Cold to the touch von Alaiya (Hamburg in den Schatten) ================================================================================ Kapitel 7: Chancen ------------------ Doch an diesem Abend meldete Joanne Förster nicht bei HanseSec und auch bei Wuxin erstattete sie keinen Bericht. Sie wusste, dass sie es tun sollte, doch tat sie es dennoch nicht. Stattdessen redete sie sich ein, dass es vernünftiger war, es in Ruhe am nächsten Tag zu tun, doch wäre sie ehrlich mit sich gewesen, hätte sie zugegeben, dass sie es auch am nächsten Tag nicht tun würde. Sie war jedoch nicht ehrlich mit sich und versuchte sich selbst davon zu überzeugen, das richtige zu tun. Das Problem dabei war nur, dass sie sich gar nicht mehr so sicher war, was eigentlich das richtige war. Denn auch wenn sie die Worte der Elfe im Club wütend abgeschmettert hatte, so gab es doch diesen Teil von ihr, der davon überzeugt war, dass sie recht hatte. Egal wie sie es drehte, sie konnte nicht verleugnen, dass sie selbst für das Vorgehen der Konzern nicht viel übrig hatte – unabhängig davon, dass sie zumindest theoretisch gesehen, im Rahmen des Gesetzes handelten. Letzten Endes lief das Gesetz darauf hinaus, dass es für die Megacons keine Gesetze gab. Alles, was unerlaubt auf das Gelände von International Shipping kam und sich nicht schnell genug ergab, wurde erschossen, sofern es eine Chance gab. Manchmal ließ man einzelne Runner am Leben, in der Hoffnung von ihnen erfahren zu können, wer sie beauftragt hatte, doch letzten Endes starben die meisten. Wer nicht starb endete im Big Willy, egal ob Runner oder einfacher verzweifelter Bürger. War das gerecht? Sicher nicht. Doch Joanne hatte sich damit abgefunden, dass sie daran nichts ändern konnte. Und irgendwovon musste sie selbst leben. Trotzdem hatte sie sich einmal etwas anderes unter dem Job vorgestellt, als sie bei Wuxing angefangen hatte. Letzten Endes blieb nur die Erkenntnis, dass es kein „richtig“ und „falsch“ gab, kein „gut“ und „böse“. Die reale Welt war nicht so einfach, wie die Welt in den meisten Filmen oder Büchern. Die Konzerne waren, wenngleich vom Gesetz legitimiert, nicht die „Guten“, die Shadowrunner nicht die „Bösen“, doch genau so wenig war es umgekehrt. Was blieb war eine einfache Unterscheidung: Es gab jene, die lebten, und jene, die starben. Und zumindest einer Sache war sich Joanne recht sicher: Shadowrunner starben viel schneller als der Rest der Bevölkerung. Förster oder Serenity hätten dies vielleicht Schulterzuckend als „Berufsrisiko“ abgetan, aber Joanne hatte bestimmt keine Lust sich darauf einzulassen. Wobei 150 000 Nuyen schon verlockend waren... Doch am Ende schnaubte sie nur, wütend auf sich selbst, dass sie überhaupt darüber nachdachte. So oder so: Shadowrunner waren Kriminelle. Shadowrunner endeten entweder tot oder im Gefängnis. Keine der beiden Möglichkeiten erschienen ihr verlockend. Nein, sie sollte das richtige tun, das gesetzliche. Sie sollte zu HanseSec gehen. Am nächsten Tag, sagte sie sich. Ja, so eilig war es nicht. Doch auch am nächsten Tag ging sie nicht zu HanseSec. Ihre Laune hatte sich gegenüber dem Vortag nur verschlechtert und da sie bis sie zur Arbeit musste noch einige Stunden totschlagen musste, packte sie, nach einem sehr kargen Frühstück, eine ihrer Waffen ein und fuhr zum Schießstand. Sie wollte nicht denken. Sie wollte nicht dieselben Gedanken im Kopf hin- und herwälzen, die ihr in der vergangenen Nacht schon den Schlaf geraubt und ihr am Ende auch noch Albträume bereitet hatten. Beim schießen musste sich denken – jedenfalls nicht über solche Dinge. Im Gegenteil: Sie musste sich auf andere Dinge konzentrieren. Die Waffe, das Ziel, ihre eigene Haltung und Atmung. Doch es half nicht, frustrierte sie nur noch mehr. Denn ganz schaffte sie es nicht, dem Gedankenkarussell zu entkommen, was ihre Zielgenauigkeit verschlechterte. „Drek“, murmelte sie, während sie versuchte, ihren Kopf zu klären. Sie legte die Waffe an und versuchte sich nur auf das Ziel zu konzentrieren. Eigentlich sollte es dank der Stabilisierung der Cyberarme besser sein, doch schien es ihr, als würde die Mündung der Waffe doch wieder ein Stück absacken. Lag es an den Armen? Nein, sie wusste, dass es ihre Konzentration lag. Für einen Moment schloss sie die Augen und holte tief Luft. Für einen Moment hielt sie die Luft an und öffnete die Augen wieder. Sie hob die Hand wieder um nicht ganz einen Zentimeter, atmete aus und schoss. Doch wieder traf die Kugel nur den Rand des Ziels. Schließlich ließ Joanne die Pistole ganz sinken. Es hatte keinen Sinn. Egal wie sehr sie versuchte, sich einzureden, dass die Entscheidung leicht war und sie wusste, was sie tun musste... Sie war sich nicht sicher, ob sie Försters Angebot ablehnen wollte. Denn am Ende: Was hatte sie zu verlieren? Denn wenn sie ehrlich war, verabscheute sie den Job – jedenfalls so, wie es im Moment war – und sie musste zugeben, dass es eine gewisse Genugtuung bieten würde, Waren in einem so hohen Wert unter Dantes Nase weg zu stehlen. Selbst, wenn sie danach nicht mehr zurück konnte, wenn sie ein neues Leben anfangen musste, was würde sie dadurch verlieren? Vielleicht würde sie in den Schatten die Anerkennung bekommen, die sich einmal von Wuxing erhofft hatte. Wenn sie gut genug war, würde sie überleben, oder? Doch dann war da noch Robert, ihr einziger guter Freund, den sie nicht verlieren würde. Egal, was er über den Job bei Wuxing sagte, so glaubte sie nicht, dass er einen solchen Pfad gut heißen würde – einmal ganz davon abgesehen, dass sie ihn dadurch in Gefahr bringen konnte. Gerne hätte sie mit ihm darüber geredet, hätte sie mit irgendjemanden darüber geredet, wusste jedoch, dass es nicht nur ein seltsames Gespräch wäre, sondern die ganze Sache am Ende etwas war, dass sie selbst entscheiden musste. Außerdem gab es noch eine Sache, die sie zurückhielt. Denn auch wenn sie es sich daran gewöhnt hatte, dass ihr Leben ohnehin keinen Plänen folgte, so war ein Leben in den Schatten etwas, dass sie nie auch nur in Betracht bezogen hatte. Sicher, für das Leben, das ihre Eltern sich für sie gewünscht hatten, war sie nie qualifiziert gewesen. Doch eigentlich hatte sie gedacht, dass sie im Security-Bereich so etwas wie eine Karriere haben könnte. Manchmal wünschte sie sich, dass es in Hamburg Militär gab, doch in den ADL war es schwer an entsprechende Anstellungen zu kommen, seit die stehenden Heere so stark reduziert worden waren. Mittlerweile hatte sie sich jedoch damit abgefunden, dass sie – so lange sie Dante unterstellt war – wohl auch im Security Bereich keine Karriere haben würde. Sie wusste, dass sie sich entscheiden musste, wusste, dass sie es sich selbst nicht würde verzeihen können, wenn sie bis zum übernächsten Tag keine Entscheidung getroffen hätte. Natürlich war es am einfachsten zu warten, nichts zu tun, aber am Ende würde sie dies nicht loslassen. Mit diesem Gedanken im Kopf fand sie sich schließlich wieder vor dem heruntergekommenen Wohnhaus, in dem Robert wohnte. Sofern sie nicht irrte, hatte er frei, und selbst wenn sie sich geschworen hatte, ihn nicht um Rat zu fragen, wollte sie doch mit ihm reden. Vielleicht würde ihr das helfen, ihre Gedanken zu sortieren. Sie klingelte. Wartete. Beinahe glaubte sie schon, er war doch arbeiten, doch schließlich ertönte das Buzzen, das die Tür öffnete. Sie ging zum verschmierten Aufzug und fuhr in den sechsten Stock, wo Robert wohnte. „Was machst du hier?“, hörte sie seine besorgte Stimme, als sich die Fahrstuhltür öffnete. Joanne seufzte. „Nichts“, erwiderte sie matt. „Ich wollte nur einmal vorbei schauen.“ Robert stand in der Tür zu seiner Wohnung und betrachtete sie misstrauisch. „Du siehst hundeelend aus.“ Zur Antwort zuckte sie nur mit den Schultern, froh, dass es sich nicht mehr so schlimm anführte, wie noch vor einigen Wochen. „Magst du einen Kaffee?“, fragte er nach kurzem Zögern. Sie nickte, folgte ihm dann in seine Wohnung. Joanne selbst hatte keine besonders große Wohnung, doch ihre Wohnung wirkte regelrecht geräumig, im Vergleich zu Roberts kleinem Apartment, die gesamt etwa so groß, wie ihr Wohnzimmer war. Sie ließ sich auf einen Stuhl an dem kleinen Küchentisch nieder, stellte die Tasche mit der Waffe und ihrem Equipment vom Schießstand neben dem Stuhl ab. Dann rieb sie sich die Augen, konzentriert darauf nicht zu viel Kraft aufzuwenden. Schließlich stellte Robert, der nur eine Jogginghose und ein weites Shirt trug, eine Tasse Soy-Kaffe vor ihr ab. „Jetzt sag, was ist los? Wieder der blöde Zwerg.“ Joanne trank einen Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf. „Nein. Hab nur schlecht geschlafen“, murmelte sie. Robert setzte sich mit einer eigenen Tasse ihr gegenüber. Misstrauisch hob er eine Augenbraue. „Und weshalb hast du schlecht geschlafen?“, hakte er nach. „Manchmal schläft man halt schlecht“, nuschelte Joanne in die noch immer gehobene Tasse hinein. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, herzukommen. Robert schwieg und musterte sie, während sie stumm ihren Kaffee trank. Immer wieder warf sie ihm Blicke zu, wusste, dass er wirklich besorgt war. Wenn sie auf Försters Angebot einging und etwas schief ging, würde sie untertauchen müssen. Wie besorgt er dann sein würde... „Du verschweigst mir irgendetwas“, murmelte Robert. Joanne seufzte leise. „Ja, ich verschweige dir etwas“, erwiderte sie, bemüht ihre Stimme nicht genervt klingen zu lassen. „Aber es hat einen Grund, warum ich es dir verschweige. Und egal wie oft du nachfragst, ich werde es dir nicht erzählen.“ Wieder hob Robert eine Augenbraue. „Wieso bist du dann hergekommen?“ Sie wich seinem Blick aus. „Weil ich auf andere Gedanken kommen will.“ Für einen Moment sah er sie noch einmal prüfend an, dann seufzte er. „Jo, wenn es dich so belastet, dann solltest du drüber reden.“ „Es geht wirklich nicht“, erwiderte sie und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“ Einige Sekunden lang herrschte Schweigen zwischen ihnen. „In Ordnung.“ Robert zuckte mit den Schultern. „Aber du weißt, dass du mit mir reden kannst.“ Joanne nickte nur. Sie sah, wie Robert sich auf die Unterlippe biss und für einen Moment zögerte. „Was wollen wir dann jetzt machen?“ Für den Rest des Nachmittags spielten sie eins von Roberts Spielen auf dem Trideobildschirm und auch wenn Joanne sich normal selten mit Trideospielen beschäftigte, musste sie zugeben, dass es es sie tatsächlich etwas ablenkte. Viel zu früh jedoch wurde ihr klar, dass sie zur Arbeit musste, da die Nachtschicht bald begann. Hastig und nicht ohne Reue verabschiedete sie sich von Robert, um zum Hafen zu fahren. An diesem Abend war die Aussicht auf ihre Achtstundenschicht besonders abschreckend, da sie ahnte, dass sie spätestens, wenn sie wieder Monitordienst schieben durfte, in das Gedankenkarussell zurückfallen würde. Doch dazu sollte es gar nicht kommen. „Ah, Jojo, du kommst auch noch?“, wurde sie hämisch begrüßt, als sie die Tür zum Aufenthaltsraum öffnete. Sie konnte sich ein genervtes Stöhnen nicht verkneifen. „Dante, du auch hier?“ Legte der blöde Zwerg ihre Dienste nicht immer so, dass sie nie gleichzeitig Dienst hatten? „Ja, nervig, oder?“, meinte er und sah sie herausfordernd an. „Frank ist krank und ich habe keinen Ersatz finden können.“ Joanne verzog das Gesicht. „Zu dumm.“ Dann ging sie an Dante vorbei, um zu ihrem Spint zu kommen. Wenn sie sich Zeit mit dem Umziehen ließ – so überlegte sie sich, würde wohl auch jemand anderes da sein, wenn sie zurückkam. Denn sie konnte sich etwa zweihundert Dinge vorstellen, die sie lieber tun würde, als mit Dante allein zu sein. „Weißt du“, meinte Dante kühl, während sie ihre Waffe im Schließfach verstaute und im Holster gegen eine der hier genutzten austauschte, „es gäbe so viele Dinge, die du machen könntest, anstatt herzukommen, Jojo.“ Sie machte ein verächtliches Geräusch. „Ja, die gäbe es tatsächlich.“ Sie nahm ihre Weste aus dem Spint. „Und mein Name ist nicht Jojo.“ „Das ist mir herzlich egal“, erwiderte er. Ein Grinsen umspielte seine Lippen. „Und die Frage ist doch: Warum bist du überhaupt hier?“ „Weil ich hier arbeite“, grummelte sie und hätte seine Frage am liebsten nicht einmal mit einer Antwort gewürdigt. Mit ihren Sachen unter dem Arm, wollte sie eigentlich an ihm vorbei gingen, doch demonstrativ stellte er sich ihr in den Weg. Sie schnaubte genervt. „Weißt du, Dante, ich komme auch nicht umher, mich etwas zu fragen: Wenn dich meine Anwesenheit hier so aufregt, wieso erfindest du nicht einen Grund, um mich rauswerfen zu lassen?“ „Weil du es nicht wert bist, dass ich meinen eigenen Job für dich riskiere“, erwiderte er.und ließ sie vorbei. „Ich wusste gar nicht, dass Zwerge so feige sind“, murmelte Joanne, während sie zur Tür ging. „Es hat nichts mit Feigheit zu tun“, erwiderte er. „Nur mit Prioritäten. Und glaub mir, Jojo, ich werde dich schon noch los.“ „Das werden wir ja sehen.“ Gerade wollte sie die Hand zum Türknauf ausstrecken, als diese von der anderen Seite geöffnet wurde. „Entschuldige“, meinte Jens sofort. Dann: „Du bist schon da?“ Offenbar kam auch er gerade erst an, da auch er seine Uniform nicht trug. Joanne zuckte mit den Schultern. „Tu mir einen Gefallen, nimm den Zwerg mit raus.“ Jens sah zu Dante, der wahrscheinlich immer noch grinste, dann zu ihr. Es schien beinahe, als ob er etwas sagen wollte, doch Joanne schob ihn nur soweit zur Seite und verließ den Raum, um sich umziehen zu können. Als sie in dem Abstellraum stand, in dem sie sich täglich umzog, holte sie ihr Comlink heraus. Sie war nicht einmal sauer. Nun, vielleicht ein wenig, aber sie war bei weitem schon wütender auf Dante gewesen. Doch seine Worte hatten ihr etwas klar gemacht, dass sie eigentlich die ganze Zeit schon gewusst hatte: Egal wie lange sie durchhielt, hier würde sich nichts ändern. Dante würde sich nicht ändern. Und egal wie tough sie sich gab, wie sehr sie ihm die kalte Schulter zeigte: Irgendwann würde sie es nicht mehr aushalten. Das war es nicht wert. Sie suchte die Nummer Försters heraus und schrieb ihm eine kurze Nachricht: „Bin dabei.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)