zu bezeichnen.“, erwiderte er mit einem verschmitztem Lächeln und legte sein poliertes Bierglas aus der Hand, ehe er das Handtuch über einen Zapfhahn hängte und sich mir gänzlich zuwendete. „Lösung Ihrer Probleme... tja, wenn ich mir Ihren Magen anhöre, brauche ich nach diesem wohl nicht zu fragen. Oder steckt noch mehr dahinter?“ „Zweifellos. Ich habe nämlich nicht nur Hunger, sondern bin außerdem noch nicht im Besitz meiner Brieftasche und habe eine heftige Nacht hinter mir, an deren Ende ich mich kaum mehr erinnern kann.“ „Sowas kommt vor...“ „Und ein – pardon – sehr seltsamer Kerl hat mir die Lösung für mein Problem von einer fliederfarbenen Karte abgelesen. Die Karte wählte er aus einem Stapel mit Hilfe seiner...“ „Intuition?“ „Sie kennen ihn, schätze ich...?“ „Wahrscheinlich. Es gibt wohl nur eine Person, die mit bunten Karten durch die Gegend läuft und den Leuten etwas vom Himel erzählt.“ „Meine Hoffnung schwindet gerade dahin...“ „Muss sie nicht gänzlich! Sofern Sie mich später bezahlen, kann ich Ihnen zumindest ein Omelette zum Mittag braten. Das hatte ich eh gerade vor.“ Für einen Moment stieg eine ungeahnte Freude in mir auf, denn für etwas zu Essen hätte ich wohlmöglich noch ein Stück meines neuen Mantels abgeschnitten – sofern jemand ein Stück Stoff gebrauchen könnte. Ich faltete die Hände zu einer Dankesgeste zusammen und verbeugte mich kurz. Aber als der Barkeeper und erhoffte Meisterkoch sich an die Arbeit machen wollte, tippte mich jemand von hinten an der Schulter an. „Oh, Lydia...“, brummte der Barkeeper und zog seine buschige rechte Augenbraue hoch. Als ich meinen Kopf herumdrehte, identifizierte ich die Person als die zuvor am Tisch sitzende Schönheit. Überrascht schaute ich sie an. „Keine Sorge, Sie müssen sich nicht an seinen grausigen Kochkünsten quälen. Kommen Sie mit und erzählen Sie mir mehr über Ihre letzte Nacht.“ Äußerst überrascht überlegte ich nicht lange und nickte erneut. Während ich Ihr zu Ihrem Platz folgte, überlegte ich, ob Sie mich möglicherweise attraktiv fand, oder ob ich ganz im Gegenteil in größere Probleme rutschen könnte – wer weiß warum. Man denkt oft man habe nichts zu verlieren und nicht allzu selten wird man irgendwann eines Besseren belehrt. Ich hatte solche Erfahrungen bereits machen müssen.... aber dazu vielleicht später mehr. Die Dame nahm eine Zigarettenschachtel der Marke Arirang vom Tisch und bot mir einen Glimmstängel an. Trotz des schmucken Designs mit einer Hahoetal-Maske und goldener Schrift auf weißem Grund lehnte ich ab. Bei Zigaretten war ich streng genommen schon vor mehreren Jahren ausgestiegen und wenn ich tatsächlich mal das Bedürfnis hatte, gab es für mich nur noch Marlboro, die ich damals in Deutschland zu lieben gelernt hatte. Aber interessant zu sehen, dass es von Arirang also auch Zigaretten gab. Das Phänomen dieser Über-Marken in Korea war an sich kaum auszuhalten, aber zumindest war Arirang nicht ganz so allgegenwärtig wie Hyeondae, Lotte oder Samseong. In Folge machte die Dame eine für mich nicht interpretierbare Handbewegung in Richtung des lässig mit seiner Zeitung in einem breiten Holzstuhl verharrenden Herrn und schaute ihn streng an. Dieser quittierte die Mimik mit einem qualmenden Räuspern und nickte. Obwohl mich der Vorgang etwas in Unsicherheit wog, war es wahrscheinlich einfach nur ein Zeichen, dass der Herr auf ihren hübschen roten Mantel aufpassen sollte, denn in Folge nahm sie mich, den Mantel an ihrem Platz lassend, mit in Richtung einer Holztür, die mir an der Wand zuvor nicht aufgefallen war. Wortlos schloss Sie das Schloss auf und bot mir den Vortritt an. Beim Eintreten in einen überraschend großen und gut beleuchteten fensterlosen Raum fielen mir zuerst wieder die Leute auf, die sich dort befanden – obwohl die Tür abgeschlossen war. Links hinter einem großen Holztisch zwei sehr individuell aussehende, sich unterhaltende Männer; rechts eine etwas ältere Dame, die sich scheinbar um Trank und Speis kümmerte. Ohne uns zu beachten verschwand sie im nächsten Moment durch eine Tür, die offensichtlich zur Küche führte, wo der Raumaufteilung nach auch der Barkeeper sein Omelett braten könnte. Einer der beiden Männer, die just in diesem Moment zu uns herüber schauten und ihr Gespräch unterbrachen, war Ausländer, tendentiell Europäer. Er war ebenso adrett gekleidet wie die Lady, die ich begleitete; seine farbenfrohe Tracht erinnerte teilweise an alte deutsche oder französische Klamotten, in etwa so wie die des Schalkes Till Eulenspiegel, nur vielleicht etwas edler. Er trug dazu noch einen Schnauzbart, eine in Korea nicht gerade häufig zu sehende Sache. An seiner rechten Hand funkelten zwei goldene Ringe. Neben ihm wirkte der andere Mann total normal, aber bei genauerem Hinschauen veränderte sich dieser Eindruck von mir etwas. Er war Koreaner und trug einen teuer aussehenden Anzug, allerdings deutlich eine Größe zu klein. Die Ärmel reichten nur bis zur Hälfte seiner Unterarme und am Oberkörper machte der straff gezogene Stoff den Anschein, als würde die Brust darunter jeden Moment den Knopf des Sakkos und die des möglicherweise ebenso engen hellblauen Hemdes darunter sprengen. Sein Gesicht zierte zudem eine ziemlich fies aussehende rötliche Narbe, die sich vom Hals bis hin zu seinem linken Auge erstreckte. Entweder war sie nicht gut verheilt, oder die Verletzung war noch nicht allzu lange her. Für einen Moment war ich neugierig, aber wollte doch nicht wirklich wissen, was dem Herrn dort wiederfahren war. „Dieser Herr bedarf unserer Hilfe.“, entgegnete die hübsche Frau in Richtung der beiden Männer und beäugte mich dann einen Moment lang prüfend, ebenso wie die beiden Männer hinter dem Tisch. „Aber genehmigen wie uns zuerst ein Odeuvre.“ Ich wusste zufällig, dass das in gediegeneren Gegenden für 'Vorspeise' benutzte Wort Horsd’œuvre aus dem Französischen kam und so etwas wie 'Vor dem Kunstwerk' hieß, aber hier traf die Übersetzung offensichtlich nicht zu – in meinem ganzen Leben hatte ich noch keine so kunstvoll gestalteten Häppchen gesehen, wie die, welche ich in diesem Augenblick auf dem großen, mit einer hübsch designten Tischdecke belegten Holztisch erspähte. Man sagt ja „Das Auge isst mit“, aber anstatt mich zu freuen, verspürte ich eher eine Scheu davor, dieses Kunstwerk zu zerstören. War es mir überhaupt erlaubt, davon zu probieren? Oder würde im nächsten Moment die Küchendame mit einem Wagen hereinkommen, auf dem festlich mit Silberbesteck ein Extrateller serviert würde, unter dessen Käseglocke dann aber nur eine alte Scheibe Graubrot sein würde...? Ganz nebenbei... wo bin ich hier eigentlich? Während ich nun das Naschwerk mit unsicherem und zugleich fasziniertem Blick rundherum musterte, bemerkte ich auf dem Gesicht der Dame ein leichtes Grinsen: „Keine Sorge, warten Sie lieber ab, was danach kommt.“ „Melissa, ...“, wandte sich der etwas wie eine Mischung aus Pirat und reichem Kaufmann aus vergangener Zeit aussehende Mann mit dem Schnurrbart an die Frau zu meiner Linken: „Hast du etwas von Jihoon gehört?“ „Er rief vor einer halben Stunde an“, antwortete diese, den Blick wie ich auf die äußerst lecker aussehenden Häppchen gerichtet, „Wird wahrscheinlich etwas später, aber er kommt.“ Wohl zufrieden entschied sich der Fragende dazu, sich an den Tisch zu setzen und wenig später tat es ihm der Mann mit der Narbe gleich. Kurze Zeit später servierte die Frau aus der Küche wortlos ein zusätzliches Besteck-Service und ohne weitere Minuten zu sparen, begannen wir mit dem Schmaus. Da sich die anderen drei Essenden auffällig viel Ruhe und Zeit ließen, bemühte auch ich mich trotz meines Hungers um möglichst viel Contenance. Aber vor allem der Geschmack der kunstvoll arrangierten Muscheln, sowie der ohne Schale angenehm knusprig gebratenen Langusten ließen die volle Selbstbeherrschung nicht so ganz zu. Nach ein paar Minuten dachte ich mit vollem Mund daran, dass sich scheinbar keiner für meinen Namen zu interessieren schien, ebenso wenig wie ich bisher irgendetwas über irgendjemanden der hier Anwesenden wusste. Aber bevor ich fragen konnte, öffnete sich die Tür hinter mir und eine weitere Person trat ein. „Etwas Musik?“, fragte eine Frau, dessen Wurzeln ich wie auch die des Herrn mit dem Schnurrbart nach Europa zuordnen würde, und orientierte sich direkt nach links, wo ich bei genauem Hinsehen eine Wurlitzer Princess 1015 One More Time zu identifizieren vermochte. Ich hatte eine solche bei einem Freund in Europa gesehen, welcher sich als Sammler und Experte erwies und mich ohne Aufforderung in ein paar Lektionen der Geschichte der Jukebox unterwies. Er selbst besaß ganze sieben funktionierende Modelle verschiedener Jukeboxen in seinem nicht allzu großen Heim, sowie ein weiteres, welches er zur Zeit meines Besuches zu reparieren versuchte. Die Hochzeit der Jukebox waren zweifellos die Sechziger Jahre. Normalerweise wäre ich überrascht, eine solche Maschine im modernen Korea zu sehen, aber die festlichen 'Vorspeisen', die Kleidung der Leute und überhaupt die ganze Situation passten bestens zu weiteren nicht ganz alltäglichen Dingen. Die jüngst eingetretene Frau griff nach einer Fernbedienung – als spätes Modell des Baujahres 1983 besaß diese Jukebox schon eine – und wenig später erklangen die ersten Töne von einem Song, den ich spontan den europäischen oder amerikanischen Vierziger oder Fünfziger Jahren zuordnen wollte. Eine rauchige Männerstimme begann den Liedtext mit den Zeilen „Somewhere beyond the sea, somewhere waiting for me...“ und irgendwie passte die Stimmung des Songs zu der in dem Raum, welcher zu den Ecken hin relativ gedimmt beleuchtetet war. Der breite Holztisch stand ganz mittig im Raum und wurde von der Deckenlampe hell erleuchtet. Als sich die Frau zu uns an den Tisch sitzen wollte, erblickte sie mich etwas überrascht und streckte mir begrüßend ihre Hand hin: „Kang Hyeonjee, angenehm. Sie sind...?“ „Oh, angenehm. Mein Name ist Lee Jinhae.“, antwortete ich erfreut darüber, dass sich jemand so weit 'näher' für mich interessierte. Wobei ich etwas verwundert war, dass sie sich mit einem koreanischen Namen vorstellte. „Wahrheit, wie schön.“, bemerkte die Dame in Rot, die zu meiner Rechten saß. Ich erahnte, dass sie damit die Bedeutung meines Namens meinte, denn das hatte gepasst. Sie fuhr zu meiner Erleichterung fort: „Wir haben uns selbst noch gar nicht vorgestellt.“ „Oh, wie kommt das?“, fragte die andere Frau, während sie den Blick auf den Platz mit dem noch unbenutzten Service richtete, welcher wiederum zur Rechten der anderen Dame war. „Nun, er sah mir so aus, als sollte ich seinen Bauch lieber erst dann mit Fragen löchern, wenn dieser gefüllt wäre.“ Für so zuvorkommend hatte ich sie wirklich nicht gehalten. Ich quittierte es mit einem Lächeln und beendete meine Vorspeise, von der ich ungefähr soviel gegessen hatte, wie normale Leute von einer Hauptspeise malen würden. Die Jukebox spielte mittlerweile „Any old wind that blows“ von Johnny Cash. Kapitel 3: Eine seltsame Runde ------------------------------ Erstmal ein paar Worte zu mir – ich bin gebürtiger Koreaner und auch in diesem Land aufgewachsen, habe aber eine Koreanisch-deutsche Mutter (deren deutsche Gene offensichtlich ziemlich dominant sind, denn viele Koreaner halten mich für einen Ausländer). Aus Interesse an der deutschen Kultur bin ich zweimal dort gewesen – einmal während des Studiums im Zuge eines Auslandssemesters und später noch einmal für anderthalb Jahre, in denen ich unter Anderem in der koreanischen Botschaft in Bonn gearbeitet hatte. Persönlich hatte ich das Leben in Europa zu schätzen gelernt und bin eher widerwillig zurück nach Korea gegangen; aber ohne eine Heirat ist der Erhalt einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung ohne festen Job kein Selbstläufer. Ich hatte zwar geplant, mich durch die bürokratischen Hindernisse zu arbeiten (meine Ideen reichten von Praktika oder speziellen Forschungen über frühe Beantragung auf Staatsbürgerschaft aufgrund meiner Wurzeln, bishin zu einer Fake-Heirat oder gefälschten Papieren), aber kurz darauf wurde meine in Korea lebende Mutter krank und ich entschied mich daher zur Rückkehr. Dies ist gut anderthalb Jahre her und mittlerweile habe ich in Korea wieder einen festen Job und es sieht daher nicht nach einer baldigen Rückkehr aus. Aber so genau weiß man das auch nie. Jedenfalls saß ich in diesem Moment an einem Tisch mit vier weiteren Personen, die ich durchaus eine seltsame Runde nennen dürfte. Die Namen der beiden Frauen wusste ich bereits, daher nenne ich sie ab hier dann und wann mit diesen. Ironischerweise wurde die koreanisch aussehende Lady mit 'Melissa' angesprochen, was nun fürwahr kein koreanischer Name ist. Die andere Dame hingegen stellte sich mir mit dem Namen 'Kang Hyeonjee' vor, obwohl an ihr wiederum überhaupt gar nichts an eine koreanerische Herkunft erinnerte. Sie hatte halblange braune Haare, sehr schön gelockt und über der Stirn mit einem roten Haarreif verziert, den sie wahrscheinlich eher aus designtechnischen Gründen trug. Ich hielt die Haare für gefärbt, aber je nach ihren Wurzeln könnte ich auch falsch liegen. Melissa hingegen trug unter dem roten Mantel, den sie im anderen Raum gelassen hatte, eine ebenfalls rote Bluse und dazu einen bis zum Boden reichenden schwarzen Rock. Ihre langen Haare fielen ganz glatt – für eine jüngere asiatische Frau nicht untypisch. Erst ab dem etwas höheren Alter konnte man in Korea zumindest davon ausgehen, dass ausnahmslos jede Frau denselben Haarschnitt trug. Das war entweder so etwas wie ein Ritual, oder eine Regel die ganz vorne in einer Instruktion für das Leben der koreanischen Frau stand. Jedenfalls konnte man die Ausnahmen dieser Regel an einer Hand abzählen. Über die beiden Männer im Raum wusste ich bisher überhaupt nichts. Aber die Vorstellungsrunde war ja bereits angekündigt, daher wartete ich ab. Während ich die köstlichen Meeresfrüchte etwas sacken ließ, hörten wir aus der Küche die Geräusche von benutzten Küchenutensilien, was wohl einen Fortschritt am Hauptgericht bedeutete, vor dem die Lady in Rot mich bereits gewarnt hatte. Schließlich, nachdem die Jukebox ein etwas schaurig daherkommendes, aufgrund der leicht heraushörbaren Janggu wahrscheinlich nicht aus einem Pansori stammendes Volkslied ausklingen ließ, nahm 'Till Eulenspiegel' das Wort in den Mund: „Nun, wir sind zwar eigentlich heute hier, um über die Sache mit dem Bonobo-Affen zu sprechen, aber der Bedarf nach Hilfe geht nach unserem Kodex grunsätzlich vor.“ Er zupfte sich kurz mit der linken Hand an der zugehörigen Seite seines Schnurrbarts, während sein Sitznachbar nickte. Er fügte noch schnell besorgt, mit hochgezogener Augenbraue an: „Wir sind jetzt keine Sekte, um das klarzustellen!“ Kang Hyeonjee konnte sich ein leichtes Lachen nicht verkneifen und verwies mit ihrer rechten Hand auf ein Schild an der Wand gegenüber ihres Platzes, was ich aufgrund der auf die Raummitte zentrierten Beleuchtung vorher nicht wahrgenommen hatte. CARPE VINO CARPE OMNIA „So nennen wir uns, kann man sagen“, erklärte die braunhaarige Lady und nickte dem Schalk zu, welcher daraufhin etwas gezwungen zu mir hin nickte. „An sich kann man sagen, dass wir einfach nur eine Art Freundeskreis sind. Wir haben uns über die Jahre kennengelernt und kennen uns wohl mittlerweile besser als unsere Familien.“ „Das Entscheidende ist, dass wir uns nach einer Weile diesen Namen gegeben haben.“, entgegnete der Bartträger, womit er selbst seinem stillen Sitznachbarn ein leicht amüsiertes Lächeln auf das Gesicht setzte. „Übersetzt bedeutet es soviel wie 'Nutze das Leben, nutze alles'. Wir konnten uns irgendwie nicht für eins von beiden entscheiden.“, fuhr Kang Hyeonjee mit ihrer Erklärung fort. „Der Sinn dahinter soll sein, dass wir uns zum Ziel gesetzt haben, das Leben voll auszuschöpfen und ganz nebenbei auch anderen Leuten dabei zu helfen.“ „Obwohl uns selbst kaum zu helfen ist.“, bemerkte ein Mann, der plötzlich in der Tür zu Küche stand. Im Gegensatz zu allen anderen Anwesenden sah dieser ziemlich normal aus; die kurzen, gelockten schwarzen Haare ließen ihn auf mich in Verbindung mit der Brille recht intelligent wirken. Er trug einen schwarzen Anzug und sah durchaus festlich eingstellt aus. Während er mit der linken Schulter an der Wand lehnte, trug er unter dem rechten Arm ein, zwei braune Briefumschläge. Er wurde von den anderen erfreut mit „Jihoon!“ begrüßt, was demnach wohl sein Name war. Und der bis dahin absolut stille Mann mit der Narbe freute sich offensichtlich sehr über die Briefumschläge, wie sein Blick verriet. „Komme gerade richtig zum Hauptgang.“, bemerkte der lässig an der Wand Lehnende, als er hinter sich die Dame aus der Küche mit einem gut gefüllten Wagen heranfahren hörte. „Aber erzählt ruhig weiter, ich finde es immer wieder interessant, zu hören, wie jeder einzelne den Club beschreiben würde.“ Er ging kurz zur Jukebox und stellte wahrscheinlich irgendeinen eigenen Songwunsch in die Warteschleife, griff sich dann einen neben der Maschine stehenden Stuhl und stellte ihn verkehrt herum in den breiten Freiraum zwischen mir und dem bärtigen Europäer, ehe er sich setzte, die Arme und das Kinn auf der hohen Stuhllehne aufstützend. „Nun, ich persönlich spüre eine gewisse Art von 'Daseinsberechtigung', wenn ich anderen Leuten helfe, die ernste Probleme haben. Ich schätze ich bin hier die Motivierteste im Raum. Deshalb habe ich dich auch eingeladen, ohne groß nachzuhaken.“, versuchte Melissa die Vorstellung fortzusetzen. Ich freute mich sehr und faltete die Hände bei einer kurzen Verbeugung zu einer Dankesgeste zusammen. „Mein Name ist übrigens Melissa Chun. Ich habe in Taiwan studiert, bin aber schon vor vielen Jahren nach Seoul gezogen.“ Ich war für einen Moment sehr überrascht, denn ihre Erscheinung und ihr perfektes Koreanisch ließen mich sie bis hier für ein Koreanerin halten. Auch sah sie nicht unbedingt wie eine Person aus, die ihr Studium schon vor langer Zeit abgeschlossen hatte. Für einen weiteren Moment beäugte ich sie leicht penetrant, ehe sie fortfuhr. „Der mit der bunten Kleidung nennt sich Earl Gray, mit A. Sein richtiger Name ist uns allen ein Rätsel, er hat sich mir schon vor vielen Jahren so vorgestellt.“, gab sie nun schmunzelnd der Vorstellung der einzelnen Personen den Vorzug, bevor weiter über Carpe etc. diskutiert wurde. „Earl kommt aus Luxemburg, er hat zuvor schon in Frankreich, Deutschland und Belgien gelebt.“ „Und Italien.“, fügte der Gemeinte an. „Er ist ziemlich stolz auf seine Fremdsprachenkenntnisse.“ „Englisch, Französisch, Italienisch, Deutsch, Japanisch, Koreanisch und etwas Holländisch.“ Ich staunte nicht schlecht, war ich doch schon stolz auf mein relativ flüssiges Deutsch. Solide Englisch- und Japanischkenntnisse waren mir auch vergönnt, aber Französisch war mir wiederum so fremd wie einem Kamel der Schnee. Kurz musste ich an Ski fahrende Sultane und Scheichs denken, welche ich erst neulich erstaunt in einer Dokumentation gesehen habe. Haben sie in Dubai doch tatsächlich eine Skianlage errichtet... ich hatte – wie wohl die meisten – nur ein Kopfschütteln dafür übrig. „Der stille Herr neben ihm ist Sarge. Er ist Wahl-Amerikaner, schon sein Großvater hat im Korea-Krieg für die Amis gekämpft. Deshalb auch der Name. Sein eigentlich...“ Der Gemeinte räusperte sich in dem Moment unüberhörbar und schaute Melissa finster an. „Nun egal... man sieht es ihm nicht an, aber er ist der Gewissenhafteste von uns. Er sorgt dafür, dass wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, wenn wir irgendein gemeinsames Ziel haben.“ Ich stellte die These auf, dass die große Narbe irgendetwas mit dieser Charaktereigenschaft zu tun haben könnte – und nicht wie bisher von mir angenommen in einem Bandenstreit irgendwelcher um Einfluss kämpfenden Straßengangs. Ich tadelte mich kurz für diese Idee. Die Küchenfrau traute sich mittlerweile, in das Gespräch einzudringen und das Essen auf den großen Tisch zu stellen. Tatsächlich war ich erneut beeindruckt... nein, begeistert! Zwar wurde das Hauptgericht nicht so kunstvoll angerichtet wie die Häppchen zuvor, aber der Duft verriet mir unverzüglich: „Caldeira de Carne!“ Die drei Frauen im Raum schauten alle synchron auf, als ich das sagte. Sie hatten offensichtlich nicht damit gerechnet, dass mein Fachwissen über Gourmetkultur bis in die portugiesische Provence reichte. Aber es war lange Jahre eins meiner Hobbies gewesen, Nationalgerichte verschiedener Kulturen selbst zu kochen. Und ja, man kann sagen Caldeira de Carne gehörte definitiv zu meinen Top 3! Kurz wunderte ich mich, dass ich den herben Geruch von Weißwein nicht schon vorher bemerkt hatte, aber ich wusste auch ehrlich gesagt nicht, wie groß nun die Küche war. Nichts desto trotz... als alle einen gut gefüllten Teller des portugiesischen Weißweineintopf vor sich stehen hatten, bedurfte es keiner weiteren Erklärung, wieso die Vorstellung der Anwesenden – inklusive mir selbst – einmal mehr für eine Weile versandete. Gefräßige Stille würde man das Folgende in Deutschland nennen. Kapitel 4: Ein seltsamer Moment ------------------------------- Kapitel 4: Wie ein Blitzschlag durchfuhr es mich. Ganz plötzlich! Das Gesicht, was in meiner Erinnerung noch ziemlich lebendig war... diese Ratte... ich wusste ganz plötzlich, wo ich dieses Gesicht zuvor schon einmal gesehen hatte. Das war auf der Wache vor fünf, sechs Jahren! Ich wollte damals in einem Gerichtsprozess als Zeuge aussagen und ein widerlicher Polizist, dem ich damals auch sofort das Aussehen einer Ratte zugeschrieben hatte, wollte mich mit allen legalen Mitteln von einer Aussage abhalten. Ich kann mich noch an einige Argumente erinnern... zum Beispiel, dass ich in Folge einer Verhaftung des Angeklagten von seinen Untergebenen verfolgt werden würde und die Polizei in solchen Fällen meist nichts machen könnte... einige Zeugen seien schon auf solche Weise umgekommen, sagte er. Aber am Ende siegte der Wille der Gerechtigkeit in mir. Und der Stachel in meinem Kopf, der mir immer wieder vor Augen spulte, was ich zuvor gesehen hatte: Wie ein Mann sich gleichzeitig an drei minderjährig aussehenden Frauen verging und von einigen Kumpanen vergnügt dabei beobachtet wurde, wie er schreckliche Dinge mit ihnen anstellte. Die Mädchen hatten jeweils irgendwelche für mich unerkennbare Dinge im Mund, damit man ihre Schreie nur ganz dumpf hören konnte. Damals bin ich nur aus Zufall an den Schauplatz des Verbrechens gekommen; eine alte Lagerhalle, die mit ziemlicher Sicherheit schon lange nicht mehr für gewöhnliche Zwecke benutzt wurde. Ich suchte damals Abstand zu einer gewissen Frau, mit der ich einen Teil meines Lebens zusammen verbracht hatte und welche es für eine Weile geschafft hatte, dass mich alle Orte, teilweise sogar simple Gegenstände meines Lebens in irgendeiner Weise an sie und alles Negative an unserer gemeinsamen Zeit erinnerte. An diesem einen Abend streifte ich einfach nur zerstreut durch die Gegend... wenn ich überhaupt ein Ziel vor Augen hatte, dann war es an diesem Abend, ganz weit von ihr wegzukommen. An irgendeinen Ort, der mir das Gefühl gäbe, in einer anderen Welt zu sein. Aber stattdessen betrat ich nichts ahnend diese alte Lagerhalle und wurde Zeuge eines grausamen Schauspiels. Ich wurde damals natürlich schnell entdeckt, aber die drei Handlanger des Übeltäters kriegten mich nicht zu fassen. Obwohl ich zu der Zeit der Trennung von meiner Verflossenen noch gelegentlicher Raucher war und vor allem an diesem Abend eine Kippe nach der anderen verraucht hatte, war ich im Vergleich zu heute um einiges sportlicher und schaffte es, die Verfolger relativ problemlos abzuhängen. Im weiteren Verlauf des besagten Abends meldete ich mich bei der nächsten Wache und mit Hilfe von Fingerabdrücken und anderen Spuren in der Lagerhalle konnten die Täter zwei Tage später tatsächlich dingfest gemacht werden. Insgesamt fünf Männer konnten identifiziert werden; allesamt vorbestraft. Und vor allem derjenige, den ich aufgrund seines Körperumfangs leicht als den Haupttäter ausmachen konnte, hatte beileibe keine dünne Strafakte. Der Kläger im Prozess waren letztendlich eine Mutter und ein Vater von jeweils einem der drei Opfer, deren tote Körper in der Nähe der Lagerhalle ausgegraben wurden, bevor ein Verwesungsprozess einsetzen konnte. Mit meiner Zeugenaussage war der Prozess im Handumdrehen gewonnen und obwohl keine weiteren Opfer als die drei von mir gesehenen Mädchen (die tatsächlich allesamt minderjährig waren) ausgemacht wurden, bekamen die Angeklagten zwischen fünf Jahren und lebenslänglich aufgebrummt. Damals freute ich mich riesig und zweifelte nicht im Ansatz daran, das Richtige getan zu haben. Aber hier und jetzt... stockte ich für einen Moment und mir stieg etwas Schweiß auf die Stirn, als ich plötzlich das Gesicht dieser Person in meinem Kopf zuordnen konnte. Und während ich besorgt war, dass dieser Fall vielleicht in irgendeiner Weise noch Folgen haben könnte, war dieses Gesicht doch nur ein Puzzlestück im Ganzen, was mir leider weder meine nötigsten Sachen zurückbrachte, noch einen wirklichen Anhaltspunkt zum Handeln gab. „Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte im nächsten Moment Melissa, welche wohl den Schweiß auf meiner Stirn gesehen (oder gerochen?) hatte. Ich schüttelte kurz den Kopf und bemühte meine rechte Hand zu einer entsprechenden Geste. „Wenn Sie aufgegessen haben, könnten Sie gerne mal erzählen, wer Sie sind und was genau nun Ihr Problem ist.“ „Das würde mich auch interessieren.“, nickte mein linker Nachbar den Vorschlag ab. Er war äußerst schnell mit dem Tafeln fertig und saß mittlerweile ganz verkehrt herum – mit seinem Holzstuhl schräg an den Tisch gelehnt – und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, während er nach links zu mir herüber schielte. Die Haltung sah durchaus riskant aus und bewies keine großen Manieren, aber als Gast hätte ich dazu niemals etwas gesagt; zumal es die anderen auch nicht zu stören schien. Während ich noch dabei war, meine Gedanken zu sammeln, fiel mir einen Moment später wie bei einem Blackout das Besteck aus den Händen; der Löffel auf meinen Schoß und die Gabel auf den Boden. Beschämt bückte ich mich herunter, um die Gabel aufzuheben. Dabei erblickte ich für einen kurzen Moment eine Art Graffiti auf dem Boden unter dem Tisch. Tendentiell gelb, aber ohne Licht war es trotz der Größe kaum zu erkennen und ich bemühte mich ohnehin, schnell wieder oberhalb der Tischkante zu sein. Mittlerweile lagen die Blicke aller Anwesenden auf mir, und obwohl die Vorstellungsrunde des Clubs immer noch nicht abgeschlossen wurde, war es nun wohl an mir, mich etwas zu offenbaren. Für einen Moment dachte ich, dass es eigentlich untypisch für mich wäre, mich Fremden so einfach anzuvertrauen. Ich war schon immer tendentiell eher ein Einsamer Wolf gewesen, habe die Probleme lieber ohne fremde Hilfe bei der Hand gepackt... insofern war es schon untypisch, dass ich den tätowierten Freak auf der Straße angesprochen hatte – und noch unnormaler, dass ich seinem Tipp sogar gefolgt bin. Während ich so in die Runde schaute, vernahm ich die gespannten Blicke der Anwesenden allerdings wie ein Signal an mich selbst. In Worte gefasst in etwa: „Du bist hierher gekommen, obwohl du auch deinen Zweitschlüssel hätten abholen können – das beweist, dass du ein Vertrauen in das Unbekannte hast.“ „Ich hatte wohl längst keine Wahl mehr...“, dachte ich und musste lächeln. Nachdem ich alles erzählt hatte, was meine Erinnerungen zu dem Abend im Club Octagon preisgeben konnte – die Szenen mit den Frauen auf meinem Schoß vernachlässigte ich dabei –, herrschte ein ziemliches Murmeln in der Runde. Es wirkte etwas, als wüsste niemand so recht weiter, aber vielleicht irrte ich mich auch, denn nach einigen Sekunden ergriff der Schalk aus Luxemburg das Wort: „Nun, die Geschichte könnte interessant werden. Deine Story hilft uns gewiss, denn wir haben jemanden in unseren Reihen, der wochenendtags in dem von dir besuchten Club arbeitet.“ „Stimmt... ich war gestern natürlich dort...“, sagte Melissa daraufhin etwas zögerlich. „Aber ich kann mich nicht erinnern, dich dort gesehen zu haben. Auch einen Streit habe ich nicht bemerkt. Mag daran liegen, dass ich an der Bar hinter der Tanzfläche arbeite.“ Ich war natürlich verwundert, dass eine der hier anwesenden Personen angeblich vor Ort war, aber ihrer Angabe nach half uns das wohl nicht wirklich weiter. Obgleich ich kurz nachdachte und in meiner Erinnerung an der Theke hinter der Tanzfläche nur extrem vollbusige Mädchen gesehen hatte. Solche, welche die wohl berühmtesten Vorzüge von Gangnam wohl mindestens vier, fünf Mal in Anspruch genommen hatten... während der Brustumfang meiner Sitznachbarin sich im absolut gewöhnlichen Maß befand. „Zu schade. Aber du sagtest mal, dass du einen gewissen Einfluss hast. Kannst du nicht Kontakt zu deinen Mitarbeitern aufnehmen? Oder Aufnahmen der CCTV einsehen...?“, hakte der Earl weiter nach. „Ich weiß nicht... ich kann sicher mal nachfragen.“, antwortete die hübsche Lady in Rot erneut etwas verhalten, ehe der als Sarge vorgestellte Koreaner sich in Folge zum erste Mal aktiv in das Gespräch einmischte: „Während Melissa etwas über die Situation unseres Gastes herauszufinden versucht, möchte ich daran erinnern, weshalb wir heute eigentlich hier sind.“ „Der Bonobo-Affe?“, fragte Hyeonjee. „Ist ja irre, wie du scharf auf diese Informationen bist...“ „Er ist halt gewissenhaft. Ich möchte diesen Fall auch gerne lösen.“, stützte Melissa das Verhalten des Benarbten sofort und schaute an mir vorbei zu Jihoon, welcher mit seinem gekippten Stuhl in diesem Moment nach vorne auf den Boden aufsetzte und sich erhob. Er trug die beiden braunen Briefumschläge in seiner linken Hand und schaute kurz darauf, um dann den unteren der beiden auf den Tisch zu werfen. Sarge griff ihn sich und öffnete ihn unverzüglich. Nach dreißig Sekunden des Lesens wurde sein Gesichtsausdruck bereits etwas finster und nach einer vollen Minute legte er den Umschlag vor sich hin und schaute Jihoon leicht verärgert an: „Was soll denn das?“ „Wieso? Ich sollte etwas über Bonobo-Affen herausfinden, hier hast du das Ergebnis meiner Recherche. Ich habe mir extra das Buch 'Bonobo Sex and Society' von Frans B. M. De Waal aus einer Bibliothek besorgt.“ Während die restlichen Anwesenden in heiteres Gelächter verfielen, schien die Antwort dem strengen Koreaner nicht so sehr zu gefallen: „Gib mir lieber gleich den anderen Umschlag!“ „Sie doch nicht so ernst.“, versuchte ihn Kang Hyeonjee mäßigem Erfolg zu beruhigen. Schließlich warf der Koreaner mit den gelockten Haaren ihm auch den anderen Umschlag zu und zumindest schien dieser keine weiteren Scherze zu enthalten, da der Prozess des Lesens diesmal deutlich länger andauerte. Bei dem gemeinten Bonobo-Affen handelte es sich um einen Kerl, welcher sich den vorherigen Nachforschungen zu Folge jeden Tag mit mindestens einer anderen Frau vergnügte, zumeist ohne groß um Erlaubnis zu fragen. Manchmal gegen Bezahlung, manchmal mit Einschüchterung, manchmal mit Gewalt... So kam es, dass eine Woche zuvor ein Opfer dieses Perverslings von einem 'tätowierten Spinner', wie sie selbst sagte, zu der SonderBAR geschickt wurde und im Anschluss mehr oder weniger dasselbe tat wie ich an diesem Abend. Ich hatte langsam den Eindruck, dass hinter der verrückten Fassade dieser Typen tatsächlich eine wohltätige Organisation stecken könnte. „Wer hilft schon freiwillig fremden Leuten?“, fragte ich mich für einen Moment, überlegte dann aber, dass es diesen sonderbaren Gesellen scheinbar Spaß machte, eine Aufgabe zu haben. Vielleicht hatte Melissa auch einfach die pure Wahrheit gesagt und fühlte sich als Samariterin schlichtweg super. Am Geld schien es den Damen und Herren zumindest nicht zu hapern, das zeigte bereits das Essen oder auch die schicke Kleidung jedes einzelnen. Im nächsten Moment summte das Handy meiner rechten Sitznachbarin und sie teilte uns bedauerlicherweise mit, dass sie keinen Zugriff auf die Aufzeichnungen der CCTV bekommen könne. Da aber Samstag war, würde sie an diesem Abend erneut dort arbeiten und auf jeden Fall den Chef persönlich fragen, falls er sich die Ehre geben würde. Ich war etwas enttäuscht, aber freute mich gewissermaßen auch darüber, dass mir scheinbar ohne Bezahlung geholfen wurde. Ein wirklich schönes Gefühl, dass ich länger nicht mehr hatte. Das lag vielleicht daran, dass ich generell ein Mensch war, der Problemen möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten versuchte und daher auch selten Hilfe benötigte. Aber bis auf meinen besten Freund Seung fiel mir spontan auch niemand ein, dessen größere Hilfe ich in den letzten Jahren in Anspruch genommen hatte. In Folge schwenkte das Thema der Runde gänzlich auf die Sache mit dem Bonobo-Affen um. Unter anderem kam die Diskussion auf, ob dem böse Mann psychische, nymphomanische Schäden anzulasten wären, denen zu Folge er zwanghaft koitierte. Jedenfalls schien dieser Jihoon auf irgendeine unerläuterte Weise herausgefunden zu haben, wer dieser Mann sein könnte. In dem braunen Briefumschlag steckten in erster Linie drei 'Charakterprofile' von verschiedenen Männern, welche sich mir laut der Diskussionen als die drei möglichen Täter erschlossen. Vor allem Sarge und Melissa diskutierten angeregt darüber, wie man als nächstes verfahren könnte. Ich las mir nebenbei die erste Seite aus den Nachforschungen über Bonobo-Affen durch: „Die Interaktionen zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern sind meist friedlicher als bei anderen Primaten und beinhalten häufig Sexualverhalten. Dies dürfte der Reduktion von Spannungen dienen und wird unabhängig von Alter, Geschlecht oder Rangstufe ausgeübt. Auch das Gewähren sexueller Kontakte zum Nahrungsaustausch ist verbreitet. Bonobos praktizieren eine Vielfalt von Sexualkontakten, die auch Kopulationen mit einschließen. Der Geschlechtsverkehr kann auch mit zugewandten Gesichtern erfolgen, was bei Gemeinen Schimpansen selten ist [...]“ „Wieder etwas gelernt...“, dachte ich amüsiert. Bevor ich weiterlesen konnte, tippte allerdings der mir bisher noch am allermerkwürdigsten erscheinende Jihoon mit dem Zeigefinger an meine linke Schulter und bat mich mittels einer deutlichen Geste nach draußen vor die Tür. Ich folgte ihm neugierig. Die anderen vier Personen vermerkten unseren Abgang zwar, aber niemand schien sich etwas dabei zu denken, nahm doch ihre Diskussion um die Jagd nach dem Bonobo-Affen weiter Fahrt auf. Kapitel 5: Zwei seltsame Angestellte ------------------------------------ At first, I couldn't do good because I was busy Later, I only made hurt because I was bad At that time, I didn't know that it were the last tears Even though I lacked, I couldn't give anything Now that you're gone, I can't do anything At that time, I didn't know that if it's not that time, it doesn't matter At that time, you're there in that distance Now, I'm here in this distance We're talking to each other from far away I love you, I love you, I love you At that time, you were waiting for me, And now, I'm waiting for you Because it's a different time, we can't meet I'm sorry, I'm sorry, I'm sorry Say goodbye War ich kurz zuvor noch fast eingenickt, ließen mich diese Zeilen plötzlich wieder zu klarer Besinnung kommen. Obwohl ich den Song noch nie gehört hatte, fühlte ich von Beginn an eine gewisse Wärme, etwas... Spezielles. Vielleicht war es einfach die Harmonie zwischen der Gitarre und der angenehm warmen männlichen Stimme. Wahrscheinlich trafen diese Zeilen inhaltlich auf eine Situation zu, in der sich so einige Leute schon einmal befanden. Allerdings nicht ich... ich befand mich zwar vor einigen Jahren schon einmal in den festen Seilen einer nicht unbedingt funktionierenden Liebesbeziehung, aber es gab keine Situation, wo ich später noch einmal das Bedürfnis verspürt hätte, die schon im Kapitel zuvor erwähnte Frau wieder zu treffen. Und ebenso war davon auszugehen, dass meine Verflossene nicht so fühlte. Aber nichts desto trotz ein schöner Song... Im nächsten Moment wurde mir bewusst, dass das Erwachen aus meinem Minutenschlaf eher daran lag, dass der Schalk die Klimaanlage angemacht hatte und mir jetzt ein leichter, warmer Wind ins Gesicht bließ. Zur Situation – ich saß auf dem Beifahrersitz eines alten Autos, welches ich definitiv noch nicht zuvor in Korea gesehen hatte, und lauschte dessen leicht rauschenden Autoradio. Neben mir auf dem Fahrersitz saß Earl Gray, der bunte Vogel der Truppe aus der SONDERbar. Nachdem die Konversation sich dort nicht weiter um mein Problem gedreht hatte, zeigte der angeblich aus dem Fürstentum Luxemburg stammende Earl Erbarmen und ging ebenfalls vor die Tür, wo ich gelangweilt an einem etwas staubigen Holzbalken lehnte, während Jihoon eine extra lang gedrehte Zigarette rauchte. Tatsächlich hatte mich dieser Kerl scheinbar nur nach draußen gebeten, weil er beim Rauchen Gesellschaft haben wollte. Falls er mich doch irgendetwas fragen wollte, vergeudete er diese Gelegenheit jedenfalls gekonnt, bis schließlich sechs, sieben Minuten später auch der Earl nach draußen kam. Ohne ein Wort zu dem vergnügt Rauchenden bat er mich, mit ihm zu seinem Wagen zu gehen, da er sich sicher war, dass wir noch heute an die CCTV-Aufnahmen des Clubs meiner Probleme kommen sollten, welche die hübsche Melissa angeblich selbst als Mitarbeiterin nicht besorgen konnte. Ich war ihm zweifelsohne sehr dankbar, schon alleine die Geste war überragend. Dass es immer noch Menschen gibt, die einem einfach so helfen... ...Irgendwie zu schön um wahr zu sein. Jihoon winkte uns lächelnd zu, als wir ihn mit dem Wagen passierten. Ich konnte nicht ausmachen, ob er wusste, was wir vorhatten, aber ich nahm spontan an, dass es ihm komplett egal war. Nach ungefähr zwanzig Minuten Fahrt fuhren wir bereits in Apgujeong ein, dem nordwestlichen Nachbarbezirk von Gangnam. Hier arbeitete ich früher mal für zwei Jahre in einem Restaurant, während ich zeitgleich mein Studium abschließ. In Korea war es normal, dass man als Student ein oder sogar zwei Nebentätigkeiten nachging, um Geld zu verdienen. Im Vergleich zu Europa, wie mir einige Freunde während meines ersten Auslandsaufenthaltes mitgeteilt hatten, war das Studien- und Arbeitssystem in Korea hart. Asiatisch hart kann man wohl sagen, da es in China oder Japan nicht groß anders war. Es ging in einigen Familien so weit, dass die Studenten pro Semester sieben Fächer belegen und diese auch mit annehmbaren Noten abschließen mussten, um ihr Studium so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und arbeitstätig zu werden. Versagen konnte mitunter zu Strafen bis hin zu Enterbung führen, wie mir einmal eine Freundin mitteilte, welche nahe der Klausurenphase stets ein Bild des Jammers abgab. Als ich ihr einmal empfahl, ihre härtesten beiden Kurse auf das folgende Semester zu verlegen, zeigte sie mir den Vogel und erzählte mir von dem Druck ihrer Eltern. Aber es war nicht nur sie, die so unter dem Studiensystem litt – irgendwoher müssen ja die Leute kommen, die dafür sorgen, dass während der studentischen Klausurenphasen jede Nacht sämtliche 24 Hour-Coffeeshops in ganz Seoul voll besetzt sind. Der Ursprung dieses innerfamiliären Drucks liegt zweifelsohne in den immens hohen Gebühren, welche die Familien für gewöhnlich dafür bezahlen, dass ihre Kinder überhaupt erst die Chance erhalten, an einer stattlichen Universität studieren zu dürfen. Ich dachte für einen Augenblick, wie es besagter Kommilitonin wohl heute ginge und ob sie tatsächlich dem Wunsch ihrer Eltern nachgegangen ist – Star-Anwältin zu werden. Da wir der berüchtigten Seouler Rush Hour zuvorgekommen waren, sah ich aber auch schon im nächsten Moment das New Hilltop Hotel, in dessen Keller der Club Octagon residierte. Der Earl hatte schon einen recht rasanten Fahrstil; aber das machte mir nichts aus, ganz im Gegenteil. Schließlich parkte er seinen schicken Wagen neben einem Seven Eleven, zwanzig Meter entfernt vom Hotel- bzw. Clubeingang. Beim Aussteigen musterte ich den schicken Wagen noch einmal genauer. Die Hauptfarbe war ein leicht bräunliches Orange, der Lack war in bemerkenswert gepflegtem Zustand. Zwei schwarze Rallyestreifen zierten den kompletten Wagen von hinten nach vorne, alleine deshalb schon fiel der Wagen auf. Die Stoßstangen an der Vorderseite waren stark ausgeprägt und das Metall etwas korrodiert. Seitlich neben den Frontleuchten waren je zwei Furchen, deren Funktion ich als eher flüchtiger Autokenner nicht zu identifizieren vermochte. „Ein Ford Mustang, Baujahr 69. Aus Großbritannien importiert. Man kann sagen ich bin Autosammler.“, bemerkte der Besitzer meine interessierten Blicke und klärte mich etwas auf. Ich dachte mir schon, dass dieser Earl Gray kein Kind von Armut war, Autos sammeln empfand ich dann allerdings doch als ein ziemlich exquisites Hobby. Aber ich entgegnete nur ein Interesse ausdrückendes „Oah“ und wir machten uns gleich darauf auf den Weg in den Club. Für einen Moment fragte ich mich kurz, ob in ein Club denn um diese Tageszeit überhaupt Personal beschäftigte, aber gerade als wir den Club passieren und in das Hotel gehen wollten, öffnete sich die silber-schwarze Tür und zwei Männer kamen heraus, um sich im nächsten Moment eine Zigarette anzuzünden und sich in einem interessanten Akzent ausgelassen über einen aktuellen Unfall eines Firmenwagens der JYP-Company unterhielten, in dem angeblich ein den Medien noch nicht bekannter Star schwer verletzt wurde. Earl Gray wartete einen Moment ab und trat dann zu den beiden vermuteten Angestellten. „Einen schönen guten Tag die Herren. Ist zufällig gerade der Besitzer oder sonst jemand im Club, der hier das Sagen hat?“ Die beiden Männer schauten erst meinen Begleiter und dann sich gegenseitig entgeistert an und überlegten offensichtlich, welche Antwort sie für sinnvoller hielten, ungeachtet der Wahrheit. Earl Gray erkannte das auch sofort und wartete nicht lange: „Wir sind Sonderermittler und benötigen Zugriff auf das Band einer Überwachungskamera.“ Während ich erwartete, dass die beiden kantigen Burschen nun aufgrund der dem Argument entgegen stehenden Kleidung des Luxemburgers laut loslachen würden, reibte der eine stattdessen seinen rechten Daumen an Zeige- und Mittelfinger, so wie man es für gewöhnlich macht, wenn man von jemandem Geld haben möchte. Aber mein Begleiter war darauf vorbereitet: „Ach so sind wir hier drauf...? Nun, Geld ist nicht das Problem. Wenn ihr uns besorgt, was wir brauchen, soll die Entlohnung nicht zu gering ausfallen.“ Das war wohl das Stichwort, denn die beiden schnipsten ihre gerade angefangenen Zigaretten weg und verschwanden schnurstracks wieder durch die Tür, durch die sie gekommen waren. Ich schaute den Earl etwas verdutzt an, aber er lächelte zufrieden. „Ich hatte erwartet, dass ich erst mit der goldenen Kreditkarte wedeln muss.“ „Aber ist es denn okay, wenn Sie einfach Ihr Geld dafür benutzen, jemandem zu helfen, den sie nicht kennen?“ „Natürlich, ich habe gerade sonst nichts zutun.“ Während ich noch versuchte, zwischen den Zeilen dieser Antwort zu lesen, passierten hinter uns zwei Frauen den Bürgersteig. Während ich die eine dafür argumentieren hörte, dass mein Begleiter doch selbst für einen Ausländer wirklich seltsam aussähe, schien die andere ziemlich angetan von dem Begleiter des verrückten Vogels zu sein, mir. „In Gangnam kann halt schon ein teurer Mantel für grundsätzliches Interesse sorgen“, dachte ich seufzend, als ich an mir herunter schaute. Denn einen anderen Grund dürfte es in diesem Moment nicht gegeben haben, so mitgenommen von den Strapazen der vergangenen Nacht, wie ich immer noch aussah. Nach einem Moment trat einer der beiden Männer wieder aus dem Club heraus und fragte, welche Aufnahmen wir überhaupt wollten, also von welchem Bereich und von welcher Uhrzeit. Ich erklärte ihm, dass ich Aufzeichnungen von letzter Nacht aus dem zweiten Untergeschoss benötigte, am liebsten aus sämtlichen Bereichen. Der Kerl verschwand daraufhin wieder und ließ uns in Folge geschlagene zwanzig Minuten im Freien warten. „Wir haben Ihnen einfach alles auf eine Disc kopiert. Aber das kostet, ganz legal ist es schließlich nicht!“, forderten sie schließlich, als sie zu zweit wiederkamen. Der Earl hatte dies zwar scheinbar erwartet, war aber nur bedingt zufrieden: „Bevor ich hier irgendetwas bezahle, möchte ich das Material zuerst testen. Sie können uns ja auch einen Porno auf die CD gebrannt haben!?“ „Ich bitte Sie...!“ „Alles schon erlebt.“ „Wirklich? Nun...“ „Nun?“ „Ehrlich gesagt haben wir zwar versucht, Ihnen die Daten zu brennen, aber genau genommen... wissen wir gar nicht wie das überhaupt geht. Daher hab ich Ihnen einfach eine CD mitgebracht, die in der Nähe la..“ mein Begleiter unterbrach den Mann mit einem Schnipser gegen seine Stirn. Zu mir gewandt sagt er: „Wenigstens eine halbwegs ehrliche Haut. Ich denke sie haben nichts dagegen, wenn wir einfach mal mitkommen und uns das Material unten anschauen.“ Ich hatte Respekt davor, dass der Earl scheinbar keine Angst vor den keineswegs schmächtigen Burschen hatte, die vor allem geistig eher schlicht erschienen, was bei nicht wenigen Leuten eine schnellere körperliche Handlungsbereitschaft mit sich brachte. Aber während ich erwartete, dass die beiden uns drinnen im dunklen Club vielleicht versuchen würden, gewaltsam die Kohle aus den Taschen zu ziehen, verlief der weitere Prozess überraschend flüssig. Wir folgten den beiden in einem Moment durch die Tür, in dem der hin und wieder zu uns herüber blickende Hotel-Türsteher abwesend war und fanden uns auf der Eingangstreppe zum oberen Untergeschoss des Clubs wieder. Nach einem kurzen Gang führten sie uns schließlich zu einem Videoraum und der Earl erwies sich sogleich als Mann vom Fach, als er die Gewalt über den großen Monitor mit den vielen Bereichen übernahm und in nur ein paar Sekunden die Zeit bis auf die vergangene Nacht zurückspulte. Die beiden Männer staunten darüber ebenfalls nicht schlecht, ehe einer sich dazu entschloss, sich draußen vor dem Club zu postieren, um sicher zu gehen, dass kein Höhergestellter plötzlich kommen und stören könnte. Während ich in Folge intensiv das Geschehen in den treppennahen Bereichen beobachtete, welches sich um 3 Uhr herum abspielte, amüsierte sich Earl Gray neben mir ziemlich. Auf meine Frage nach dem Grund deutete er auf die Aufnahme des Bereiches hinter der Tanzfläche, in dem ich tatsächlich sogleich Melissa Chun erblickte, welche im Standard-Dress der vollbusigen Club-Bediensteten einige Probleme hatte, da ihr offensichtlich ein Träger des sehr eng ansitzenden Oberteils gerissen war. Im nächsten Moment waren sowohl Earl Gray, als auch ich und der verbliebene Clubangestellte leicht am Kichern. „Kein Wunder, dass sie niemanden die Aufnahmen von letzter Nacht sehen lassen wollte.“, gluckste der Earl amüsiert und versuchte, die Szene auf dem großen Monitor noch etwas zu vergrößern. Nachdem er Melissas ungefähr zwei Minuten langen Kampf mit dem Träger sogar noch einmal wiederholt abgespielt hatte, wendete er sich schließlich den Bereichen zu, in denen ich mich zu diesem Zeitpunkt aufgehalten zu erinnern gedachte. Kapitel 6: Ein seltsames Anwesen -------------------------------- Ich lag ausgebreitet auf einem großen Bett aus Daunen, die Hände hinter meinem Kopf zusammen gefaltet, Löcher in die Luft starrend. Während ich mich an sich freute, dass dieses Bett deutlich gemütlicher als mein eigentliches war, obsiegte gedanklich im Allgemeinen eher der Frust darüber, dass ich im Falle meiner verlorenen Nacht keinen Schritt weiter gekommen war. Es war weg. Einfach schwarz... der Ausschnitt auf der großen Videoleinwand, welcher den Bereich vor der Treppe des Clubs anvisierte, war ab 3:15 Uhr nicht weiter vorhanden. Wir konnten nicht überprüfen, ob die Kamera ausgeschaltet wurde, falls ja wie man das hätte anstellen können, oder was sonst passiert sein konnte. Dazu fehlte uns das nötige Wissen, genau so wie dem Clubangestellten, der sich mit uns im Videoraum befunden hatte. Es war zumindest kein Videotape entwendet worden. Aber dennoch sagte mir das Schwarze, dass irgendwas total im Argen steckte... dass das alles irgendeinen größeren Sinn haben musste. So gesehen war ich dann doch einen klitzekleinen Schritt weiter als noch fünf Stunden zuvor in der SONDERbar. Als Earl Gray und ich den Club verlassen wollten, kam im Übrigen der Schmiere stehende Türsteher mit einem weiteren, noch deutlich muskelbepackteren Kollegen an und wollte uns schick erpressen. 200.000 Won pro Person standen zunächst im Raum, aber der Earl zog bloß unbeeindruckt ein Pfefferspray hervor und sprühte es dem Neuzugang blitzschnell in die Augen, ehe er den heranstürmenden Anderen mit einer eleganten Bewegung von den Beinen holte. Ich war beeindruckt, schaltete aber ebenso schnell und wehrte einen Angriff des dritten Mannes ab, der hinter mir vor der Videoleinwand stand und zu einem Schwitzkasten ansetzen wollte. Im Anschluss klatschte ich mich mit meinem Partner ab und wir huschten zum gott sei Dank nicht verschlossenen Ausgang. Der Luxemburger sprach davon, Melissa bei der nächsten Gelegenheit von ihrem Job in diesem Schuppen abzuraten, aber an sich machte er den Anschein, dass er die Action eher genoss. Wahrlich ein seltsamer Genosse, den ich da kennengelernt hatte. Später fuhren wir mit seinem Wagen bei meinem Vermieter vorbei und mussten feststellen, dass dieser nicht zu Hause war. So kam es dann, dass der Earl mich kurzerhand bei sich zu Hause absetzte und mit den Worten „Tanken Sie unbedingt etwas Schlaf, Sie sehen fürchterlich aus“ in dieses schmucke Gästezimmer führte, wo ich jetzt lag und mir Gedanken machte. Er selbst hatte sich direkt wieder auf den Weg gemacht, etwas zu erledigen. Ich war definitiv überrascht, dass er mir die Aufsicht über seine Wohnung überließ, obwohl ich ihn doch erst an diesem Tag kennengelernt hatte, aber ich fragte ihn diesbezüglich nicht nach dem Grund seines Vertrauens und seiner Großzügigkeit einem Fremden gegenüber. Die Antwort hätte warscheinlich wieder in einer ähnlichen Richtung wie 'Ich habe gerade sonst nichts zutun' gelegen. Nun, wirklich müde fühlte sich nur mein Körper... mein Geist war rastlos und wollte Antworten auf die offenen Fragen. Nach einer Weile stand ich gar auf und begann, mich umzuschauen. Earl Gray war Besitzer eines ganzen Hauses, zweistöckig. Ein sehr untypisches Apartement für Seoul, auch wenn es an sich eng an eng zwischen zwei anderen Häusern stand und das oberste Gebot der Platznutzung damit quasi erfüllt war. Aber irgendwie wirkte es anders, genauso wie das Auto und der Earl selbst. Er wirkte ein bisschen deutsch für mich und dennoch ganz anders als alle Leute, die ich zuvor getroffen hatte. Wie aus einem Film oder aus einer völlig anderen Kultur gerissen. Ich schaute aus dem Fenster und mein Gesicht empfing einen leicht feuchten Windstoß. Das tat sehr gut, denn der Tag war ziemlich schwül; bis auf dem Weg von meinem Vermieter zu diesem stolzen Anwesen hin plötzlich ein leichter Schauer einsetzte. Ich schaute mich um. Die äußeren Wände des Hauses waren fast vollständig von einer Efeu-ähnlichen Rankpflanze bedeckt, ebenfalls nichts Alltägliches in dieser gut bewohnten Stadt. Eine Einfahrt führte zu einem kleinen Vorhof und drei Garagen. Ich fragte mich, was für Autos wohl in den anderen beiden Garagen parkten – und wo er den Rest verstaute, wenn er denn ein Sammler war. Ich öffnete mutig die Tür zum Flur, durch die ich in das Gästezimmer gekommen war, welches sich im zweiten Stock befand (welcher, wie ich anmerken möchte, in Korea der 3.Stock ist). Zu meiner Rechten war direkt die Treppe nach unten, aber ich schaute mich hingegen im Flur um und entdeckte einige sehr hübsche Gemälde mir bekannter Maler. Einen Mitsuoki und Le Presque Cercle von Hundertwasser vermochte ich sofort zu identifizieren. Zudem stand in der hinteren Ecke vor einer Tür aus hübschem Ahornholz (meiner Schätzung nach) ein Kleiderständer, an dem unter Anderem mein beigefarbener Mantel von Cinque hing, den ich ehrlich gesagt schon fast wieder vergessen hatte. Ich schritt langsam über den dunkelgrauen Flurteppich und fühlte aus purer Neugierde einmal in die samtigen Taschen des Mantels, aber dort befand sich nichts außer einem benutzten Taschentuch, welches auch vorher schon dort war – mir unbekannt, ob ich es selbst benutzt hatte. Als Nächstes öffnete ich die dunkle Tür neben dem Jackenständer und ging vorsichtigen Schrittes in ein sehr geräumiges Zimmer mit einer Bar zur Linken, einem großen Holztisch in der Mitte und hochwertig erscheinenden Sofas im Bereich dahinter. Ziemlich edel.... Es war zwar erst zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags, aber aufgrund des Wetterwechsels war der so sonnig beginnende Tag schon jetzt so finster geworden, dass ich mich nach einem Lichtschalter umschaute, um den Raum etwas zu erhellen. Tatsächlich fand ich keinen und so verließ ich den Raum etwas enttäuscht wieder. Ein kleiner Schub meiner Neugierde ließ mich aber dennoch auch die Tür zum Nachbarraum öffnen, in dem sich der Earl allem Anschein nach eine Privatbibliothek eingerichtet hatte. Das Interessanteste an diesem Raum war, dass er zwar nicht weit nach hinten reichte, aber dafür bis in den Stock darunter. Man konnte dazu eine Wendeltreppe aus einem ebenso dunklen, aber im Vergleich zu den Raumtüren etwas anderstönigem Holz benutzen, während an beiden Seiten des Raumes einfach sich in ihrer Höhe über beide Stockwerke erstreckende Regale platziert waren, die eine beeindruckende Menge an Büchern beherbergten. Dass die Regale durch den Boden weitergingen, konnte ich dadurch erkennen, dass der Boden aus Glas war. Eine sehr interessante Konstruktion, die den Hobbyarchitekten in meinem Kopf sofort begeisterte. Ich nahm mir aus dem Regal zu meiner Linken ein paar Bücher heraus und musterte ihre Titel. Die Autoren der beäugten Werke kamen den Namen nach aus aller Welt und auch thematisch konnte ich soweit keine Ordnung oder Vorliebe des Earls erkennen. Einige waren eher wissenschaftliche, andere erschienen mir eher brauchbar als gemütliche Abendliteratur. Das einzige Werk, welches ich kannte, war The Poet von Yi Munyeol. Einer meiner erklärten Lieblingsautoren, denen ich seit Jahren den Literatur-Nobelpreis wünschte, wenngleich dieser in Korea ein wenig problematisch anzusehen war (→ Anm.). Ein großes Fenster am Ende des Raumes sorgte für ausreichend Licht in diesem Raum, während im Stockwerk darunter an Stelle eines weiteren Fensters ein großes Gemälde hing, welches von oben aussah wie ein traditionelles koreanisches, wie sie zu früherer Zeit auf Seide oder Maulbeerenpapier gemalt wurden. Um es zu identifizieren, stieg ich die Wendeltreppe hinten rechts hinab. Es war angeblich ein Original von Yu Sok, wie es auf einem Schild neben dem Gemälde stand. Meine Begeisterung über die Person Earl Gray wuchs noch einmal um Einiges an, da er Kunst definitiv zu schätzen wusste. Gleichzeitig fragte ich mich allerdings auch, was ihn zu seinem Reichtum verholfen hatte, denn das Anwesen und seine Schätze waren nichts, was sich ein Durchschnitts-Geschäftsmann oder gar jemand ganz Gewöhnliches leisten könnte. Vom unteren Abschnitt der Bibliothek führte ebenfalls eine Tür zum (so müsste es jedenfalls theoretisch sein) Flur des mittleren Stockwerkes, aber sie schien nicht zum Gebrauch, da vor ihr ein Holztisch stand, der den Durchgang versperrte. Auf ihm eine Menge Akten, die ich trotz Neugierde dem Gastgeber zuliebe nicht auch noch durchwühlen wollte, zumal das Licht hier unten eher spärlich war. Ich stieg die Wendeltreppe wieder nach oben und schaute, ob ich irgendwo Spuren hinterlassen hatte; dann verließ ich die Bibliothek und legte mich wieder in das Daunenbett des Gästezimmers. Wirkliche Ruhe oder annähernde Zufriedenheit wollten in meinem Kopf nach wie vor nicht aufkommen... immerhin erspähte ich nach einer Weile in einer Ecke des Raumes einen antik aussehenden Plattenspieler – eher noch ein Grammophon – und schaffte es tatsächlich erfolgreich, der aufliegenden Platte ihre Töne zu entlocken. Es dauerte einige Minuten, bis ich mich an den Klang des Geräts gewöhnte, aber die Musik half mir schließlich, zeitnah etwas Schlaf zu finden. Ah, here she comes Truckin' Well, Lucy Walkin' down main street lookin' down Looks like a Wow! Talk about it! Stop lyin' Stop lyin' Stop lyin' Lucy Kapitel 7: Eine seltsame Unterhaltung ------------------------------------- Melissa Chun: „Also du hast den Kerl bei dir zu Hause übernachten lassen und fährst einfach weg?“ Earl Gray: „Exakt.“ M: „Ich glaube ja an das Gute im Menschen, aber geht das nicht etwas zu weit...?“ E: „Ach was, meine Intuition hat mich nie wirklich betrogen.“ Sarge: „Bis auf das eine Mal mit dem Bienenstock.“ Hyeonjee Kang: „Oh? Erzähl, erzähl!“ E: „Haha... ich war damals mit Sarge und einem Kollegen in Rumänien campen...“ M: „Ihr macht Sachen...“ H: „Und dann?“ S: „Er hat auf der Suche nach Feuerholz einen Bienenstock gefunden.“ E: „Gehörte wahrscheinlich zu einer alten Imkerei... obwohl in der Nähe kein Haus war. Etwas seltsam, keine Ahnung.“ H: „Aahaa.“ S: „Und dann hat er sich etwas Honig ausgeborgt und als Dank eine Tracht Prügel bekommen.“ H: „Von einem Imker???“ S: „Nein nein, von den Bienen. Das Gesicht hättet ihr sehen sollen!“ E: „Gut, dass wir keine Kameras hatten. Ich spür die Schmerzen heut noch, wenn ich fest genug daran denke...“ M: „Also hat auch Mister 100% mal für etwas die Rechnung bekommen.“ E: „Du darfst mich gerne Mister 99% nennen, wenn es dir lieber ist.“ H: „Ich auch?“ E: „Warte, nennt mich lieber Mister 98%. Ich habe vor einigen Jahren mal einen Korb bekommen...“ M/H: „Du interessierst dich für Frauen??“ E: „Haha... mag man gar nicht annehmen.“ H: „Du hast nie über eine gesprochen.“ M: „Und du siehst nicht so aus.“ E: „Wie darf ich das dann verstehen? Nur weil ich nicht Anzüge von Burberry trage oder nachts ins Octagon gehe?“ M: „...Ja, so in etwa.“ H: „Wieso gerade Burberry?“ E: „Cerruti, Regent, Hugo Boss, Brioni... gefällt mir alles nicht.“ H: „Ich glaube auch Leute in gewöhnlicher Alltagskleidung landen manchmal bei Frauen...“ E: „Ich sprach ja auch nur von einem Korb.“ H: „Waaaas? Earl Gray ist ein waschechter Casanova?“ E: „Oh mann....“ H: „Würde mich trotzdem interessieren, woher du überhaupt solche Marken kennst. Solange ich dich kenne, trägst du nur seltsames Zeug.“ E: „Ich habe mal beim DMI hospitiert.“ M: „Wo bitte?“ E: „Beim Deutschen Modeinstitut in Krefeld. Ist nicht so weit von Luxemburg.“ S: „Was du nicht sagst...“ H: „Earl Gray bei einem Modeinstitut?“ E „Vielleicht hat das dazu geführt, dass ich danach keine Lust mehr auf Anzüge, Sakkos, weiße Hemden, Lackschuhe und Unterwäsche von Calvin Klein hatte...“ H: „Genial, genial!“ E: „Ah?“ M/H: „Schon gut.“ S: „Wir schweifen ab.“ M: „Was du nicht sagst...“ S: „Kann man jemand dieses Gewimmer in der Jukebox ausmachen?“ H: „Das ist Jihoons Lieblingssong.“ S: „Aber Jihoon ist nicht da. Und ich muss mich konzentrieren!“ H: „Von mir aus kannst du was anderes anmachen...“ M: „Aber kein Heavy Metal!“ S: „Thrash Metal...?“ E: „Ich bezweifle dass es sowas auf der Jukebox gibt.“ S: „Exodus...?“ E: „Reden wir über den Bonobo-Affen...“ S: „Ich habe die Daten von Jihoon genau überprüft, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Spur uns wirklich zu dem Kerl führt.“ E: „Klär uns auf.“ S: „Ji ist ja wirklich gut im Beschaffen von Informationen, aber diesmal hat er auch Infos von mir bisher unbekannten Klienten und Bekannten bekommen, deren Wahrheitsgehalt ich anzweifle. Jedenfalls soll der Bonobo kein Geringerer sein, als...“ M: "Kunstpause? Jetzt kommt's!" S: „...unser werter Herr Außenminister persönlich.“ H: „Was???“ M: „Na das ist ein Ding...“ E: „Interessant, wenn das wahr wäre.“ S: „Ich zweifle wie gesagt...“ M: „Andererseits waren Jihoons Informationen bisher nie falsch. Er ist überhaupt der Grund, dass wir so erfolgreich operieren.“ H: „Aber ich wundere mich, dass er nichts dazu gesagt und Sarge einfach nur den Umschlag gegeben hat. Ich mein... anstatt uns mit seinen Neuigkeiten zu schocken.“ E: „Das ist doch typisch Ji, findest du nicht? Außerdem war noch jemand Unbeteiligtes im Raum.“ S: „Das ist richtig...“ M: „Naja dann lasst uns einfach warten, bis er wieder am Start ist.“ E: „Ach by the way... ich war vorhin im Octagon...“ M: „Halt die Klappe!!!! Typisch du wieder!“ E: „Ach wieso denn?“ M: „Ich seh doch in deinem Gesicht, worauf du hinauswillst!“ E: „Siehst du das auch, Sarge?“ S: „Neee...“ H: „Also ich kann es mir ungefähr denken“ =P Kapitel 8: Seltsames Träumen ---------------------------- 5 Uhr morgens. Mit einem unüblich lauten Gähner entstieg ich einem eher seltsamen Traum, gerade noch bevor dieser mich in einen unheilvollen Abgrund stoßen wollte. Ich war eine Mischung aus froh und genervt, aber meine Träume waren in den letzten Woche alle ähnlich abstrus und schlugen teilweise ihre Kerben in meine mentale Verfassung. Genau genommen war die Uhrzeit gar nicht so unpassend, denn ich hatte am Vorabend mit Hilfe der Klänge von Parliaments 'Chocolate City' relativ früh Schlaf gefunden und mich in meiner Gedankenwelt verloren. Aber was ist schon 'passend', wenn man so eigenwillige Träume hat, die einen zu jeder x-beliebigen Zeit zurück ins Wach schießen können... Ich schaute mich kurz um und realisierte, dass ich nicht zu Hause war. Tatsächlich störte mich der Umstand im ersten Moment nicht sonderlich, da das Gästebett in Earl Grays schickem Anwesen längst nicht so durchgelegen wie mein eigenes war, darüber hinaus mit einer Federkernmatratze und einer angenehm fluffigen Decke ziemlich gemütlich. Ich entschied, die Zeit bis zum Morgengrauen abzuwarten, welches Mitte November meiner Schätzung nach so gegen sieben Uhr eintreten würde. Etwas anderes blieb mir auch kaum übrig, da ich mit dem Earl nicht weiter geredet hatte, wie man verfahren würde. Es hieß nur ich könne mich ausruhen und die Nacht verbringen. Abendessen hatte ich keines, ich wusste nicht mal wo ein Kühlschrank stand. Vielleicht in dem Zimmer mit der Bar, aber weder wollte ich mich einfach bedienen, noch unbedingt im Dunkeln in einem fremden Anwesen rum...'schnüffeln'. Also dachte ich stattdessen weiter über die Traumwelten nach, welche mir mein Erinnerungsvermögen noch preisgab. Das waren gar nicht allzu viele, selbst die seltsamsten verblieben oft nur zwischen fünf und zehn Sekunden in meinem Gedächtnis, ehe sie komplett verschwanden und mich geradezu nackt in der Realität liegen ließen. Es gab Momente, wo ich darüber nachgedacht hatte, ob ich vielleicht geistig nicht ganz auf der Höhe war. Eine Bekannte hatte mal erzählt, dass sie ihre Träume sogar lenken konnte. Erst nachdem ich mich im Internet über 'Luzide Träume' weitergebildet hatte, kam ich erleichtert zu dem Entschluss, dass solch ein Talent nicht direkt mit Intelligenz zutun hatte. Wohl durchaus mit geistigem Potential, aber es war nicht so, dass ich mich deshalb in Ärgernis oder Depressionen stürzen musste. Nichts desto trotz gab es immer mal wieder vereinzelt Träume, welche es irgendwie in meinen Geist schafften und sich dort festsetzten. Manche nur szenenhaft, manch andere tatsächlich mit einer Art 'Story'. Einige waren so bemerkenswert seltsam, dass ich bereits mit dem Gedanken spielte, Schriftsteller zu werden und meine Träume in eine Art Roman umzuschreiben. Ich nahm sogar einmal Tinte und Feder zur Hand, scheiterte dann aber in einem etwas erzwungenen Akt daran, mir Zusammenhänge, sowie generell eine Art Rahmen für einen solche zu erdenken. Der seltsamste und zugleich allgegenwärtigste meiner abstrusen Träume der letzten Wochen war einer, in dem ich fliegen und alles aus einer Art 'Dritter Person' sehen konnte. Obwohl ich mich an die meisten meiner Träume kein bisschen erinnern konnte, war mir nach dem Aufwachen sofort klar, dass dies zum allerersten Mal passiert war. Noch heute kann ich dieses Gefühl des Fliegens nachempfinden und frage ich mich dazu ein wenig, ob es in meinem verbleibenden Leben noch dazu kommen wird, das Fliegen (ohne Flugzeug) zu einer menschlichen Realität zu entwickeln und ob es sich dann genauso anfühlen würde, wie in meinem Traum. Die Welt in diesem Traum setzte sich wie so oft aus vielen verschiedenen Szenen aus meinem Leben zusammen; verschiedenen Orten, verschiedenen Menschen und, soweit ich es zu bewerten vermag, auch verschiedenen Gedanken, welche mit bestimmten Situationen aus meinem Leben zusammenhingen. Im Grunde machte das die Sache erst so richtig absurd, denn es fehlte komplett ein roter Faden, fühlte sich mehr wie eine Sammlung von Fragmenten aus verschiedenen Geschichten an – und ich mich wie ein Wesen, welches diese Fragmente logisch zusammenbauen sollte. Dennoch war es keineswegs ein Klartraum; ich stellte – wie in ausschließlich jedem meiner Träume – keine Fragen bezüglich Logik, Sinnhaftigkeit, der Natürlichkeit von Dingen oder gar die Frage nach der Realität an sich. Immer wieder gibt auch genau dies mir nach dem Aufwachen zu Denken, aber ich hatte bisweilen trotzdem nie die Idee, mich über dieses Thema mit anderen Menschen auszutauschen. Es ist nicht so, dass ich keine Freunde hätte, mit denen man über derlei Themen plaudern könnte, aber irgendwie kam es nie dazu. Wenn tatsächlich mal der Gedanke über Träume in einer Situation auffunkte, in der ich ihn hätte ansprechen können, fühlte ich mich doch immer unwohl oder nicht in der Stimmung dafür. Und so führte ich diese Gedankenspiele bis heute mit mir alleine... wobei es eher offene Fragen als fertige Thesen waren. Allen voran diese, wieso ich ganz oft von Leuten träumte, die in meinem Leben praktisch keine Rolle gespielt hatten, während die wichtigsten Menschen aus meiner Realität nur allzu selten den Weg in meine Träume fanden. Oder daran angelehnt, wieso ich mich oft an Orten wiederfand, die ich seit zwanzig Jahren nicht gesehen hatte. In der Regel vermischten sich sogar reale – manchmal auch äußerst irreale – Orte zu einem im Traum ganz wirren Konstrukt, ohne dass ich dort wie schon erwähnt je einen Gedanken an die Sinnhaftigkeit dessen verlieren würde. Vor einer Woche gab es in einem meiner wenigen im Gedächtnis kleben bleibenden Träumen zum Beispiel ein Gebäude, was zur Hälfte aus meiner früher besuchten Mittelschule bestand, während der Rest eine Art Fantasywelt darstellte, mit deutlich sichtbarem Bezug auf das Videospiel Skyrim aus der von mir geliebten The Elder Scrolls-Reihe. Ich bewegte mich den ganzen Traum hindurch zwischen bemerkenswert akkurat wiederaufbereiteten Situationen aus meiner tatsächlichen Vergangenheit und reinem Kopfkino – sozusagen auf der Schwelle zwischen einer Prise 'Realität' und totaler Fiktion. Eine weitere für mich eminent wichtige Frage war, inwiefern die im Traum erlebte Gefühlswelt ein Abbild meiner tatsächlichen Gedanken darstellen könnte. Um ein Beispiel dafür zu geben, erlebte ich unlängst einen Traum, in dem meine Ex-Freundin (die bereits erwähnte, welche mich im Wachzustand auch heute noch nur mit unangenehmen Erinnerungen plagen würde – geradezu eine personifizierte negative Konnotation) und ich zusammen, froh und glücklich unser Leben lebten. Ohne den Hauch eines negativen Gedankens. Das führte mich nach dem Aufwachen unweigerlich zu der Frage, ob ich hinter den Mauern der negativen Emotionen am Ende tatsächlich noch etwas Gegenteiliges für diese Frau empfinden könnte. Ich hatte schon von Leuten gehört, welche sich von ihren Träumen leiten ließen – sei es ein spezieller Traum gewesen, oder eine generelle Einstellung. Zudem gab es ja auch sogenannte Traumdeutung. Zumeist käuflich zu erwerben, so dass ich es eine Zeit lang für einen Kandidaten für die lächerlichste Methode der Beschaffung von Lebensunterhalt hielt. Aber nach einer Weile und einigen seltsamen Träumen begann ich mir zunehmend mehr Gedanken über Träume, das menschliche Unterbewusstsein und eventuelle Bedeutungen von Ereignissen in Träumen zu machen. Eine Traumdeuterin habe ich jedoch nicht besucht. Das würde mir zwar nicht direkt mein Stolz verbieten, aber nach den abfälligen Gedanken würde es definitiv eine gewisse Überwindung kosten. In dem jüngst erfahrenen Traum, in welchem ich als 'Konstrukteur' über dem Geschehen flog, verflechtete ich einmal mehr Realität und Fiktion miteinander – nur zur Abwechslung von oben. Ich träumte mich dabei nicht selbst, sondern sah die ausgewählten Inhalte meiner Erinnerungen und die Ergüsse meiner Fantasie miteinander koexistieren. Solange ich nur zuschaute, war es sozusagen der Inbegriff des Wortes Kopfkino, aber mitunter griff ich gefühlt ein und lenkte die Geschichte in bestimmte Bahnen, ohne körperlich zu intervenieren. Dies alles kam mir im Anschluss so seltsam und unbegreiflich vor, dass ich am Folgeabend eine Kamera mit Nachtsichtfunktion neben mein Bett stellte, um mein Schlafverhalten aufzuzeichnen – in der Erwartung, einen solchen Traum gleich noch einmal zu träumen. So genau erklären konnte ich mir diese Idee nicht, ebenso wenig die daran geknüpften Erwartungen. Und es war auch nur logisch, dass ich in der Folgenacht ganz normal träumte. So normal, dass meine Synapsen nach dem Aufwachen wieder binnen fünf Sekunden komplett abschalteten und ich nach einigen weiteren Sekunden anfing, leise über mich selbst zu lachen. Die Kamera liegt seitdem wieder an dem Platz, wo ich sie zuvor hergeholt hatte. Während ich bis sechs Uhr einfach nur reglos, in Gedanken versunken im Bett verharrte, betätigte ich im Folgenden wieder das Grammophon, um erneut George Clintons musikalischen Ergüssen zu lauschen, welche ich zuvor nur durch seine andere Band Funkadelic kannte. Dazu nahm ich mir eine Lektüre aus dem Nachtschrank, welcher neben dem Bett stand. An sich war ich verwundert, dass dort Bücher verstaut waren, wo der Earl doch eine so stattliche Bibliothek besaß – aber in diesem Moment war es eindeutig zu meinem Vorteil, da das oben aufliegende Buch ein etwas eigenwillig designter Sammelband von koreanischen Mythen und Erzählungen war und unter Anderem eine moderne Version des in Korea so berühmten Chunhyang-ka enthielt, was mir ohnehin schon sehr gefiel und in dieser Fassung durch eine bemerkenswert clever gestreute Portion Humor verfeinert wurde, was die folgenden dreißig Minuten wie im Fluge vergehen ließ. Zwischendurch stand ich auf, um die moderne Schallplatte für die restlichen Songs umzudrehen und passend zum Ausklang des letzten Songs der Rückseite fielen schließlich die ersten Sonnenstrahlen durch das schmale, von matt-lachsfarbenen Gardinen gesäumte Fenster – direkt auf das offen auf dem Bett liegende Buch, vor welchem ich im Schneidersitz saß, die Bettdecke über meine Beine gelegt. In diesem Moment begann auch mein bisher sanftmütig reagierender Magen zu knurren. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis der Gastgeber in mein Zimmer schritt und mit leichten Augenringen nach meinem Wohlbefinden fragte. Das Frühstück nahmen wir dann anschließend in der Küche ein, die sich unten im Erdgeschoss befand. Auf dem Weg dorthin schaute ich wieder äußerst interessiert auf alles, was meine Augen erfassten. Der Raum vor der geräumigen Küche definierte den Luxemburger endgültig als Kunstfan und offensichtlich auch -kenner; es hingen unter Anderem Kopien von zwei sehr unterschätzten koreanischen Werken und auch ein weiterer Hundertwasser, mit dem ironisch der Gegenwart fröhnenden Titel Das Ende Griechenlands. Bei den koreanischen Gemälden kam ich nicht drum herum, Earl Gray zu fragen, wie oder wo er so hochqualitative Drucke herstellen ließ, aber seine Antwort war, dass die aushängenden Werke alle Originale waren, wie auch der Yu Sok in seiner Bibliothek. „...Was für ein Mensch ist dieser Earl eigentlich?“, fragte ich mich einmal mehr in Gedanken. War er überhaupt ein Earl? Er und die anderen Gesellen aus der Bar benutzten dieses Wort eher wie einen gewöhnlichen Vornamen, noch dazu ohne Anrede-Suffix. Als er mir kurz darauf Earl Grey zum Trinken anbot, musste ich schmunzeln und hätte ihn fast über seinen Namen ausgefragt, ließ es aber bleiben. Ich trank den schwarzen Tee mit Honig und einem guten Schuss Milch – eine Marotte, die ich mir nicht nehmen ließ, zumal ich schwarzen Tee für gewöhnlich direkt mit Milch aufkochte. Der Kleiderschrank hatte an diesem Morgen noch nichts Besonderes für den Earl ausgespuckt und so sah ich ihn nun in einem ganz gewöhnlichen T-Shirt und einer Anzughose durch die Küche traben, im gefühlten Halbschlaf einige Lebensmittel aus einem großen Kühlschrank nehmend. „Deutsches Frühstück?“, fragte er mich mit einem Gähnen. „Sehr gerne. Hatte ich lange nicht mehr.“ „Omelett mit Pilzen oder Tomaten? Oder moment... bist du Vegetarier?“ Ich verneinte und lernte ein paar Minuten später ein klassisches Deutsches Arbeiter-Frühstück kennen; Strammer Max nannte der Earl die Kombination aus Graubrot, Leberkäse, Sauerkraut und Spiegelei. Mich wunderte etwas, dass er mir ein Deutsches Frühstück anbot, obwohl er nichts über meine Zeit in Deutschland, oder allgemein in Europa wissen dürfte. Da aber Luxemburg sich an der deutschen Grenze befand, legte ich das als Zufall aus, der mit seiner eigenen Herkunft zusammenhing. Jedenfalls freute ich mich über die willkommene Abwechslung. In einer von gefräßigen Pausen durchzogenen Unterhaltung erfuhr ich im Folgenden, dass mein Gesprächspartner oft zu hören bekam, dass sein Name (englisch 'grau') nicht zu seiner Natur oder seinem Aussehen passte, er dem vorangegangenen Präsidenten Lee Myung-bak fast einmal die Hand geschüttelt hatte und in seiner Freizeit gerne Billard spielte – eine Leidenschaft, die ich mit ihm teilte. „Meine Spezialität sind Gather Shots. Bei Carom Billard fühle ich mich generell am wohlsten.“, führte er weiter aus. Bei mir war es eher Kneipenbillard, aber das wollte ich in diesem Moment nicht sagen und beließ es bei einem anerkennenden „Aah“. Ich war mir fast sicher, dass er in seinem Anwesen auch ein Billardzimmer hatte, wollte aber nicht riskieren, dort durch Unwissen oder mangelnde Fähigkeiten aufzufallen. In Bars wiederum hätte ich ein Heimspiel, da scheute ich mich von jeher vor keiner Herausforderung. „Nun zu deiner Situation... ich schätze du willst zunächst den Ersatzschlüssel holen?“, fragte er mich einen Moment später, abrupt das Thema wechselnd. „Scheint mir das Schlauste zu sein. In meine Wohnung zu kommen, ist auf jeden Fall kein Nachteil.“ „Wohl wahr.“ „Apropos, ich hab gestern nicht groß auf den Weg geachtet... wo sind wir hier?“ „Seocho-gu. Das Haus ist eines der fünf südlichsten Anwesen in Seoul.“, antwortete der Gefragte mit einem amüsanten Stolz in der Stimme. An Informationen reichte mir das; allzu weit von dem Haus meines Vermieters konnte es nicht sein. Nun musste ich erneut hoffen, dass er zumindest heute zu Hause war... „Ich kann dich hinfahren, ist kein Umstand.“, bekam ich dafür ein weiteres Mal ein freundliches Mitfahrangebot vom Earl, was ich dankend mit dem Versprechen annahm, dass ich ihm etwas schulde. Kapitel 9: Eine seltsame Ergriffenheit -------------------------------------- Ich saß in einem Café nahe der Namyeong Station in Namyeong-dong, welche zu Fuß nur einige Minuten südlich der Seoul Station lag, in deren Nähe ich am Vortag die SonderBAR gefunden hatte. Ich studierte die liebevoll gestaltete Karte und entschied mich nach einer Weile für einen Sweet Potato Latte und einen Petit Gâteau, der in der koreanischen Umschrift als 페티 가토 (P'et'i Kat'o) durchging und mich zuerst ins Grübeln brachte. Das Geld dafür hatte ich mir von Earl Gray geliehen und dank seiner Wohnsituationen hatte ich dabei auch gar kein schlechtes Gewissen, zumal ich meine Schulden sowieso bald möglichst zurückzahlen würde. Der ausgewählte Coffeeshop trug den etwas kitschigen, aber klangvollen Namen „CoffeeBeans of Destiny“. Für soviel Protz vorab war der Eingang relativ unscheinbar, durch gute zehn Meter Weg von der Hauptstraße getrennt und trotz des Schildes leicht übersehbar. Aber genau solche Stübchen bevorzugte ich in der Regel. In Korea galt sowohl für Kaffee- und Teehäuser, als auch für Bars und viele Restaurants, dass man niemals nach dem Äußeren urteilen durfte. Es sind ganz oft die versteckten, durchaus auch schlecht besuchten Etablissements, welche einen am positivsten überraschen können. Nicht nur im Verhältnis zur Erwartungshaltung, sondern tatsächlich auch mit Qualität, Preis und Atmosphäre. Ich liebte die koreanische Kaffee- und Kneipenkultur und zählte es zu meinen Hobbies, immer wieder neue Orte zu entdecken und testen. Hin und wieder fiel ich dabei auch mal auf die Nase, aber ein Großteil meiner Abenteuer endete mit einem warmen Gefühl der Zufriedenheit. Für gewöhnlich alleine, mit der Tageszeitung oder einer interessanten Lektüre – hin und wieder auch mit Gesellschaft, die ich mit etwas Forsch- und Offenheit leicht bekommen konnte, wenn mir danach war. Ich hatte eine kommunikative Ader und irgendetwas Einladendes, unterstellte mir einmal ein guter Freund; die Leute würden sich natürlich zu mir hingezogen fühlen. Ich glaubte es ihm ohne groß darüber nachzudenken und es würde tatsächlich auch einer Erklärung für die Ereignisse des Vortags helfen. Populärer waren zu meinem Unverständnis aber die großen Ketten, vor allem was Coffeeshops betraf. Da waren zum Beispiel die internationale Topmarke 'Starbuck's', das dieses geradezu kopierende 'Tom n Toms', das ebenfalls ähnliche 'Coffee Beans & Tea Leaf' oder 'Café Pascucci', dessen knallrote Lettern auch in jedem Bezirk von Seoul irgendwo zu sehen waren. Noch eine Spur schlimmer war die Kette 'A Twosome Place', welche als Werbefigur den berühmten Schauspieler und Sänger Lee Min-ho gewonnen hatte und das im Extremen ausnutzte, so dass dort an jeder Wand, an jeder Säule und selbst auf der Menükarte Fotos von diesem abgebildet waren, mit immer dem selben künstlichen Lächeln und stets einer Kaffeetasse in der Hand. Ich ging davon aus, dass selbst, wenn man Lee Min-ho mochte, zuviel Input für Jedermann kontraproduktiv sein musste. Mein jüngst ausgewählter Favorit unter den Seouler Kaffehäusern war hingegen das Café Homeo hinter dem Gyeonghuigung Palace, dessen Inhaber früher Filmproduzent war und sich ungaublich gerne mit seinen Gästen über Kaffee oder Filme unterhielt. Die Atmosphäre dort war gemütlich und der Kaffee verdammt gut. Wenn seine Filme so gut waren, wie heute sein Kaffee... ich sollte beizeiten mal einen Blick wagen. Das 'CoffeeBeans of Destiny' bestach wie die meisten kleineren Etablissements mit einer sehr individuellen Ausstattung und vielen Pflanzen. Jeder Platz hatte verschiedene Stühle und Tische – in diesem Moment erspähte ich sogar einen Tisch, der direkt mit der Wand verkuppelt schien, optisch ganz ohne Verbindung und ohne Tischbein. An diesem Tisch saß eine einzelne Person, das Gesicht in einer Zeitung vergraben. Ein silberner Aktenkoffer von Zero Halliburton zu ihrem Fuße verriet mir, dass die Person einigermaßen wohlhabend sein musste und sich in diesen Minuten wahrscheinlich nur eine kurze Pause zwischen der Arbeit genehmigte. An einem anderen Tisch nahe der Theke saß eine Frau, ebenfalls alleine. Sie bekam in diesem Moment ihre Bestellung, dem Augenschein nach ein heißer Tee und einen likorgefüllten Donut, was mir die äußere Glasur verriet. Im ersten Moment warf ich nur einen halbinteressierten Blick auf die Situation und die Bestellung, aber als ich sie genau musterte, musste ich zugeben, dass ich wahrscheinlich selten, vielleicht noch nie eine hübschere Lady gesehen hatte. Für einen Moment war ich wie paralysiert und konnte nicht wegschauen, selbst als der Kellner weiter zu meinem Tisch kam, um die Bestellung aufzunehmen. Ich berappelte mich und bestellte um ein Haar einen Blueberry Latte, konnte mich aber rechtzeitig korrigieren. Wieso Blueberry...? Vielleicht hing es mit dem schönen Blau ihres Kleides zusammen... Obwohl der Kellner (der zugleich auch Inhaber des Ladens sein konnte, was in den kleineren Kaffeehäusern nicht selten der Fall war) mein Starren in Richtung eines anderen Gastes höchstwahrscheinlich zur Kenntnis nahm, schwenkte ich meinen Blick im Anschluss an die Bestellung sofort wieder in ihre Richtung. Obgleich ich für gewöhnlich sehr darauf bedacht war, auf fremde Personen seriös und unpersönlich zu wirken. Aber sie bewegte etwas in mir, als würde ein Hebel in meinem Kopf eine lange unbewusste Barrikade lösen. Und sie hatte mich noch nicht einmal angesehen, wandte sich im Augenblick nur liebevoll und mit weichen, eleganten Bewegungen ihrem Tee zu, den sie mit etwas Zucker verrührte. Meinem Gefühl nach mussten meine Wangen in diesem Moment rot anlaufen. Ohne dass ich es mir erklären konnte, und ohne irgendeinen Plan, entschied ich in Sekundenbruchteilen, dass ich diese Person hier in diesem Café ansprechen musste. Dass ich diesen angeblichen Magneten in mir ausnutzen musste, zur Not über mich hinauswachsen musste... Noch weiter – Ich erklärte alle Geschehnisse der letzten beiden Tage kurzerhand zu meinem Schicksal, das mich hierhin führen wollte – hin zu dieser Person, derer Eleganz ich mich nicht entziehen konnte. Derem Anmut ich instantan ausgeliefert war. Ich war eigentlich jemand, der weder Liebe auf den ersten Blick als reelle Möglichkeit wahrnahm, noch optisches Aussehen und Stil zu einem 'Non-plus-ultra-Kriterium' bei der Partnerwahl kürte. Aber just in diesem Moment war es die Ausstrahlung und die (in meinen Augen) pure Schönheit dieser Dame, welche mich ganz spontan eines Besseren belehren wollten. Ihr Gesicht war makellos, aber nicht zu perfekt, hatte etwas sehr angenehm Markantes. Aus den geschätzten 5,6 Metern Entfernung sah ich keine direkten Spuren von in Korea nicht unüblichen Schönheitsoperationen, aber von solch einer wohlgeformten Nase würden die koreanischen Männer wohl des nachts oder auch tagsüber träumen. Trotz der Gefahr, beim Starren von ihr erwischt zu werden, ließ ich den Blick von ihrem Gesicht nicht ab, musterte jede Bewegung ihrer Lippen, Mundwinkel, Augen... Innerlich dankte ich meinem Vermieter dafür, dass er zuvor nicht zu Hause gewesen war, aber einen Zettel für Suchende hinterlassen hatte, dass er nicht sehr viel später schon zurückzukommen plante. Nur deshalb saß ich jetzt in diesem schmucken Kaffeestübchen in Namyeong. Im folgenden Moment legte die Person an dem anderen Tisch ihre Zeitung weg und offenbarte mir schockierend, dass ich vielleicht doch das falsche Kaffeehaus ausgewählt hatte. Hier in den Tiefen Seouls war nicht unbedingt darauf gefasst, ihn anzutreffen, aber manchmal kommen die Dinge wie sie kommen und gerade die beiden vorangegangenen Tage haben dazu geführt, dass mich so schnell nichts mehr aus der Fassung bringen konnte. Wobei es streng genommen gerade beide anderen Gäste schafften. Er war eine griesgrämiger alter Herr, gute sechzig Jahre alt, aber alles andere als lebens- oder arbeitsmüde. Ein Vorzeige-Koreaner, der wahrscheinlich auch mit 80 Lenzen noch auf Vollzeit im Büro sitzen würde. Meine Verbindung zu ihm war... äußerst schwierig. Da unsere letzte Begegnung schon gut ein Jahr verdauerte, hoffte ich im ersten Moment, dass er vielleicht senil und vergesslich geworden sei, aber ich kannte ihn gut genug, um diese Möglichkeit sogleich wieder auszuschließen. Wenn andere Leute von ihrem persönlichen Teufel sprachen, von einem Erz- oder Todfeind, einem personifizierten schlechten Karma... das alles wäre wohl er für mich. Den Hintergrund dafür kann ich so ohne Weiteres nicht erläutern, aber kurz und knapp sei gesagt, dass dieser alte Herr einen starken Einfluss auf meine Familie besaß und sich dies leicht zu meinem Nachteil auswirken könnte. Wann immer ich ihn traf, endete eine solche Situation damit, dass ich irgendetwas Aufwendiges für ihn erledigen musste, um seine Missgunst zu vermeiden; teilweise Sachen, die eine gehörige Portion Überwindung erforderten. Nun befand ich mich in einem richtigen Dilemma. Auf der einen Seite der Engel, auf der anderen der Teufel. Beide bemerkten mich noch nicht direkt (oder suggerierten mir das erfolgreich), so dass ich in der Situation war, eine Option auszuwählen. Aber das war nicht einfach. Man konnte sagen, dass ich mich unmöglich einfach zu der Frau an den Tisch setzen, oder gar irgendetwas über die Tische hinweg sagen konnte. Der alte Mann würde genau wissen, wie er meinen Flirt ruinieren könnte und es ganz sicher auch in der schlimmstmöglichen Art tun. Während ich hin und her überlegte, brachte mir der Kellner meinen Sweet Potato Latte und den französischen Kuchen. Wo Letzterer normalerweise sofort meine volle Aufmerksamkeit bekommen hätte, vernahm ich die Leckerei gerade eher als Randnotiz, beinahe schon störend. Beiläufig grub ich meine Gabel durch die feste Rinde des Gâteaus und versuchte die herausquellende flüssige Schokolade mit dem suboptimal gewählten Besteck in meinen Mund zu führen. Das sah höchstwahrscheinlich genauso unbeholfen aus, wie ich mich gerade auch fühlte. Ich musste jetzt etwas tun... Kapitel 10: Eine seltsame Beziehung ----------------------------------- Der alte Mann war kein glücklicher Mensch. Und wenn, dann war er ein Großmeister darin, es zu verbergen. Wenn tatsächlich mal ein Lächeln in sein steifes, von markanten Wangenknochen geprägten Gesicht huschte, war es ausnahmslos ironischer Natur und stets von einem Zucken begleitet, welches mir seit jeher ein unheilvolles Gefühl vermittelte. Von Beruf war er Anwalt und er übte sein Fach mit einer Gewissenhaftigkeit aus, die seinesgleichen suchte. Er hatte sich schon in seinen Dreißigern einen Namen gemacht, indem er einen Fall zum Abschluss brachte, an dem sich mehrere andere zuvor die Zähne ausgebissen hatten. Wie er das angestellt hatte, hat er nie verraten, aber ich schätzte es war am Rande der Legalität. In Folge hievte er als Verteidiger mehrere äußerst zweifelhafte Gestalten aus ihrem sicheren Gefängnisaufenthalt und sorgte als Anwalt des Klägers bei wieder anderen für ein solch grausames Strafmaß, dass selbst die verurteilten Verbrecher von einigen Anwesenden und Zeugen bemitleidet wurden. Und was er im Gerichtshof für seine Opposition war, das war er in seinem Privatleben (zumindest von Zeit zu Zeit) für mich. Während ich einen großen Schluck von meinem heißen Getränk nahm – das hätte fast dafür gesorgt, dass ich diesen wieder ausgespuckt und es sofort versaut hätte –, dachte ich kurz an eine spezielle Situation in der Vergangenheit, in der ich bei einer Übergabe zischen Drogenhändlern mitwirken musste, um diese zu entlarven. Mir war damals nicht mal genau bewusst, wie ich aus diesem Szenario wieder rauskommen sollte und dementsprechend angsterfüllt agierte ich; aber zumindest – das musste man ihm zu Gute halten – kam die Polizei rechtzeitig und nahm mich im Gegensatz zu all den Dealern und Verbrechern nicht direkt fest. Nun ja, sie zwangen auch mich auf die Erde und ein besonders stämmiger Bursche kniete sich auf meinen Rücken; aber es war aushaltbar und ich bekam später ein ausdrückliches Lob vom leitenden Kommissar in dem Fall. Freilich wurde aber er zum gefeierten Helden – diesen Effekt hatte er natürlich schon im Voraus eingefädelt. Ein anderes Mal begleitete ich ihn als Kofferträger bei einem total belanglosen Besuch einer Psychiatrie, in welcher angeblich ein Klient von ihm saß. Auf dem Weg dorthin beschwerte er sich über jede Kleinigkeit, die ihm zu mir einfiel. Dass meine Mutter mich schlecht erzogen und ich mich für das falsche Studium entschieden hätte. Dass ich Deutschland die Last eines Besuches ersparen sollte, da man dort auf Pünktlichkeit und Akkuratesse Wert läge. Dass ich seine Zeit verplempern würde (mir fällt bis heute keine Begründung dafür ein, aber freiwillig hielt ich mich in seiner Nähe sicher nicht auf). Dass meine Stimme in seinem Magen ein flaues Gefühl verursachen würde (na da sollte er mich mal fragen...). Dass der Schweiß den Stoff meines Anzugs unter den Armen dunkel färbte und einen schlechten Eindruck machen würde... und so weiter. Als wir am Ende herausfanden, dass dort aus irgendeinem Grund doch kein Klient von ihm saß, musste ich mich zusammenreißen, nicht auf den Vorwurf mit der verschwendeten Zeit zurückzukommen. Im nächsten Moment ärgerte ich mich maßlos darüber, dass ich im Haus von Earl Gray die Möglichkeit ausgenutzt hatte, mein Handy aufzuladen, respektive es nicht auf lautlos gestellt zu haben. Denn plötzlich erklung das funkige Intro von Barry Whites Never, Never Gonna Give You Up, in Kombination mit dem Aufleuchten eines schräg grinsenden Bild meines Freundes Seung auf dem Handydisplay. Der Song war in dieser Situation nicht gerade die beste Wahl und ich geriet instatan ins Schwitzen. In Sekundenbruchteile handelte ich die folgenden Möglichkeiten ab: Option 1: „Schnurstracks raus rennen und alles stehen lassen.“ Nein... das Prellen der Zeche war noch das kleinste Problem, aber die Option schied sofort aus. Option 2: „Geduckt zur Toilette rennen und dort eine ganze Weile verharren, in der Hoffnung, dass der alte Mann wieder zu seinem Business musste.“ Die Option war nicht so übel, aber dann könnte auch die Frau verschwunden sein, ohne merkliche Chance auf ein Wiedersehen. Ich dachte kurz an ein Drama, in dem ein Mann jahrelang immer wieder erfolglos vor einem Club wartete, um seine erste Liebe dort wiederzusehen. Nein... die Option schied ebenfalls aus. Option 3: „Ich könnte den Anruf annehmen und irgendeinen Vorfall vortäuschen, der mich vor dem Alten retten würde und mir gleichzeitig eine Chance gab, mich gewissermaßen vor der Frau zu profilieren. Nur dass ich das Seung später erklären musste, aber die Option erschien mir bemerkenswert nützlich. Mir wurde leider bewusst, dass das Überlegen mehr als ein paar Sekundenbruchteile gedauert hatte, Barry White schon eine ganze Zeit lang am Singen war und mich mittlerweile alle anderen Personen im Raum anstarrten, mit ihren ganz eigenen Emotionen. 'Wenn Blick töten könnten...', dachte ich mir, als ich den Kellner und potentiellen Café-Inhaber anschaute. Rechts von ihm musterte mich die adrette Frau mit einem etwas unschlüssigen Blick, während links..... ich musste nicht mal hinschauen, um das schon angesprochene ironische Grinsen und seinen zuckenden Mundwinkel zu erkennen – es spielte sich auch in meiner Erinnerung gut vor den Augen ab. „Sieh mal an, wen es in die hinteren Ecken von Seoul verschlagen hat.“, hörte ich ihn zwischen den Takten von Never, Never Gonna Give You Up brummen, was mir zeigte, dass sein Gedächtnis leider noch gut genug funktionierte. Um die Situation halbwegs zu retten, nahm ich in dem Moment den Anruf an, aber ich war die berühmte Sekunde zu spät und Seung hatte bereits aufgelegt. Anstatt ein künstliches Telefongespräch vorzutäuschen, legte ich das Handy auf den Tisch und richtete meinen Blick mit einer ebenfalls gespielten Verwunderung in Richtung des alten Mannes. Gleichzeitig mit der rechten Hand eine entschuldigende Geste in Richtung der anderen beiden Personen ausführend. „Mister Kim. Es ist lange her...“ „Scheren wir uns nicht um Floskeln. Ich bin tatsächlich erfreut Sie zu sehen, auch wenn Sie es vielleicht nicht sind. Es gibt derzeit etwas dringendes, was ich nicht selbst erledigen kann...“ „Ich bin ganz Ohr.“, kam ich seiner Aufforderung nach und sparte mir die Floskeln, innerlich mein Frühstück erbrechend. „Das ist schön... ich war vorgestern -“ Bevor der alte Mann seine Ausführungen auf den Punkt bringen konnte, klingelte diesmal sein eigenes Handy und es schien dringend genug zu sein, dass er das Telefongespräch unverzüglich annahm. Ich starrte ihn ein paar Sekunden an, dann einige weitere in die Luft und wendete mich schließlich meinem Kuchen zu, aus den Augenwinkeln erleichtert feststellend, dass die Frau erst ihren halben Donut gegessen hatte. Ich nahm einen stattlichen Bissen der Kuchenrinde, während ich mit dem linken Ohr der anwesenden Hälfte des Telefonats nebenan lauschte. Ich schnappte aus diesem Satzbruchstücke wie 'es eilt', 'dringlich', 'sofort handeln' und 'schicken Sie Akutagawa vor' auf und freute mich insgeheim auf eine eventuelle Rettung vor dem Grauen. Tatsächlich hatte der alte Mann nie nach meiner Handynummer gefragt und war so theoretisch nur über meine Eltern im Stande, mich direkt zu erreichen – auch wenn diese Möglichkeit für ihn kein Hindernis wäre. Meine These war, dass er mich nicht für würdig empfand, auf seiner Liste von sicherlich nur außerordentlich wichtigen Telefonnummern zu stehen. Aber das war mir Recht, grundsätzlich war mir seine Meinung von mir total egal. „Tja..... sieht aus als hätten Sie heute Glück gehabt. Es gibt Dinge, die noch mehr eilen. Aber ich komme auf Sie zurück.“, wandte sich der Alte kurz und knapp mit unzufriedenem Blick in meine Richtung, nachdem er sein Telefonat beendet hatte. Im folgenden Moment nahm er seinen Mantel, sowie den silbernen Halliburton in die Hände und verließ das Café. An seinem Platz blieb nur die Rechnung, garniert mit einem 10000 Won-Schein, zurück. Moment... in Korea war es ohnehin nicht üblich, Trinkgeld zu geben – aber er? Nun war ich wirklich etwas sprachlos und machte mir Gedanken, was den alten Miesepeter so sehr aus seiner üblichen Ruhe bringen konnte. Aber schon im nächsten Moment wendeten sich meine Gedanken wieder der hübschen Frau zu, welche augenscheinlich den letzten Bissen ihres Donuts verspeiste – während ich meinen Gateau nur ein paar Mal angestochen hatte. Ohne lange zu überlegen stieß ich in Folge meine Gabel durch die Rinde und führte ein übergroßes Stück in meinen Mund, ohne es in geringster Weise zu genießen. Die flüssige Schokolade tropfte die Gabel hinunter und ich war froh, dass die Lady mir keine Beachtung schenkte. Im nächsten Moment wollte erneut Barry White auf die Bühne treten, aber ich handelte diesmal gedankenschnell und nahm den Anruf an, noch bevor der erste Takt seines Songs einsetzte. „Hyeong!“, begrüßte ich ihn mit dem üblichen Suffix für ältere Männer und überraschte ihn mit der schnellen Reaktion merklich, denn er schlürfte dem Vernehmen nach irgendein Getränk und verschluckte sich fast, so wie ich zuvor mit dem Sweet Potato Latte. „Jin! Lange nichts gehört. Was geht bei dir? Hattest angerufen?“, spulte mein Freund schließlich ein paar übliche Floskeln runter, ehe er mir sogleich die Zeit zum Antworten stahl: „Egal du musst dir das geben! Pass auf: Ich hab nicht nur den Job! Ich kann mir außerdem aussuchen, ob das erste MT in Busan, auf Cheju oder in Japan stattfinden wird! ...Ist das geil? Ist das super? Halloooo!“ „Wow....“ Manchmal hatte der Gute einfach das Glück, die falschen Sachen in den falschen Momenten mitzuteilen. Gerade war so ein Moment. Als die hübsche Frau sich im kommenden Augenblick von ihrem Stuhl erhob, legte ich ohne weiter nachzudenken auf. Kapitel 11: Gedankenwirrwarr ---------------------------- Die Sonne schien am Himmel. Für einen Novembermittag war das Wetter erstaunlich gut, geschätzte sechzehn, siebzehn Grad bei strahlender Sonne und erstaunlich geringer Wolkenfülle. Mein Mantel war dafür etwas zu warm, daher trug ich ihn unter meinem linken Arm. Da er doppelt gefuttert und gesäumt, und somit ziemlich schwer und mächtig war, vermochte ich nicht zu sagen, ob das von außen cool aussah, aber mit angezogenem Mantel würde ich bei Sonnenschein vielleicht noch unpassender aussehen - und genau das wollte ich in dieser Situation nun wirklich nicht. Ungefähr zwanzig Meter vor mir lief die adrette Dame, die mir seit einiger Zeit die Sinne raubte, oder, um es gefühlsmäßig zu beschreiben, damit Baseball spielte. Im Café hatte ich kaum die Zeit und schon gar nicht den Mut, sie anzusprechen, schon wegen des leicht verstört blickenden Kellners, der mich seit des zu spät angenommenen Anrufs nicht mehr wirklich aus seinem Blickfeld gelassen hatte. So gesehen war es ganz angenehm, dass ich den ansonsten recht angenehmen Ort wieder verlassen konnte – andererseits hatte ich die beste Chance, meine Traumfrau anzusprechen, bereits versäumt und musste jetzt improvisieren. Alleine ihr nachzugehen war schon mit einem unangenehmen Gefühl verbunden, aber dazu kam noch, dass jeder weitere Moment und jeder weitere Schritt die Sache schwieriger machten, da sie mich im Café ganz sicher gesehen hatte – danke, Seung – und mich am Ende noch für einen Stalker halten könnte – danke, Barry White. Aber sie einfach gehen zu lassen, kam für mich nicht im Entferntesten in Frage. Eher würde ich dieser Frau bis zu ihrer Wohnung folgen, als dass ich Jahrzehnte warten würde, bis ich vielleicht wieder eine Person träfe, die meine Gefühlswelt so in Unordnung zu bringen vermochte. Nein, ich blieb dran und überlegte fieberhaft nach einem Weg, die Distanz zwischen uns mit einer positiven Wirkung zu verkürzen, oder noch besser, aufzulösen. Nebenbei nahm ich mein Handy zur Hand und nutzt die Spiegelkamera-Funktion, um mein Gesicht abzuchecken. Ich sah ein wenig mitgenommen aus, was mich nicht wunderte, aber alles in allem in Ordnung und etwas besser als noch am Vortag. Eine Art Haarsträhne fiel leicht in mein Gesicht, aber als Mann störte mich das nicht unbedingt. Leichte stressbedingte Hautunreinheiten konnte ich auch noch ignorieren, die besaß ich ohnehin spätestens seit den letzten zwei Wochen auf der Arbeit. Aber insgesamt brauchte ich mich nicht zu verstecken. Hier in Korea, wo Individualität oder markante Gesichtsstellen ohnehin kein Muss sind, fiel ich mit meinem tendentiell sehr 'normalen' Gesicht eher in die Kategorie 'gutaussehend'. Meine entfernten deutschen Wurzeln spielten mir zusätzlich in die Karten, da meine Nase tendentiell etwas ausgeprägter war, was unter Asiaten generell als sehr beliebt gilt. Irgendwie bestach mich aber ein seltsames Gefühl, während ich so hinter ihr herlief. Es war ein wenig so als würde sie mich sehen. Ihre Schritte erschienen mir mit Bedacht gewählt, jeder für sich. Zwar war das Interpretationssache und höchstwahrscheinlich situationsverschuldet, aber irgendetwas injizierte mir ein leicht gruseliges Gefühl. Und tatsächlich... als ich hinter die nächste Ecke bog, stand direkt an der Ecke ein Streetfood-Stand – nichts Ungewöhnliches – an dem die hübsche Frau Halt machte und das Sortiment beobachtete, während sie meine Richtung bestens im Blickfeld hatte. Nun wäre der wohl einzig verbleibende gute Moment gewesen, zu (re-)agieren... aber ich war wie gelähmt und schaffte es nicht. Mangelnde Flexibilität war eigentlich keine Schwäche von mir, aber hier und jetzt schluckte ich nur leise und ging weiter, über die Straße, und ließ mir so direkt nichts anmerken. Da war sie wohl hin, die Chance. Alles was jetzt noch folgen könnte, musste furchtbar peinlich rüberkommen, da musste ich mir nichts vormachen. Es war zumindest nicht vorstellbar, dass sie nicht bemerkt hatte, dass gerade derselbe Mann an ihr vorbeiging, welcher zuvor das Café mit Barry White beschallt und kurz darauf eine ominöse Kurzunterhaltung mit einem älteren Herrn hatte, der ihn offensichtlich alles andere als nett und respektvoll behandelte. Aber während ich davon ausging, dass die Sache kaum noch zu retten war und mich kurz umdrehte, bemerkte ich, dass die Frau noch während der selben Grünphase ebenfalls die Straße überquerte und nur einige Meter hinter mir lief. Gott sei Dank richtete sie ihre Augen nicht genau in dem Moment des Umblickens auf mich, so dass ich im Falle einer direkten Konfrontation (wie auch immer sich diese ergeben sollte) immer noch den Eindruck machen konnte, als sei würde der Zufall walten – was ich allerdings auch nicht direkt plante. Aber genau genommen bekam ich wieder dieses gruselige Gefühl, dass ich die Kontrolle über die Situation schon lange verloren hatte. Ich kam mir vor wie in der Szene eines Gangsterfilmes, wo ein Schnüffler beim Beschatten bemerkt wurde und der Beschattete anstatt zu flüchten oder auf Konfrontationskurs zu gehen, cool die Rollen tauschte; primär um den Beschatter einzuschüchtern und ihm zu suggerieren, dass er sich lieber eine ganz andere Beschäftigung suchen sollte. Ohnehin war ihr Halt bei dem Streetfood-Stand schon seltsam genug, da sie zuvor ein Dessert in einem Coffeeshop genossen hatte. Wieder dachte ich über meine Optionen nach. Ich könnte mich schwungvoll umdrehen und ihr machohaft ins Gesicht sagen: „Treiben Sie keine Spielchen mit mir!“; oder: „Ich weiß, dass Sie mich verfolgen. Sie sind soeben aufgeflogen!“. Aber ehrlich, das wäre wohl das letzte, was ich tatsächlich tun würde. Ich könnte auch auf unwissend tun und einen Handyanruf tätigen, während welchem ich meinen Schritt natürlich verlangsamen und sie zu einer Reaktion zwingen könnte. Aber das wäre falsch... wenn ich tatsächlich eine Chance bei dieser Göttin haben wollte, musste ich schon meinen Mann stehen. Ich blieb schließlich ohne groß darüber nachzudenken stehen, nicht allzu abrupt, verharrte zwei Sekunden und drehte mich dann annehmbar elegant um, in gerader Haltung, mit breiter Brust, um keine Schwäche zu zeigen – gleichzeitig zurückhaltend genug, um nicht als Macho durchzugehen. Ich fragte mich ohnehin, welchen Eindruck von mir wohl Barry White bei ihr gemacht hatte. Im nächsten Moment verlor ich die gespielte Sicherheit innerhalb einer Nanosekunde wieder – denn die Frau war WEG. Hinter mir war nur die lange Straße, auf der einige, aber nicht viele Leute ihren geregelten Alltag wahrnahmen bzw. von A nach B liefen. Die linke Seite entlang stand eine lange Steinmauer, die sicherlich keine Möglichkeit für irgendein Versteck bot. Rechts war die Straße, abgesehen von einer Bushaltestelle ebenfalls sehr übersichtlich. War ich verrückt? Hab ich mir das Folgen der Dame eingebildet? Verfolgungswahn? Habe ich gerade meine einzige Chance verpasst? Die nächsten Augenblicke dachte ich darüber nach, dass mein Bild bisher wirklich schlecht gewesen sein muss. Mal abgesehen von dem teuren Ciguardian von Cinque, dessen erwähnter Stehkragen selbst einem Obdachlosen einen gewissen Charme verleihen würde (welcher allerdings nur wirken konnte, wenn man ihn auch anzog). Darunter trug ich immerhin ein Hemd; aber freilich dasselbe, was ich schon zwei Tage zuvor im Club getragen hatte. Man nimmt seinen Eigengeruch für gewöhnlich nicht zu stark wahr, aber einen Moment lang hatte ich Angst, dass mein derzeitiger abturnend wirken könnte. Aber es waren immer mindestens drei Meter zwischen mir und der Frau, das war doch völlig unmöglich. Barry Whites Never, Never Gonna Give You Up könnte im Optimalfall ihren Geschmack treffen oder als stilvoll durchgehen, da ältere Musik bei vielen Leuten mit Retro-Appeal punktet – selbst in Korea. Dennoch könnte es auch total in die andere Richtung gehen, vor allem mit dem gestöhnten 'Oh Baby' im Intro. Käme ganz auf die Lady an, sicherlich. Mehr nervte mich im Nachhinein mein Verhalten, als das Handy klingelte – vollständige Ignoranz. Und darüber hinaus noch der kurze Dialog mit dem alten Mann, der mich für Außenstehende sicher wie einen Handlanger aussehen ließ... es würde bestimmt einige Zeit brauchen, um mir diese Erinnerungen aus dem Kopf zu wischen. Und Seoul ist groß, mit 'einziger Chance' mochte ich richtig liegen. Der Spruch 'Die Welt ist klein' bekam allein hier bestimmt oft genug seine Grenzen aufgezeigt. Ich ärgerte mich diesmal offen, indem ich die Hände mit dem Mantel hinter dem Rücken verschränkte und mit miesepetrigem Blick nach einem etwas größeren Kieselstein trat, der in Richtung der Bushaltestelle flog. Im nächsten Moment tippte mich jemand von hinten an. Ich zuckte leicht zusammen und drehte mich ruckartig um. Und... mit einem umwerfenden Lächeln sah mich das Gesicht der Schönheit an, welche ich in den vergangenen Minuten beschattete und verloren zu haben schien. Ich hatte für die spontan von ihr kreierte Situation natürlich keine passende Antwort parat und sagte nur „Oh...“ „Oh...?“, fragte sie zurück und raubte mir mit dem Lächeln jedweden Verstand. Ich versuchte instatan ihre magischen dunklen Augen, ihr perfektes, natürlich aussehendes Gesicht und ihre gepflegten, langen, goldbraun gefärbten Haare zu ignorieren, die mich mental auf die Knie zwangen, ja geradezu pressten. Aber die Augen durfte ich nicht verschließen. Stattdessen fragte ich ganz ehrlich „Wie sind Sie hinter mich gelangt?“ „Tjaaa... zu Fuß.“ „Ich scheine heute wirklich arg in Gedanken zu sein...“ „Ach so. Deshalb haben Sie mich nicht früher angesprochen, richtig?“ „War es so offensichtlich, dass ich das vorhatte?“ „Ziemlich. Aber ich muss dazu sagen, dass ich eine Art Antenne für so etwas habe, also nichts für Ungut.“ Ich erwiderte nichts. Während eine Hälfte meines Gehirns einem Freudentaumel erlag, schämte sich die andere umso mehr, da die Lady es scheinbar genoss, mit meinem unglücklichen Verhalten zu spielen. Aber dennoch hatte sie mich angesprochen – ein Szenario, das weit über den Tellerrand meiner ausgemalten Gedanken hinaus ging. „Sorry, ich hätte Sie schon im Café ansprechen können. Aber ich musste unbedingt noch zwei Songs hören.“, sagte sie, deutete auf ihre durchsichtigen kabellosen In-Ear-Kopfhörer und erklärte dazu, dass sie öfters „das ganze Album 'Go Easy' von Verbal Jint am Stück“ hörte – dabei könne sie extrem gut entspannen. Und ihre Erklärung fühlte sich obgleich des seltsamen Zufalls und der Tatsache, dass sie mich angesprochen hatte, gar nicht unnatürlich an. Ich wusste nicht, ob es ihr mit ihrem überwältigenden Charme oder eher mit ihrer überraschend lockeren Art gelang, aber sie vermochte es, diesbezügliche Zweifel, die sich normalerweise schnell unter meiner Kopfhaut manifestieren, sofort im Keime zu ersticken. Sie wirkte auch nicht nonchalant, sondern vielmehr lebensfroh und interessiert. Viel zu viel für mich, meine Synapsen schalteten auf rosarot. Ich musste mich bemühen, lockerer zu wirken, als ich mich fühlte und antwortete: „Verbal Jint? Sie haben einen guten Geschmack!“ Während ich mich im ersten Moment für diese Standard-Antwort schämte, fiel mir in den folgenden Sekunden tatsächlich ein Song von (in meiner Hoffnung) besagtem Album ein, den ich selbst eine Zeit lang gehört hatte. So ergänzte ich meine Antwort flugs: „Ich mag vor allem 'You make me feel Brand New'“. „Ach wirklich? Der ist neuer, nicht?“ Sie reizte mein Fachwissen bereits an den Rand meiner Kenntnisse aus und ich nickte unüberlegt ab, profitierte aber von der Tatsache, dass dem tatsächlich so war. „Auch nicht schlecht. Was hören Sie sonst...?“ Diese Frage sagte mir (oder sollte mir suggerieren), dass sie während ihre Café-Besuchs tatsächlich die ganze Zeit Musik gehört hatte und ich mich scheinbar aus der Barry White-Nummer retten konnte. Ich zählte daher, nach Situationskontrolle greifend, einige bekannte amerikanische Musiker auf und dichtete mit Epik High und MC Sniper noch etwas modernes dazu, was meiner Meinung nach gut zu Verbal Jint passte. Tatsächlich log ich bei der Auswahl auch nicht, was mir ein gutes Gefühl bescherte. Aber dass ich manchmal auch härteren Rock hörte, ließ ich außen vor, denn mit Rockmusik konnte man in Korea bei kaum jemandem punkten. „Interessant.“, erwiderte sie und fuhrt sich mit der Zunge leicht über die Lippen, ihren Blick zur Straße wendend. „Also ich stehe eigentlich mehr auf Blues, Jazz, Soul... klassischer. Bessie Smith, Count Basie, B. B. King, Barry White...“ In diesem Moment lief ich ganz bestimmt knallrot an. „Sie nicht...?“ „Barry White, natürlich.“, antwortete ich eher verlegen als erfreut, das kleine bisschen erhaschte Kontrolle über das Gespräch sofort wieder abgebend. Sie grinste mich schelmisch an und verdrehte die Gesichtsmuskeln auf eine amüsante Art und Weise. „Oh Baby...“, ahmte sie den Afroamerikaner in einer – zugegeben – hinreißenden Form nach und sorgte bei mir für ein verkniffenes Prusten. Es gelang nicht vielen Menschen, mich so in Verlegenheit zu bringen, aber einer Person, der ich mich als ihr verfallen beschreiben würde, musste das wohl oder übel gelingen. „Ich dachte sie haben Verbal Jint gehört.“ „Nicht laut genug, um das zu überhören.“ „Verstehe...“ „Ebenso wie Sie beim Starren etwas dezenter vorgehen sollten.“ „Ah?“ „Ich habe Augen im Rücken. Dazu je eins an beiden Ellenbogen, Kniekehle, sogar auf dem Kopf...“ Alles was sie sagte, war eine Art Spitze, eine Attacke auf meine empfindliche Stellen, und gleichzeitig erschien es mir doch nicht böse, weil sie dabei stets charmant lachte und mir in die Augen schaute. „Umwerfend...!“, sprach ich meine Gedanken aus Versehen aus. Daraufhin lachte sie äußerst herzlich, da sie es als Reaktion auf ihren Scherz vernahm. „Gut... ich muss wirklich negativ aufgefallen sein. Nun, wie kommt es denn, dass Sie mich trotzdem ansprechen? ...Sagen Sie nicht wegen Barry White.“ „Weil Sie mich zum Lachen bringen.“ „Aaaach so.“ „Immer wieder. Aber Sie sind wahrscheinlich nicht der erste, der einen Gateau so unbeholfen mit der Gabel isst.“ „Verdrehen Sie vielen Männern den Kopf?“ „Habe ich Ihren verdreht...?“ Sie grinste mich wieder an, zweifellos mit dem Wissen, dass sie mich sprichwörtlich bei den Eiern hatte. Ich antwortete nicht, sondern starrte verlegen zur Seite. „Tatsächlich, ja, es scheint, dass mir so etwas öfter passiert. Ich weiß nicht warum.“ „Ich weiß warum...“ „Sagen Sie es mir?“ „ ... Wenn Sie …“, wollte ich Sie erst platt um ein Date bitten, aber rettete mich rechtzeitig: „Wenn Sie denken, dass das so leicht in Worte zu fassen ist...“ „Okay, ich komme später darauf zurück.“ Nun, das war Barry White in meinen Ohren. Sie hatte wirklich 'später' gesagt. „Natürlich, gerne.“, antwortete ich lächelnd. Keinen einzigen Gedanken verschwendete ich mehr an meine grundlegende Situation, in der ich eigentlich einen Ersatzschlüssel für mein Heim besorgen wollte. Kapitel 12: Eine seltsame Reaktion ---------------------------------- Später saßen wir in einem italienischen Restaurant, welches die Dame wärmstens empfahl und laut eigener Angabe trotz seiner leichten Verborgenheit regelmäßig frequentierte. Ich insistierte zuerst, wollte ihr aber dann nicht sagen, weshalb ich in der Gegend um Namyeong-dong bleiben wollte und war – dank ihrem Charme – auch nicht bei ausreichend scharfem Verstand, in wenigen Sekunden eine alternative Geschichte zu erdenken. So fuhren wir mit einem Taxi nach Hongdae, für welches ich dann in meinem Mantel zum Glück noch das passende Geld parat hatte. Dennoch fand ich mich vor der Situation, dass sie eventuell auch eine Einladung zum Essen von mir erwartete, obwohl ich zurzeit nicht einmal Abendessen für mich selbst bezahlen konnte. Leider hatte ich nicht das Selbstbewusstsein, mein Problem vor Eintritt in das Restaurant zu schildern oder wenigstens schön zu reden, sodass ich schon vor der Bestellung wusste, dass der Aufenthalt zu einem Tanz auf der Rasierklinge werden würde; mental zumindest. Ich fand mich hin- und hergerissen zwischen dem Lauschen ihrer Erklärungen zu einigen Speisen und innerlich aufgestellten Dialogen bezüglich meiner finanziellen Situation. „Halloween ist zwar vorbei, aber ich empfehle auch die Spaghetti mit Kürbisstücken in Pfeffer-Sahnesoße. Ist sehr exquisit im Geschmack, mit koreanischem Essen wirklich nicht zu vergleichen.“, sprach sie auf der fünften Seite der Karte schon ihre vierte Menü-Empfehlung aus und beobachtete in Folge wie schon zuvor die Regungen in meinem Gesicht, die sich wahrscheinlich von Mal zu Mal nichts nahmen, da die angestrengter denkende Hälfte meines Gehirns mit dem anderen Thema beschäftigt war. Mir war bewusst, dass das leicht unhöflich war, aber nach einer Weile hob ich einhaltend die rechte Hand und entschied mich schließlich, die Wahrheit über meine Situation zu offenbaren, auch wenn soviel Ehrlichkeit nicht gerade der asiatischen Normalität entsprach und ich ihre mögliche Reaktion absolut nicht einschätzen konnte: „Entschuldige bitte, ich war gerade unhöflich. Aber ich denke, bevor ich irgendetwas bestelle, muss ich dich über meine derzeitige Situation informieren.“ Sie schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und ich war spontan froh, dass sie nicht sofort interpretierte und in irgendeiner vorschnellen Form reagierte – auch nicht ganz undenkbar in Korea. Aber sie war anders, schon von Beginn an. „Folgendes... das klingt vielleicht etwas weird, aber ich bin derzeit nicht im Besitz meiner Brieftasche. Es ist schwierig, dass zuzugeben, aber auch wenn ich es gerne würde, kann ich dich zu diesem Zeitpunkt leider nicht einladen. Die Situation ist etwas prekär und eigentlich war ich heute Mittag in Namyeong, um die Lösung des Problems voranzutreiben...“ Erneut enttäuschte sie meine Erwartungen, da sie keine direkte Reaktion zeigte, keine Empörung... sondern nur etwas mit den Grübchen auf ihrer Stirn spielte, was zugegebenermaßen ziemlich süß aussah, ich aus dieser Perspektive aber gezwungen ignorierte. „Gerade noch rechtzeitig.“, antwortete sie nach einer Weile kurz und knapp und bat mich um ein paar Details, die sie nun 'verdient hatte, zu erfahren'. Ich folgte der Aufforderung durchaus erfreut, war mir aber unsicher, ob ich die ganze Story so erzählen konnte, wie sie wirklich war, sodass ich schließlich eher ungewöhnlich entgegnete: „Wenn du wirklich die Details hören möchtest, dann würdest du mich möglicherweise für verrückt halten. Daher...“ „Natürlich möchte ich.“ „Sicher?“ „Sicher!“ Es war keinerlei Zweifel in ihrem Blick zu erkennen, eher noch ein Neugierde suggerierendes Glitzern in ihren Augen. Ein weiterer Augenblick, in dem ich merkte, dass ich ihr ganz und gar verfallen war. Als im nächsten Moment der Kellner kam, bestellte sie spontan – ohne mich zu fragen – zwei Gerichte und sagte mir daraufhin kurz und knapp, dass sie meine Geschichte bewerten würde und ich, wenn sie ihr nicht gefalle, die Schulden später in der Küche des Restaurants abarbeiten könne. Ich rieb mir verwundert die Augen, aber akzeptierte, mit der Frage auf den Lippen, wie sie auf die eher europäisch anmutende Idee komme, dass der Restaurantbesitzer mich arbeiten ließe, anstatt sofort die Polizei zu rufen. Ich war nun jedenfalls ebenso neugierig, was sie zu den Ereignissen der vergangenen beiden Tagen sagen würde, sofern ich keinen Punkt auslassen würde. * Earl Gray, Melissa Chun, Hyeonjee Kang und Sarge standen ungefähr zur selben Zeit in einer Reihe vor einem vierstöckigen Gebäude in einem Rotlichtviertel eines Nachbarbezirkes Apgujeongs. Earl Gray paffte an einer Zigarillo und hatte die Hände cool in den Hosentaschen verstaut, während Melissa Chun sich eher ihrem Handy als dem Gebäude zuwandte. Hyeonjee beäugte interessiert eine große Neontafel, die über dem Gebäude prangte und abwechselnd Werbung für Zigarren, Daimler-Chrysler, Damenbinden und Freudenhäuser wie dieses vor ihnen machte. Eine amüsante Mischung, wie sie empfand. Neben ihr stand Sarge mit dem selben ernsten Gesichtsausdruck wie immer; innerlich den Plan durchgehend, den sich die vier gemacht hatten und nebenbei dem einmal mehr zu beschäftigten Jihoon grollend, der sich gewöhnlich eher für die Datenbeschaffung zuständig sah und selten mal mit an die Front ging. Aber nun standen sie hier zu viert vor einem modernen Bordell, in dem eine Weile zuvor der koreanische Außenminister eingecheckt hatte, was sie selbst beobachtet hatten. Melissa war dem Politiker schon seit früh morgens auf den Fersen; die anderen drei stets bereit, zum gegebenen Zeitpunkt eilend zur Tat schreiten zu können. Dieser Moment war nun gekommen, begleitet durch einen ansehnlichen Sonnenuntergang am Horizont. Hyeonjee beschrieb es als eine Fügung der Dramaturgie, so wie sie ohnehin öfter mit dem Wort Schicksal und ähnlichem Aberglaube kokettierte. Sie war gläubige Christin, auch wenn sie sich die Bräuche, die sie befolgte, stets selbst aussuchte und sich mit der biblischen Geschichte erstaunlich wenig auseinander gesetzt hatte, so dass sie nicht einmal die Namen der vier Propheten des neuen Testaments nennen konnte, wie Earl Gray eines Abends in Erfahrung gebracht hatte. „Also noch einmal“, bat Sarge um die Aufmerksamkeit seiner Mitstreiter, „basierend auf Jihoons Informationen ist der Außenminister Lee Do-sang unser Ziel. Ein niederer Nymphomane mit Tendenz zum Gewaltakt, schätzungsweise seine Macht dazu missbrauchend, zu bekommen, was er mit Gewalt alleine nicht schafft und das ganze ohne großartige Spuren zu hinterlassen. Das Beste, was man über ihn sagen kann, ist wohl, dass er seine Opfer nicht zu töten scheint.“ „Und er trägt während seiner Untaten ein schwarzes Tuch vor dem Gesicht.“, ergänzte Hyeonjee zu seiner Linken. „Richtig. Und er scheint den Informationen nach nicht wahllos vorzugehen, sondern setzt seine Handlanger darauf an, nach besonders hübschen Frauen zu fahnden. Beobachtungen zu Folge, hat er vier engere persönliche Untergebene, die sich oft in seiner Nähe aufhalten und daher als Mittäter oder zumindest Mitwissende einzuschätzen sind. Auf diese Leute müssen wir aufpassen, daher ist es gefährlich, wenn wir alleine agieren und dabei Aufmerksamkeit erregen.“ „Bekommst du schon Angst, Melissa?“ „Pah, der soll sich warm anziehen... Abschaum! Der kriegt maximal meine Absätze.“ Melissa schaute zu Hyeonjee, welche anerkennend nickte. Beide Frauen in der Gruppe waren nach koreanischer Norm objektiv betrachtet ziemlich hübsch und genau diese Begebenheit spielte eine zentrale Rolle in dem von Sarge und Melissa entworfenen Plan, den 'Bonobo-Affe' getauften Schurken dingfest zu machen. Wohlgemerkt alles nur, weil die vier es so wollten. Ohne Bezahlung, einfach nur für das gute Gefühl – und das Abenteuer, wie Earl Gray in diesem Moment paffend anmerkte, seine Augen auch auf die Neontafel richtend, welche wieder für Damenbinden warb. * Ich nahm mir etwa zehn Minuten, um die Geschehnisse nicht zu ausschweifend, aber durchaus vollmundig, fast etwas dichterisch abzurunden. Während der Erzählung achtete ich dezent – nicht zu aufdringlich – auf die Reaktionen der Frau meiner Träume. Tatsächlich konnte ich ihre Mimik aber in den seltensten Fällen klar deuten und war daher umso neugieriger, wie sie nun letztendlich dieses Potpourri aus Seltsamkeiten kommentieren würde. Sie rollte kurz mit den Augen, nachdem ich ausgesprochen hatte und lachte im nächsten Moment ein wenig, ohne dass ich mich direkt ausgelacht fühlte. Ich war mir nicht sicher, ob sie ihre nach außen gezeigten Emotionen immer mit Bedacht wählte, aber ich konnte es mir absolut vorstellen, obgleich sie mir gleichzeitig auch wie ein sehr spontaner, geradeheraus denkender Mensch vorkam. „Also soll ich dich jetzt für verrückt halten?“, fragte sie mich nach einigen Sekunden des Grübelns. „Ich denke nicht, dass ich es bevorzuge.“ „Glück gehabt.“ „Wie?“ „Ich halte dich noch nicht für verrückt.“ „Noch?“ „Na gut, eigentlich von Anfang an etwas... aber das ist positiv, ich finde nichts ätzender als Leute, die komplett den gesellschaftlichen Normen entsprechen.“ „Honig in meinem Tee!“ „Wenn es Ihnen schmeckt...“ „Total.“ „Mir auch.“ „Fein.“ „Nein ernsthaft, Ihre Geschichte ist zwar ziemlich... krass. Aber reagiert haben Sie eigentlich recht normal.“ „Finden Sie?“ „Naja, vielleicht hätte ich diesen Tätowierten nicht angesprochen.“ „Haha.“ „Und wäre vielleicht nicht mit dem Mann mitgefahren, der so seltsame Kleidung trägt.“ „Wegen der Kleidung?“ „Nein, weil ich eine Frau bin.“ Wir mussten beide Lachen. Offensichtlich waren wir durchaus auf einer Ebene, was den Humor betraf. „Und wären Sie, wenn Sie ich wären, mit mir, der dann Sie wäre, nach Hongdae gefahren, obwohl Sie dadurch riskieren würden, die nächste Nacht auf der Straße zu verbringen?“ „Ich glaube wir sollten nach dem Essen zurückfahren...“ „Wenn ich Ihnen die Transportkosten später zurückzahlen darf.“ „Mit Zinsen bitte.“, bejahte sie mit einem schelmischen Grinsen. „Essen geht dann auf mich.“ Schließlich brachte der Ober zwei große Teller mit zwei interessant aussehenden Pasta-Gerichten und stellte sie auf Bitte der Dame so auf den Tisch, dass wir uns beide teilen konnten. Dass mein durchgehend rasendes Herz seinen nächsten Sprung machte, bekam sie hoffentlich nicht mit. Der exotische Duft von nicht für Italienische Küche stehendes Curry vermischte sich im nächsten Moment mit einer eher mediterran anmutenden Würze, was mich spontan auf die Idee brachte, die Düfte mit unserem Geiste zu personifizieren – wobei ich mich nicht wirklich entscheiden konnte, wer nun das Curry sein sollte. Solch gewissenlose Gedankenspielchen waren irgendwie typisch für mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)