Gildenmomente von Yosephia (Auszüge eines Epos') ================================================================================ Selbstverständliches - Manchmal ist Verzeihen schwer ---------------------------------------------------- Die Welt um sie herum schien still zu stehen und gleichzeitig ins Chaos zu stürzen, schien zu verstummen und in ein ohrenbetäubendes Rauschen zu verfallen, schien zu verblassen und grell zu strahlen. Unfassbar. Vollkommen widernatürlich. Als wäre Schwarz weiß, Feuer kalt, Schatten hell, Leben tot… Nichts davon ergab einen Sinn. Wortlos standen sie einander gegenüber. Nein, nicht wortlos. Natsu war sprachlos, fassungslos, fühlte sich beinahe besinnungslos, während er Lucy vor sich anstarrte. Ihre nun viel längeren Haare wehten ihr ins Gesicht, dessen Miene für Natsu in diesem Moment vollkommen undeutbar war. „Ich komme nicht mit.“ Wie ein Urteil schwebten diese Worte noch immer zwischen ihnen. Wie Fesseln lagen sie über Natsus Körper. Nicht einen Muskel konnte er rühren, er konnte sie nur immer weiter anstarren und sie starrte zurück mit einem Ausdruck in den Augen, der sich genauso falsch anfühlte wie diese Worte. War das wirklich Enttäuschung in ihren Augen? Angst? Schmerz? Er hatte diese Emotionen früher schon in ihren Augen gesehen, aber nie – absolut nie – im Zusammenhang mit ihm selbst. Und nie so intensiv. Es fühlte sich an, als würde allein dieser Blick ausreichen, um die Erde auseinander brechen zu lassen. „Wie meinst du das, Lucy?“, durchbrach Happys weinerliche Stimme die ewige Stille zwischen ihnen. „Wie ich es gesagt habe“, antwortete Lucy leise und zerbrach die Ketten des Blickkontakts mit Natsu – und es fühlte sich an, als würde dabei mit einem Messer an dem Seil geschabt, das ihn vor dem Absturz bewahren sollte. „Ich werde nicht mitkommen, um Fairy Tail wieder aufzubauen.“ Das Seil faserte aus. Einer nach dem anderen rissen die einzelnen Stränge und ließen Natsu ohnmächtig über einem unendlichen Abgrund baumeln. „Aber Fairy Tail ist doch unser Zuhause“, jammerte Happy verzweifelt. Seine kleinen Pfoten klammerten sich beinahe schmerzhaft fest an Natsus Bein. „Dort gehören wir doch alle hin.“ „Nicht mehr. Fairy Tail wurde nicht zersprengt, es hat sich aufgelöst. Alle gehen jetzt ihre eigenen Wege. Ich auch, ich habe jetzt meinen Job beim Weekly Sorcerer und ein Zuhause in Crocus.“ Lucys Stimme war hohl, leblos, war gar nicht richtig Lucys Stimme. War wie ein Messer, das weitere Stränge zerriss. Sie wandte sich ab. Drehte ihm den Rücken zu. Entfernte sich von ihm. Sie wandte sich ab! Das Seil riss endgültig, gab der Last nach und entließ diese in die bodenlosen Tiefen. Doch Natsu Dragneel gab nicht einfach so auf. Nicht einmal wenn er ohne jeden sichtbaren Halt zu fallen schien. Gerade dann nicht! Ehe er überhaupt darüber nachdenken musste, was zu tun war, hatte er Lucy eingeholt und am Arm ergriffen. Er konnte spüren, wie sie erschrocken zusammen zuckte, und sofort lockerte er den Griff, aber er weigerte sich, loszulassen. „Ich glaube dir nicht“, wisperte er heiser und zwang sie, sich umzudrehen. „Du hast Fairy Tail nicht aufgegeben.“ „Doch, das habe ich“, widersprach Lucy tonlos und wich dabei seinem Blick aus. „Mir blieb ja keine andere Wahl, als alle gegangen sind.“ Unwillkürlich wurde sein Griff wieder fester, doch dieses Mal zuckte sie nicht zusammen, weigerte sich nur beharrlich, in seine Augen zu blicken. Natsu ergriff ihr Kinn und hob es an, bis sie den Blickkontakt nicht mehr vermeiden konnte. Tränen schimmerten in ihren braunen Augen. „Du bist auch gegangen“, krächzte sie. „Ich musste.“ Die Ohrfeige kam wie aus dem Nichts und viel stärker, als Natsu es seiner Partnerin jemals zugetraut hätte. Er geriet ins Straucheln und verlor den Kontakt zu Lucy. Als er sich Sekundenbruchteile später wieder gefangen hatte, hatte Lucy bereits die Flucht ergriffen. Benommen blickte Natsu ihr hinterher, strich sich über die schmerzhaft pochende Wange. „Natsu, was sollen wir jetzt tun?“, fragte Happy zitternd. „Ich weiß es nicht“, gestand Natsu. „Das ist… damit hätte ich… nie gerechnet…“ Nicht bei Lucy, mit der er so viele Abenteuer erlebt hatte. Lucy, die ihm während ihrer zahlreichen Missionen unter eigener Lebensgefahr immer wieder den Rücken frei gehalten hatte. Lucy, die für Fairy Tail so hart gekämpft hatte. Lucy, die einfach immer da gewesen war… Da sie kein Geld hatten, hatten sie ein Lager am Rande von Crocus aufgeschlagen. Happy hatte sich schon vor Stunden schniefend neben Natsu zusammen gerollt und war schließlich eingeschlafen, unruhig und lautlos murmelnd. Dann und wann strich Natsu besänftigend über den Kopf seines kleinen Freundes, während er ratlos in die Flammen des Lagerfeuers blickte, als könnte er dort eine Antwort auf die Fragen finden, die ihn quälten. Hatte Lucy Fairy Tail wirklich aufgegeben? Nach allem, was sie zusammen erlebt und füreinander getan hatten? Nach all den Kämpfen für den Erhalt der Gilde. Nach all den Opfern… Unwillkürlich ballte Natsu die Hände zu Fäusten, als er sich an Igneels Tod erinnerte. Sein überstürzter Aufbruch vor einem Jahr war auch eine Flucht vor der Trauer gewesen, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Ob Lucy das verstehen würde? Damals hatte er nicht darüber sprechen können, aber vielleicht hätte er es dennoch versuchen sollen. Vielleicht hätte das etwas für Lucy geändert. Oder vielleicht auch nicht… Frustriert verstrubbelte Natsu seine Haare. Seine Hand glitt in den Nacken und verharrte dort, während er hoch in die Sterne blickte. Er war nicht nur los gezogen, um stärker zu werden, weil er Igneels Ziel erreichen und Fiore vor Acnologia schützen wollte. Er wollte auch stärker werden, um seine Freunde zu beschützen. Sie alle hatten sich damals bis an ihre Grenzen und darüber hinaus getrieben, um Tartaros zu besiegen. Lucy war mehr tot als lebendig gewesen, als Natsu und die Anderen wieder aus dieser seltsamen Starre erwacht waren. Bis heute wusste Natsu nicht, was genau sie damals auf sich genommen hatte, um sie alle zu befreien. Abrupt stand Natsu auf, was Happy aus dem Schlaf schrecken ließ. Müde rieb der Ekceed sich die Augen. „Was ist los, Natsu?“ „Ich gehe noch mal zu Lucy“, erklärte Natsu fest entschlossen. „Ohne sie können wir nicht gehen.“ Happy nickte zustimmend und wollte sich aufrichten, aber Natsu schüttelte sachte den Kopf. „Bleib’ hier, Happy. Das muss ich mit Lucy alleine klären.“ Zuerst schien Happy protestieren zu wollen, aber er besann sich anders und setzte sich wieder hin. „Du kommst doch mit ihr zurück, oder?“ „Natürlich. Fairy Tail ohne Lucy ist nicht Fairy Tail!“ Als er durch das Fenster in Lucys Appartement eindrang, musste Natsu daran denken, wie oft er das in Magnolia getan hatte – und unwillkürlich erwartete er, dass Lucy ihn genau wie damals immer anbrüllen würde, er solle doch die Tür benutzen. Das diesmalige Ausbleiben des Gebrülls bestärkte ihn nur noch mehr in seinem Entschluss, nicht ohne Lucy wieder von hier zu verschwinden! Das gesamte Appartement war dunkel, aber Natsu konnte riechen und hören, dass Lucy hier war. Sie war in ihrem Schlafzimmer. Und sie weinte. Langsam drückte Natsu die Klinke zum Schlafzimmer hinunter. Lucy kauerte vor der Wand, an die sie all die Notizen über den Verbleib der anderen Gildenmitglieder geklebt hatte, das Gesicht in den verschränkten Armen vergraben, die Schultern bebend. In ihrer rechten Hand – der Hand mit dem Gildenabzeichen – glitzerte etwas Goldenes im hereinfallenden Mondlicht. Für einen Moment zögerte Natsu, denn dieser Anblick verursachte einen seltsam ziehenden Schmerz in seiner Brust. Es erinnerte ihn an andere Situationen, wenn er Lucy nicht hatte helfen können. Als sie vom Tod ihres Vaters erfahren hatte. Als sie um die andere Lucy aus der Zukunft getrauert hatte… Als Natsu sich wieder in Bewegung setzen wollte, ruckte Lucys Kopf hoch. Ihre braunen Augen blitzten vor Wut auf – eine ganz andere Wut als die, wenn er damals irgendetwas angestellt hatte, eine echte Wut. „Was willst du noch hier? Du wolltest doch losziehen, um Fairy Tail wieder aufzubauen.“ Die Heiserkeit konnte nicht über die Abweisung in Lucys Stimme hinweg täuschen. Unwillkürlich straffte Natsu die Schulter, als würde er sich für eine Herausforderung wappnen. „Ich werde nicht ohne dich gehen.“ „Wieso nicht? Das hast du doch schon einmal getan!“ Verwirrt blinzelte Natsu, was Lucy noch mehr zu verärgern schien. Ehe er sich versah, stand sie vor ihm und packte ihn am Kragen, um ihn bei jedem ihrer Worte durchzuschütteln. „Du bist einfach gegangen! Magnolia lag in Trümmern. Die Gilde lag in Trümmern! Und du bist gegangen und hast es mir nicht einmal persönlich gesagt, sondern nur diesen dummen Brief geschrieben!“ Langsam begriff Natsu, was Lucy Problem zu sein schien. Fest entschloss ergriff er sie an beiden Handgelenken und löste ihren Griff an seinem Kragen, ohne ein einziges Mal den Blickkontakt zu ihr abzubrechen. „Ich musste gehen. Die Kämpfe gegen Tartaros und Acnologia und Igneels Tod haben mir klar gemacht, dass ich noch viel stärker werden muss. Die normalen Missionen hätten dafür nie gereicht, ich brauchte ein richtiges Training. Wenn ich gewusst hätte, was der Opa vorhat, hätte ich meine Reise verschoben.“ „‚Hätte ich gewusst’“, äffte Lucy ihn mit unangenehm schrill werdender Stimme nach. „Du bist gegangen! Du hast die Gilde im Stich gelassen und dann ist sie auseinander gebrochen! Das ist das Einzige, was jetzt zählt!“ Verständnislos schüttelte Natsu den Kopf. Er hatte geglaubt, begriffen zu haben, was Lucys Problem war, aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Wieso warf sie ausgerechnet ihm etwas vor, woran er keine Schuld trug? Er war so verwirrt, dass er beinahe nicht rechtzeitig reagierte, als Lucy in seinem Griff erschlaffte. Ihr ganzer Körper zitterte so sehr, dass sie sich offensichtlich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Schnell schob er einen Arm unter ihre Beine und hob sie hoch, war jedoch unschlüssig, wo er sie absetzen sollte. Für einen Moment erwog er schlicht das Bett, doch dann kam ihm eine bessere Idee. Behutsam setzte er Lucy vor der Wand mit all den Notizen ab und lehnte sie mit dem Rücken gegen seinen Oberkörper, damit er sie stützen konnte, während er hinter ihr saß. Er konnte spüren, wie sie sich verkrampfte, als er die Arme um sie legte, aber er zog die Umarmung nicht zurück. „Ich habe einen Fehler gemacht, aber das erklärt nicht, warum du die Gilde nicht wieder aufbauen willst, obwohl du sie so sehr liebst, dass du das ganze Jahr über alle im Auge behalten hast“, begann er leise und zwang Lucy mit einer Hand, den Blick auf die Wand zu heben. Wieder ging ein Zittern durch Lucys Körper und auf Natsus Hand tropften Tränen, aber er zwang sich selbst, nichts an seiner Haltung zu verändern. Es war wichtig, dass Lucy ihm endlich sagte, was das eigentliche Problem war! „Sie sind alle einfach verschwunden“, krächzte Lucy. „Zuerst haben sie gebrüllt und geschimpft und dann ist einer nach dem nächsten verschwunden. Keiner ist geblieben, um die Gilde wieder aufzubauen. Ich war die Letzte. Ich war alleine.“ Nun noch stärker zitternd hob Lucy ihre rechte Hand und jetzt konnte Natsu erkennen, dass es sich bei dem goldenen Gegenstand darin um eine Hälfte eines Stellargeistschlüssels handelte. Die untere Hälfte schien abgebrochen zu sein. Der Geruch, der nur noch sehr schwach daran haftete, gehörte zu Aquarius. „Nach allem, was ich für die Gilde getan hatte, war ich ganz alleine…“ Schwer schluckend ließ Natsu Lucys Kinn los und schloss beide Arme fest um ihren bebenden Körper. Das musste geschehen sein, als sie alle gefangen gewesen waren. Lucy hatte ein derartiges Opfer gebracht, um sie zu befreien. Ohne sie gäbe es sie alle heute gar nicht. So wie er Igneel, Gray seinen Vater und die anderen Drachentöter ihre Drachen verloren hatten, so hatte Lucy an diesem Tag Aquarius verloren, einen ihrer ersten Stellargeister, eine Freundin… „Lucy…“ Schon wieder verkrampfte sie sich in seinen Armen, als er nach langem Schweigen wieder die Stimme erhob. Unwillkürlich verstärkte er die Umarmung. „Du warst nie wirklich alleine… Auch wenn Happy und ich nicht da waren, auch wenn die Anderen alle nicht da waren, wir waren dennoch deine Freunde, Lucy, deine Familie…“ „Das sagt sich so leicht. Du hattest Happy dabei. Alle sind in Gruppen gegangen, aber meine Gruppe hat mich zurück gelassen“, krächzte Lucy so heiser, dass Natsu sie beinahe nicht verstand, und kämpfte so stur gegen seine Umarmung an, dass er sie los lassen musste, wenn er sie nicht verletzen wollte. „Aber wir sind zu dir zurück gekommen, Lucy“, erwiderte Natsu und suchte den Blick seiner Partnerin, als sie sich zu ihm umdrehte. „Das haben wir dir versprochen. Wir haben dich nicht im Stich gelassen. Wir wussten nur nicht, dass-“ „Sprich es nicht aus!“, herrschte Lucy ihn scharf an und schubste ihn nach hinten. Mit beiden Armen fing Natsu sich ab und blickte wortlos zu Lucy, der schon wieder neue Tränen kamen. Seufzend richtete Natsu sich wieder auf und kroch zu Lucy, legte ihr die Hände auf die Schultern und lehnte seine Stirn gegen ihre, wie er es damals bei der Lucy aus der Zukunft getan hatte, um sie zu beruhigen. Es half auch dieses Mal. Lucy stieß ihn nicht wieder von sich. „Wir suchen unsere Freunde und bauen Fairy Tail wieder auf und dann wirst du nie wieder alleine sein, Lucy, das verspreche ich. Was auch immer als nächstes auf uns zukommen wird, wir werden es gemeinsam in Angriff nehmen.“ Ob es tatsächlich die richtigen Worte waren oder ob Lucy einfach zu erschöpft war, ihr Körper hörte endlich auf zu zittern und ihr Atem wurde wieder ruhiger. Behutsam zog Natsu seine Partnerin ein weiteres Mal in seine Arme und dieses Mal erwiderte sie die Umarmung… Wortlos saß Natsu auf Lucys Bettkante und betrachtete die Wand mit den Notizen im Licht der Morgendämmerung. Hinter ihm lag Lucy und schlief tief und fest, doch so entspannt sie auch war, ihre Hand ruhte fest in seiner. Nachdem sie in der Nacht vor Erschöpfung bewusstlos geworden war, hatte er sie hierher getragen und zugedeckt. Er wusste, dass Happy noch immer auf ihn wartete, aber er war bei Lucy geblieben und hatte noch einmal über alles nachgedacht. Was er in den letzten beiden Nächten erfahren hatte, ließ ihn umso fester an Lucy glauben. Sie hatte einen festen Platz in Fairy Tail, den sonst niemand einnehmen konnte. Ein Platz, den sie nun auch wieder einnehmen würde, das wusste Natsu. Vielleicht war Lucy noch wütend auf ihn, aber sie liebte die Gilde viel zu sehr, um sie im Stich zu lassen. Der Beweis dafür hing dort in Form unzähliger Zeitungsartikel an der Wand. Mit Lucys Hilfe würde er die Gilde wieder aufbauen und gemeinsam würden sie Acnologia und Zeref das Handwerk legen, um den letzten Willen der Drachen zu erfüllen und Fiore vor der Zerstörung zu bewahren, die Magnolia vor einem Jahr heimgesucht hatte. So gesehen hatte sich für Natsu nichts geändert bis auf ein wichtiges Detail. Eine Kleinigkeit würden es viele nennen. Bis gestern hatte Natsu es selbst gar nicht richtig bedacht, doch dieser Konflikt mit Lucy – oder wie auch immer man es bezeichnen sollte – hatte ihm die Augen geöffnet. Seit Lucy in der Gilde war, war sie für ihn selbstverständlich gewesen. Sie war immer da gewesen, hatte immer an seiner Seite gekämpft, war ihm immer gefolgt… Als er damals zu seiner Trainingsreise aufgebrochen war, war es für ihn selbstverständlich gewesen, dass Lucy bei seiner Heimkehr immer noch da sein würde und dass dann alles so weiter gehen würde wie vor seinem Aufbruch. Aber Lucy war nicht selbstverständlich. Sie war nicht einfach da. Sie war… Natsu hatte gar kein richtiges Wort dafür. Lucy war einfach. Sie war Lucy. Seine Kameradin, seine Freundin, seine Partnerin. Eine Art Wunder, vielleicht auch Schicksal. Lucy gehörte zu ihm und er gehörte zu ihr. Das war nicht selbstverständlich, das war ein Geschenk. Etwas, das man in Ehren halten sollte. Niemals wieder wollte Natsu wie selbstverständlich davon ausgehen, dass Lucy einfach auf ihn warten würde. Niemals wieder wollte er sie warten lassen. Welchen Weg auch immer sie in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren beschreiten würden, sie würden ihn gemeinsam beschreiten. Er würde Lucy nicht alleine lassen, denn sie war alles für ihn, nur nicht selbstverständlich! Unmögliches - Ungeschriebene Geschichte --------------------------------------- Zitternd bahnte Lucy sich einen Weg durch die Straßen von Crocus und erinnerte sich, wie es hier noch vor wenigen Tagen ausgesehen hatte. Die hellen Pflastersteinstraßen, die mit warmen Farben verputzten Häuser, die bunten Marktstände überall. Das erwartungsvolle Summen der Einwohner und Gäste, das Gelächter von Kindern. Vor wenigen Tagen noch hatte das Leben hier in voller Blüte gestanden, doch jetzt… Doch jetzt lagen die meisten der Gebäude in Trümmern. Das Feuer hatte alles zu schwarz und dunkelbraun verkohlt. Und statt Lachen hörte man Weinen und Schreien. Die Menschen irrten durch die Trümmer auf der Suche nach ihren Angehörigen oder nach einem sicheren Unterschlupf. Ihre vorher fröhlich funkelnden Augen wirkten nun trüb und dunkel, zuweilen so unendlich leer, dass sie wie lebende Tote wirkten. Diese Menschen brauchten Hilfe. Sie mussten fort von der Oberfläche, mussten im Untergrund Schutz suchen. In den Kanalisationen vorerst und von dort aus weiter in die Tiefe. Die Oberfläche war kein sicherer Ort mehr für sie, wo doch jederzeit Drachen vom Himmel stürzen und ihnen den Tod bringen konnten. Jemand musste es ihnen sagen, sie anführen, für die Bedürftigen sorgen. All die Waisen, die nun verzweifelt durch die Straßen irrten. Die unzähligen Verletzten… Aber Lucy konnte ihnen nicht helfen. Sie verschloss sich vor dem Elend um sie herum, um sich auf das konzentrieren zu können, was nun vor ihr lag. Noch war es nicht zu spät. Wenn sie sie nur schnell genug fand, hatten sie alle noch eine Hoffnung. Dann war nicht alles verloren! Ihr Vormarsch geriet ins Stocken, als sie auf einem ehemaligen Marktplatz in eine große Menschenansammlung stolperte. Auf einer Obstkiste stand ein hakennasiger Mann, dessen feine Kleidung im Vergleich zu den meisten anderen hier beinahe blütenrein war. Wohl ein Reicher, der sich rechtzeitig in seinem persönlichen Keller hatte verkriechen können. Jetzt hob er mit gewichtiger Miene die Arme und sprach in einer Tonlage, als wäre er ein allwissender Prophet: „Wir müssen uns unterwerfen! Wir müssen sofort alle Kampfhandlungen einstellen und den Drachen unseren guten Willen zeigen. Wenn wir für sie arbeiten, werden sie uns verschonen und irgendwann werden wir gleichberechtigt mit ihnen sein!“ In der Menge wurde getuschelt. Einige schüttelten resigniert den Kopf, andere waren empört, wieder andere nickten hoffnungsvoll. Lucy presste die Lippen aufeinander. Er hätte eine Menge dazu zu sagen. Er würde diesem Wichtigtuer gehörig den Marsch blasen. Sie wandte sich ab, um den Marktplatz zu umgehen und weiter zu suchen. Lautes Gebrüll in der Menge ließ sie inne halten. Ein verdreckter Junge mit halb zerfetzter Kleidung und zahlreichen Bandagen am ganzen Körper schubste den Wichtigtuer von der Obstkiste und sprang selbst darauf. „Wenn wir uns ihnen ausliefern, ist das unser Tod! Das sind Bestien, sie kennen keine Ehre und keine Gnade!“ „Was weißt du denn schon davon, Junge?“ „Sie haben meinen Vater getötet!“, rief der Junge zurück. „Hey, du bist doch ein Magier! Seht nur, er hat ein Gildenzeichen an der Schulter! Hättet ihr uns nicht retten sollen? Ihr habt versagt!“, rief jemand in der Menge. „Wir haben gekämpft! Bis zum letzten Mann haben wir für euch gekämpft!“, rief der Junge aufgebracht. „Aber dort draußen sind zehntausend Drachen, durch deren Haut kein einziger magischer Angriff dringen kann. Wir brauchen eine neue Strategie, aber wir werden einen Weg finden. Wenn ihr euch jetzt den Drachen ausliefert, habt ihr überhaupt keine Chance.“ „Und bis dahin sollen wir die Hände in den Schoß legen und auf sie warten?!“, rief der Wichtigtuer aufgebracht. Die Menge wurde immer unruhiger. Heiße Diskussionen brachen aus, eskalierten an mehreren Stellen zu Prügeleien. Der Junge versuchte, die unzähligen Stimmen zu übertönen, aber er hatte keine Chance. Er wurde von der Obstkiste geschubst und von mehreren Männern ergriffen. Brüllend schlug er um sich und seine Fäuste umhüllten dabei erst violette, dann grüne Flammen. Schnell nahmen die Männer Abstand. Er wollte wieder auf die Obstkiste steigen, doch sie war in den Wirren der Menge zertrampelt worden. Was er danach tat, konnte Lucy nicht mehr erkennen. Die Menschen drängten sich immer dichter aneinander. Einige flohen panisch, andere kamen aus allen angrenzenden Straßen, um sich an der Prügelei zu beteiligen. Lucy wandte sich ab. Sie konnte Romeo nicht helfen. Das hier war nicht ihre Front und auch nicht die seine, auch wenn sie gut verstehen konnte, warum er es dennoch versucht hatte. Weiter streifte sie durch die Straßen, suchte hinter jedem Trümmerhaufen, in jedem halbwegs intakten Haus. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Sie konnte spüren, wie sie schwächer wurde. Sie musste zurückkehren, bevor ihre Magie versiegte. Sie musste einfach! Zwischen den Trümmern einer Kathedrale hielt sie erneut an. Unzählige Leichen waren von Freiwilligen hergebracht worden. Priester gingen durch die Reihen und standen den Angehörigen bei, die um ihre Toten trauerten oder nach ihren Lieben suchten. Der einstmals überkuppelte Platz war erfüllt vom Weinen und Schreien der Menschen. Schwer schluckend schritt Lucy die vielen Reihen ab. Fast alle Gesichter waren ihr unbekannt, aber einige wenige waren ihr erschreckend bekannt. Rufus von Säbelzahn, ihm fehlten beide Arme und ein Bein und die Haare waren größtenteils verbrannt, das Gesicht zur Hälfte zerfetzt. Zwei Reihen weiter lag zu Lucys Entsetzen sogar Jura von Lamia Scale, ein Großteil seines Körpers von einer Art Säure fürchterlich zugerichtet. Neben ihm saß Lyon mit ähnlichen Verletzungen. Er blickte nicht einmal auf, als Lucy an ihm vorbei ging. Erzas Freundin Miriana und ihre Gildenkameradin Beth von Mermaid Heel lagen nebeneinander. Miriana schien erstickt zu sein, Beths Körper wies mehrere Verletzungen auf, die darauf hinwiesen, dass sie unter einem eingestürzten Gebäude gefunden worden war. Mehrere ihrer Gildenkameraden saßen und standen um sie herum und trauerten um sie. Alle waren sie zumeist schwer verletzt. Die Gildenmeisterin Kagura stand mit steinerner Miene zwischen den Köpfen der beiden Toten. Ihr Schwertarm war von der Schulter an fort. Als sie die letzte Reihe erreichte, wollte Lucy schon erleichtert aufatmen und ihre Schritte wieder beschleunigen, als sie am Ende der Reihe blaue Haare ausmachen konnte. Um Kraft flehend schloss Lucy die Augen. Das durfte nicht sein. Dafür hatte sie jetzt nicht die Kraft. Sie musste weiter. Aber… sie war es sich selbst und ihrer Gilde schuldig… Zitternd ging Lucy zum Ende der Reihe. Ihre Knie knickten ein. Vor ihr lag nicht nur Juvia, sondern auch Gray, beide mit unzähligen Wunden übersäht, sie mussten bis zum bitteren Ende gekämpft haben. Als man Juvia neben Gray gelegt hatte, war ihre Hand auf seine gefallen. Man musste sie wohl gemeinsam gefunden haben. Seite an Seite gestorben. So hatte Juvia sich das sicher nicht vorgestellt… Mühsam holte Lucy Luft und barg das Gesicht in den Händen, presste die Finger schmerzhaft fest gegen ihre Schädeldecke. Sie musste aufstehen. Sie musste weiter gehen. Sie musste weiter suchen. Gray und Juvia waren tot. Sie konnte ihnen nicht mehr helfen. Er lebte noch. Ihm konnte sie noch helfen. Sie musste aufstehen! Nur langsam schaffte Lucy es wieder auf die Beine, aber sie brachte es noch nicht über sich, ihren Kameraden den Rücken zu zukehren. Wenn sie jetzt gehen würde, würde sie die Beiden niemals wieder sehen, das wusste sie. Ganz genau prägte sie sich alles ein, sie wusste noch nicht einmal, wieso sie das eigentlich tat. Keiner würde von ihr Details über diesen Anblick erfahren wollen. Für keinen aus der Gilde würde etwas mehr als die Tatsache wiegen, dass Gray Fullbuster und Juvia Loxar für immer von ihnen gegangen waren. Und dennoch hielt Lucy stumm Wache neben den Leichen ihrer Kameraden, bis sie in sich drin spürte, dass der richtige Moment gekommen war. Wortlos nahm sie Abschied, dann wandte sie sich ab und verließ so schnell wie möglich die Kathedrale. Weiter bahnte sie sich ihren Weg durch die Trümmer der königlichen Stadt, suchte unermüdlich weiter, ignorierte ihre zunehmende Erschöpfung, gönnte sich keine einzige Pause. Unter einer steinernen Brücke fand sie ein notdürftiges Lazarett. Unter den Verletzten erkannte Lucy Eve und Hibiki von Blue Pegasus. Keiner von ihnen schien schwer verletzt zu sein, aber beide waren offensichtlich sehr erschöpft. Eve lag bewusstlos neben seinem sitzenden Kameraden. Als dieser den Blick hob und Lucy erkannte, leuchtete für einen Moment Hoffnung in seinen Augen auf, die jedoch genauso schnell wieder erlosch. Ohne auch nur ein Wort mit ihm auszutauschen, wandte Lucy sich wieder ab. Wenn er noch genug Magie gehabt hätte, hätte er ihr bei ihrer Suche helfen können, aber sie war nach wie vor auf sich allein gestellt. Eine Weile folgte Lucy dem Fluss. Sie machte sich keine Sorgen, dass sie sich verirren konnte. Damit das nicht geschah, hatte sie Vorkehrungen getroffen. Aber allmählich hatte sie Angst, sie nicht rechtzeitig zu finden. Crocus war eine der größten Städte des gesamten Kontinents, nicht so beschaulich wie Magnolia. Hier hatten vor dem Angriff der Drachen abertausende von Menschen gelebt und neben den Wohnvierteln besaß die Stadt Fabriken und Werkstätten, Sportplätze, Kathedralen, Schulen und viele andere öffentliche Gebäude. Obendrein hatten sich die Kämpfe gewiss nicht auf die Stadtgrenzen beschränkt. Lucy selbst war nach dem ersten Angriff am Rande der Stadt erwacht. Um das gesamte Gebiet zu durchsuchen, würde es Tage dauern. Lucy hatte keine Tage – er hatte keine Tage –, sondern Stunden. „Lucy?“ Blinzelnd hob sie den Blick. Vor ihr stand Cana, die sich auf eine provisorische Krücke stützte und zahlreiche Verbände trug, darunter auch einen, der die Hälfte ihres Gesichts verbarg. Vage ließen sich die Ränder von Brandwunden darunter erkennen. „Du bist es!“, keuchte Cana erleichtert und drehte sich um. „Lisanna, es ist Lucy!“ Hinter einer halb eingefallenen Hauswand neben Cana tauchte Lisannas weißer Haarschopf auf. Die Gesichtszüge der jüngeren Magierin wirkten um Jahre gealtert. Tiefe Trauer hatte sich hinein gegraben. „Lucy, hast du etwas von den Anderen gehört oder gesehen? Gray, Juvia, Na-“ Langsam ging Lucy auf ihre Freundinnen zu. „Gray und Juvia sind tot“, erklärte sie leise und wagte es dabei nicht, ihnen in die Augen zu blicken. Es auszusprechen, machte es noch viel unerträglicher, aber es war tatsächlich immer noch erträglicher, als Lisanna weiter reden zu lassen. Als sie auf einer Höhe mit ihren Kameradinnen war, erblickte sie hinter den Trümmern, wo Lisanna aufgetaucht war, ein notdürftiges Lager. Vorne lagen Meister Makarov, Alzack und Reedus. An Alzacks Seite saß Asuka, die immer wieder die Hand ihres Vaters streichelte. Levy, das Gesicht von mehreren tiefen Schnitten verunziert, hockte neben Makarov und flößte ihm mit einer Feldflasche Wasser ein. Jeder Schluck schien eine Qual für den alten Mann zu sein – und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, kam er Lucy wirklich alt vor. Er war dem Tode nahe. Zumindest um Reedus und Alzack schien es nicht so schlimm bestellt zu sein. „Wo ist Wendy?“, fragte Lucy tonlos. „Dort“, antwortete Cana und deutete zitternd auf eine Tür. Sie hing nur noch an einer Angel, aber die Mauer war noch intakt. Früher musste es sich hierbei um das Hinterzimmer eines Ladens oder ähnliches gehandelt haben. Obwohl sie sich sicher war, zu wissen, was sie dort finden würde, betrat Lucy den Raum. Aneinander gereiht ruhten dort mehrere Körper, alle mit Laken oder Decken bedeckt, aber ihre Umrisse waren noch deutlich zu erkennen. Max, Warren, Jet und Droy… Fried und Bixlow… Unter den nächsten beiden Laken lagen ein Mann und eine Frau, beide mit weißen Haaren. Lucy hatte vorher schon in Lisannas Augen erkannt, dass Elfman und Mirajane tot waren, aber es nun zu sehen, war beinahe zu viel für sie. Sie musste sich an der Wand abstützen und mehrmals tief ein- und ausatmen. „Erza hat überlebt“, erklärte Cana hinter ihr mit gedämpfter Stimme. „Gerard hat sie mit seinem Leben gerettet. Sie hat daraufhin alle um sich gescharrt, die noch kämpfen wollen, um mit ihnen gegen die Drachen zu ziehen. Evergreen und Laxus sind mit ihr gezogen. Auch einige aus den anderen Gilden. Shelia von Lamia Scale und Sting und Rogue von Säbelzahn…“ „Sie haben keine Chance“, murmelte Lucy und stieß sich wieder von der Wand ab. Als nächstes passierte sie Gazilles Leichnam, schlimmer zugerichtet als jeder andere, den sie bisher gesehen hatte. Seine gesamte untere Körperhälfte fehlte. Unter dem Laken neben ihm lag unverkennbar Pantherlilly. „Wenn nicht einmal Drachentöter Drachen töten können, wie sollen sie es dann schaffen…?“ Cana gab keine Antwort. Wahrscheinlich dachte sie dasselbe. Nach Pantherlilly kam Visca, was für Lucy beinahe noch schockierender als Gazilles Tod war. Asuka war eine Halbwaise, Alzack war Witwer. In was für eine Zukunft konnte die kleine Asuka jetzt überhaupt noch blicken…? Lucky und Nav und schließlich… Wendy und neben ihr die einzige unverhüllte Leiche, die in Charlys zitternden Armen ruhte. Für Lucy fühlte es sich an, als würde alle Kraft von ihr weichen. Sie ging in die Knie und blickte von Wendy zu Happy und wieder zurück. Wendy war ihre – seine – letzte Chance gewesen! Wie sollte Lucy ihn retten? Sie hatte keine Heilmagie! Sie. Konnte. Nichts. Tun! Charly hob den tränenverschleierten Blick. „Happy ist meinetwegen gestorben“, krächzte sie kaum verständlich. „Ich wollte Wendy nicht verlassen. Er hat mich beschützt… Er ist meinetwegen gestorben…“ „Ich weiß… was du meinst“, wisperte Lucy gequält und betrachtete den blauen Exceed voller Trauer, dachte an ihre erste Begegnung mit ihm, an all die Abenteuer mit ihm – und mit… Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und drückte diese mitfühlend. Canas Stimme klang kratzig: „Lucy, ist er tot? Nat-“ Hastig schüttelte Lucy die Hand ihrer Freundin ab, drehte sich jedoch nicht um. Wortlos kroch sie zu Happy und Charly, beugte sich über ihren toten Freund und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Zaghaft griff sie danach nach Wendys lebloser Hand, die unter dem Laken hervorlugte, und drückte diese zum Abschied. Zuletzt strich sie über Charlys Kopf, dann stand sie wieder auf und verließ langsam den Raum, nahm dabei von jedem ihrer Kameraden stummen Abschied, rief sich all die schönen Momente mit ihnen in Erinnerung. Als sie in den Vorraum zurückkehrte, blickte nur Lisanna auf, Levy kümmerte sich immer noch wie in Trance um Makarov, obwohl offensichtlich war, dass es für ihn keine Hilfe mehr gab. Ihre Bewegungen waren ruckartig, wirkten nur mühsam kontrolliert. Levy hatte ihre beiden Teamkameraden und langjährigen Freunde verloren. Und Gazille. Was genau zwischen Levy und Gazille existiert hatte, wusste Lucy nicht, aber sie wusste, dass dort etwas gewesen war. Etwas, dessen Verlust Levy in eine Art vegetativen Zustand geschleudert hatte. Einzig und allein die Pflege ihrer verwundeten Kameraden schien sie noch in dieser Welt zu halten. „Lucy, bitte bleib’ hier bei uns“, flehte Cana und ergriff die Hand ihrer Freundin. „Ich habe Vater mit meinem Kartenzauber kontaktiert. Er wird bald hier sein und dann suchen wir einen sicheren Unterschlupf.“ „Gray und Juvia liegen in der Kathedrale im Westviertel. Auf einem Marktplatz ganz in der Nähe habe ich auch Romeo gesehen“, erwiderte Lucy matt und entzog ihre Hand dem schwachen Griff. „Lucy“, presste Cana gequält hervor. „Bitte…“ „Hier ganz in der Nähe ist unter einer Steinbrücke ein Lazarett errichtet worden. Hibiki und Eve von Blue Pegasus sind dort. Vielleicht können sie euch helfen, Romeo zu finden, wenn Hibiki wieder bei Kräften ist“, fuhr sie fort und kniete sich neben Makarov, ergriff dessen Hand und drückte sie sachte. Mühsam öffnete der alte Gildenmeister seine Augen und obwohl er entsetzliche Schmerzen haben musste, erwiderte er Lucys Händedruck und für einen winzigen Moment leuchtete das großväterliche Lächeln in seinen Augen auf, mit dem er Lucy vor so langer Zeit in die Gilde aufgenommen hatte. Dann schlossen sich seine Augen wieder und sein Brustkorb erzitterte vor Anstrengung beim nächsten Atemzug. Wortlos stand Lucy auf und verließ das Versteck ihrer Freunde. Levy und Lisanna blieben, wo sie waren, aber Cana folgte ihr und versuchte wieder, Lucy zurück zu halten. Wieder schüttelte diese sie ab und schlug einen anderen Weg ein, als den, auf welchem sie hierher gelangt war. Sie wollte nicht schon wieder am Lazarett und an der Kathedrale und am Marktplatz vorbei. Sie hatte keine Zeit mehr. Er hatte keine Zeit mehr. „Lucy…“ Müde drehte Lucy sich um und blickte ihrer Freundin zum ersten Mal richtig in die Augen – oder vielmehr in das eine, welches nicht durch den Verband verborgen wurde. Auch Cana wirkte um Jahre, nein, um Jahrzehnte gealtert. Von der einstigen Verwegenheit war nichts mehr zu sehen. Aber Cana hielt sich aufrecht. Sie schulterte die Last der Verantwortung für ihre überlebenden Kameraden. In gewisser Weise war sie jetzt wohl die neue Gildenmeisterin – und die letzte. Der Blickkontakt schien Cana endlich zu überzeugen. Ihr kamen die Tränen, aber sie wischte sie schnell fort und lächelte gequält. „Es war eine tolle Zeit.“ „Die beste“, stimmte Lucy ihr zu. Ihre Mundwinkel schmerzten, als sie versuchte, zu lächeln. „Pass’ gut auf Charly auf. Happys Tod darf nicht umsonst gewesen sein.“ „Werde ich“, versprach Cana immer noch mit diesem gequälten Lächeln. „Leb’ wohl, Lucy.“ „Leb’ wohl, Cana“, erwiderte Lucy, dann wandte sie sich ab und schlug den kürzesten Weg zu ihrem Versteck ein. Dieses Mal lief sie schneller, sah nicht nach links, nicht nach rechts. Sie musste niemanden mehr suchen, über niemandem mehr Bescheid wissen. Wendy war tot. Happy, Gray, Juvia, Gazille, Mirajane… bald auch Makarov – und so sehr Lucy sich auch wünschte, sie könnte an Erza und ihre Begleiter glauben, so war sie sich doch sicher, dass auch sie bald von den Drachen getötet wurden. Es waren zu viele. Keiner kam gegen sie an. Nicht einmal er. Schwankend erreichte Lucy einen verriegelten Kellereingang, der jedoch bereits geöffnet wurde. Leo und Sagittarius traten hervor, letzterer mit angelegtem Pfeil am Bogen. Hinter ihnen standen Taurus und Aquarius und Lucy wusste, dass auch die anderen sechs Stellargeister des Zodiac-Kreises noch da waren, mit welchen sie einen Vertrag geschlossen hatte. „Endlich bist du zurück!“, seufzte Leo erleichtert. „Lucy, du musst endlich unsere Tore schließen. Zehn goldene Schlüssel auch nur für eine Minute gleichzeitig zu benutzen, ist eigentlich schon tödlich!“ „Ich musste es tun. Ihr ward die Einzigen, denen ich ihn anvertrauen konnte“, erwiderte Lucy entschlossen und holte ihren Schlüsselbund hervor. „Hast du Wendy gefunden?“, fragte Leo, obwohl seine Miene verriet, dass er sich die Antwort auf seine Frage schon denken konnte. „Sie ist tot“, sprach Lucy es dennoch aus. „Beinahe die gesamte Gilde… Ich… ich kann nichts mehr tun…“ „Dann solltest du dich verabschieden“, riet Aquarius ungewöhnlich sanft und legte Lucy sogar eine Hand auf die Schulter. „Und danach gehst du zu den Anderen, wo du in Sicherheit bist. Du musst dich erholen.“ Ohne eine Antwort zu geben, schloss Lucy eines nach dem anderen die Tore der zehn goldenen Schlüssel in ihrem Besitz. Wie es ihr gelungen war, alle gleichzeitig und so lange geöffnet zu halten, konnte sie im Nachhinein nicht mehr sagen. Sie hatte einfach nur daran gedacht, wie verzweifelt ihre Lage war und dass sie unbedingt einen starken Schutz brauchte – und dann hatte es einfach funktioniert. „Lucy…“ Als sie zuletzt Leos Tor schließen wollte, bedeutete er ihr, zu warten. „Du wirst doch zu den Anderen zurück gehen, oder?“ Wortlos blickte Lucy in die Augen ihres Stellargeistes und Freundes. Er war es schließlich, der den Blickkontakt abbrach und resigniert seufzend den Kopf schüttelte. Unschlüssig zog er die Schultern hoch, blickte hinter sich ins Innere des Verstecks und blickte dann wieder zu Lucy. „Wir werden einander nicht wieder sehen, oder?“ „Ich glaube nicht“, murmelte Lucy. Schweigend standen sie einander gegenüber. Lucy hätte das Tor des Löwen einfach schließen können, aber sie spürte, dass Leo noch etwas sagen wollte und nur nach den richtigen Worten suchte, also wartete sie. „Du warst eine tausendmal bessere Stellargeistmagerin als Karen oder irgendjemand sonst“, begann Leo schließlich unsicher. Trauer lag in seinem Blick, als er ihr wieder in die Augen sah. „Du warst nicht einfach nur unsere Partnerin, sondern unsere Freundin… ein Teil unserer Familie… Ich wünschte, wir hätten dich und die Anderen beschützen können… Wir haben versagt.“ Matt schüttelte Lucy den Kopf. „Die Einzige, die versagt hat, bin ich… Aber ich bin dankbar für die Zeit mit euch. Es war eine Ehre, mit euch kämpfen zu dürfen…“ Jetzt war es Leo, der den Kopf schüttelte, während er sich langsam auflöste. „Die Ehre lag ganz bei uns, Lucy. Du bist die mächtigste Stellargeistmagierin, die jemals existiert hat…“ Die Worte hallten in Lucys Gedanken nach, als sie ihr Versteck betrat und die Tür von innen verbarrikadierte. Die Dunkelheit hier wurde von einem kleinen Feuer in Schach gehalten, neben welchem ein notdürftiges Lager errichtet worden war. Auf diesem Lager lag er. Im Grunde war sein gesamter Körper bandagiert. Er hatte sich im Kampf über jedes menschenmögliche Maß hinaus getrieben, hatte selbst dann noch gekämpft, als eine Drachenkralle seinen Bauch aufgeschlitzt hatte. Mit diesem Einsatz hatte er Lucys Leben gerettet, aber Lucy konnte keine Dankbarkeit dafür aufbringen. Zitternd setzte sie sich neben ihn und ergriff seine Hand. Noch schlug sein Puls. Noch hob sich seine Brust. Aber sie konnte spüren, wie er von Sekunde zu Sekunde immer schwächer wurde. Seine Hand zuckte in ihrer und er schlug langsam die Augen auf. Mehrmals musste er blinzeln, ehe sein Blick sich fokussierte. Seine Lippen umspielte ein Hauch des Lächelns, mit dem er Lucy vor so langer Zeit in die Gilde eingeladen hatte. „Lucy…“ „Natsu…“ „Du warst… lange weg…“ „Ich habe Wendy und die Anderen gesucht. Ich habe Hilfe für dich gesucht“, krächzte Lucy und jetzt auf einmal konnte sie die Tränen um ihre Freunde vergießen, die vorher einfach nicht hatten kommen wollen. Natsu schien die Bedeutung dieser Tränen zu verstehen. Schmerz verzog sein Lächeln. Dennoch drehte er seine Hand, bis er ihre hielt anstatt andersherum. „Gray?“ Gequält schüttelte Lucy den Kopf. „Gazille? Der Opa? Mira?“ Jedes Mal schüttelte Lucy den Kopf und immer mehr Tränen rannen über ihre dreckigen Wangen. Für einen Moment schloss Natsu die Augen, schien um Kraft zu beten, dann sah er beinahe flehend in Lucys Augen. „Happy?“ Schluchzend krümmte Lucy sich neben ihm zusammen, klammerte sich an seine zitternde Hand. So viele tote Freunde. So viele Lücken. So viel Verlust. Und der schlimmste stand ihr noch bevor. Wie sollte sie das nur ertragen…? Natsus bandagierte Hand an ihrer Wange ließ sie den Blick heben. Obwohl es ihm schreckliche Schmerzen zufügen musste, hatte er sich aufgerichtet. Tränen schimmerten in seinen Augen und er keuchte vor Schmerz und Erschöpfung, aber in seinen Augen loderte noch immer diese Flamme, die Lucy bisher in jeder noch so ausweglosen Situation ermutigt hatte. „Das kann nicht… das Ende sein!“, presste Natsu entschlossen hervor. „Ich weigere mich! Es muss… einen Weg… geben!“ „Welchen, Natsu?“, krächzte Lucy verzweifelt und legte ihre Hand auf seine, versuchte, alles von seiner Wärme zu erhaschen, was er ihr jetzt noch bieten konnte. „Sie sind alle tot… Da draußen sind tausende Drachen… Und du…“ „Du findest einen Weg…“, unterbrach er sie und blickte sie mit einem solchen Urvertrauen an, dass sie für einen Moment alles vergaß und sich wie so oft in der Vergangenheit Zuversicht einhauchen ließ. „Du wirst… alle retten… Wenn irgendjemand das kann… dann du…“ Stöhnend vor Schmerz musste er sich wieder hinlegen. Lucy kroch näher an ihn heran und er legte zitternd einen Arm um sie. Sie schmiegte sich in die Umarmung und weinte sich das Elend von der Seele. Weinte um ihre Kameraden und um ihre Zukunft und vor allem um Natsu, dessen Atmung immer schwächer wurde. „Gib… niemals… auf“, murmelte er und sein schwacher Atem streifte ihre Stirn. „Niemals…“ „N-niemals“, würgte Lucy und klammerte sich an Natsu, als sie spürte, wie sein Körper sich verkrampfte. Wie lange sie noch so neben ihm lag und immer wieder ‚Niemals’ murmelte, konnte Lucy im Nachhinein nicht sagen. Natsus Todeskampf fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Bis zuletzt hielt er sie fest. Bis zuletzt fühlte er sich stark und warm und einfach unbesiegbar an. Bis zuletzt blieb er der Natsu Dragneel, der ihr ein Zuhause gegeben hatte und der so oft für sie gekämpft hatte. Und als er schließlich seinen letzten Atemzug tat und sein Arm von ihr glitt, war sie es, die ihn festhielt, die ihm Stärke und Zuversicht gab. Sie blieb bei ihm, als er starb, spürte seinen letzten Herzschlag unter ihrer Hand, spürte später, wie sein Körper erkaltete, war Zeugin, wie der einzige Mann starb, der Fiore hätte retten können… Lange hatte Lucy neben Natus Leichnam ausgeharrt, hatte alleine die Totenwache gehalten, hatte all der schönen Momente mit Natsu gedacht. Irgendwann war sie neben ihm eingeschlafen – und als sie Stunden später erwacht war, hatte sie gewusst, was sie tun konnte, um ihr Versprechen zu halten. Wie in Trance war sie wieder durch die halbe Stadt gelaufen und nun stand sie vor dem Eclipse-Tor. Unterwegs hatte sie die Leichen zahlreicher königlicher Wachen gesehen. Unter ihnen auch Yukino. Schweren Herzens hatte sie auf Crux’ Anweisung hin Yukinos Schlüssel an sich genommen. „Und es wird funktionieren?“, fragte Lucy den weisen Stellargeist, der so ernst und wach war, wie sie es nie zuvor bei ihm gesehen hatte. „Das ist nicht die Frage“, erwiderte er leise und musterte Lucy besorgt. „Die Frage ist, ob du wirklich dazu bereit bist. Das Tor hat keine Magie mehr gespeichert. Wenn du es einsetzen willst, musst du alle zwölf goldenen Schlüssel zerbrechen. Womöglich wirst du sogar deine gesamte Magie einbüßen. Du wirst dort, wo du landest, hilflos sein.“ „Das war ich hier auch“, erwiderte Lucy leise und blickte auf ihren rechten Handrücken hinunter, wo das Gildenzeichen langsam verschwand. Als Natsu gestorben war, hatte es begonnen. Mittlerweile war es nur noch zur Hälfte zu sehen. „Es geht hierbei nicht darum, was ich in der Vergangenheit anders machen kann – sondern wen ich rechtzeitig warnen kann. Damit kann ich vielleicht die Gilde und alle Anderen retten.“ „Das wird diese Zeitlinie hier aber nicht ungeschehen machen“, erklärte Crux traurig. „Natsu und die Anderen werden tot bleiben. Dein Fairy Tail wird nicht wieder auferstehen. Diese Zeitlinie hier wird fortbestehen, so wie tausende andere parallel dazu verlaufen, einige genau wie diese hier, andere mit gravierenden, wieder andere nur mit kleinen Abweichungen. Die Gesetze der Zeit lassen sich auch durch die stärkste Magie nicht außer Kraft setzen. Du wirst nur eine dieser vielen Zeitlinien beeinflussen können.“ „Und in einer dieser Zeitlinien wird Fairy Tail durch mich hoffentlich vor dem bewahrt, was hier geschehen ist. Das ist es mir wert“, antwortete Lucy entschieden und schenkte dem Stellargeist ein mattes Lächeln. „Du hast mir immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Dafür danke ich dir, Meister Crux.“ „Lange Abschiede liegen mir nicht“, murmelte Crux unbehaglich. „Leb’ wohl, Lucy.“ „Leb’ wohl…“ Als Crux verblasst war, drehte Lucy sich zum Eclipse-Tor um und hob die zwölf goldenen Schlüssel, je sechs mit einer Hand. Vor ihrem geistigen Auge sah sie noch mal all ihre toten und verletzten Kameraden, ihre Freunde, ihre Familie… Sie würde sie alle in dieser neuen Zeit wieder sehen, aber sie würden nicht ihre Familie sein. Sie würde für ein anderes Fairy Tail alles hinter sich lassen und vielleicht würde sie dabei sterben, aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann sehnte sich ein Teil von ihr sogar nach dem Tod. Aber bis dahin… „Niemals aufgeben“, wisperte sie, dann konzentrierte sie ihre Magie auf das Tor. Seltsames - Beobachtungen einer Katze ------------------------------------- Seit Happy vor Jahren aus seinem Ei geschlüpft war, war er von Dingen umgeben, welche viele als seltsam bezeichnen würden. Seltsame Menschen, seltsame Magien, seltsame Orte, seltsame Tiere und Pflanzen. Ja, selbst seine Gilde wurde oft als seltsam eingestuft. Doch in Happys Weltbild war all das stets irgendwie normal gewesen. Nie war ihm in den Sinn gekommen, etwas davon tatsächlich als seltsam zu benennen. Im Grunde hatte er die Definition des Wortes Seltsam nie anhand eines klaren Beispiels begreifen können. Bisher zumindest. Seit einigen Tagen jedoch kam Happy genau dieses Wort immer wieder in den Sinn, wenn er seine beiden Teamkameraden beobachtete. Denn Natsu Dragneel und Lucy Heartfilia verhielten sich in der Tat seltsam… Vor einer Woche hatten sie Magnolia erreicht und all die anderen Mitglieder von Fairy Tail wieder getroffen, die von Lucy einen Brief erhalten hatten. In den Tagen, die darauf folgten, hatten sie begonnen, die Gildenhalle aufzubauen. Wieder einmal. Allmählich bekam Happy das Gefühl, dass die Gildenhalle häufiger in Trümmern lag, als dass sie intakt war. Jeden Morgen holten Natsu und Happy seitdem Lucy aus ihrer Wohnung ab – wobei sie jeden Morgen durchs Fenster stiegen und aus irgendeinem Grund war Lucy trotz allen Gebrülls, sie sollten doch gefälligst die Tür nehmen, bisher nie auf die Idee gekommen, das Fenster von innen zu verriegeln. Zu dritt gingen sie dann zur Baustelle und packten dort mit an, wo Hilfe gebraucht wurde. Bis in den Abend hinein arbeiteten sie dort, ehe Lucy sich auf dem Weg zu ihrer Wohnung machte und Happy mit Natsu nach Hause gingen. Das war an und für sich ein vollkommen normaler Tagesablauf. Nichts, was Happy jemals zu denken gegeben hätte. Doch da gab es diese Momente – oft nur ganz kurze –, die waren wirklich seltsam… Happy hatte das Gefühl, als würden Natsu und Lucy oft zueinander blicken. Immer zu anderen Zeiten, wenn der jeweils andere gerade nicht hinsah. Jedes Mal schienen sie dabei um Heimlichkeit bemüht zu sein. Und ihre Gesichtsausdrücke dabei wirkten auch nicht so wie sonst. Irgendwie wirkten Beide sehr viel sanfter, was für Happy sowohl bei Natsu als auch bei Lucy sehr ungewohnt war. Manchmal ließ Natsu seine Arbeit einfach liegen, um Lucy bei ihrer Arbeit zu helfen – und nicht immer schleppte sie dabei irgendetwas Schweres, zumal Happy sowieso der Meinung war, dass Lucy sehr viel mehr schleppen konnte, als viele es ihr zutrauen würden, auch wenn sie sich gerne anderweitig beklagte. Allerdings schien Lucy sich auch gerne von Natsu helfen zu lassen. Mitunter wirkte es sogar beinahe so, als würde Lucy nur so tun, als wäre ihr etwas zu schwer, nur damit Natsu ihr half. Vielleicht hatte das alles noch etwas mit Lucys Gefühlsausbruch zu tun, als sie Magnolia erreicht hatten. Happy hätte zwar an Natsus Stelle eher versucht, Lucy aufzuheitern, aber womöglich war Natsu zu dem Schluss gekommen, Lucy umsorgen zu wollen. Ganz so, als ob sie krank wäre. Und vielleicht war Lucy in gewisser Weise tatsächlich angeschlagen, wenn sie sich doch so ungewöhnlich zahm verhielt. Aber sobald einer der Anderen dazu trat, wirkten Natsu und Lucy wieder ganz normal. Natsu stritt sich jeden Tag mindestens dreimal mit Gray und lieferte sich mindestens eine Prügelei mit einem der Gildenmitglieder. Lucy wiederum steckte so wie früher oft mit Levy, Cana, Mirajane und Lisanna die Köpfe zusammen und redete mit ihnen über… nun gut, das war etwas, was Happy zugegebenermaßen schon immer als seltsam betrachtet hatte. Frauengespräche waren definitiv ein Mysterium für sich. Das alles hätte Happy ja noch als Einbildung abtun können, wenn Natsu nicht seit dem fünften Tag jeden Abend Lucy nach Hause begleitete – und dabei Happy auch nachdrücklich dazu aufforderte, schon mal nach Hause zu ihrer Hütte zu fliegen, anstatt ihm und Lucy Gesellschaft zu leisten. Natsu schien sehr viel Wert darauf zu legen, Zeit alleine mit Lucy zu verbringen, und diese schien das ebenfalls so zu wollen. Von kameradschaftlicher Fürsorge konnte dabei nun wirklich keine Rede mehr sein, denn Lucy war nun wirklich nicht schwach und musste daher nicht beschützt werden, das hatte sie oft genug – und auch seit dem Wiedersehen – unter Beweis gestellt. Ganz zu schweigen davon, dass in Magnolia sowieso keine Gefahr drohte. Auch lag Lucys Wohnung nicht unbedingt auf dem Weg, wenn man von der Gildenhalle zu Natsus Hütte wollte. Es passte einfach hinten und vorne nicht, dass Natsu die Stellargeistmagierin unbedingt jeden Abend begleiten wollte. Und dann war es ja keineswegs so, dass er sie einfach nur bei der Wohnung absetzte und dann zur Hütte kam, nein, jeden Tag kam er etwas später nach Hause und jedes Mal wirkte er noch ein wenig zufriedener. Das Lächeln, welches jeden Abend auf Natsus Lippen lag, wenn er schließlich nach Hause kam, war so unnatsuhaft, dass es für Happy beinahe schon verstörend war. Normalerweise verstand Happy immer, wie sein Partner und Ziehvater sich fühlte, wenn er lächelte, aber dieses Lächeln konnte er partout nicht einordnen. Es war schlicht und einfach seltsam. Am siebten Tag kehrte Natsu erst mitten in der Nacht in die Hütte zurück. Happy stellte sich schlafend und bekam so mit, wie der Drachentöter sich summend der Weste entledigte und sich dann in die Hängematte sinken ließ, ehe er einen Seufzer von sich gab. Einen Seufzer! Seit wann seufzte Natsu? Happy konnte sich nicht erinnern, wann sein Freund das jemals zuvor getan hätte! Und dann war dieser Seufzer auch noch so – ja, schon wieder – seltsam. Nicht so wie die resignierten Seufzer, die man häufiger mal von den vernünftigeren Gildenmitgliedern zu hören bekam. Auch nicht so wie Lucys frustrierte Seufzer. Sondern einfach anders. Ganz und gar untypisch für Natsu Dragneel… „Natsu und Lucy verhalten sich seltsam!“, beklagte Happy sich am nächsten Morgen bei Pantherlilly und Charly, nachdem er alleine hatte zur Gilde fliegen müssen, weil Natsu der entschieden hatte, er würde Lucy alleine abholen gehen. Aufgelöst wedelte der blaue Ekceed mit den Armen vor seinen Freunden herum, die jedoch eher unbeeindruckt wirkten. „Kannst du das konkretisieren?“, fragte Charly. Sehr umständlich schilderte Happy all seine Beobachtungen und nahm währenddessen verwirrt zur Kenntnis, wie Pantherlilly ahnungsvoll zu grinsen begann, während Charly beinahe gelangweilt wirkte. „Irgendwann musste es ja so weit kommen. Sogar Gazille hat es schon bemerkt“, stellte Pantherlilly schließlich fest. „Die ganze Gilde hat es bemerkt. Es ist Thema Nummer Eins, wenn die Beiden nicht da sind“, erklärte Charly und schüttelte verständnislos den Kopf. Verwirrt blickte Happy von einem zum nächsten. „Aber was ist denn nun mit ihnen? Sind sie krank?“ „So könnte man es auch nennen“, gluckste Pantherlilly und tätschelte beinahe gönnerhaft Happys Schulter. „Irgendwann wirst du es auch noch verstehen, Happy.“ Und ohne eine weitere Erklärung kehrte der schwarze Ekceed zur Gildenbaustelle zurück. „Es ist wirklich nicht weiter spannend. Ignoriere es einfach“, riet Charly ihm und ging auch einfach. Schmollend schüttelte Happy den Kopf. Er verstand die Andeutungen seiner Freunde nicht. Er verstand das alles nicht! Alles war seltsam! Geheimes - Die Pflichten eines Masters -------------------------------------- Der Schrei hallte über das gesamte Schlachtfeld. Über Leichen und Verletzte hinweg. Über Trümmer und Waffen und Krater magischer Attacken hinweg. Tief ins Mark drang er vor, bohrte, stach, presste. Rogue war auf den Beinen, bevor er überhaupt darüber nachdenken konnte, aufzustehen. Alle Erschöpfung war wie fortgeblasen. Sein Herz raste, sein Blick huschte panisch über die herumstehenden und –sitzenden Magier von Sabertooth und Blue Pegasus. Dann war Sting an seiner Seite, seine blauen Augen extrem geweitet. Rogue erkannte in ihnen dieselbe Angst, die auch ihm das Herz zusammen presste. „Minerva!“, rief Sting heiser und eilte weiter, Rogue auf den Fersen. Lector drückte sich von Stings Schulter ab und breitete seine Flügel aus, um über das Schlachtfeld hinweg zu fliegen und nach der Tochter des ehemaligen Gildenmasters zu suchen. Sein Flug schlingerte und war sehr niedrig. Auch der Exceed hatte sich während der Kämpfe gegen die Alvarez-Soldaten völlig verausgabt. Frosch in Rogues Armen schlief schon tief und fest. Nicht einmal Rogues hektische Bewegungen vermochten sie zu wecken. Am Rande nahm Rogue wahr, dass Pantherlily und Levy von Fairy Tail mit verstörten Mienen nebeneinander saßen, und ihm wurde übel, während er an ihnen vorbei hastete. Wenn dieser Krieg einen Drachentöter zum Opfer haben konnte, wie könnte dann Minerva sicher sein, egal wie mächtig sie war? Wie hatte er sich eben noch einfach hinsetzen und verschnaufen können, wo er doch gar nicht wusste, wie es um all seine Kameraden stand? Ein weiterer Schrei ließ Rogue zusammenzucken. Lectors Flügel lösten sich in Luft auf und der Exceed stürzte aus niedriger Höhe zu Boden. Sting und Rogue beschleunigten und hielten auf die Stelle zu, wo Lector gelandet sein musste. Zuerst erkannte Rogue eine junge Frau mit sehr knappem Outfit und weißen Haaren, die ihm sehr bekannt vorkam. Blut klebte an ihren Armen und hatte ihr Gesicht bespritzt, aber sie schien nicht verletzt zu sein. Ihre braunen Augen waren beängstigend starr. Um sie herum standen einige sehr kuriose Gestalten. Ein Bohnenstangentyp mit Irokesen und spitzer Sonnenbrille. Ein Mann mit seltsam kantigen Gesichtszügen und weißem Lockenhaar, der mit sich zu ringen schien, ob er der Frau eine Hand auf die Schulter legen sollte. Ein Weiß-Schwarzhaariger von schlanker Statur mit verschlossener Miene. Und ein Hüne mit breiten Schultern, wilden dunkelbraunen Haaren, stark gebräunter Haut und einer Narbe, die sich über das rechte Auge zog. Sie alle blickten zu Boden, wo Lector kniete und an einer Hand schüttelte und zerrte und dabei bitterlich weinte. Eine kleine, zierliche Hand. Eine vollkommen schlaffe Hand. Neben Lector kniete Minerva, zusammen gekrümmt und mit bebenden Schultern. Nie zuvor hatte Rogue die Lady von Sabertooth derartig aufgelöst gesehen. Als er noch zwei Schritte näher kam, erkannte er jedoch den Grund dafür. Auf einmal fühlte er sich schrecklich taub. Wie versteinert stand er da und starrte, versuchte irgendwie, dieses unfassbare, unmögliche Bild zu verarbeiten. Vieles hatte er in dem Moment befürchtet, als er Minervas Schrei gehört hatte, aber nicht das! Irgendwo hinter sich hörte er Mirajane gequält krächzen und aus dem Augenwinkel sah er, wie Orga in die Knie ging. Erst als Sting sich in Bewegung setzte, wurde Rogue aus seiner Starre gerissen. Er folgte seinem Partner bis zu der kleinen Gruppe am Boden und beobachtete aus nächster Nähe, wie Sting sich neben den Leichnam kniete und ganz langsam Yukinos blicklose Augen schloss… Der Platz vor der Kardia Kathedrale war überfüllt mit Magiern von Fiores größten und stärksten Gilden, aber es war dennoch gespenstisch still. Das Augenmerk aller war auf die Scheiterhaufen im Zentrum des Platzes gerichtet, wo die Toten aufgebahrt waren. Einer für jede Gilde. Fairy Tails Scheiterhaufen war leer, gleichwohl stand auch Master Makarov mit einer Fackel zwischen den anderen Gildenmastern, die Miene steinern. Gajeels Körper mochte nicht verbrannt werden können, aber es stand außer Frage, deshalb keinen Scheiterhaufen für ihn zu errichten. Auf dem Scheiterhaufen von Sabertooth lag Yukino. Jemand hatte sie vom Schmutz der Schlacht gereinigt und ihr saubere Sachen angezogen, was den Gedanken, dass sie tatsächlich tot war, noch viel unwirklicher für Rogue machte. Er stand zwischen seinen Kameraden, in seinen Armen Frosch und Lector, die Beide weinten, wie sie es schon seit Tagen immer wieder taten. Neben ihm war Minerva. Sie weinte nicht mehr, aber ihr Rücken war unnatürlich gerade, ihre Hände zu zitternden Fäusten geballt, ihre Lippen aufeinander gepresst. Seit Yukinos Tod war sie nicht dazu in der Lage gewesen, zu erklären, was vorgefallen war. Der Drachentöter Cobra von Crime Sorcière hatte es ihnen erzählt. Die Kämpfe waren zu großen Teilen bereits beendet gewesen, als Yukino und ihre ältere Schwester Sorano einander begegnet waren, letztere in Begleitung ihrer Gildenkameraden. Nach all den Jahren hatten die Schwestern einander endlich wieder gefunden und in dem Moment, da sie das Wort aneinander hatten richten wollen, hatte ein Alvarez-Soldat Sorano angreifen wollen. Yukino hatte sich einfach dazwischen geworfen. Keiner hatte schneller reagieren können. Nicht einmal Minerva, die sich während der Schlacht völlig verausgabt hatte. Rogue hatte das Gefühl, dass sie dennoch glaubte, versagt zu haben, und er fragte sich, ob sie jemals darüber würde hinweg kommen können. Langsam ließ Rogue den Blick schweifen. Überall sah er starre Mienen und gerötete Augen. Manch einer sah aber auch so wütend aus, als würde er gleich um sich schlagen. Zuallererst Natsu, der sich wohl nur deshalb zurückhalten konnte, weil Lucy neben ihm zitterte und stumme Tränen vergoss. Ganz am Rand standen Jellal und seine Kameraden von Crime Sorcière. Sorano stand zwischen Cobra und Sawyer, ihre Miene so starr wie schon an jenem Tag der Schlacht. Rogue war sich nicht einmal sicher, ob sie seitdem auch nur einmal geblinzelt hatte. Er wandte den Blick auch von Sorano ab. Ihre Ähnlichkeit zu Yukino stach ihm tief ins Herz und hier und jetzt wollte er nicht weinen. Frosch und Lector brauchten ihn. Wie auf ein stummes Zeichen hin setzten sich die Gildenmaster in Bewegung, jeder mit einer Fackel in der Hand. Sie traten an die Scheiterhaufen heran und synchron entzündeten sie das aufgeschichtete Holz. Gierig fraßen sich die Flammen über das trockene Reisig bis zu den aufgebahrten Körpern, leckten über deren Kleidung und Haare und schließlich über deren Haut. Von irgendwoher erklang ein gequältes Schluchzen und wie das Steinchen, das die Lawine auslöste, ließ dieser Laut weitere Laute folgen. Schluchzen und Jammern, Rufe und Klagen, sogar Schreie. Unwillkürlich drückte Rogue die beiden Exceed fester an seine Brust, verbarg sie unter seiner Robe, um ihnen den Anblick der unzähligen Trauernden zu ersparen, die in die Knie gingen, sich die Haare rauften oder sich an ihre verbliebenen Freunde klammerten. Durch die Feuer hindurch betrachtete der Schattenmagier Sting, der regungslos zwischen Makarov und Kagura stand, den Blick auf Yukinos brennenden Leichnam gerichtet. Während Makarov keinen Hehl aus seiner Trauer machte und auch Kagura die Tränen über die Wangen liefen, blieb Sting gefasst, selbst sein Blick blieb ruhig. Dabei konnte Rogue sich nicht vorstellen, dass sein Partner tatsächlich nichts bei diesem Schauspiel empfand. Yukino war ihrer Beider Freundin gewesen. Zusammen mit Minerva hatten die Vier mehrere anspruchsvolle Missionen gemeinsam gemeistert und hatten ein starkes Vertrauen zueinander entwickelt. In Krisensituationen war es oft ausgerechnet Yukino gewesen, die den kühlen Kopf bewahrt und sie dazu aufgerufen hatte, ihre Kräfte zu kombinieren. Und an jenem Tag der Schlacht nur wenige Stunden vor ihrem Tod war es auch Yukino gewesen, die Sting wieder auf die Beine geholfen hatte… Nur schwach noch schwelten die Feuer. Die Leichen waren längst nur noch Asche, aber einige der Trauernden waren noch immer da. Von Crime Sorcière waren nur noch Jellal und Meredy da, die Anderen waren irgendwann verschwunden – und Rogue glaubte, gesehen zu haben, wie Soranos Schultern im Gehen langsam herab gesunken waren. Er bezweifelte, dass er Yukinos Schwester jemals wieder sehen würde. Wahrscheinlich wollte sie das selbst nicht. Wer könnte es ihr verübeln? Sting wandte sich an Makarov. Sie tauschten einige Worte und einen festen Händedruck aus, dann ging Sting um die Feuerüberreste herum zu seiner Gilde. Er klopfte Rufus auf die Schulter, der sich seinen Hut tief ins Gesicht gezogen hatte, und legte Orga eine Hand auf den Rücken, der mit bebenden Fäusten da stand. Ähnlich verfuhr er mit einigen der anderen Gildenmitglieder und sie alle schienen sich danach etwas zu entspannen. Irgendwie schaffte Sting es mit diesen wenigen Gesten, seine Kameraden aufzubauen. Sie trauerten noch immer, keine Frage, aber in ihre Mienen kehrte die Entschlossenheit zurück, Yukinos Opfer nicht umsonst gewesen sein zu lassen. Rogue und Minerva jedoch nickte Sting zunächst nur zu und ging weiter zu Natsu und Lucy, die nach wie vor ganz in der Nähe standen. Langsam holte der Gildenmaster aus seiner Jackentasche ein kleines Lederetui hervor und hielt es Lucy hin. „Ihr ward beide Stellargeistmagierinnen und Freundinnen. Yukino hätte sicher gewollt, dass du ihre Schlüssel bekommst“, erklärte Sting mit angerauter Stimme. Zitternd schloss Lucy beide Hände um das Etui und presste es an ihre Brust. Sie öffnete die Lippen, aber es kam nur ein schwaches Krächzen zustande, ehe sie erneut in Tränen ausbrach. Das riss Natsu aus seiner Trance ohnmächtiger Wut. Der Feuermagier zog seine Partnerin in seine Arme und strich ihr beruhigend über Haare und Rücken. Über Lucys Kopf hinweg nickte er Sting zu. „Wir werden auf Yukinos Freunde aufpassen, versprochen.“ „Daran zweifle ich nicht“, sagte der Blonde und erwiderte das Nicken. Behutsam führte Natsu seine bitterlich weinende Freundin vom Platz. Sting hingegen wandte sich als nächstes an Minerva, die sich seit der Entzündung der Leichenfeuer kein einziges Mal gerührt hatte. Vorsichtig legte er ihr die Hände auf die Schultern und blickte ihr direkt in die Augen. „Minerva, es war nicht deine Schuld. Niemand hätte etwas tun können. Die Schlacht war bereits vorbei, alle waren erschöpft. Keiner hätte das vorhersehen können“, erklärte Sting ungewohnt sanft, aber sehr eindringlich. Langsam hob Minerva den Blick. Von der Seite konnte Rogue sehen, wie ihre Miene zuckte. Schmerz und Trauer flackerten immer wieder auf, aber noch versuchte die Schwarzhaarige, die Haltung zu wahren. „Sie war meine Kameradin“, krächzte Minerva. „Wir haben Seite an Seite gekämpft und im entscheidenden Moment…“ „Es war nicht deine Schuld“, wiederholte Sting unnachgiebig. „Yukino würde nicht wollen, dass du dir etwas anderes einredest. Sie würde wollen, dass du weiter machst.“ Angespannt beobachtete Rogue, wie Minerva mehrere Sekunden lang um ihre Fassung rang, aber Stings Worte hatten in ihr genau die richtige Saite zum Klingen gebracht. Ihr kamen die Tränen und sie begann immer stärker zu zittern. Als Sting sie vorsichtig umarmte, ließ sie es zu und Rogue war unwillkürlich erleichtert. Auch für Minerva war es noch ein langer Weg, bis sie wieder richtig auf die Beine kam, aber sie würde es schaffen. Dafür hatte Sting heute gesorgt… Die Gildenhalle von Sabertooth war ein stillerer Ort ohne Yukino. Wohin Rogue auch blickte, überall fühlte er sich an die Weißhaarige erinnert. Wie sie an der Bar mit Minerva getuschelt hatte. Wie sie mit ihm und Sting an einem der Tische gesessen und einen Auftrag studiert hatte. Wie sie in einer ruhigen Ecke über Landkarten gebrütet oder Briefe geschrieben hatte. Wie sie mit ihren Gildenkameraden gelacht und gefeiert hatte, getrunken und getanzt. Wie ein Geist erschien Yukino ihm einfach überall und er war sich sicher, dass es seinen Kameraden genauso erging. Dennoch ging das Gildenleben weiter. Sting war organisierter, als Rogue ihn jemals zuvor erlebt hatte, vergab lauter Gruppenaufträge, erstellte teilweise sogar selbst welche, pflegte den Kontakt zu den anderen Gilden und war irgendwie immer da, sobald jemand Probleme zu haben schien. Für seine Kameraden war er jetzt genau der Gildenmaster, den sie so dringend brauchten. Seit zwei Wochen beobachtete Rogue diese Entwicklung. Er sah, wie seine Kameraden langsam wieder auf die Beine kamen. Die Aufträge, die Sting ihnen gab, schienen ihnen zu helfen. Die Gilde rückte näher zusammen, hielt fester zusammen als je zuvor, wuchs in gewisser Weise an diesem furchtbaren Verlust. In all dieser Zeit hatte Sting jedoch kein einziges Mal getrauert. Als wäre er mit Haut und Haar zu dem Fels in der Brandung geworden, den seine Gilde brauchte, und hätte dafür sein Herz erhärten lassen. Rogue dämmerte allmählich, dass diese Stärke Yukinos letzten Worten an Sting zu verdanken war, aber dass er dabei seine eigenen Gefühle verschloss, hatte sie gewiss nicht gewollt. Müde betraten Rogue und Minerva die Gildenhalle. Sie waren mit Teams von Lamia Scale und Fairy Tail in Crocus gewesen, um dort dem Verdacht nachzuforschen, ob sich tatsächlich Alvarez-Soldaten eingeschleust hatten. Rogue hatte auf Stings Bitte hin neben Frosch auch Lector mitgenommen. Der Exceed brauchte das Abenteuer und Sting musste seinen Pflichten als Gildenmaster nachkommen. Jetzt lagen die beiden Exceed leise schnarchend in Rogues Armen. Es war bereits ganz schön spät und entsprechend leer war die Gildenhalle. Rufus und Orga saßen an der Bar, jeder mit einem Krug Bier in der Hand. Als sie Rogue und Minerva bemerkten, lehnte Orga sich über die Theke und zapfte für die Beiden ebenfalls Bier. „Wo ist Sting?“, wollte Rogue wissen, nachdem er die beiden Exceed in seinen Mantel gewickelt und auf die Theke gelegt hatte. „Hinten. Vorhin ist noch ein Schwall Aufträge herein gekommen und er wollte das gleich überprüfen“, erklärte Rufus ruhig, aber Rogue meinte, unter der breiten Krempe des Huts die Andeutung eines Stirnrunzelns ausmachen zu können. „Hn…“ In Rogue reifte ein Entschluss heran. Er hatte lange genug gewartet! Er beugte sich über die Theke und zapfte ein weiteres Bier. „Passt bitte auf Lector und Frosch auf“, sagte er zu seinen Kameraden, dann ging er mit den beiden Krügen zu dem kleinen Hinterzimmer, in welchem Sting immer den ganzen Papierkram bewältigte. In der kleinen Kammer war die Luft stickig und außer zwei schwachen Lacryma gab es keine Lichtquellen. Sting saß am Schreibtisch, vor ihm ausbreitet mehrere Stapel mit Aufträgen, in seiner Hand eine Schreibfeder, sein Blick auf einen weiteren Auftrag gerichtet. Sofort spürte Rogue, dass etwas nicht stimmte. Er stellte die Humpen auf einer freien Stelle des Tisches ab und ging um selbigen herum, um über Stings Schulter hinweg einen Blick auf den Auftrag zu werfen. ‚Suchen Stellargeistmagier/in für eine Schulaufführung’, hieß es dort. Der altbekannte Schmerz der Trauer stieg wieder in Rogue an, aber er kämpfte dagegen an und zog das Blatt unter Stings Händen weg, um es sehr sorgfältig in Fetzen zu reißen. Der Gildenmaster ließ vor Schreck die Feder fallen und blickte auf. Seine Augen wirkten beängstigend starr und er schien krampfhaft darum bemüht, nicht zu blinzeln. „Hey, ich muss den Auftraggebern eine Antwort schreiben, wenn ich die Mission nicht aushängen will“, erklärte er mit heiserer Stimme. „Musst du nicht“, erwiderte Rogue und warf die Fetzen hinter sich, ohne den Blickkontakt zu Sting abzubrechen. „Yukino war auch deine Freundin. Du musst nicht so tun, als würdest du nicht trauern.“ Der Lichtmagier wandte unbehaglich den Blick ab und langte über den Tisch hinweg nach einem der Bierkrüge, um einen Schluck zu sich zu nehmen. „Ich tue nicht so, als würde ich nicht trauern. Ich bin der Master, ich muss für die Gilde da sein“, nuschelte er und starrte in die goldene Flüssigkeit. „Aber du lässt deine Trauer auch nicht zu. Nicht einmal jetzt. Das hätte Yukino nicht gewollt“, benutzte Rogue absichtlich genau die Worte, die sein Partner nach Yukinos Bestattung bei Minerva gebraucht hatte. Wieder zuckte Sting zusammen und verschüttete dabei etwas Bier, dann knallte er den Krug auf den Tisch, wobei das Bier überschwappte und mehrere Aufträge ertränkte, ehe er sich abrupt aufrichtete und Rogue am Kragen packte. „Yukino hätte das alles nicht gewollt! Yukino wollte leben und ihre Schwester finden!“, brüllte Sting und schüttelte seinen Gegenüber. „Yukino wollte nicht sterben! Sie wollte uns nicht alleine lassen!“ Rogue ließ seinen Partner gewähren und wartete ab, bis dieser ihn los ließ und wieder auf seinen Stuhl zurück sackte. Stings Brustkorb hob und senkte sich schwer, als hätte der Magier sich völlig verausgabt, und die Hände verkrampften sich um die Stuhllehnen, was jedoch nicht ausreichte, um ihr Zittern zu kaschieren. „Aber sie ist gestorben. Für Fiore. Für Sabertooth. Für ihre Schwester. Und für uns“, erklärte Rogue leise und umfasste Stings Gesicht, um den Blonden dazu zu bringen, ihn wieder anzusehen. Seine eigene Kehle fühlte sich eng an, als er sprach. „Du warst in den letzten Wochen der Gildenmaster, von dem sie damals gesprochen hat. Sie wäre bestimmt stolz auf dich. Aber sie hätte niemals gewollt, dass du deine Trauer in dich hinein frisst.“ Sting wehrte sich gegen Rogues Griff, aber es war kaum mehr als ein halbherziger Versuch. Der Blonde verlor immer mehr die Kontrolle über sich und schließlich gab er den Kampf gegen die Tränen auf und krümmte sich gequält zusammen. Sofort ließ Rogue ihn los und trat einen Schritt zurück, um ihm den Raum zum Trauern zu geben, den er so dringend brauchte. Stings Hände verkrampften sich in den unordentlichen Haaren und die Schultern bebten immer stärker, während die Tränen zu Boden tropften. Rogue versuchte nicht, ihn zu beruhigen. Er blinzelte nur seine eigenen aufkommenden Tränen fort und blieb in unmittelbarer Nähe zu Sting stehen. Hier und jetzt brauchte Sting keine Umarmung, sondern die Möglichkeit, seiner Trauer Luft zu machen. Zwei Wochen lang hatte er es sich verboten, der Trauer um Yukino nachzugeben, aber jetzt ließ er sie endlich raus. Er weinte und schluchzte und wimmerte den Namen der verlorenen Kameradin. Und Rogue blieb bei ihm. Bereit für das, was danach kommen musste. Bereit dafür, Stings Rückhalt zu sein, so wie Sting der seine schon immer gewesen war. Er hatte nie die Gelegenheit gehabt, darüber mit Yukino zu reden, aber er war sich sicher, dass sie bei den Worten, die sie damals an Sting gerichtet hatte, um diesen zur Besinnung zu bringen, auch daran gedacht hatte, dass Sting der Gildenmaster sein konnte, der er sein musste, weil er Rückhalt hatte. Rogues Rückhalt. Es hätte dafür nicht Yukinos Tod gebraucht, um das dem Schwarzhaarigen klar zu machen. Er wünschte sich sehnlichst, Yukino wäre immer noch bei ihnen, aber gerade weil sie es nicht war, stand für ihn mehr denn je fest, dass er für Sting da sein musste. Jetzt und für alle Zeit. Er war Stings Partner, der Geheimniswahrer seiner Tränen, sein Stützpfeiler, damit Sting die Pflichten des Gildenmasters so erfüllen konnte, wie er es sollte, und dennoch er selbst bleiben konnte. Rogue war sich sicher, dass Yukino sich genau das damals gewünscht hatte…! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)