To Feel The Music von DarkHide ================================================================================ Prolog: Prologue ---------------- „Könnte ich noch einen Vodka bekommen?“ Er war sich nicht sicher, ob der Barkeeper ihn überhaupt über die lauten Rufe hinweg gehört hatte. Doch ein kurzes Nicken des Mannes verdeutlichte, dass er ihn sehr wohl verstanden hatte. Entspannt wandte er sich ab, stützte sich mit seinen Ellbogen an der Theke ab, lehnte seinen Rücken leicht dagegen. Er ließ seinen Blick langsam umherschweifen. Etliche Meter von ihm entfernt befand sich eine große Bühne, auf der mehrere Gitarrenverstärker, ein komplettes Drumset und Mikrofone standen. Und auch wenn die Bühne nicht allzu weit von ihm weg war, so war es doch unglaublich, wie viele Menschen sich dicht an dicht auf den wenigen Quadratmetern drängten, die ihn von der Bühne trennten. Der Barkeeper stellte ein Glas vor ihm ab und nahm seinerseits das Geld, das schon auf ihn wartete. „Stimmt so“, sagte er, ohne sich von all den Menschen abzuwenden. Als er sie so musterte, bemerkte er, dass sie sich nicht in eine bestimmte Kategorie einteilen ließen. Es waren weder besonders viele ältere noch besonders viele jüngere dabei. Es waren nicht nur Mädchen sondern ebenso viele Jungen, Frauen sowie Männer. Aber alle schienen sich für diesen Anlass auf ihre Weise besonders gekleidet zu haben. Einige Frauen hatten sich extra schön gemacht und trugen hohe Schuhe mit Absätzen, andere hatten absichtlich darauf verzichtet. Manche ließen ihre Haare wallend um ihre Schultern fallen, andere hatten sie zu mehr oder weniger geschickten Frisuren hochgesteckt. Einige trugen seriöse, steife Outfits, andere lockere, luftdurchlässige Sachen. Neben Männern in T-Shirts standen andere in Jacken. Sie alle hatten sich besondere Gedanken gemacht, ihr Outfit mit Bedacht gewählt. Er nahm sein Glas von der Theke und führte es kurz an die Lippen. Es war unerträglich warm. Wie konnten sie nur alle auf einem Haufen stehen, dicht an dicht gedrängt? Kein Wunder, dass einige Mädchen Fächer dabei hatten und sich alle in ihrem Umkreis freuten, sobald auch ein Lufthauch in ihre Richtung ging. Trotzdem gab es auch hin und wieder Mädchen, die all die Hitze und die stickige Luft nicht aushielten, die den ganzen Tag nicht genug getrunken hatten und vor Aufregung vielleicht schon Tage vorher nicht richtig geschlafen hatten – und dann schlichtweg umkippten. Er stellte sein Glas wieder ab. Sie ließen sich wirklich Zeit. Die Rufe wurden nun immer lauter. „En-co-re! En-co-re!“ Und nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit traten sie wieder auf die Bühne. L’Arc~en~Ciel. Er konnte nicht anders, als ihn genau zu betrachten. Er hatte das Mikrofon ergriffen und kündigte die erste Zugabe an. Einige Strähnen seines dunklen Haares hingen ihm verspielt in die Augen, seine Lippen wurden von einem Lächeln geziert. Unwillkürlich schoss ihm eine Frage in den Kopf, die ihn nicht mehr losließ. Ob es wohl jemals jemand herausfinden würde? Kapitel 1: Daybreak's Bell -------------------------- „Du solltest dir wirklich einen Mitbewohner suchen.“ Nachdenklich musterte Tetsu seinen Freund Hyde. Dieser hatte ihn eben noch angesehen, doch nun hatte er seinen Blick wieder gesenkt und schaute in die halbvolle Tasse Tee vor ihm. Desinteressiert schwenkte er den Löffel in der Tasse und beobachtete wie die Flüssigkeit umherwirbelte. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war nicht das erste Gespräch dieser Art, das sie in den vergangenen Tagen geführt hatten. Doch noch immer war Hyde unentschlossen und wusste nicht, was er tun sollte. Er war froh, dass er Tetsu hatte, der ihm immer mit Rat und Tat zur Seite stand. Tetsu berührte Hyde kurz an der Schulter. „Was sagst du dazu?“ Abermals schwieg Hyde einen Moment. Er war kein geselliger Mensch. Oder zumindest legte er in letzter Zeit keinen Wert auf Gesellschaft. Er zuckte widerwillig mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht.“ „Na ja, aber für einen allein ist die Wohnung zu teuer. Und umziehen willst du ja auch nicht, oder?“ Hyde schüttelte den Kopf. Er liebte diese Wohnung – schon von dem Augenblick an, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Und auch wenn er gleich gewusst hatte, wie sein neues Zuhause aussehen sollte, so hatte es doch lange gedauert, bis alles so eingerichtet war, wie er es sich wünschte. Er konnte nicht jetzt schon wieder ausziehen. Aber Tetsu hatte Recht. Alleine war die Miete kaum zu bezahlen. „Soll ich mal schauen, ob ich einen Mitbewohner für dich finden kann?“, fragte Tetsu hilfsbereit. Ergeben nickte Hyde. Es blieb ihm nicht viel anderes übrig. Kaum drei Tage später saß Hyde abermals in dem kleinen Café gegenüber dem Park, in dem er gerne seine freien Nachmittage verbrachte. Er saß an einem kleinen runden Tisch, vor ihm stand eine Tasse Kaffee. Nervös schaute er auf seine Uhr. Er mochte es nicht, alleine in dem Café zu sitzen. Sein Blick fiel auf die anderen Tische, an denen immer mindestens zwei Personen saßen. Warum musste Tetsu ausgerechnet heute zu spät kommen? Obwohl, was hieß eigentlich zu spät? Genaugenommen hatte er noch zwei Minuten. Aber Hyde war es gewohnt, dass der andere noch pünktlicher war als er selbst. Schließlich tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Hyde wandte sich um und blickte in das grinsende Gesicht seines Freundes. „Hey! Wartest du schon lange?“ Hyde stand auf und drückte Tetsu kurz an sich. „Nein, kein Problem.“ Die beiden setzten sich einander gegenüber und Hyde betrachtete fast schon neugierig das Gesicht seines besten Freundes. Er schien überaus glücklich zu sein. „Und? Was gibt’s?“, wollte Hyde wissen. Gerade als Tetsu zu einer Antwort ansetzte, kam die Bedienung und fragte nach seiner Bestellung. Erst als er ebenfalls eine Kaffee bestellt hatte und die Bedienung wieder gegangen war, bekam Hyde eine Antwort auf seine Frage. „Ich habe mit einigen meiner Bekannten geredet und sie gefragt, ob sie zufällig jemanden kennen, der eine Wohnung sucht. Und ein Freund von Hiros Cousin...“ Er unterbrach sich und machte ein verwirrtes Gesicht. „Na, wie auch immer, jedenfalls habe ich hier die Telefonnummer von jemandem, der vielleicht dein neuer Mitbewohner wird. Er ist zumindest sehr interessiert und würde sich die Bude gerne mal ansehen. Morgen vielleicht?“ Tetsu lächelte ihn zuversichtlich an. Hyde brauchte erstmal einige Sekunden, um wirklich zu verstehen, was der andere gesagt hatte. Ohne auf die Frage des anderen einzugehen, stieß er unwillkürlich hervor: „Du hast jetzt schon jemanden gefunden?“ Tetsus Grinsen wurde noch um eine Spur breiter. „Na, hör mal, die Gegend ist beliebt. Gib mir noch ‘n Tag und ich hab zehn weitere Interessenten.“ Hyde konnte nicht anders, als seinen Freund anzulächeln. „Ich... danke.“ Tetsu machte eine abwehrende Handbewegung. „Kein Problem. Aber wie sieht’s aus? Ist es okay, wenn er morgen vorbeikommt?“ „Ich hab noch ‘ne Vorlesung... Aber wenn er gegen Abend kommt, hab ich Zeit. Sonst kannst du ihm auch die Wohnung zeigen.“ „Aber ihr solltet euch auch kennenlernen – schließlich wirst du mit ihm zusammenleben müssen, nicht ich.“ Tetsu musterte seinen Freund. Es war offensichtlich, dass Hyde noch immer nicht begeistert von der Tatsache war, dass er bald einen neuen Mitbewohner haben würde. „Soll ich noch weiter rumfragen? Dann können alle Interessenten sich bei dir vorstellen und du suchst dir einen aus?“ Hyde schüttelte leicht belustigt den Kopf. „Nein, nein, lass uns erstmal morgen abwarten. Vielleicht ist er ja ganz in Ordnung... Wie war noch sein Name?“ „Oh, irgendwo hab ich ihn aufgeschrieben... Einen Moment...“ Eilig durchwühlte Tetsu erst seine Hosentaschen, dann seine Jackentasche, wurde aber nicht fündig. „Ist schon okay. Er wird mir schon sagen, wie er heißt.“ Am darauffolgenden Tag kam Hyde spät aus der Uni wieder nach Hause. Glücklicherweise war er ein ordnungsliebender Mensch, ansonsten hätte er wohl die wenige Zeit, die ihm blieb, bis sein möglicher neuer Mitbewohner zur Wohnungsbesichtigung vorbeikam, genutzt, um aufzuräumen. So jedoch sah er sich nur kurz um, stellte fest, dass alles ordentlich wie immer war, und konnte so die Zeit nutzen, um noch eine Tasse Tee zu trinken. Schließlich wurde es acht Uhr und Hyde stellte mit Zufriedenheit fest, dass der andere zumindest pünktlich war. Er legte ein höfliches Lächeln auf und öffnete dann die Tür. Als erstes fiel ihm auf, dass der Mann, der kaum einen halben Meter von ihm entfernt stand, ein gutes Stück größer war als er. Er hatte dunkles Haar und strahlend blaue Augen, vermutlich trug er Kontaktlinsen. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln, seine Augen, die Hyde ruhig musterten, strahlten eine gewisse Neugier aus. „Du musst Hyde sein“, vermutete er sofort. Hyde deutete eine leichte Verbeugung an. „Dann bist du...“, begann er, doch er kannte den Namen des anderen gar nicht. Glücklicherweise ergänzte dieser bereitwillig: „Gackt, genau. Nett, dich kennenzulernen.“ „Ebenso.“ Und nach einem kurzen Zögern fügte Hyde hinzu: „Komm doch herein.“ Kaum hatte Gackt einen Fuß in die Wohnung gesetzt, schlüpfte er auch schon aus seinen Schuhen und zog die bereitstehenden Hausschuhe an. Er wartete, bis Hyde die Tür geschlossen hatte und folgte ihm dann ins Wohnzimmer. „Willst du dich erstmal umsehen? Danach können wir alles Weitere besprechen.“ Gackt nickte. Hyde hatte eine angenehme Stimme. Sein Blick fiel auf einen Flügel, der nahe am Fenster stand. „Du spielst Klavier?“, fragte er sofort mit einiger Begeisterung in der Stimme, denn auch er machte Musik. Zu seiner Verwunderung bekam er keine Antwort. Und so widmete er sich der weiteren Betrachtung des Raums. In einer Ecke stand ein Sofa sowie ein Sessel vor einem kleinen Fernseher – und war das etwa eine Videospielkonsole, die da auf dem Boden stand? Neben dem Fernseher befand sich ein CD-Spieler und ein ganzer Stapel CDs. Des weiteren konnte Gackt eine Glasvitrine entdecken, in der sich allerlei blaue Gläser befanden. Auf einer kleinen Anrichte stand ein reich verzierter Kerzenhalter. Gackt sah sich alles genau an. Hin und wieder konnte er ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. „Du hast es wirklich sehr schön hier“, meinte er und drehte sich dann noch immer lächelnd zu Hyde um. Dieser sah ihn einen Moment verwirrt an. „Entschuldige, was sagtest du eben?“ Interessiert musterte Gackt nun den anderen. „Mir fiel nur auf, wie nett du es hier eingerichtet hast.“ Leicht verlegen strich sich Hyde eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blinzelte einige Male. Er schien schüchtern zu sein. „Oh. Danke.“ „Du magst schöne Dinge, nicht wahr?“ „Ja. Ich... betrachte sie gerne.“ Wie zur Bestätigung seiner eigenen Worte wandte Hyde sich um und betrachtete seine Einrichtung. Schließlich fiel sein Blick wieder auf Gackt. „Sollen wir nun weiter gehen?“ Gackt nickte nur und folgte dann dem anderen. Erst als sie ein weiteres Zimmer betreten hatten, blieb Hyde stehen und wandte sich wieder Gackt zu. „Das hier würde dann dein Zimmer sein. Es sind schon einige Sachen da. Wenn sie dir gefallen, dann kannst du sie haben. Sonst können wir sie auch gerne rausschmeißen.“ Gackt nickte kurz, als Zeichen, dass er verstanden hatte, was Hyde ihm sagen wollte. Dann besah er sich den Raum. Ein kleines Nachttischchen sowie ein leeres Regal waren vorhanden. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch samt Bürostuhl. Gackt nickte abermals und wartete darauf, dass Hyde ihn weiter herumführte. Während sie wieder auf den Gang hinaustraten, fragte Gackt: „Hattest du davor auch einen Mitbewohner?“ Hyde hatte die Frage offenbar nicht gehört, zumindest antwortete er nicht. Er zeigte Gackt nur noch das Badezimmer und schließlich führte er ihn in die Küche. Auf dem Weg dahin kamen sie an einer geschlossenen Tür vorbei. Das musste wohl Hydes Zimmer sein. In der Küche angekommen bot Hyde Gackt einen Platz an und fragte ihn dann, ob er etwas trinken wolle. Dankend nahm Gackt die Tasse Tee entgegen und blickte dann aufmerksam Hyde an, der ihm nun gegenüber saß. „Wer hat hier vorher gewohnt?“, wollte Gackt wissen. „Ein Freund von mir.“ „Ach, war er der Klavierspieler?“ „Klavier...? Wie... Ah, genau...“ Hyde sah verwirrt und unsicher aus. Gackt beschloss nicht auf die Irritation des anderen einzugehen. Stattdessen fragte er: „Und dein Freund ist jetzt in eine andere Stadt gegangen?“ Diesmal hatte Hyde ihm offenbar besser zugehört und ließ sich nicht irritieren. „Er studiert einige Semester im Ausland.“ „Ach. Ist bestimmt interessant... Und du? Studierst du auch?“ Hyde nickte nur kurz. Dann fragte er seinerseits: „Wie gefällt dir die Wohnung?“ Gackt musste nicht lange überlegen. „Sehr gut. Wenn es nach mir ginge, würde ich sofort einziehen.“ Offenbar erleichtert atmete Hyde auf. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen und sie begannen, alle weiteren Details durchzusprechen. Kaum eine Woche später war Gackt komplett eingezogen. Hyde hatte interessiert beobachtet, wie einige von Gackts Freunden bereitwillig angerückt waren und ihm beim Umzug geholfen hatten. So hatte es kaum eine Stunde gedauert, bis ein Sofa, ein Kleiderschrank, ein Lattenrost, eine Matratze und etliche Kartons ihren Weg in das Zimmer gefunden hatten und aus den einzelnen Brettern wieder ein Bett geworden war. Allgemein war in das nahezu leere Zimmer innerhalb kürzester Zeit wieder Leben gekommen. Während dieser Woche hatte Gackt den anderen kaum gesehen. Er selbst war noch bis spät in die Nacht hinein mit der Einrichtung seines Zimmers beschäftigt und schlief daher morgens gerne etwas länger, während Hyde schon früh morgens die Wohnung verließ und erst am späten Nachmittag wieder nach Hause kam – nur um kurz darauf wieder zu verschwinden. Mittlerweile war es Samstag geworden. Gackt hatte gut geschlafen und war nun verhältnismäßig früh wach. Ein kurzer Blick durch die Wohnung verriet ihm, dass Hyde entweder längst gegangen war oder noch tief und fest schlief – sein Zimmer hatte er trotz ihres Zusammenwohnens noch nicht zu Gesicht bekommen und würde es auch nicht ohne Hydes Erlaubnis betreten. Zunächst widmete er sich neugierig den CDs, die sich neben dem CD-Player stapelten, dann fiel sein Blick abermals auf das Klavier. Er kam nicht umhin, sich auf dem kleinen Hocker niederzulassen und einige Töne zu spielen. Aus den Tönen wurden schnell Melodien und aus diesen ganze Lieder. Er war so sehr ins Spielen vertieft, dass er gar nicht bemerkte, dass Hyde den Raum betreten hatte. „Was... was machst du hier?“ Sofort hörte Gackt auf zu spielen. „Oh, hab ich dich geweckt?“ Schuldbewusst schaute er vom Piano auf und blickte Hyde an. Unbewusst legte sich ein Lächeln auf seine Lippen, als er den anderen amüsiert musterte. Dessen Haar war einigermaßen zerzaust, in seinem Gesicht ließ sich Verwirrung lesen. Er trug eine weite Schlafhose und ein übergroßes T-Shirt. „Ähm... nein, ich... ich... wusste nur nicht, dass du noch hier bist...“, murmelte Hyde und blickte kurz auf seine nackten Füße. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf. „Ich... sollte mir vielleicht erst mal was anderes anziehen...“, fügte er nachdenklich hinzu und sah seinen Mitbewohner nun wieder an. „Nein, nein, mir macht es nichts aus“, erwiderte dieser. „Magst du einen Kaffee?“ Hydes Lippen zierte nun ein leichtes Lächeln. „Gerne.“ Sofort stand Gackt auf und ging dann zur Küche, dicht gefolgt von Hyde. Offenbar hatte Gackt längst Kaffee gekocht, denn die Kanne an der Kaffeemaschine war noch halb gefüllt. Nun schenkte er daraus Hyde eine Tasse voll ein. Hyde hatte sich währenddessen an den Tisch gesetzt und den anderen interessiert dabei beobachtet, wie er sich wie selbstverständlich in seiner Wohnung zurechtfand. Etwas später saß Gackt ihm gegenüber, beide mit einer dampfenden Tasse Kaffee vor sich. Hyde schaute in seine Tasse. Er war offenbar noch etwas müde. „Was studierst du eigentlich?“, wollte Gackt nun wissen. Der Blick des anderen war noch immer auf das schwarze Getränk in seiner Tasse gerichtet. „Schläfst du noch?“ Gackt schien belustigt zu sein. Endlich schaute Hyde auf und erkannte sofort das Grinsen auf den Lippen des anderen. „Ich... ähm... Entschuldigung, ich hab... gerad nicht aufgepasst...“ Nun musste Gackt wirklich lachen. „Kein Problem. Ich fragte nur, was du studierst? Du bist immer so früh aus dem Haus.“ „Oh, ich bin halt gerne pünktlich... Da kann man sich seinen Platz noch aussuchen.“ Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Ich studiere Bildende Kunst.“ Mittlerweile waren einige Tage vergangen. Gackt musste zugeben, dass er Hyde auch in den letzten Tagen nicht allzu häufig gesehen hatte, da dieser viel Zeit in der Uni verbrachte. Er selbst hatte sich einige Tage für seinen Umzug freigenommen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass dank seiner tatkräftigen Freunde doch alles so schnell gehen würde. Nun hatte er wenigstens mal etwas Zeit für sich und konnte an einem neuen Lied arbeiten, damit es mit seiner Musikkarriere endlich mal voran ging. Da kam es ihm nur recht, dass Hyde tatsächlich ein Klavier in seiner Wohnung hatte. Während Gackt nun jedoch seine Finger verträumt über die Tasten gleiten ließ, wurde er jäh unterbrochen. Es klingelte an der Tür. Ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es kurz nach fünf Uhr war. Er erwartete keinen Besuch, aber vielleicht wollte jemand Hyde sehen. Einigermaßen neugierig ging Gackt zur Tür und spähte durch den Spion. Vor der Tür wartete ein junger Mann mit braunem Haar, den er eindeutig nicht kannte. Gackt öffnete die Tür und legte ein höfliches Lächeln auf. Noch bevor er etwas sagen konnte, begann der andere: „Hi! Ist Hyde noch gar nicht Zuhause? Wir sind verabredet.“ Gackt antwortete: „Ich fürchte, er ist noch nicht da. Aber wenn du magst, kannst du gerne reinkommen und auf ihn warten.“ Der andere folgte der Aufforderung und trat ein. „Ich bin übrigens Tetsu. Und du bist aller Wahrscheinlichkeit nach Gackt, nicht wahr? Nett, dich kennenzulernen.“ Gackt deutete eine kleine Verbeugung an. „Du kannst ja schon mal ins Wohnzimmer gehen. Kann ich dir was zu trinken anbieten?“ „Nein, nicht nötig. Danke.“ Tetsu ließ sich auf dem Sofa nieder. Gackt setzte sich in einen Sessel und betrachtete den Fremden eine Weile. „Kommst du gut mit Hyde klar?“, wollte Tetsu unvermittelt wissen. „Ich... wir kennen uns noch nicht sonderlich lange.“ „Ah, natürlich. Aber...“ Tetsu rückte ein Stück weiter zu Gackt und sah ihn eindringlich an. „Manchmal wirkt Hyde ein wenig... abwesend. Halt ihn bitte nicht für unhöflich. Er ist nur... sehr verträumt. Wenn er erstmal in Gedanken versunken ist, bekommt man ihn nur schwer wieder raus. Ich hoffe, du lässt dich dadurch nicht irritieren.“ Gackt kam gar nicht erst dazu zu antworten, denn in diesem Moment hörten sie, wie ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde und schließlich stand Hyde in der Tür zum Wohnzimmer. „Ich bin wieder da!“, verkündete er und musterte dann die anderen beiden. „Wartest du schon lange, Tetsu?“ „Nein, nein, mach dir keine Gedanken.“ Tetsu lächelte seinen Freund an. „So konnte ich Gackt endlich auch mal kennenlernen.“ „Ah, okay.“ Hyde schien leicht verunsichert. Gackt stand mit einem Ruck auf. Hyde warf ihm einen fragenden Blick zu. „Ich muss noch weg. Ich wünsche euch viel Spaß. Es war nett, dich kennenzulernen, Tetsu.“ „Ebenso. Bis bald.“ Erst als Hyde und Tetsu die Tür ins Schloss fallen hörten und wussten, dass Gackt gegangen war, setzte sich Hyde zu seinem Freund. „Über was habt ihr geredet?“, wollte Hyde sofort wissen. „Ich hab ihn vorgewarnt. Dass du ein bisschen... verträumt bist.“ „Oh...“ Erleichtert lächelte Hyde. „Hätte ich ihm was anderes erzählen sollen?“, fragte Tetsu. Der andere schüttelte müde den Kopf. „Nein. Ich will nicht, dass er es weiß.“ „Hmm. Okay. Das ist deine Entscheidung... Er scheint im Übrigen ganz nett zu sein. Ich hab gehört, er ist Musiker. Auf dem Weg, berühmt zu werden.“ „Ach, echt?“ Hyde war erstaunt. „Hat er dir das nicht erzählt?“ „Wir hatten ehrlich gesagt nicht viel Zeit zum Reden.“ Ein längeres Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Schließlich fragte Tetsu: „Aber als Mitbewohner ist er schon okay, oder?“ Sein Freund nickte. „Dann hat sich der ganze Aufwand doch gelohnt!“ Entspannt lehnte Tetsu sich zurück. Kapitel 2: Hideaway ------------------- Auch in der nächsten Woche sah Gackt nicht viel von seinem Mitbewohner. Sie waren zu gänzlich unterschiedlichen Zeiten wach, gingen zu unterschiedlichen Zeiten aus dem Haus und kamen zu unterschiedlichen Zeiten zurück. Als Gackt eines späten Nachmittags gerade die Wohnung verlassen hatte und auf dem Weg die Treppe hinunter war, kam ihm Hyde entgegen. Sie lächelten sich gegenseitig an, blieben beide einen Moment stehen und begrüßten sich. „Kommst du jetzt erst aus der Uni?“, fragte Gackt. Hyde nickte. „Du bist wirklich fleißig. Bist du den ganzen Tag in der Uni?“ „Ich hab meist zwischen den Kursen mal frei – aber da lohnt es sich nicht, nach Hause zu gehen“, erklärte Hyde. Nach einer Weile fragte er: „Und du? Musst du arbeiten?“ Gackt nickte. „Ja, wir machen gerade Aufnahmen... Du weißt doch, dass ich Musik mache, oder?“ Hyde nickte nur. Gackt warf einen Blick auf seine Uhr. „Ich sollte mich beeilen. Die anderen warten sicher schon! Wir sehen uns später!“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und eilte die letzten Stufen hinunter. Er hätte sich gerne weiter mit Hyde unterhalten, denn auch wenn sie nun schon einige Zeit zusammen wohnten, so wusste er doch kaum was über ihn – und er war sich sicher, dass auch Hyde kaum mehr über ihn wissen konnte. Vielleicht sollten sie sich endlich mal Zeit nehmen, um sich besser kennenzulernen. Gackt dachte noch darüber nach, als er in sein Auto stieg und losfuhr. Es dauerte nicht lange, bis er beim Tonstudio angekommen war. Genau deshalb hatte er auch schon lange nach einer anderen Wohnung gesucht: damit er nicht mehr so weit fahren musste. Als Gackt das Tonstudio betrat und die Tür gerade wieder hinter sich schließen wollte, kam Masa herein. „Da sind wir wohl mal gleichzeitig da, was?“ stieß Masa erfreut aus, nachdem sie sich kurz zur Begrüßung umarmt hatten. Gackt nickte. Während sie nebeneinander den Gang entlang gingen, sagte er: „Und was das Beste ist: Ich wohne jetzt so dicht dran, dass ich nicht mehr Stunden vorher losfahren muss!“ „Und wie ist es so? Kommst ihr gut miteinander klar, du und dein Mitbewohner?“ wollte Masa wissen. „Ja, eigentlich schon. Er ist ein ruhiger Typ...“ Gackt öffnete die Tür zu ihrem Aufnahmeraum. Wie erwartet waren Ren, Chacha, You und Ryu schon da. Nach der Begrüßung erkundigten sie sich ebenfalls danach, wie es Gackt in seinem neuen Zuhause erging. „Du könntest uns ruhig endlich mal zur Einweihungsfeier einladen!“ verkündete Ren. „Ja, klar. Wenn ihr Zeit habt, dann gleich heut Abend!“ meinte Gackt. „Warte mal. Solltest du nicht erst deinen Mitbewohner fragen, ob das für ihn okay ist?“ warf You ein. Daran hatte Gackt gar nicht gedacht. Verwundert blickte er You an. Dann nickte er langsam mit dem Kopf. „Ist wohl besser.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Dann also nicht heut Abend.“ „Wieso? Du kannst ihn doch anrufen!“ meinte Masa. Gackt schüttelte den Kopf. „Ich hab ja nicht mal seine Nummer.“ Ungläubig starrte Ren ihn an. „Du hast nicht mal seine Nummer? Und... wie lange genau wohnt ihr schon zusammen? Sag mal, was willst du denn machen, wenn du mal deinen Schlüssel vergisst? Oder wenn du ihn unbedingt kontaktieren musst, weil ein Feuer ausbricht?“ Gackt sah ihn leicht genervt an. „Das ist mir noch nie im Leben passiert!“ „Ich bin dafür, dass wir trotzdem heute die Einweihungsparty machen!“ erklärte Ren. „Wir können ja einfach mit zu dir kommen und wenn... – Wie hieß er noch mal?“ „Hyde“, sagte Gackt. „Ja, und wenn Hyde dann gerade zu Hause ist, kann er doch mitfeiern! Oder er sagt eben Bescheid, dass er keinen Bock hat, und wir gehen woanders hin!“ Masa und Chacha nickten zustimmend. „Das ist doch ‘ne gute Idee.“ Gackt ließ sich von seinen Freunden überzeugen. „In Ordnung. Aber vorher wird erst mal gearbeitet! Wer sich nicht genug anstrengt, darf nachher nicht mitkommen!“ You grinste. Ja, diese Aussage sah seinem Freund ähnlich. Und so machten sie sich an die Arbeit. Einige Stunden später, nachdem sie gänzlich ohne Pause durchgearbeitet hatten, beschlossen sie, dass es nun Zeit für ihren wohlverdienten Feierabend war. Sie packten ihre Sachen zusammen, stiegen in die Autos und fuhren zu Gackts neuem Zuhause. Ehe sie das Gebäude betraten, machten sie noch einen kurzen Abstecher zum Supermarkt gegenüber, um Getränke für ihre Feier zu besorgen. Schließlich standen sie alle vor der Wohnungstür und warteten darauf, dass Gackt seinen Schlüssel aus der Hosentasche gekramt und die Tür aufgeschlossen hatte. Gackt ging zuerst in die Wohnung. „Hyde? Bist du zu Hause?“ rief er, noch ehe er seine Schuhe ausgezogen hatte. Als keine Antwort kam, zuckte er mit den Schultern und ließ nun auch seine Freunde eintreten. Diese zogen ebenfalls ihre Schuhe aus, ehe sie gemeinsam ins Wohnzimmer gingen. Sofort ließen sich Masa und Ren auf dem Sofa nieder. Chacha setzte sich in den Sessel und Ryu quetschte sich zwischen die anderen beiden aufs Sofa. Gackt und You holten sich schließlich Stühle aus der Küche. Und so konnte der feuchtfröhliche Feierabend beginnen. Nachdem sie schon einiges getrunken hatten, kamen Masa und Ren auf die Idee, Hydes Spielkonsole auszuprobieren, und starteten prompt ein Rennspiel. Chacha, You und Ren unterhielten sich relativ laut, während Gackt ihnen zuhörte und ihre Gläser auffüllte. In dem Moment erschien Hyde in der Zimmertür. „Oh... hallo!“ sagte er. Gackt wandte sich zu ihm um. Sein Mitbewohner sah unsicher aus. „Hyde! Das tut mir leid“, erklärte Gackt. „Wir wussten nicht, dass du zu Hause bist! Willst du dich zu uns setzen?“ Hyde schüttelte den Kopf. „Ähm, nein... Ich... Ich muss noch was für die Uni machen.“ „Wir können auch woanders hingehen, wenn es dich stört.“ „Nein, ist okay. Es stört mich nicht.“ Ren pausierte das Spiel für eine Weile und sah nun auch Hyde an. „Auch nicht, dass wir deine Konsole benutzen?“ rief er. Hyde lächelte leicht. „Nein, macht nur.“ Zufrieden setzte Ren das Spiel fort. Sie waren mitten in einem Rennen – und Masa hatte nicht damit gerechnet, dass es nun weitergehen würde. „Hey! Warte! Das ist nicht fair!“ rief er, als sein Auto von der Strecke abkam. Ren lachte auf, als sich die anderen dem Bildschirm zuwandten. Als Gackt sich einen Moment später wieder zur Tür drehte, war Hyde schon in sein Zimmer gegangen. Er zuckte mit den Schultern. Wäre es nach ihm gegangen, hätte Hyde gerne bleiben können. Er war wohl nicht so ein geselliger Typ – oder hatte tatsächlich immer viel für die Uni zu tun. Viel zu spät beendeten sie ihre Einweihungsfeier. Obwohl Gackt weniger als die anderen getrunken hatte, wusste er kaum, wo vorne und hinten war. You hatte spontan beschlossen, über Nacht bei ihm zu bleiben, während die anderen mit der ersten Bahn nach Hause fahren wollten – ihre Autos wollten sie irgendwann in den nächsten Tagen abholen. Kapitel 3: Masquerade --------------------- Es war längst Nachmittag, als Gackt endlich aufstand. Er war rund eine Stunde zuvor schon wach gewesen, als You aufgestanden war und sich auf den Heimweg gemacht hatte. Da hatte sich Gackt allerdings noch nicht in der Lage gefühlt, ebenfalls aufzustehen. Auch jetzt fühlte er sich eigentlich noch nicht in der Lage dazu. Warum genau hatte er noch mal am Vorabend so viel getrunken? Nachdem er sich im Badezimmer frisch gemacht hatte, ging er ins Wohnzimmer, wo er Hyde vorfand. Dieser saß im Sessel und las ein Buch. „Was liest du?“ wollte Gackt wissen und kam einige Schritte näher. Hyde war so in die Lektüre vertieft, dass er ihn gar nicht bemerkte. Erst als Gackt sich ihm schon ein gutes Stück genähert hatte, sah er auf. Dann lächelte er leicht. „Hi!“ „Dein Buch scheint ja sehr interessant zu sein, dass du mich nicht mal bemerkst“, meinte Gackt. „Was liest du denn?“ „Oh... Tut mir leid“, sagte Hyde verlegen. Er zeigte Gackt das Cover des Buches. „Mary Shelleys Frankenstein“, erklärte er. „Für so was interessierst du dich?“ fragte Gackt nach. Hyde nickte. „Ja, ich mag Horrorgeschichten.“ Sie schwiegen einen Augenblick. „Ach so, wegen gestern...“ begann Gackt und kam noch einige Schritte näher. „Es tut mir leid, dass ich vorher nicht Bescheid gesagt hab, dass die Jungs vorbeikommen. Das war eigentlich auch nicht geplant. Aber du hättest dich wirklich gerne zu uns setzen können.“ Hyde schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ist schon okay.“ „Du bist nicht so der gesellige Typ, hm?“ fragte Gackt. Als Hyde nicht antwortete, sondern ihn nur schweigend ansah, fügte er hinzu: „Die Jungs sind aber wirklich ganz nett.“ Gackt wandte sich um und wollte schon gehen, als ihm etwas einfiel. „Ach so, vielleicht sollten wir mal die Handynummern austauschen. Warte mal eben.“ Mit diesen Worten ging er in sein Zimmer, notierte seine Nummer auf einem kleinen Zettel und kam dann wieder zurück. Er ging zu Hyde, der noch immer im Sessel saß, und hielt ihm den Zettel hin. „Hier, meine Handynummer. Wenn irgendwas ist, du kannst immer anrufen.“ Als Hyde zögerte, erklärte Gackt: „Zum Beispiel, wenn du mal deinen Haustürschlüssel vergessen hast und ich unterwegs bin. Oder... so was halt.“ Schließlich nahm Hyde den Zettel entgegen. „Deine Nummer kannst du mir ja beizeiten mal geben“, meinte Gackt. Dann wandte er sich ab und ging. Noch immer hielt Hyde den Zettel in seiner Hand. Er blickte einige Sekunden darauf, ehe er ihn in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Er wusste, dass er Gackt niemals anrufen würde. Später am Nachmittag hatte Hyde sich auf sein Zimmer zurückgezogen und Gackt widmete sich dem Klavier. Eine Melodie ging ihm seit geraumer Zeit im Kopf herum. Vielleicht konnte er endlich ein ganzes Lied daraus machen. Auf dem Stuhl neben ihm stapelten sich Notenblätter. Hin und wieder schrieb er einige Noten auf, strich andere durch und spielte das Stück dann abermals auf dem Klavier. Auf dem Boden lagen einige zerknüllte Blätter. Er summte eine Melodie, seine Finger glitten über die Tasten des Klaviers und begleiteten ihn. Irgendwann stand er auf, um sich eine Tasse Kaffee zu kochen. Zu seiner Verwunderung traf er in der Küche auf Hyde. „Das Lied ist fast fertig. Soll ich es dir mal vorspielen?“ bot Gackt sofort an. „Das musst du nicht“, erwiderte Hyde. Einen Moment schwieg Gackt. „Na komm, ich zeig’s dir!“ sagte er dann und griff nach Hydes Handgelenk, um ihn mit ins Wohnzimmer zu ziehen. Er ließ sich auf dem Klavierhocker nieder, legte seine Finger auf die Tasten und begann zu spielen. Hyde stand kaum einen Meter entfernt und beobachtete ihn. Er war beeindruckt davon, wie schnell Gackts Finger über die Tasten glitten, mühelos. Schließlich spielten Gackts Finger die letzten Töne und er blickte Hyde erwartungsvoll an. „Und? Was sagst du?“ Hyde zögerte einen Moment. „Ich weiß nicht... Ich... versteh nichts von Musik...“ „Aber du magst doch Musik, oder?“ fragte Gackt. „Du hast so viele CDs.“ Er deutete mit der Hand in Richtung des CD-Spielers. Plötzlich kam Gackt ein ganz anderer Gedanke: „Oh, oder sagst du nur, du verstehst nichts von Musik, weil du zu höflich bist, um direkt zu sagen, dass dir das Lied nicht gefällt?“ Er blickte Hyde fragend an. Dieser blinzelte einige Male schnell hintereinander. „Nein! So was das nicht gemeint...“ beeilte er sich zu sagen. „Ich versteh wirklich nichts von Musik!“ Gackt lachte. „Du kannst mir aber ruhig sagen, wenn es furchtbar ist, okay?“ Hyde lächelte leicht. „Okay.“ „Deine Wohnung ist sehr ordentlich“, meinte Gackt und nahm den Notenstapel, um die Blätter zu ordnen. „Wie du siehst, bin ich manchmal etwas chaotisch.“ Er nickte in Richtung der zerknüllten Blätter auf dem Fußboden. „Ich hoffe, das stört dich nicht – meist räume ich es später ja auch wieder auf.“ „Nein, ist okay.“ Mit einem leichten Schmunzeln blickte Gackt Hyde nun wieder an. „Und was hast du so für Macken?“, fragte er. Da Hyde hilflos mit den Schultern zuckte und nicht so recht wusste, was er sagen sollte, erklärte Gackt: „Na ja, ich zum Beispiel kann frühstücken nicht ausstehen, auch wenn es die wichtigste Mahlzeit des Tages sein soll. Kurz nach dem Aufstehen brauche ich einfach nichts zu essen. Und...“ Gackt drehte sich weg und begann, den Müll vom Boden aufzusammeln, während er fortfuhr: „Ich arbeite gerne nachts, weil mir mittags die Sonne viel zu hell ist. Deswegen trage ich draußen auch gerne Sonnenbrillen. Was ist mit dir?“ Nun sah er Hyde wieder an. „Oh... Ich weiß nicht... Wenn ich... mit jemandem rede, sehe ich ihm gerne ins Gesicht. Daher... telefoniere ich auch nicht gerne. Und ich... tauche lieber viel zu früh irgendwo auf, als zu spät zu sein...“ Abermals zuckte er hilflos mit den Schultern. Gackt hingegen grinste zufrieden. An diesem Tag hatte er wahrscheinlich mehr von Hyde erfahren, als an allen bisherigen Tagen zusammen. Kapitel 4: Coming Closer ------------------------ Eines Samstags war Gackt mal früh wach – Hyde jedoch war noch früher aufgestanden als er. Als Gackt in die Küche kam, um sich einen Kaffee zu machen, erblickte er Hyde am Tisch sitzend. Vor ihm auf dem Tisch stand eine leere Kaffeetasse. Hyde war in ein Buch vertieft. Als Gackt sich näherte, sah er auf. „Guten Morgen!“, sagte Hyde sogleich und lächelte seinen Mitbewohner an. „Guten Morgen!“, erwiderte Gackt. Er nahm sich eine Tasse aus dem Schrank und füllte sie mit Kaffee. „Auch noch einen?“, fragte er Hyde und als dieser nickte, füllte er auch dessen Tasse auf. „Immer noch Frankenstein?“, fragte er dann und deutete mit einer Bewegung seines Kopfes auf das Buch in Hydes Händen. Dieser lächelte breit, als er den Kopf schüttelte. „Nein, das hab ich längst durch.“ Er legte sein Buch beiseite und griff nach der Tasse. Aufmerksam musterte er Gackt. „Was hast du heute vor?“, fragte er schließlich. Gackt zuckte mit den Schultern. „Ich hab noch ein bisschen Arbeit zu erledigen. Aber das wird sicher nicht den ganzen Tag dauern. Wir könnten was zusammen unternehmen“, schlug er vor. „Was hattest du denn geplant?“ „Nicht viel“, meinte Hyde. „Es soll heute schönes Wetter geben. Daher wollte ich im Park ein bisschen inlineskaten.“ „Musst du heute nichts für die Uni machen?“, fragte Gackt nach. Hyde lächelte. „Nein, nicht jeden Tag.“ „Ich hab zwar keine Inlineskates, aber ein Skateboard. Wir könnten zusammen in den Park gehen.“ Hyde nickte. „Klar. Gerne.“ „Oder wir skaten durch die Umgebung und du zeigst mir alles“, schlug Gackt vor. „Ich weiß, wo der nächste Supermarkt ist, aber sonst... Irgendwie bin ich nur im Aufnahmestudio oder hier. Ich weiß nicht mal, wo der Park ist.“ Hyde grinste. „Ja, meinetwegen.“ Und so kam es, dass sie kaum zehn Minuten später durch die Nachbarschaft skateten. Hyde wohnte bereits seit einiger Zeit in der Wohnung und kannte daher alles Sehenswerte in der Gegend. Er zeigte Gackt, wo es den besten Coffee to go gab und das beste Fastfood, wo sich das nächste Kino befand, ebenso wie die nächste Bahnstation und Karaoke-Bar. Und schließlich waren sie beim Park angekommen. Mittlerweile waren sie schon einige Zeit unterwegs und konnten beide eine Pause gut gebrauchen. Sie ließen sich nebeneinander auf eine Parkbank sinken. „Oh, und da hinten ist ein Café, in dem ich mich oft mit Tetsu treffe“, erklärte Hyde und deutete mit seiner Hand in die Richtung. Er sah Gackt an und lächelte. Gackt nickte und musterte das Gesicht seines Mitbewohners. „Dann weiß ich jetzt ja, wo du dich aufhältst, solltest du mal nicht zu Hause sein.“ Hyde lachte. „So oft bin ich da nun auch wieder nicht.“ Gackt grinste. „Naja, danke jedenfalls, dass du mir alles gezeigt hast.“ „Kein Problem. Es hat Spaß gemacht, zur Abwechslung mal nicht allein zu skaten“, erklärte Hyde. „Können wir gerne demnächst mal wiederholen“, meinte Gackt. Hyde nickte. „Ich würde dann schon mal nach Hause gehen. Die Arbeit wartet“, sagte Gackt und stand auf. „Bleibst du noch?“ „Ja, eine Weile. Wir sehen uns später!“ Gackt nickte. „Okay, bis dann!“ Wieder in der Wohnung angekommen, widmete er sich abermals ganz der Musik – und dem Schreiben von SMS mit seinem Freund You. Dieser hatte schon mit Chacha telefoniert und sie waren dabei, einen lustigen Abend mit ihren Freunden zu planen. So schrieb Gackt You und während er auf eine Antwort wartete, kritzelte er Noten und Textzeilen auf einen Zettel. Dann kam wieder eine Nachricht von You und er schrieb seinerseits etwas. So verging eine ganze Weile, ehe der Treffpunkt und die Uhrzeit abgesprochen waren. In der Zwischenzeit war Hyde nach Hause gekommen, aber sogleich in Richtung seines Zimmers verschwunden. Kaum eine Stunde später beschloss Gackt, sich schon mal für das Treffen mit seinen Freunden fertig zu machen und duschen zu gehen. Er konnte Hydes Stimme in dessen Zimmer hören. Sang er etwa? Einen Moment hielt Gackt inne und lauschte. Hydes Stimme war leise, aber es war eindeutig, dass er vor sich hinsang. Gackt lächelte leicht, dann ging er ins Badezimmer. Nachdem er geduscht hatte, hatte er noch einige Zeit in seinem Zimmer verbracht. Sich angezogen, seine Haare gemacht. Und You angerufen, um zu fragen, ob sie nur zu dritt sein würden oder ob er und Chacha auch noch ihre anderen Freunde zum Kommen animieren konnten. Auch wenn er einige seiner Freunde nahezu täglich sah, so hatten ihre Treffen doch meist etwas mit der Arbeit zu tun, und sie verhielten sich anders, als wenn sie sich privat trafen. Daher freute sich Gackt nun auf einen Abend, an dem es endlich mal nicht um die Arbeit ging und sie einfach nur beste Freunde sein konnten. Hyde saß im Wohnzimmer in dem Sessel und schrieb irgendetwas auf einen Block. Auf dem Couchtisch lagen bereits einige beschriebene Blätter. Als Gackt sein Zimmer verließ, ging er sogleich zu Hyde hinüber. Offenbar schrieb Hyde ein Gedicht – oder mehrere. „Du bist wirklich ein künstlerischer Typ, was?“, meinte Gackt. Hyde lächelte ihn leicht an, erwiderte aber nichts. Gackt beobachtete ihn dabei, wie er eine Zeile auf seinem Block durchstrich. „Darf ich das lesen?“, fragte Gackt und deutete auf die Zettel auf dem Tisch. „Meinetwegen. Aber die sind nicht gut“, erwiderte Hyde. Gackt las einige von den Gedichten, dann wandte er sich wieder Hyde zu. „Du könntest wirklich gut Songtexte schreiben, weißt du das?“, sagte er nachdenklich. „Das glaub ich nicht...“, meinte Hyde, etwas verlegen. „Na, schau dir doch mal deine Texte an!“, sagte Gackt. „Außerdem hab ich dich vorhin singen gehört! Du singst wirklich gut. Bist du in einer Band?“ Hyde sah ihn verwundert an. „Was?“ „Vorhin. Ich war auf dem Weg ins Badezimmer, da kam ich an deinem Zimmer vorbei und hab dich singen gehört“, erklärte Gackt. „Ich, ähm... Nein. Ich hatte mal eine Band...“ Hyde wurde zunehmend nervöser. „Ernsthaft? Und dann sagst du mir, du verstehst nichts von Musik? Was ist passiert? Gab es Differenzen zwischen den Bandmitgliedern?“, wollte Gackt wissen. „Nein. Ich...“ Hyde sah ihn einen Moment verunsichert an. „Ich kann nicht mehr singen.“ Gackt konnte nicht anders, als Hyde ungläubig anzustarren. „Nicht mehr singen? Also, wenn du SO singst und dann sagst, du kannst es nicht mehr...“ Er legte eine bedeutungsvolle Pause ein. „Dann frag ich mich, wie gut du warst, ALS du es noch konntest.“ Hyde wurde nur noch nervöser und schüttelte den Kopf. Nach einem kurzen Schweigen meinte Gackt: „Wie auch immer, ich gehe jetzt. Ich hab noch eine Verabredung.“ „Ein Date?“, wollte Hyde sofort wissen. Er schien froh, das Thema wechseln zu können. „Ja, aber nur mit meinen Freunden.“ Gackt lachte. „Wir wollen Billard spielen. Wenn du magst...?“ Hyde schüttelte entschieden den Kopf. „Das ist lieb, aber...“ „Okay. Dann sehen wir uns später!“ Gackt nahm die öffentlichen Verkehrsmittel, um die Bar zu erreichen, in der er sich mit seinen Freunden treffen wollte. Als er von der Bahnstation aus auf die Bar zuging, erblickte er in einiger Entfernung jemanden, der ihm bekannt vorkam. Während Gackt sich näherte und den Mann noch immer ansah, bemerkte er, dass dieser ihn ebenso anblickte. Sie mussten sich wohl kennen. Schließlich gingen sie direkt aufeinander zu und Gackt erkannte den anderen. „Tetsu! Das war doch dein Name, oder?“, fragte er. Der andere nickte. „Genau.“ Er lächelte. „Wie geht’s dir?“, wollte Tetsu wissen. „Alles bestens. Dir?“, sagte Gackt. „Ebenso. Was macht die Musik?“ Gackt zögerte einige Sekunden. „Wo du gerade danach fragst... Hast du einen Moment Zeit?“ Tetsu zuckte die Schultern. „Klar.“ „Entschuldige, aber... Ich muss mal eben Bescheid geben, dass ich mich etwas verspäte...“, erklärte Gackt, während er sein Handy aus der Tasche zog und You schrieb. Dann sah er Tetsu wieder an. „Wollen wir uns irgendwo hinsetzen?“ Tetsu nickte und gemeinsam gingen sie ein Stück, bis sie an einem Platz ankamen, auf dem es Sitzgelegenheiten gab. Sie setzen sich nebeneinander auf eine Bank. „Was ist los?“, wollte Tetsu wissen und grinste leicht. Was wollte der andere bloß mit ihm besprechen? „Du kennst Hyde doch ziemlich gut...“, begann Gackt. „Ja, wir sind beste Freunde“, erklärte Tetsu und seine Miene wurde ernster. „Was ist mit ihm?“ Gackt war nun doch etwas verlegen. „Eigentlich nichts Wichtiges“, sagte er und lächelte. „Hattet ihr mal eine gemeinsame Band?“ Nun sah Tetsu verwundert aus. „Hat Hyde dir das erzählt?“, wollte er wissen. „Direkt erzählt nicht, aber ich hab ihn gefragt und er hat gesagt, dass er mal eine Band hatte. Er kann wirklich gut singen.“ „Singen? Du hast ihn singen gehört?“, fragte Tetsu, nahezu ungläubig. „Ja. Und ich wunder mich nur, weil er halt immer sagt, er versteht nichts von Musik. Dabei könnte bestimmt was Großes aus ihm werden“, erklärte Gackt. „Ich will mir ja nicht selbst Konkurrenz machen, aber...“ Tetsu sah den anderen schweigend an. Gackt meinte es wirklich ernst. Vielleicht sollte er noch mal mit Hyde sprechen. Auf Tetsus Lippen legte sich ein Lächeln. „Danke, dass du mir das erzählt hast. Da zeigt Hyde dir ja eine Seite, die ich so gar nicht von ihm kenne.“ Gackt grinste. „Na ja, er hat mir ja nicht direkt was vorgesungen. Das war mehr so für ihn selbst in seinem Zimmer.“ Tetsu lächelte noch immer. „Ja, das... sieht ihm schon ähnlicher.“ „Er ist wirklich nicht so gesellig, oder? Ich hatte ihm angeboten, dass er mit mir mitkommen kann zum Billard spielen.“ „Das ist wirklich nicht so sein Ding. Er hat nicht gerne viele Menschen um sich rum. Macht doch mal was zu zweit oder zu dritt. Ein Filmabend. Oder kocht was zusammen“, schlug Tetsu vor. Gackt nickte nachdenklich. „Was für Filme mag er denn?“, wollte er schließlich wissen. „Kein besonderes Genre. Aber er schaut gern amerikanische Filme. Im Original mit Untertiteln.“ „Oh, das ist ein guter Tipp. Danke!“, meinte Gackt. Nach einem Blick auf seine Uhr fügte er hinzu: „Ich glaub, ich sollte mich auch langsam mal wieder auf den Weg machen.“ Tetsu nickte. „Okay. Wir sehen uns sicher mal wieder.“ Und mit diesen Worten verabschiedeten sie sich und gingen ihrer Wege. Kapitel 5: I Can Feel --------------------- Tetsu stand vor Hydes Wohnungstür und wartete, bis ihm der andere aufmachte. Nur Sekunden später ging die Tür auf und Hyde strahlte ihn erfreut an. Sie umarmten sich kurz zur Begrüßung, ehe Hyde einen Schritt beiseitetrat, um seinen Freund hereinzulassen. Tetsu ging voran ins Wohnzimmer, wo Hyde schon Getränke und etwas zum Naschen bereitgestellt hatte. Hyde folgte ihm. Tetsu wandte sich zu seinem Freund um. „Ist Gackt gar nicht da?“, wollte er wissen und schaute sich dann um, so als könnte er Gackt doch noch irgendwo in einer Ecke entdecken. „Nein, der ist heute schon früh weg“, erklärte Hyde. Die beiden setzten sich einander gegenüber. „Schade. Er scheint ein netter Kerl zu sein“, meinte Tetsu schließlich. Nach einer Weile fügte er hinzu: „Außerdem hat er mir etwas Interessantes über dich erzählt ...“ Er sprach absichtlich nicht weiter und betrachtete neugierig Hydes Gesicht, das etwas erschrocken, aber hauptsächlich verwirrt aussah. „Wann habt ihr euch getroffen? Und was hat er gesagt?“, wollte Hyde wissen. „Wir sind uns letztens zufällig begegnet. Offenbar gibt es Dinge, die du mir nicht erzählst ...“, sagte Tetsu vage. Hyde sah ihn aufmerksam an. „Jetzt sag schon!“ Tetsu lachte. Dann meinte er: „Er sagte, er hat dich singen gehört.“ „Oh, das ...“, begann Hyde. „Und er sagte, du kannst sehr gut singen“, fuhr Tetsu fort. Hyde schwieg. Tetsu beugte sich vor und sah ihn eindringlich an. „Dann komm wieder in unsere Band!“ Sofort schüttelte Hyde den Kopf. „Das geht nicht.“ Er sah hinunter auf die Tischplatte vor ihm. „Hey! Hör mir zu!“, sagte Tetsu und wedelte mit seinen Händen, sodass Hyde ihn wieder ansah. „Ich meine es ernst! Warum versuchst du es nicht mal?“ „Du weißt, dass das unmöglich ist“, erklärte Hyde resigniert. „Wie stellst du dir das denn vor?“ „Wir werden uns schon was ausdenken! Wir ...“, begann Tetsu, doch Hyde unterbrach ihn: „Nein! Es geht nicht. Und jetzt hör auf damit. Lass uns über was anderes reden.“ Tetsu seufzte. „In Ordnung.“ Und damit begannen sie ein Gespräch über alles Mögliche. Tetsu erzählte von seiner Arbeit, von der Band, einem Mädchen, das er interessant fand ... Hyde hingegen konnte von der Uni erzählen, von neuen Projekten, in die sie zurzeit vertieft waren, von seinem Leben mit Gackt als Mitbewohner ... Am späten Nachmittag verließ Tetsu die Wohnung und ging gerade den Flur entlang, als ihm Gackt entgegenkam. „Hey, Gackt! Alles klar bei dir?“, fragte Tetsu und lächelte den anderen an. „Hi! Ja, alles super. Bei dir?“, erwiderte Gackt. „Auch. Dann bis bald!“ Mit diesen Worten ging Tetsu auch schon an Gackt vorbei. „Tetsu! Warte mal!“, rief Gackt ihm hinterher. Tetsu blieb stehen und drehte sich um. „Was denn?“ „Können wir Handynummern austauschen?“, fragte Gackt und erklärte dann: „Falls mal was ist.“ Tetsu zuckte die Schultern. „Klar.“ Wenig später betrat Gackt die Wohnung, die er sich mit Hyde teilte. Sein Mitbewohner saß noch im Wohnzimmer. Nachdem sie sich begrüßt hatten, setzte Gackt sich aufs Sofa. „Und? Was hast du heute noch so vor?“, fragte er. Hyde überlegte kurz. „Eigentlich nichts Besonderes.“ Gackt stand mit einem Ruck auf. „Super!“, stieß er aus und grinste breit. Irritiert sah Hyde ihn an. „Heute Abend hat meine Band einen Auftritt. In einem Club. Es würde mich freuen, wenn du kommst“, erklärte Gackt. Hyde schüttelte nahezu automatisch den Kopf und versuchte sich eine Ausrede einfallen zu lassen. „Ähm, ich ...“ Gackt grinste noch breiter. „Genau, du hast heute Abend nichts vor! Wie passend!“ Hyde erwiderte nichts. „Ich muss in einer halben Stunde wieder los. Wenn du willst, kannst du dann schon mitkommen. Sonst schreib ich dir die Adresse auf und wir sehen uns später“, erklärte Gackt. „Also?“ Hyde stand auf. „Ich zieh mir nur was anderes an.“ Als Hyde in sein Zimmer ging, grinste Gackt noch immer. Endlich bekam er Hyde mal dazu, ihn zu begleiten. Kaum eine Stunde später waren sie bei dem Club angekommen. Ren stand noch draußen und rauchte eine, während die anderen offenbar schon drinnen waren. Hyde zögerte einen Moment, dann folgte er Gackt, der zielstrebig auf seinen Freund zuging. „Jetzt kann ich euch endlich mal richtig vorstellen!“, meinte Gackt. „Hyde, das ist Ren. Ren, Hyde.“ Ren lächelte freundlich. „Hi! Wie geht’s dir?“ Hyde musterte Ren, dann nickte er. „Gut. Und dir? Bist du aufgeregt wegen eures ... Auftritts?“ „Ja, schon. Ich glaub, auch echte Stars sind nervös vor einem Konzert. Da gewöhnt man sich nie dran!“ Ren klopfte Hyde freundschaftlich auf die Schulter. „Spielst du auch ein Instrument?“ „Ich ... nein, nicht wirklich“, meinte Hyde. Gackt bemerkte, wie Hyde sich immer wieder nervös die Lippen leckte. „Lasst uns mal reingehen!“, forderte er die anderen beiden schließlich auf und ging ihnen voran in das Gebäude. Drinnen trafen sie auf Gackts andere Freunde, die er Hyde sogleich vorstellte. Nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, schlug You Hyde vor: „Wenn du gleich nicht im Gedränge stehen willst, solltest du dir schon mal einen Platz an der Theke suchen, ehe der Einlass beginnt.“ Hyde nickte kurz. „Wir sehen uns dann später!“, sagte Gackt. Hyde wünschte den Bandmitgliedern viel Erfolg und wandte sich dann ab. Während die Jungs hinter der Bühne verschwanden, ging Hyde langsam in Richtung Theke. Er fühlte sich unwohl. Wie hatte er sich bloß von Gackt überreden lassen können, mitzukommen? Er seufzte leicht. Er setzte sich auf einen der Barhocker und bestellte sich etwas zu trinken. Es dauerte eine ganze Weile, ehe offizieller Einlass war und Besucher sich in den Club drängten. Gackts Band schien schon recht bekannt zu sein. So gab es zwar durchaus einige Besucher, die sich einfach überraschen lassen wollten und spontan an der Abendkasse Karten gekauft hatten; die Mehrheit jedoch schien mit der Band und ihrer Musik vertraut. Irgendwie war Hyde fasziniert. Er hatte nicht gewusst, dass Gackt mit seiner Musik tatsächlich schon so erfolgreich war. Und unweigerlich fragte er sich, ob wohl seine eigene Band je so erfolgreich hätte werden können, wenn ... Er schüttelte energisch den Kopf. Nein. Das war unmöglich. Endlich traten die Bandmitglieder auf die Bühne und stimmten ihren ersten Song an. Hyde hatte sich mittlerweile etwas abseits hingestellt und beobachtete sie. Die Schwingungen von Rens Basssaiten brachten den Boden zum Vibrieren. Hyde spürte die Vibrationen in seinen Füßen, seinen Beinen, seinem Bauch. Ein leises Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Er konnte nicht anders, als sich leicht im Takt der Musik zu bewegen. Nach und nach ließ Hyde sich von der Stimmung des Publikums mitreißen. Und auch, wenn er normalerweise nicht der Typ dafür war, so konnte er dem Drang nicht widerstehen und tanzte schließlich. Vielleicht war es doch ganz gut gewesen, dass er sich von Gackt zum Mitkommen überreden lassen hatte. Viel zu lange war er nicht mehr tanzen gewesen, hatte fast schon vergessen, wie viel Spaß es machte. Er spürte die Musik mit jeder Faser seines Körpers und das fühlte sich unglaublich gut an. Als das Konzert rund eineinhalb Stunden später vorbei war und die Besucher langsam nach draußen strömten, wusste Hyde nicht recht, ob er irgendwo auf Gackt warten sollte oder nicht. Würde der ihn denn überhaupt zwischen all diesen Menschen finden? Als er noch etwas ratlos herumstand, kam jemand direkt auf ihn zu. Erfreut stellte Hyde fest, dass es Gackt war, der ihn breit grinsend ansah. „Da bist du ja! Hat’s dir gefallen?“, wollte Gackt wissen. Hyde nickte lächelnd. „Ja. Vielleicht sollte ich mich öfter mal von dir mitnehmen lassen.“ „Wie passend, dass du das sagst. Wir wollen noch etwas feiern gehen. Lust, mitzukommen?“ Nur kurz zögerte Hyde, dann willigte er ein. Kapitel 6: Lies ... ------------------- In den nächsten Tagen war Gackt vielbeschäftigt und oft aus dem Haus. Wenn er mal zuhause war, war Hyde seinerseits nicht da. Seine übrige Zeit schien Gackt wohl mit dem Schreiben neuer Lieder zu verbringen, zumindest wurde der Stapel an Notenblättern neben dem Flügel von Tag zu Tag höher. Eines Nachmittags hatte Hyde sich auf den kleinen Hocker vor dem Flügel gesetzt und blätterte neugierig durch den Stapel an Noten. Einige Blätter waren mit Noten übersäht, die sich dicht an dicht drängten. Achtel, Sechzehntel. Andere Blätter wiederum waren nicht so vollgeschrieben. Ob er es wohl ...? Hyde drehte sich um, um sich noch einmal zu vergewissern, dass Gackt nicht da war. Dann stellte er das Notenblatt auf die Ablage und legte seine Finger auf die Tasten. Vorsichtig spielte er die ersten Töne. Als Gackt einige Zeit später nach Hause kam, stellte er erstaunt fest, dass Hyde Klavier spielte. Er hatte es schon vom Hausflur aus gehört. Und dieses Lied ... Spielte er etwa eins von Gackts Liedern? Die letzten Tage über war Gackt diese Melodie im Kopf herumgeschwirrt und er hatte einige verschiedene Versionen aufgeschrieben, war jedoch nie so ganz zufrieden gewesen. Hyde spielte das Lied ein gutes Stück langsamer. Und damit gewann es deutlich an Emotionen. Gackt wusste, dass Hyde sofort aufhören würde zu spielen, wenn er ihn bemerken würde, also hielt er inne und stand eine ganze Weile einfach nur da und lauschte den Klängen aus dem Wohnzimmer. Hyde konnte ziemlich gut Klavier spielen. Vielleicht war es gar nicht sein ehemaliger Mitbewohner gewesen, der auf dem Instrument gespielt hatte, sondern Hyde. Warum nur traute Hyde sich dann nicht, das zuzugeben? Endlich rührte Gackt sich und betrat das Wohnzimmer. Während er leicht vor und zurück wippte, spielte Hyde die letzten Töne. Gackt ging die wenigen Schritte zu seinem Mitbewohner, der just in diesem Moment sein Klavierspiel beendete, aufstand und sich zu ihm umwandte. In seinem Gesicht konnte Gackt Verwirrung lesen und vielleicht auch Verlegenheit. „Ich bin wieder zu Hause“, verkündete Gackt. „Hast du gerade eins von meinen Liedern gespielt?“ Hyde nickte nur, während Gackt auch schon fortfuhr: „Ich hatte immer gedacht, es müsste schneller sein, aber du hast Recht. So wie du es gespielt hast, war es viel schöner. Und passt ehrlich gesagt auch besser zu den paar Textzeilen, die ich schon habe.“ Hyde konnte seine Verwunderung kaum verbergen. „Meinst du ... wirklich?“ „Ja. Du bist echt unglaublich talentiert. Ich kann nicht nachvollziehen, warum du die Musik aufgegeben hast.“ Gackt betrachtete den anderen eindringlich. Hyde wandte den Blick ab und schaute zur Seite. Gackt wusste, dass Hyde nicht darüber sprechen wollte, daher beschloss er, das Thema zu wechseln. Er legte seine Hand auf Hydes Oberarm und hielt ihn davon ab, zu gehen. „Hey, wie wär’s heut Abend mit Karaoke? Nur wir zwei. Wir können auch Tetsu mitnehmen, wenn du magst. Oder You und Chacha.“ „Eigentlich ...“, begann Hyde. Gackt grinste. „Das hab ich mir gedacht. Für den Fall ...“ Mit diesen Worten holte er eine Videokassette aus seiner Tasche und hielt sie neben sein Gesicht. „Ein Horrorfilm. Aus Amerika. Ich weiß, dass du Horrorliteratur liebst, aber auch Filme?“ Hyde konnte ein Lächeln nicht verhindern. Als er nickte, sagte Gackt: „Super! Wenn du den noch nicht kennst, können wir ihn ja nachher schauen.“ „Zeig mal!“, forderte Hyde Gackt schließlich auf und ließ sich das Video geben. Er las die Inhaltsangabe auf der Rückseite. Als sein Blick danach wieder Gackts traf, glaubte dieser, ein Leuchten in den Augen des anderen zu sehen. „Oh, das klingt super!“, stieß Hyde aus. Gackt nickte langsam. „Dann sind wir wohl nachher verabredet“, meinte er. Er selbst konnte nicht unbedingt behaupten, dass er sich großartig für Horrorfilme interessierte, aber Hyde schien das Genre dafür umso mehr zu fesseln. Und so ein Filmabend mit Hyde versprach mal eine angenehme Abwechslung zu Gackts sonstigen Beschäftigungen zu sein. Einige Stunden später stand Gackt in der Küche und suchte nach einem Topf, um Popcorn zu machen. Er wusste nicht mal, ob Hyde überhaupt Popcorn mochte, aber in Anbetracht all der Süßigkeiten und Knabbereien, die sich in den Küchenschränken verbargen, war die Wahrscheinlichkeit wohl enorm hoch. Und zu Filmabenden gehörte Popcorn einfach dazu. Kaum hatte er einen Topf gefunden, etwas Öl hineingetan und ihn auf den Herd gestellt, betrat Hyde die Küche. „Was machst du?“, fragte er und näherte sich interessiert, um in den Topf schauen zu können. Gackt schaltete die Herdplatte ein und drehte sich dann zu Hyde. Mit einem breiten Grinsen erklärte er: „Popcorn machen. Ich hoffe, du magst Popcorn.“ „Klar!“ Gackt überprüfte, ob das Öl schon heiß genug war, indem er einen Holzkochlöffel in den Topf hielt. „Süßes oder salziges Popcorn?“, fragte er. Als Hyde nicht antwortete, drehte Gackt sich zu ihm. „Du magst wohl beides, was?“, wollte er wissen. Hyde sah ihn verwundert an. „Entschuldige. Was hast du gesagt?“ „Ich fragte, ob du lieber süßes oder lieber salziges Popcorn magst.“ „Süßes.“ „Gut. Dann hol doch mal den Zucker.“ Während Gackt Popcornmais in den Topf füllte, sodass der Boden bedeckt war, kam Hyde noch einige Schritte näher und gab schließlich etwas Zucker in den Topf. Als der Deckel wieder drauf war, beobachteten beide interessiert, wie der Mais nach und nach hochsprang, zerplatzte und zu Popcorn wurde. Kaum war das Popcorn fertig, füllte Gackt es in eine Schüssel und Hyde probierte es, um zu überprüfen, ob er auch genug Zucker hinzugegeben hatte. „Dann lass uns mal schnell den Film starten, solange das Popcorn noch warm ist“, meinte Gackt. Hyde nickte und ging schon mal voran ins Wohnzimmer, um den Film einzulegen. Als Gackt Stunden später in seinem Bett lag, dachte er noch mal über den Abend nach. Er musste zugeben, dass es Spaß gemacht hatte, mit Hyde den Horrorfilm zu sehen, auch wenn Horrorfilme wirklich nicht seins waren. Letztlich war Hyde viel abgebrühter als er – hatte vermutlich schon deutlich mehr gruselige Filme gesehen – und hatte sich bei einigen Szenen kaum erschreckt, wohingegen Gackt offensichtlich zusammengezuckt war. Der Film war auf Englisch und sie hatten zur Sicherheit die Untertitel eingeschaltet, die allerdings ebenfalls auf Englisch waren. Letztlich war Gackt ganz froh um die Untertitel, denn hin und wieder waren einige Sätze einfach viel zu undeutlich gewesen – sei es wegen der lauten Hintergrundgeräusche oder der undeutlichen Aussprache der Charaktere. Gackt hatte vorher nie darüber nachgedacht, einen Film überhaupt in der Originalsprache zu sehen, wenn es ihn doch auf Japanisch gab, aber eigentlich war es im Original sogar noch besser. Kapitel 7: ... and Truth ------------------------ An einem der folgenden Tage hörte Gackt schon früh, wie Hyde die Wohnung verließ und die Haustür danach ins Schloss fiel. Gackt schaute nur kurz auf die Uhr und drehte sich dann noch mal um. Zum Aufstehen war es für ihn noch viel zu früh. Etwas später bemerkte er auf dem Weg zum Bad, dass Hydes Zimmertür einen Spalt weit offenstand. Er wollte gar nicht ohne Erlaubnis in das Zimmer seines Mitbewohners schauen, aber als er die Tür gerade zuziehen wollte, glaubte er, etwas in Hydes Zimmer gesehen zu haben. War das eine ... Gitarre? Er hielt kurz inne, dann öffnete er die Tür doch ein Stück. Tatsächlich, Hyde hatte eine Gitarre. Etwas verwirrt war Gackt schon, aber in dem Moment dachte er sich nichts weiter dabei, schloss die Tür und ging endlich ins Badezimmer. Viel später an diesem Tag saß er mal wieder an seiner Musik. Es war schwierig. Manchmal sprühte er nur so vor neuen Ideen für Lieder, an anderen Tagen saß er ewig nur an der Melodie oder einer einzelnen Textzeile. Er hatte schon einige Zettel beschrieben, vieles durchgestrichen und spielte gerade erneut den fertigen Teil des Liedes auf dem Flügel, als Hyde nach Hause kam. „Ich bin zurück!“, verkündete er, als er das Wohnzimmer betrat. Gackt unterbrach sofort sein Klavierspiel, stand auf und ging einige Schritte auf Hyde zu. „Hey! Wie geht’s dir? Wie war dein Tag?“ „Ganz gut“, erwiderte Hyde lächelnd. Dann fragte er: „Und deiner? Kommst du voran?“ „Wenn du schon so fragst ... Ich könnte deine Hilfe gebrauchen“, erklärte Gackt. Sofort wurde Hydes Gesichtsausdruck ernster. „Meine?“, fragte er erstaunt. Gackt nickte. „Allerdings. Ich weiß ja mittlerweile, wie musikalisch du bist. Du könntest mir ruhig mal helfen.“ „Ich ... glaube wirklich nicht, dass ich dir irgendeine Hilfe wäre. Ich kann mit Musik nichts anfangen.“ „Ernsthaft? Das behauptest du immer noch?“ Gackt musste fast lachen. Warum machte Hyde das? „Findest du nicht, du solltest mir endlich mal die Wahrheit sagen?“, fragte Gackt nun. Hyde schien eine ganze Weile zu überlegen. Dann nickte er langsam. „Warum weichst du immer aus, wenn es um Musik geht?“, wollte Gackt wissen. „Ich ... Weil ich ...“ Hyde atmete tief durch, ehe er fortfuhr: „Ich kann nicht hören.“ Es brauchte eine Weile, ehe die Nachricht zu Gackt durchgedrungen war, und so blickte er Hyde einige Sekunden wortlos an. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf. „Weißt du, Hyde, ich kann nicht glauben, dass du dir so einen Schwachsinn ausdenken musst“, stieß er schließlich hervor. Es enttäuschte und verletzte ihn, dass Hyde sich lieber Lügen ausdachte, als ihm die Wahrheit zu sagen. „Eh?“ Hyde blickte ihn verständnislos an. „Ich hab doch gehört, wie du singst und Klavier spielst“, erklärte Gackt. „Und weißt du was? Ich hab vorhin die Gitarre in deinem Zimmer gesehen. Welcher Gehörlose spielt denn Gitarre?“ Je mehr er sagte, desto wütender wurde er. „Ich dachte, wir wären mittlerweile sowas wie Freunde. Aber ganz ehrlich, den Blödsinn kannst du dir sparen.“ Hyde wusste offenbar nicht, was er sagen sollte. Er starrte Gackt entsetzt und mit halbgeöffneten Mund an. Schließlich drehte er sich um und verschwand in seinem Zimmer. Einige Zeit stand Gackt noch reglos da und schüttelte mehrmals ungläubig den Kopf. Es machte ihn wirklich wütend, dass Hyde glaubte, ihn so anlügen zu müssen. Sie lebten nun schon einige Zeit zusammen und Gackt hatte geglaubt, dass sie mittlerweile mehr als nur Mitbewohner waren. Vor allem, weil Hyde sich in letzter Zeit ihm gegenüber mehr geöffnet und auch mal etwas gemeinsam mit ihm unternommen hatte. Gackt setzte sich wieder auf den kleinen Hocker vor dem Flügel. Er konnte hören, wie Hyde wenig später durchs Wohnzimmer und zur Haustür ging, aber er drehte sich nicht um. Immerhin gab es nichts, was sie sich jetzt noch zu sagen hatten. An diesem Abend und dem Folgetag konnte Gackt sich überhaupt nicht auf seine Musik konzentrieren. Hyde war die Nacht über nicht nach Hause gekommen, aber was interessierte Gackt das schon? Am späten Nachmittag klingelte es an der Tür. Vielleicht hatte Hyde seinen Schlüssel vergessen und war nun zurückgekehrt. Als Gackt jedoch durch den Spion schaute, war es nicht Hyde, den er sah, sondern Tetsu. Als er die Tür öffnete, erklärte er daher sogleich: „Hyde ist nicht hier.“ Tetsu nickte. „Ich weiß. Er ist bei mir. Und ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen. Hast du Zeit?“ „Klar, komm rein.“ Gackt trat einen Schritt beiseite und ließ Tetsu in die Wohnung. Nachdem dieser seine Schuhe ausgezogen hatte, gingen sie gemeinsam ins Wohnzimmer. „Ihr hattet also gestern ein wenig Streit“, begann Tetsu, als sie sich hingesetzt hatten. „So kann man das auch sagen.“ Gackt war genervt. Er mochte Tetsu eigentlich ganz gern, aber was machte er jetzt hier? „Dann erzähl mir doch mal, was los war“, forderte Tetsu Gackt auf. „Ich halte Hyde für unglaublich talentiert, was Musik betrifft“, sagte Gackt. „Aber seine blöde Lügerei geht mir auf den Sack.“ Er brauchte eine Weile, ehe er weitersprach. „Ich wollte nur seine Hilfe bei einem Lied und er behauptet ernsthaft, gehörlos zu sein. So einen Schwachsinn habe ich noch nie gehört! Warum sagt er mir nicht einfach die Wahrheit?“ „Und was ist, wenn ...“, begann Tetsu, „... Hyde die Wahrheit gesagt hat?“ „Das ist unmöglich. Wie sollte er mich denn verstehen können, wenn er mich gar nicht hören kann?“ „Kann er dich denn wirklich immer verstehen? Antwortet er jedes Mal, wenn du was sagst?“, fragte Tetsu nach. Gackt überlegte einen Moment, ehe er zugab: „Nicht jedes Mal ...“ „Er muss deine Lippen sehen, um die Worte ablesen zu können“, erklärte Tetsu. „Aber ...“ Gackt überlegte einige Zeit. Konnte das denn wirklich stimmen? Hatte Hyde ihm denn nur in Situationen „nicht zugehört“ oder ihn „nicht verstanden“, wenn er sein Gesicht nicht gesehen hatte? Gackt musste zugeben, dass da was dran war. Schon damals, als sie sich kennengelernt hatten und Hyde ihm die Wohnung gezeigt hatte, war er nicht auf Fragen eingegangen, die Gackt gestellt hatte, wenn er ihn nicht angesehen hatte. Gackt hatte all die Zeit geglaubt, dass Hyde die Fragen absichtlich überhört hatte, weil er nicht darüber reden wollte, oder dass er tatsächlich sehr verträumt war, so wie Tetsu es behauptet hatte. Dennoch, wenn er wirklich nicht hören konnte, dann konnte er wohl kaum in der Lage sein, Musik zu machen. „Es kann einfach nicht stimmen. Wie kommt es denn, dass er so gut singt?“ Tetsu lächelte leicht. „Das ist es auch, was mich erstaunt. Ich hatte geglaubt, dass er das Singen wirklich aufgegeben hat, seit er nicht mehr hören kann. Vorher hat die Musik ihm alles bedeutet. Offenbar tut sie das noch immer. Und schließlich konnte er ja vorher singen, warum sollte er nun plötzlich vergessen, wie es geht? Er kann eben nur nicht hören, ob er tatsächlich richtig singt.“ Eine Weile war es still zwischen ihnen. Dann fragte Gackt: „Was ist passiert?“ „Er hatte einen Unfall. Und seitdem ...“ Tetsu hielt einen Augenblick inne, bevor er fortfuhr: „Er ... hat sich sehr zurückgezogen. Wir haben uns so oft und lange unterhalten ... Ich habe ihm immer wieder gesagt, ob er zu laut oder zu leise, zu schnell oder zu langsam spricht. Es hat so lange gedauert, bis er überhaupt bereit war, seine Wohnung zu verlassen, geschweige denn, sich mit irgend jemandem zu unterhalten. Aber er kann das gut, nicht wahr?“ Tetsu lächelte abermals. Gackt nickte. „Ich habe davon nichts gewusst.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Sagst du ihm, dass er bitte nach Hause kommen soll? Ich möchte mich bei ihm entschuldigen.“ Einige Stunden später saßen sich Gackt und Hyde am Küchentisch gegenüber. Gackt hatte sich mehrfach entschuldigt und nachdem einige Zeit Stille zwischen ihnen geherrscht hatte, meinte Gackt: „Ich finde, du solltest wieder Musik machen.“ Hyde, der ihn die ganze Zeit aufmerksam gemustert hatte, runzelte nun leicht verärgert die Stirn. Fing Gackt schon wieder damit an? „Sag mal, verstehst du es nicht? Das ist unmöglich!“ „Warum?“, wollte Gackt wissen. Um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, machte Hyde nach jedem Wort eine kurze Pause, als er sagte: „Weil. Ich. Sie. Nicht. Hören. Kann.“ Gackt nickte langsam. Er dachte daran, wie er Hyde im Club hatte tanzen sehen. An sein freudestrahlendes Gesicht danach. Daran, wie er Hyde beim Klavierspielen gesehen hatte. Wie er leicht vor und zurück gewippt war. Dann erklärte er ruhig: „Aber du kannst sie spüren.“ Kapitel 8: New World -------------------- Auch wenn er sie nicht mehr hören konnte, liebte Hyde die Musik trotzdem und hatte nie ganz loslassen können. Wenn er die Noten auf einem Blatt sah, konnte er das Lied beinahe in seinem Kopf hören. Er war so vertraut mit den Zeichen, immerhin hatte er sich jahrelang ständig damit beschäftigt. Nun hörte er die Musik zwar nicht mehr, aber er nahm andere Aspekte wahr. Wenn er jemandem beim Musizieren zusah, konnte er aus der Mimik und Gestik erkennen, um welche Art von Lied es sich handelte. Ob es melancholisch oder euphorisch war. Auch die Geschwindigkeit eines Liedes konnte ihm Aufschluss darüber geben. Bei lauten oder besonders tiefen Tönen spürte er die Vibrationen in seinem Körper. Er hatte erkannt, dass nicht nur die Ohren für die Wahrnehmung von Musik verantwortlich waren. Irgendwie war er froh, dass Gackt mittlerweile wusste, dass er nicht hören konnte. Das machte viele Sachen deutlich einfacher. Gackt war klar, dass Hyde nicht einfach nur verträumt war – zugegeben, etwas verträumt war er schon –, und er konnte Rücksicht darauf nehmen. Vor allem aber musste Hyde sich keine Ausreden mehr einfallen lassen, wenn er Gackt mal wieder nicht zu seinen Freizeitaktivitäten begleitete. Andererseits konnte Gackt nun wesentlich besser einschätzen, zu was er Hyde doch überreden konnte – Eis essen im Park lehnte Hyde selten ab. Überhaupt konnten sie viel machen, solange nicht zu viele andere Menschen dabei waren, zwischen deren Gesichtern Hyde in einem Gespräch hin und her hätte schauen müssen, und solange es ihnen möglich war, sich anzusehen. Hyde musste auch sein Interesse für Musik nicht länger verbergen. Hin und wieder half er Gackt auch beim Schreiben von Liedern. Nur, vielleicht hätte er sich das sparen sollen ... Denn eines Tages hatten sich Gackt und Tetsu offenbar verabredet und wollten mit Hyde sprechen. Dass die beiden nichts Gutes im Schilde führten, war Hyde sofort klar. Schließlich saßen sie gemeinsam am Küchentisch. Gackt und Tetsu auf der einen Seite, Hyde auf der anderen. „Lass uns doch noch mal über Musik sprechen“, begann Tetsu ohne Umschweife. Hyde seufzte. „Was gibt es da noch zu besprechen?“, wollte er wissen. „Ich will, dass du wieder in unsere Band kommst“, forderte Tetsu. Langsam schüttelte Hyde den Kopf. „Was sollte euch das bringen?“ „Mit dir als Sänger werden wir berühmt!“, erklärte Tetsu. „Du weißt, dass ich momentan sowohl Bassist als auch Sänger bin. Und du weißt auch, dass ich nicht so gut singen kann wie du.“ „Aber ich kann es ja nicht mehr!“ Hydes Blick fiel auf Gackt, der ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. „Nicht mehr so gut ...“, fügte er daher hinzu. „Zeig es mir doch einfach mal!“, verlangte Tetsu. „Das ist aussichtslos. Vielleicht klingt es ganz passabel, wenn ich alleine singe. Aber wenn Instrumente dazu spielen ...“ Hyde senkte den Blick. Natürlich, er wünschte auch, dass er noch so singen könnte wie früher, aber das ging nun mal nicht. Unvermittelt stand Gackt auf, griff nach Hydes Handgelenk und zog ihn mit sich ins Wohnzimmer. Er sah Hyde an, als er erklärte: „Ich spiele Klavier, du singst. Mein neues Lied.“ Hyde kannte das Lied, weil sie tatsächlich gemeinsam daran gearbeitet hatten, aber er hatte es noch nie wirklich gehört – wie denn auch? Trotzdem beschloss er, sich auf den Versuch einzulassen. Auch wenn er nur dazu diente, den anderen beiden zu zeigen, dass er niemals der Sänger einer Band sein konnte. Er beobachtete, wie Gackts Finger sich auf die Tasten des Flügels legten und er die ersten Takte spielte. An der richtigen Stelle setzte Hyde ein und begann zu singen. Er konnte nicht beurteilen, ob er überhaupt mit dem richtigen Ton angefangen hatte und folglich die weiteren Töne stimmten, und so hörte er nach einigen Takten wieder auf zu singen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Gackt und Tetsu miteinander sprachen, aber er wollte gar nicht wissen, was sie sagten. Tetsu ging daraufhin in die Richtung von Gackts Zimmer und kam wenig später wieder. In der Hand hielt er ein Stimmgerät. Er tippte Hyde auf die Schulter, sodass dieser ihn ansah. „So kannst du sehen, ob du mit dem richtigen Ton beginnst“, erklärte Tetsu und schaltete das Gerät ein. Hyde nahm es in die Hand und sang schließlich den Ton, von dem er glaubte, dass es ein A war. Auch wenn er es nicht hören konnte, so sah er auf dem Gerät, dass er den Ton tatsächlich getroffen hatte. Er hatte vielleicht ein bisschen zu tief gesungen, aber es war definitiv ein A. Er lächelte leicht. Natürlich, das Stimmgerät wäre niemals schnell genug, ihm beim normalen Singen jeden Ton anzuzeigen, aber so wusste er schon mal, dass der Anfang richtig war und der Rest baute immerhin darauf auf. Er wagte also einen zweiten Versuch, deutete Gackt an, dass er losspielen sollte und setzte schließlich passend ein. Dieses Mal hörte er erst auf mit dem Singen, als sie beim Ende angekommen waren. Sofort drehte Gackt sich lächelnd zu ihm. „Das war großartig!“ Hydes Blick wanderte zu Tetsu, der eifrig nickte. „Ich erwarte dich morgen bei unserer Bandprobe.“ Kapitel 9: Lost Heaven ---------------------- Den ganzen Tag über überlegte Hyde, ob er zur Bandprobe gehen sollte. Beim Aufstehen war er sich noch sicher, dass er nicht gehen würde und suchte schon nach einer Ausrede. Als er mal wieder viel zu früh in der Uni ankam und auf den Beginn des Kurses wartete, änderte er seine Meinung und dachte sich, dass er es ja wenigstens probieren könnte. Immerhin waren Tetsu, Yuki und Ken seine Freunde und wussten über seinen Zustand Bescheid. Er würde sich vor ihnen nicht lächerlich machen, zumal ja auch nicht er derjenige war, der behauptete, dass er singen konnte, sondern Tetsu. Wenn es sich nun zeigte, dass er es doch nicht konnte, war es eben so. Nachdem der erste Kurs geendet hatte, machte sich allerdings wieder Unsicherheit in ihm breit. Nein, er könnte niemals der Sänger einer Band sein, warum sollte er es überhaupt versuchen? Er würde nicht gehen. Als er nach der Uni zuhause ankam, war Gackt noch da. Gackt fragte nicht, ob er überhaupt zur Probe gehen würde, sondern sagte wie selbstverständlich: „Ich wünsche dir nachher viel Spaß!“, ehe er die Wohnung verließ. Abermals dachte Hyde darüber nach. Natürlich, er hatte Yuki und Ken auch eine Weile nicht mehr gesehen und irgendwie hatte er sich auf ein Treffen gefreut. Nur ... dass er dabei versuchen würde, zu ihrer Musik zu singen ... Er wusste nicht, ob sein Gesang gut klang, aber Tetsu und Gackt waren davon überzeugt. Die beiden waren seine Freunde und waren immer ehrlich zu ihm gewesen. Warum sollten sie ihn ausgerechnet jetzt anlügen? Er ... würde zur Probe gehen. Als er in der Bahn saß und auf dem Weg zu ihrem Proberaum war, bereute er seine Entscheidung. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Er war schon fast da. Als er vor dem Gebäude angekommen war, hielt er einen Moment inne und atmete noch einmal tief durch, ehe er die Tür öffnete und eintrat. Er hatte schon fast damit gerechnet, dass er der erste war, aber zu seiner Verwunderung fand er Yuki vor. Dieser stand auf, als Hyde den Raum betrat und lächelte ihn an. „Hyde! Schön, dich zu sehen!“, sagte er und zog Hyde in eine freundschaftliche Umarmung. „Ja, wir haben uns lange nicht gesehen“, erwiderte Hyde. „Wie geht’s dir, Yuki?“ „Ganz gut. Die Arbeit ist anstrengend, aber eines Tages ist das alles vergessen, denn dann leben wir ja schließlich von der Musik, nicht wahr?“ Yuki grinste breit. Und Hyde spürte abermals die Unsicherheit in sich. Wenig später betrat Ken den Raum. „Hyde, alter Junge, wie geht’s dir?“, sagte er sofort und klopfte Hyde freundschaftlich auf die Schulter. „Soweit alles klar. Wie läuft’s bei dir?“ „Alles super!“ Nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, kam Tetsu. „Aha, der Bandleader kommt also als letztes. Vorbildlich“, meinte Ken. Tetsu runzelte die Stirn und schaute auf seine Uhr. „So spät ist es doch noch gar nicht. Ihr seid viel zu früh. Von Hyde bin ich das ja gewöhnt, aber von dir, Ken?“ „Wohl wahr“, meinte Yuki und setzte sich an seine Drums. „Dann kann’s ja losgehen.“ Tetsu und Ken packten ihre Instrumente aus und schlossen sie an die Verstärker an. Nur Hyde stand etwas unsicher herum. Schließlich schaltete Tetsu die Mikrofonanlage ein und sah Hyde prüfend an. „Pass auf, beim ersten Durchlauf sing ich und du schaust es dir einfach mal an. Danach versuchst du es, okay?“ Hyde nickte. Er beobachtete, wie Yuki mit seinen Drumsticks einzählte und Ken und Tetsu daraufhin einsetzten. Hyde konnte den Rhythmus der Drums relativ gut spüren und Tetsus Bass ebenso. Doch wie sollte er jemals dazu singen? Wenn er zu Gackts Klavierspiel sang, konnte er anhand der Fingerbewegungen sehen, an welcher Stelle sie gerade waren, und notfalls konnte Gackt sich bei der Geschwindigkeit an Hyde anpassen. Doch in einer Band gab der Drummer den Takt vor und normalerweise war der Sänger zum Publikum gedreht und nicht zu den anderen Bandmitgliedern. Hyde wusste nicht, ob er sich nur auf die Schwingungen verlassen konnte, die die Drums auf den Boden übertrugen und somit zu seinen Füßen und seinem Körper. Es erschien ihm alles viel zu vage. Mal davon abgesehen, dass das Spüren des Rhythmus noch lange nicht hieß, dass er auch die richtigen Töne sang. Gerade wurde ihm das alles einfach zu viel. Als das Lied vorbei war und Tetsu vor ihm stand, zuckte Hyde hilflos mit den Schultern. „Es tut mir Leid. Ich ...“, begann er und schüttelte leicht den Kopf. „Ich kann das einfach nicht.“ Tetsu sah ihm eindringlich in die Augen. Dann nickte er. „Ist okay.“ „Es tut mir Leid“, wiederholte Hyde, drehte sich dann um und lief nach draußen. Er konnte kaum atmen, fühlte sich wie erdrückt. Die frische Luft tat ihm gut. Das hier war einfach nichts für ihn. Den ganzen Nachhauseweg über hatte er sich zusammengerissen, sich mit anderen Gedanken abgelenkt, doch als er alleine zuhause war, platzten die Emotionen aus ihm heraus. Er war enttäuscht von sich selbst, hasste sich dafür, dass er nicht mehr hören konnte. Und er war wütend. Wie hatte er jemals glauben können, dass es für ihn doch noch eine Chance gab, Sänger zu sein? Ja, es war mal sein Traum gewesen, aber er musste ihn endgültig aufgeben. Warum hatte er sich bloß hierzu überreden lassen? Und in diesem Moment wünschte er sich, mit Gackt zu sprechen. Er wollte ihm sagen, was für eine dumme Idee es doch gewesen war. Er griff nach seinem Handy und suchte in den Kontakten Gackts Namen. Und dann drückte er auf anrufen. Als die Nummer gewählt wurde, drückte er auf den Freisprechknopf. Er konnte nicht hören, ob Gackt den Anruf tatsächlich annahm, aber auf dem Display konnte er sehen, dass eine Verbindung hergestellt worden war. „Es ... war furchtbar! Es klappt einfach nicht“, begann Hyde. Erst wusste er nicht, was er sagen sollte, weil er schließlich keine Antwort hören konnte, doch nach und nach kam es aus ihm heraus. „Du ... stellst dir das alles so einfach vor. Aber das ist es nicht! Was glaubst du denn, wie das funktionieren soll? Für dich ist es einfach. Natürlich ... Du kannst ja auch hören, wie die Gitarre oder der Bass einsetzt, weißt, ob du schief, zu laut oder zu leise singst. Aber was soll ich denn machen?“ Am anderen Ende der Leitung versuchte Gackt währenddessen immer wieder, ihn zu unterbrechen. „Hyde ... Jetzt wa... Hyde!“ Er wusste, dass der andere ihn nicht hören konnte, aber reflexartig versuchte er, ihn zu beruhigen. Hyde jedoch fuhr unbeirrt fort und steigerte sich so immer mehr hinein. „Ich weiß nicht, warum ich mich darauf eingelassen habe. Wie konnte ich nur so dumm sein? Ich ... Willst du denn nichts dazu sagen? Ich hör dich nicht! Antworte mir doch endlich!“ Hyde ging im Wohnzimmer auf und ab. Er konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Je mehr er sagte, desto aufgelöster wurde er. „Ich werde nie mehr singen können. Warum behauptest du, dass ich es kann, wenn es doch nicht stimmt? Konntest du mich nicht einfach damit in Ruhe lassen? Nein, du machst mir Hoffnungen und dann ... und dann ...“ Hyde wusste nicht, wie lange er schon in sein Handy sprach und ob Gackt ihm überhaupt noch zuhörte. Vielleicht war ja auch nur seine Mailbox drangegangen. Plötzlich spürte Hyde, wie der Melder in seiner Hosentasche vibrierte. Jemand musste an der Tür geklingelt haben. Wer konnte das sein? Tetsu? Hyde ging zur Wohnungstür und schaute durch den Türspion. „Was ... machst du hier?“, fragte er unwillkürlich, als er Gackt erkannte. Dieser wusste, dass Hyde seine Lippen mittlerweile sehen konnte, und so antwortete er: „Für dich da sein.“ Kapitel 10: As One ------------------ Als Hyde die Tür geöffnet und Gackt hereingelassen hatte, zog dieser ihn sogleich in eine innige Umarmung. Hyde wollte sich zuerst befreien, doch aus Gackts Griff kam er nicht so leicht los. Daher ließ er es schließlich zu. Er merkte, wie er sich langsam wieder beruhigte. Einige Zeit später saßen sie sich am Küchentisch gegenüber. „Was ist denn passiert?“, fragte Gackt und musterte Hyde aufmerksam. „Es war einfach schrecklich. Ich fühle mich ... so dumm“, erwiderte Hyde. „Wie konnte ich nur glauben, dass es tatsächlich möglich wäre?“ „Das war nicht dumm. Denk doch mal darüber nach, wie gut du den Alltag meisterst. Selbst ich habe wochenlang nicht gemerkt, dass du nicht hören kannst – und dabei wohnen wir zusammen. Und ich weiß, dass das mit dem Singen auch funktionieren wird.“ Hyde schüttelte ungläubig den Kopf. Wie konnte Gackt denn noch immer an dieser irrwitzigen Idee festhalten? „Das ist nicht möglich. Und das solltest du auch endlich merken“, sagte er. „Warum? Woran lag es denn?“, wollte Gackt wissen. Mit Nachdruck stieß Hyde aus: „An allem! Ich kann nicht hören!“ „Das ist mir schon klar. Aber du spürst doch die Vibrationen. Zumindest vom Schlagzeug und vom Bass. Wie sonst hättest du bei unserem Auftritt im Club tanzen können?“ Hyde nickte. Trotzdem sagte er: „Das reicht doch nicht. Das ist alles viel zu vage. Ich fühle mich nicht sicher genug.“ „Vor deinen Freunden muss dir doch nichts peinlich sein“, meinte Gackt. „Muss es auch nicht“, stimmte Hyde zu. „Aber ich habe trotzdem Angst.“ Eine Weile überlegte Gackt. Dann sagte er: „Ich habe schon eine Idee.“ Hyde blickte ihn nahezu entsetzt an. Was sollte das bloß? Hörte Gackt ihm überhaupt zu? Langsam wurde Hyde wütend. „Du immer mit deinen bescheuerten Ideen!“ Gackt lächelte leicht. „So bescheuert ist sie nicht“, erwiderte er. „Du wirst schon sehen.“ Am nächsten Tag war Tetsu vorbeigekommen, um nach Hyde zu sehen. „Du bist gestern einfach abgehauen, ich hab mir Sorgen gemacht“, erklärte er. „Es tut mir Leid. Ich hab es nicht ausgehalten. Ich hab mich gefühlt, als würde ich erdrückt werden.“ Tetsu musterte seinen Freund besorgt. „Vielleicht sollte ich mich auch entschuldigen. Es tut mir Leid, dass ich dich unbedingt zum Singen überreden wollte. Wenn es nicht geht, dann ist es so. Es sollte allein deine Entscheidung sein.“ Hyde zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Sag das mal Gackt ...“ „Wieso? Was ist los?“, wollte Tetsu wissen. „Er hat einen neuen Plan. Keine Ahnung, worum es geht.“ Tetsu musste schmunzeln. „Soll ich ihm das ausreden?“, fragte er hilfsbereit. Hyde schüttelte den Kopf. „Nein, nicht nötig. Ich weiß ja, dass ihr beide mir nur helfen wollt. Und ich singe wirklich gerne. Ich wünschte nur, es wäre irgendwie möglich ...“ „Gackt macht sich viele Gedanken darüber, nicht wahr?“, fragte Tetsu. Hyde nickte. Als er gerade zu einer Antwort ansetzen wollte, bemerkte er, wie Tetsus Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. „Klingt, als käme er nach Hause“, erklärte Tetsu, der den Schlüssel im Schloss gehört hatte. Nur Sekunden später hörte er Gackts Stimme vom Flur aus: „Bin zu Hause!“ Und wenig später stand Gackt in der Tür zum Wohnzimmer und grinste breit. „Alles klar bei euch?“, fragte er. Hyde und Tetsu nickten. Gackt strahlte übers ganze Gesicht. „Ich hab hier was für dich, Hyde“, erklärte er und stellte einen relativ großen Kasten vor dem erstaunten Hyde ab. „Was ... ist das?“, fragte dieser unsicher. Tetsu war mittlerweile aufgestanden und betrachtete das Ding. „Das ist ein Monitor, nicht wahr?“ Gackts Augen leuchteten vor Begeisterung auf. „Richtig, und wenn man ihn erstmal einschaltet ...“ Eilig steckte er das Kabel in die Steckdose, brachte ein weiteres Kabel an dem Kasten an, führte es zu dem Flügel hin und legte ein kleines Gerät auf die Kante des Instruments. „Und jetzt, pass auf.“ Er schaltete den Monitor ein, setzte sich an den Flügel und begann eines seiner Lieder zu spielen. Zuerst blickte Hyde sehr irritiert auf den Monitor, dann öffnete er leicht erstaunt den Mund. Auch Tetsu konnte seinen Augen kaum trauen: Passend zu den Tönen, die Gackt spielte, bildete sich auf dem Monitor eine Linie ab. Sie schien genau das wiederzugeben, was Gackt spielte. Schließlich hörte Gackt auf zu spielen und ging noch immer breit grinsend zu Tetsu und Hyde herüber. Er tippte Hyde kurz an die Schulter, sodass dieser ihn ansah. „So weißt du genau, was die anderen spielen“, erklärte Gackt. „Es können mehrere Tonspuren gleichzeitig angezeigt werden. Und das Beste: Auch deinen Gesang kannst du dir in Echtzeit anzeigen lassen. Mit den entsprechenden Tönen, der Tonhöhe und sogar der Lautstärke!“ „Wo hast du das Ding her?“, wollte Tetsu wissen. „Ich hab meine Beziehungen spielen lassen“, erwiderte Gackt grinsend. „Was sagst du dazu, Hyde?“ Gackt selbst schien ganz begeistert von seinem eigenen Einfall zu sein. Hyde wusste nicht recht, was er sagen sollte. Zugegebenermaßen war er von dem Ding beeindruckt. Es schien die Lösung für all seine Probleme zu sein. Aber noch war er nicht bereit, dem Kasten bedingungslos zu vertrauen. Als Hyde nichts sagte, fügte Gackt hinzu: „Du kannst es ja mal ausprobieren, wenn du allein bist.“ Er war sich sicher, dass Hyde schon bald ebenso begeistert sein würde wie er selbst. Auf Gackts Aufforderung hin, es doch mal auszuprobieren, tat Hyde genau das in den nächsten Tagen. Im Grunde genommen, war er zufrieden. Wenn er sang, zeigte das Gerät genau, welche Töne er sang – wenn er Töne länger aushielt, konnte er auch sehen, ob er in der Tonhöhe schwankte. Selbst die Lautstärke wurde entsprechend abgebildet. Auch wenn er Gitarre spielte, klappte alles perfekt. Der einzige Makel: Wenn er einen Tonabnehmer in der Nähe des Resonanzkörpers der Gitarre positionierte und einen anderen auf einem Notenständer vor sein Gesicht stellte, war die Anzeige ungenau, weil es dem Gerät schwerfiel, zwischen Gesang und Gitarre zu unterscheiden. Doch was wäre, wenn er eine E-Gitarre direkt über Kabel mit dem Monitor verbinden würde und per Mikrofon seinen Gesang an das Gerät weiterleitete ...? Die Anzeige ersetzte zwar nach wie vor kein intaktes Gehör, aber Hyde war langsam bereit zu glauben, dass es mit dem Gesang klappen könnte. Kapitel 11: Glamorous Sky ------------------------- Etwas unsicher war Hyde schon, als er das nächste Mal den Proberaum betrat. Er wusste nicht, wie Yuki und Ken reagieren würden, wenn sie ihn sahen, hatte er sich doch beim letzten Mal nicht mal richtig von ihnen verabschiedet. Aber als Yuki und Ken schließlich auftauchten – Tetsu war noch nicht da –, begrüßten ihn die beiden wie eh und je. Natürlich, sie kannten sich ja mittlerweile auch schon ewig und waren gute Freunde – aber Hyde fiel es nach wie vor schwer, sie mit seinen Problemen zu belasten. Doch für die anderen beiden schien es gar keine Frage zu sein. Für sie hatte sich Hyde nicht verändert. Er war nach wie vor ihr Freund und jede Rücksichtnahme ihrerseits geschah mittlerweile ganz automatisch. Sie unterhielten sich eine Weile und mit jeder Minute, die verging, spürte Hyde, wie er ruhiger wurde. Gackt hatte recht gehabt. Vor seinen Freunden musste ihm nichts peinlich sein. Selbst wenn er mal seinen Einsatz verpasste, zu hoch oder zu tief sang, zu schnell oder zu langsam – sie würden immer hinter ihm stehen. Und immerhin war er sich dieses Mal auch sicher: Diese Bandprobe würde nicht so eine Blamage werden wie die letzte. Denn dieses Mal würde er es wirklich versuchen und nicht einfach weglaufen. Dieses Mal war er bereit, sein Bestes zu geben. Sorgfältig baute Hyde den Monitor auf und schloss die verschiedenen Kabel an, während Yuki sich ans Schlagzeug setzte und schon mal ein paar Takte spielte und Ken seine Gitarre stimmte. In der Zwischenzeit war auch Tetsu gekommen und hatte seinen Bass an den Verstärker angeschlossen und gestimmt. Hyde war gespannt, ob wohl alles so funktionierte, wie er es sich erträumte. Er hatte zu Hause viel geübt, sich mit den Funktionen des Monitors vertraut gemacht, auch mal seine Gitarre angeschlossen. Aber letztlich hatte er niemals eine ganze Band gehabt, die zu seinem Gesang spielte. Verschiedene Instrumente, deren Klänge sich zwar letztlich zu einem gemeinsamen Lied fügten, die an und für sich aber gänzlich unterschiedliche Töne und Rhythmen spielten. Hyde hatte sich absichtlich Schuhe mit relativ dünnen Sohlen angezogen, um die Schwingungen, die sich über den Boden übertrugen, besser spüren zu können. Schon als er noch damit beschäftigt gewesen war, sein Equipment aufzubauen, und Yuki Schlagzeug gespielt hatte, hatte Hyde den Rhythmus durch seine Füße gespürt, fast schon gehört. Ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen. All dies stimmte ihn zugegebenermaßen recht zuversichtlich und er konnte es kaum erwarten, es endlich auszuprobieren. Sie entschieden sich dafür, mit einem relativ langsamen Stück zu beginnen. Bevor Ken und Tetsu zu spielen begannen, sang Hyde noch einmal seinen vermeintlich ersten Ton und überprüfte mit dem Monitor, ob er überhaupt den richtigen Ton sang und dieser weder zu hoch noch zu tief war. Dann begannen Ken und Tetsu mit den ersten Takten, schließlich setzte Yuki ein. Hyde schloss kurz die Augen und nahm den Rhythmus des Schlagzeugs in sich auf. Er atmete tief durch. Dann öffnete er seine Augen, schaute auf den Monitor und sang schließlich die ersten Töne. Erst zaghaft, dann, als er sah, dass seine Geschwindigkeit mit der seiner Freunde übereinstimmte und er die richtige Tonhöhe traf, etwas mutiger. Er hatte sich die Noten so oft vorher angeschaut, den Gesang so oft geübt, dass er das Lied nun förmlich in seinem Kopf hören konnte. Aus den Kurven, die sich auf dem Monitor zeigten, setzte sich in seinem Inneren ein Lied zusammen. Es fühlte sich unglaublich gut an. Nachdem er den letzten Ton gesungen hatte, drehte Hyde sich zu seinen Freunden um. Tetsu grinste breit, Ken ging auf ihn zu und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Wow, Hyde“, sagte er nur, ohne dass Hyde ihn hören konnte. „Wie hast du das gemacht?“, wollte Yuki wissen, als er von seinem Schlagzeug aufstand. Ohne darauf einzugehen, sagte Tetsu: „An einigen Stellen warst du etwas leise, aber das lässt sich ja über die Lautstärke des Mikrofons noch regeln.“ Sie spielten noch einige weitere Lieder, die für den ersten Versuch erstaunlich gut gelangen. Hyde fühlte eine unglaubliche Wärme in sich – er hatte sich schon lange nicht mehr so glücklich gefühlt. Und als die anderen nach der Probe fragten, ob er noch mitkommen würde, einen trinken, willigte Hyde wie selbstverständlich ein – was er gefühlt schon seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Ausgehen war nach wie vor nicht seine liebste Beschäftigung, aber mit den anderen dreien an seiner Seite konnte eigentlich nichts passieren. Hyde mochte es nicht, wenn sie auf ihn Rücksicht nehmen mussten, aber sich dafür bewusst anstrengen, mussten sie ohnehin nicht. Als sie das Gasthaus betraten, mussten sie nicht lange überlegen, wo sie sich hinsetzten, und auch die Verteilung der Plätze war sofort klar. Seine Freunde saßen so, dass Hyde die drei stets im Blick hatte. Sie bestellten sich etwas zu trinken und stießen dann auf die ausgezeichnete Probe an. Im Laufe des Abends leerten sie ein Glas nach dem anderen. Die anfangs alltäglichen Gespräche wandelten sich mehr und mehr zu den verrücktesten Plänen. Der Alkohol beflügelte ihre Ideen und Träume. Es ging darum, wie ihnen als kleine, nur lokal bekannte Band der große Durchbruch gelang. Sie träumten von Auftritten in großen Clubs – vielleicht sogar Hallen. Im Nippon Budokan ... dem Tokyo Dome ... Zugegeben, je mehr die anderen lallten, desto weniger konnte Hyde verstehen. Aber es ging auch gar nicht darum, jedes einzelne Wort zu verstehen. Die Freude in ihren Gesichtern, der Glanz in ihren Augen sprach Bände. Und irgendwann schaute Hyde nur noch lächelnd von einem zum anderen und hörte gar nicht mehr wirklich zu. In seinem Kopf malten sich seine eigenen Bilder. Ja, wie großartig wäre es, wenn sich ihre Mühen wirklich eines Tages auszahlten? Wenn sie tatsächlich im Tokyo Dome spielen könnten? Schon allein die Vorstellung war nahezu überwältigend und berauschend. Als Hyde Stunden später in seinem Bett lag, dachte er noch immer darüber nach. Natürlich, sie hatten noch einen unendlich langen Weg vor sich – standen ja kaum am Anfang –, aber in diesem Moment erschien ihm alles möglich. Der Erfolg war zum Greifen nah. Epilog: Epilogue ---------------- Bis zum Beginn des Konzerts waren es noch einige Stunden. Vor dem Soundcheck wollte Hyde sichergehen, dass auch alles richtig aufgebaut war. Er trat auf die Bühne. Ja, da vorne stand der Monitor, der ihm unten im Bild stets jeden Schlag von Yukis Drums anzeigen würde. Oben gab es je eine Zeile für Tetsus Bass und Kens Gitarre. Zudem konnte er auch über die Vibrationen im Boden den Rhythmus des Schlagzeugs spüren. Der Tontechniker würde dafür sorgen, dass sein eigener Gesang weder zu laut noch zu leise war. Es würde alles funktionieren. Er musste sich keine Sorgen machen. Unwillkürlich fragte er sich, ob Gackt wohl an ihn denken würde. Er hatte ihn über die anstehenden Konzerte informiert, aber Gackt hatte selbst viel zu tun und hatte ihm geantwortet, dass er es diesmal leider nicht schaffen würde. Mittlerweile teilten sie sich längst keine Wohnung mehr. Es war schon Jahre her, seit sie zusammen gewohnt hatten. Aber auch wenn sie keine Mitbewohner mehr waren, so waren sie Freunde. Beste Freunde. Und wann immer sich die Gelegenheit ergab, trafen sie sich. Nur das war in letzter Zeit selten genug vorgekommen, immerhin waren sie beide in ihre musikalischen Aktivitäten eingebunden. Seit damals hatte sich so vieles geändert. Hyde konnte natürlich nach wie vor nicht hören, aber das hielt ihn nicht davon ab, zu singen. Das hatte er zum Teil auch Gackt zu verdanken. Mit einem Lächeln dachte Hyde an die gemeinsame Zeit mit Gackt. Wie Gackt zur Wohnungsbesichtigung vor seiner Tür gestanden hatte. Dann mit Sack und Pack eingezogen war. Wie er ihn zu gemeinsamen Aktivitäten hatte überreden wollen. Und wie er ihn immer wieder gefragt hatte, warum er denn keine Musik machte. Letztlich hatte er sogar als er die Wahrheit kannte darauf bestanden, dass Hyde ein erfolgreicher Sänger werden konnte. Ja, mittlerweile waren L’Arc~en~Ciel erfolgreich. Sie spielten Konzerte in ganz Japan. Und letztens hatte Tetsu den Wunsch geäußert, auch außerhalb Japans aufzutreten. Sie wollten endlich international berühmt werden. Hyde spürte, wie ihm jemand von hinten auf die Schulter klopfte. Er wandte sich um und erblickte Tetsu. „Na? Bereit?“, fragte dieser. Hyde nickte. „Dann lass uns mit dem Soundcheck beginnen.“ Nach dem Soundcheck zogen sich Hyde, Tetsu, Yuki und Ken wieder in den Backstagebereich zurück. Die letzten paar Minuten vor dem Auftritt verbrachten sie meist schweigend, jeder in seine ganz eigenen Gedanken versunken. Die Aufregung und Anspannung stieg mit jeder Minute. Ren hatte recht gehabt. Daran würde man sich wohl nie gewöhnen. Schließlich wandte Tetsu sich an Hyde und verdeutlichte ihm, dass mittlerweile Einlass sein musste. Sie konnten die aufgeregten Rufe der Fans bis in den Backstagebereich hören. Sie warteten noch eine ganze Weile. Und als die Aufregung schon fast unerträglich geworden war, erhielten sie endlich das Zeichen, dass es nun an der Zeit war, auf die Bühne zu treten. Hyde hatte nicht großartig Zeit, sich an die Lichter der Scheinwerfer zu gewöhnen oder einen Blick in die Runde zu werfen, denn sie begannen gleich mit dem ersten Lied. Bei den ersten Tönen fühlte er sich noch zittrig und unsicher, aber ein Blick auf den Monitor zeigte ihm, dass er sich keine Sorgen machen musste. Er traf die richtigen Töne, alles war in Ordnung. Und langsam breitete sich eine Selbstsicherheit in ihm aus. Er musste nicht unentwegt auf den Monitor starren, um zu wissen, an welcher Stelle sie gerade waren. Längst war er mit Herz und Seele in dem Lied versunken und ließ sich von seinem Gefühl leiten. Er hatte ein gutes Gefühl für Musik, nach wie vor. Es war immer wieder atemberaubend, vor so vielen Menschen zu stehen und zu singen – vor allem, wenn er selbst es doch gar nicht hören konnte. Aber er hatte sich daran gewöhnt. Er wagte einen Blick ins Publikum, in die vielen strahlenden Gesichter. Fans, die wohl jedes ihrer Lieder auswendig kannten und nur zu bereitwillig mitsangen. All dies ließ eine Wärme durch Hydes Körper fließen. Jetzt fehlte nur noch eins ... Und dann erblickte er ihn. Da hinten an der Theke. War das nicht Gackt? Ein Lächeln legte sich auf Hydes Lippen. Er war also doch gekommen, hatte ihn wohl überraschen wollen. Und es hatte geklappt. Als Hyde ihn über die anstehende Tour informiert hatte, hatte Gackt sofort versucht, seinen Terminplan entsprechend umzustellen. Hyde faszinierte ihn immer wieder und er wollte keinen Auftritt verpassen. Auch wenn er es natürlich nicht zu allen Konzerten schaffte. Aber wenigstens bei einem hatte er dabei sein wollen. So stand er nun hier an der Theke und ließ sich den Drink schmecken, genoss die gute Musik. Viele der Lieder kannte er mittlerweile auswendig – war schon bei so vielen Konzerten gewesen. Als Hydes Blick seinen traf, musste Gackt schmunzeln. Wie hatte Hyde jemals glauben können, dass er nicht kommen würde? Schließlich waren gut zwei Stunden vorüber. L’Arc~en~Ciel hatten sich in den Backstagebereich zurückgezogen, aber die Fans waren nicht bereit, sie so einfach gehen zu lassen. Die Rufe nach einer Zugabe wurden immer lauter. Nach einer gefühlten Ewigkeit traten sie wieder auf die Bühne. Gackt konnte nicht anders, als Hyde genau zu betrachten. Er hatte das Mikrofon ergriffen und kündigte die erste Zugabe an. Einige Strähnen seines dunklen Haares hingen ihm verspielt in die Augen, seine Lippen wurden von einem Lächeln geziert. Unwillkürlich schoss ihm eine Frage in den Kopf, die ihn nicht mehr losließ. Und während die Band die erste Zugabe spielte und gleich danach die zweite, kreisten in seinem Kopf die Gedanken. Nach den Zugaben verließen die Fans allmählich die Halle. Gackt hörte, wie sich einige aufgeregt unterhielten, sich über ihre liebsten Lieder austauschten und sich schworen, beim nächsten Mal auf jeden Fall wieder dabei zu sein. Gackt ließ sich Zeit, trödelte absichtlich etwas. Er wollte in den Backstagebereich, um der Band zu dem fantastischen Auftritt zu gratulieren, gönnte ihnen aber auch eine kurze Verschnaufpause. Auch wenn er zunächst keine Antwort auf seine Frage gehabt hatte, so war sie im Grunde genommen klar. Ehe er sich schließlich auf den Weg in den Backstagebereich machte, warf er einen letzten Blick zur Bühne, auf der nach und nach das Equipment abgebaut wurde. Nein, es würde niemals jemand herausfinden. Dass Hyde gehörlos war, konnte er zu perfekt überspielen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)