Götterdämmerung von Mieziliger ================================================================================ Kapitel 1: Nechbet - die Geheime -------------------------------- ************************* Disclaimer: Mir gehört hier natürlich nix außer die Idee der Story ************************* „… tja und dann meinte er doch tatsächlich, dass er derjenige-… sag mal, Joey, hörst du mir überhaupt zu?“ Ein schmächtiger Junge mit äußerst extravaganter Frisur lehnte sich vor, um dem angesprochenen Blondschopf ins Gesicht zu blicken, der gerade damit beschäftigt war einen etwas debilen Gesichtsausdruck zur Schau zu stellen. „Mensch Joey, ich rede hier schon seit 30 Minuten und du reagierst nicht mal. Ist alles in Ordnung? Du siehst irgendwie aus als hättest du einen Schlaganfall…. Sabberst du?“ Yugi, der ein klein wenig genervt aussah, deutete auf Joeys seltsam verzogene Mundwinkel und schüttelte leicht den Kopf. Sein Kumpel war wirklich äußerst komisch heute. Nein, eigentlich schon die ganzen letzten Tage. Aber jedes Mal, wenn er nachfragte bekam er keine aussagekräftige Antwort. „Heute mach ich's, Yugi!“ Mit einem Mal sprang Joey auf, die linke Hand energisch zur Faust geballt und einen entschlossenen Ausdruck in den Augen. „Was denn? Hausaufgaben?“ „Quatsch nicht Alter. Heute frage ich Mana nach einem Date!“ Yugi, der gerade von seiner Wasserflasche getrunken hatte, verbrachte die nächsten Sekunden damit sich die Seele aus dem Leib zu husten, ehe er Joey entgeistert anstarrte und dann dessen Blick folgte, der auf eine Gruppe kichernder Schülerinnen gerichtet war. „Mana? Bist du des Wahnsinns?“ Im Grunde war Yugi ein liebenswürdiger Mensch, der von Vorurteilen völlig frei war, aber egal durch welche rosarote Brille man Joeys Auserwählte betrachtete, sie war nun mal eine arrogante, verwöhnte Schnepfe. Manche Menschen hatten einfach das uneingeschränkte Glück auf ihrer Seite und Mana gehörte zu dieser Truppe Auserwählter. Ihr Vater war Vorstand einer der größten Banken der Region und stopfte sein gesamtes Vermögen in seine einzige Tochter. Tolle Kleider, das Modischste vom Modischen, teure Hobbys, Kreditkarten, ja sogar ein Sportwagen wartete schon auf sie zu ihrem 18ten Geburtstag – man konnte direkt neidisch werden. Doch neben all diesen materiellen Dingen war sie dazu auch noch verdammt hübsch. Sie war zierlich, hatte langes, braunes Haar und riesige Augen, deren Farbe eine interessante Mischung aus grün und blau darstellte. Kein Wunder, dass Joey über all das hinweg ihren Charakter übersah. „Okay, los geht’s, wer nicht wagt der nicht verliert!“ Mit großen Schritten stapfte Joey über den Hof, Yugis „Das … Sprichwort geht ein … wenig anders“ völlig ignorierend. „Hey, Mana!“ Die Angesprochene sah von ihrem nagelneuen und teuren Handy auf und musterte Joey wie ein verstaubtes Museumsstück. Ihr „Ja?“ kam aufgesetzt geflötet über ihre Lippen und schon senkte sie den Blick wieder um weiter ihre SMS zu tippen, die augenscheinlich wichtiger war als ihr Gesprächspartner. „Hast du Lust heute Abend mit mir ins Kino zu gehen?“ Okay – es war raus. Joey hielt unbewusst den Atem an und versuchte ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, was durch seine Anspannung jedoch eher nach einer Grimasse aussah. Mana unterdessen rollte leicht mit den Augen, während ihre Freundinnen albern vor sich hin kicherten. „Also hör mal … ehm … wie heißt du noch mal?“ Schon allein, dass sie seinen Namen nicht wusste, war eine verbale Ohrfeige, schließlich gehörten sie beide schon seit geraumer Zeit der gleichen Klasse an. Joey versuchte es mit Humor und presste ein dämlich klingendes Lachen heraus, während er antwortete: „Immer für einen Witz gut! Joey Wheeler, du kennst mich doch.“ „Ach ja …“ Erst jetzt hob Mana den Blick wieder, scheinbar war die SMS verschickt worden. „Seto nennt dich immer Köter, nicht wahr? Also hör mir zu Köter-Joey. Ich würde nicht einmal mit dir ins Kino gehen, wenn du mich dafür bezahlen würdest. Mal davon abgesehen, dass du dir das ohnehin nicht leisten könntest. Und nun geh zurück in das Ghetto aus dem du kommst und gib dich mit deinesgleichen ab.“ Damit warf sie ihr langes Haar zurück, wandte sich um und ging zurück ins Schulgebäude… es war faszinierend wie hübsch sie selbst mit solchen Worten auf den Lippen aussehen konnte. ~oOo~ „Ehm…“ Vorsichtig stupste Yugi seinem Freund an die Schulter. Seit der niederschmetternden Absage von Mana hatte Joey keinen Ton mehr von sich gegeben und das war mittlerweile richtig unheimlich. „Joey, wir müssen jetzt hier aussteigen.“ Immer noch Schweigen. Yugi seufzte und zog Joey einfach hinter sich her aus dem Bus heraus. Manchmal war er ganz froh, wenn man Joey für ein paar Sekunden zum Schweigen bringen konnte, aber diese beharrliche Stille gefiel ihm ganz und gar nicht. “Jetzt lass den Kopf nicht hängen“, versuchte Yugi noch einmal seinen besten Freund aufzumuntern. „Es war doch-…“ „Es war doch klar, dass sie so reagieren würde, was? Das wolltest du doch sagen“, platzte es mit einem Mal aus Joey heraus. „Natürlich war es klar! Und ich Vollidiot habe es trotzdem versucht! Ich bin so ein Riesendepp! Ein hirnloser Hering! Ein-..“ „Joey, hör auf!“ Hastig hielt Yugi den Wütenden an einem Arm fest, denn Joey ließ seinen Zorn nicht nur verbal aus, sondern trat mit jeder Silbe auch noch gegen den nächstbesten Mülleimer. „Ach lass mich, Yugi. Ich habe mich heute absolut zum Deppen gemacht, blamiert bis auf die Knochen.“ Ein kurzes Schweigen folgte, denn Yugi brachte es nicht übers Herz Joey beizupflichten, auch wenn er insgeheim zustimmte. Den Spott würde sein Kumpel nun eine ganze Weile über sich ergehen lassen müssen. Vielleicht wäre es besser ihn abzulenken, statt weiter auf dem Thema herum zu hacken „Hey, hast du Lust noch mit zu meinem Großvater zu kommen und ein kleines Kartenduell auszufechten?“ Nein, Lust hatte Joey eigentlich keine, aber wenn Yugi ihn mit diesen violetten Augen so treuherzig anstarrte, konnte er ihm ohnehin keine Bitte abschlagen und so zuckte er seufzend mit den Schultern und ließ sich dann doch breitschlagen: „Von mir aus… besser als Zuhause rumsitzen und mich selbst zu beschimpfen.“ Der Weg bis zum Spiele-Laden war nicht mehr weit und nur zu bald klingelte schon das kleine Glöckchen über der Türe des Eingangs, als Yugi und Joey eintraten. „Hallo Yugi, du bist früh dran heute“, tönte die Stimme des alten Mannes um die Ecke, dem der Laden gehörte. „Ist dein Großvater Gedankenleser oder kann er durch Türen sehen? Woher weiß er, dass du das bist?“ flüsterte Joey Yugi zu. „Ach und Joey ist auch dabei“, drang die Stimme von eben wieder um die Ecke, ehe kurz darauf Yugis Großvater auftauchte. „Nun es ist nicht schwierig Yugi zu erkennen. Heute ist unser Ruhetag im Laden und wenn jemand hereinkommt, dann nur Yugi. Und dich erkannte ich an deinen dämlichen Fragen.“ Während Joey am liebsten seinen Kopf gegen die nächste Wand geschlagen hätte, grinste Yugi breit vor sich hin und warf seine Schultasche hinter den Verkaufstresen. „Wir hatten früher aus heute.“ erklärte er dabei lapidar und wollte noch etwas hinzufügen, als sein Blick auf dem Stapel Briefe hängen blieb, die mit der heutigen Post gekommen waren. Der oberste Briefumschlag hatte einen großen „Air mail“ Stempel darauf, einige ausländische Briefmarken und war adressiert an ihn selbst. Freudig riss Yugi den Brief an sich und hielt in Joey unter die Nase „Hey sieh mal, Tea hat geschrieben!“ Seit Tea nach Amerika gegangen war, um dort ihrem Traum einer Tanzkarriere nachzukommen, sahen sie sich nur noch einmal im Jahr. Aber dafür schrieb sie hin und wieder, wenn sie gerade nicht für einen Auftritt trainierte, was leider viel zu selten war. „Cool, lass mal lesen, Yugi“ „Hey, ich hab ihn selber noch nicht gelesen!“ „Ich mach ihn schon mal auf.“ „Das ist MEIN Brief, Joey!“ „Dann hol ihn dir doch.“ „Das ist nicht fair, jetzt gib ihn mir zurück!“ Joeys Lachen erleichterte Yugi, auch wenn es ihn ärgerte, dass er wieder mal zu klein war, um an den Brief heranzukommen, den sein Kumpel mit ausgestrecktem Arm nach hoch hielt. Na, wenigstens war die deprimierte Stimmung verschwunden, auch wenn das mal wieder hieß, sich selbst zum Affen zu machen. „Also gut, hier, lesen wir ihn zusammen.“, gab Joey schließlich gönnerhaft von sich und reichte Yugi den Brief, der ihn neugierig aufriss und laut vorlas. „Hallo Yugi, entschuldige, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber diese Akademie hier ist manchmal die reinste Folterstube. Zum Glück tanze ich für mein Leben gern, so dass mir das viele Üben nichts ausmacht, aber anstrengend ist es schon. Danke übrigens für deinen lieben Brief zu meinem Geburtstag …“ „Alter, die hatte Geburtstag?“ „Klar, ich habe ihr geschrieben.“ „Mann Yugi, du musst mir so was sagen, jetzt steh ich da wie ein Trottel.“ „Ich HABE es dir gesagt, Joey, aber du hast mir nicht zugehört.“ „Oh… … mh … lies weiter…“ „…Brief zu meinem Geburtstag, ich habe mich sehr darüber gefreut. Hier in den USA ist vieles ganz anders und ich muss sagen, ich ecke immer noch des Öfteren an, diese fremden Sitten sind schwer zu begreifen. Aber ich werde immer besser und es gefällt mir hier sehr! Aber jetzt genug von mir, wie geht es dir so? Und was macht Joey? Langsam glaube ich übrigens doch, dass ich unsere Wette verliere, viel Zeit bleibt ja nicht mehr…“ „Welche Wette?“ „Ehm … das … äh ist egal, ich lese besser weiter…“ „Welche Wette, Yugi?“ „Nichts…“ „Sags mir oder…“ „Na gut .. Tea hatte gewettet, dass du mit deiner aufbrausenden Art noch vor dem Abschluss von der Schule fliegst und ich habe dagegen gehalten…“ „Ihr habt … was? Und so was nennt sich Freunde. Pah!“ „Ich .. äh lese weiter…“ „Jaja..“ „viel Zeit bleibt ja nicht mehr, aber es freut mich für ihn. Und wie geht es Tristan? Habt ihr von ihm etwas gehört, seit er mit seinen Eltern umgezogen ist? Ich war wirklich erstaunt als du mir davon erzählt hast, der Umzug kam ziemlich überraschend. So schnell verkleinert sich der Kreis der Freundschaft, nicht wahr? Erst lasse ich euch im Stich, dann Tristan … ach, ich hoffe ich kann bald mal wieder nach Japan kommen und euch besuchen, ihr fehlt mir schon sehr. Doch jetzt muss ich zum Ende kommen, ich habe in genau 10 Minuten die nächste Trainingseinheit und darf nicht zu spät kommen. Vergiss mich nicht und grüße alle ganz lieb von mir, Tea“ Ein wenig wehmütig faltete Yugi den Briefbogen zusammen, es war wirklich schade wie sehr ihre Clique geschrumpft war. Dennoch gönnte er Tea ihr Glück in Amerika und hoffte für sie, dass jemand ihr Talent anerkennen würde. Gerade als er den Brief auf den Tisch legen wollte, segelte ein weiteres, zusammengefaltetes Blatt Papier auf den Boden. „Oh, Tea hat scheinbar noch etwas mitgeschickt“, murmelte Yugi vor sich hin und bückte sich um das Bündel vom Boden aufzuheben. „Nanu? Noch ein Brief?“ Nun, Brief war wohl übertrieben, es war nur eine eilig hin gekritzelte Notiz, die Tea scheinbar vergessen hatte im Brief zu erwähnen. „Ich habe letztens von einer Mitschülerin eine Duell Monster Karte geschenkt bekommen. Sie selbst kann nichts damit anfangen und ich bin ehrlich, ich habe das Spielen auch aufgegeben seit ich hier bin. Ich schicke sie dir, du kannst damit sicher mehr anfangen.“ „Wow, lass die Karte mal sehen, Yugi!“ Joey war sofort näher gerückt und nahm Yugi das kleine Päckchen aus der Hand, um es aufzuwickeln. Die Karte, die nun zum Vorschein kam war seltsam. Sie schien alt und abgewetzt, so gar nicht wie die Hochglanz-Karten, die man hier kaufen konnte. Scheinbar war schon oft mit ihr gespielt worden. „Alter…“, mehr bekam Joey vorerst nicht heraus und auch Yugi betrachtete die Spielkarte fasziniert. Es war eine starke Karte, das sah man allein an der Anzahl der Sterne unter der Bezeichnung, die den klingenden Namen „Nechbet – die Geheime“ trug. Die Abbildung des Monsters zeigte einen Frauenkörper, auf dem jedoch der Kopf eines Geiers thronte, geschmückt von einer seltsamen Krone, auf deren Mitte eine ägyptische Hieroglyphe prangte. ~oOo~ Nachdem Joey und Yugi die Karte lange genug angestarrt hatten, waren sie aufgesprungen und hatten sie Yugis Großvater gezeigt. Der alte Mann kannte sich schließlich hervorragend mit Karten aus, vielleicht konnte der ihnen sagen was für eine Karte das war. Als Yugi ihm die Karte präsentierte, hielt er einen Moment den Atem an und ließ sich dann auf die nahe stehende Couch nieder, während Yugi und Joey ihm über die Schultern linsten. „Eine solche Karte habe ich noch nie gesehen, Yugi.“ Gab der alte Mann freimütig zu und drehte die Spielkarte hin und her als würde sie so ihr Geheimnis offenbaren. „Aber der Name Nechbet ist mir bekannt.“ Die beiden Freunde, die vorher noch enttäuschte Gesichter gezogen hatten, starrten Salomon Muto jetzt interessiert an. „Erzähl, bitte“, forderte Yugi ihn auf und stützte seine Arme auf die Rückenlehne der Couch. „Nechbet...“, begann Salomon nachdenklich, „ist eine Göttin des alten Ägyptens. Sie ist in der heutigen Zeit nicht so bekannt wie all die anderen großen Götter Osiris, Isis oder Horus zum Beispiel, aber sie war dennoch von großer Wichtigkeit für die Pharaonen. Sie war deren Schutzgöttin und Trägerin des Auge des Re, im Nutbuch wird sie unter anderem mit Hathor verglichen.“ „Die Schutzgöttin der Pharaonen?“, unterbrach Joey den alten Mann verwirrt. „Was macht die in so ’ner Karte?“ „Das kann ich dir auch nicht sagen, Joey. Ich habe gehört, dass es ägyptische Götterkarten gibt, aber ich gehe nicht davon aus, dass Nechbet eine davon ist. Dafür ist sie zu schwach, seht nur, ihre Angriffspunkte sind absolut niedrig.“ Yugi nahm seinem Großvater die Karte aus den Händen und betrachtete sie erneut, während auch er zu mutmaßen begann: „Du hast Recht, aber die Verteidigung ist groß und sie kann durch ihren Effekt ganz ohne Tribut gespielt werden. Dann wurde diese Nechbet wohl als Symbol für eine gute Verteidungskarte hergenommen, weil sie als Göttin damals auch eine Schutzfunktion hatte, oder?“ Salomon zuckte mit den Schultern und erhob sich. „Vielleicht hast du recht, vielleicht nicht. Auf jeden Fall ist es eine gute Karte und du solltest Tea dafür danken, dass sie sie dir überlässt. Wenn du im nächsten Duell eine Verteidigung aufbauen musst, dann hast du jetzt zumindest eine hervorragende Basis dafür.“ Yugi und Joey nickten so synchron als hätten sie es einstudiert und der alte Ladenbesitzer verließ schlurfend den Raum. Während die beiden weiterhin lautstark die neueste Spielkartenerrungenschaft von Yugi bewunderten, flog ein nachdenklicher Zug über das Gesicht von Salomon Muto. Irgendetwas an dieser Karte war seltsam … wenn er nur wüsste was. „Komm Yugi, lass uns duellieren! Mal sehen, ob ich mit meinem Rotauge deine Nechbet nicht doch in ihre Schranken weisen kann“, lachte Joey im gleichen Moment auf und sprang über die Rückenlehne der Couch hinweg um auf die Treppen zuzueilen. „Wer zuerst oben ist, hat den ersten Zug!“ Damit verschwand er grinsend in Yugis Zimmer, während dieser mit einem „Hey, das ist unfair!“ hinterher rannte. Wenig später lümmelten sie auf dem Fußboden von Yugis Zimmer herum und starrten angespannt in die Karten die sie in ihrer Hand hatten. Yugi war am Zug, dessen Lebenspunkte noch konstante 2800 Punkte anzeigten, während Joey mit müden 700 vor sich hin krebste. Dennoch hatte er im letzten Zug seinen Rotaugen Drachen beschworen und Yugi ein klein wenig in Bredouille gebracht, nachdem dieser nun keine Karte hatte, die seine Lebenspunkte schützen würde. „Ich beschwöre Nechbet – die Geheime und schütze mich so. Dann lege ich noch eine Karte verdeckt und beende meinen Zug.“ Joey hatte Glück gehabt, denn Yugi hatte zwar eine starke Karte zur Verteidigung gezogen, aber keine Karte mit der er den Rotauge vom Feld fegen konnte. „Gut, dann bin ich jetzt dran“, frohlockte Joey und zog zunächst eine Karte, die er dann verdeckt auf das Feld legte. „Und jetzt greife ich mit meinem Rotauge deine Nechbet an!“ „Mh, dann tappst du genau in meine Fallenkarte und der Angriff wird reflektiert.“ „Boaaaa neee, das darf echt nicht wahr sein!“, schmollend zog Joey seinen soeben zerstörten Rotäugigen Drachen vom Feld. Ihm blieb jetzt noch sein Babydrache, der verdeckt vor ihm lag und als aufgedeckte Angriffskarte Masaki, der legendäre Schwerkämpfer. Dummerweise war Yugi am Zug und der ging sofort in die Offensive. „Okay, ich spiele die Karte Keltischer Wächter im Angriffsmodus und greife deinen Masaki an. Damit ist der erledigt und ich beende meinen Zug.“ Joey seufzte. Wieder mal würde er gegen Yugi verlieren, aber das war nichts Neues. Dennoch kratzte es an seinem Ego, dass er dermaßen haushoch verlor. Mürrisch angelte er nach seinem Kartendeck und zog eine Karte, die sein Gemüt sofort wieder aufhellte. Es war der Zauberer der Zeit! Jetzt würde er es Yugi zeigen! „Sooo, dann sieh mal her, Yugi Muto!“, kündigte er seinen Auftritt an. „Als erstes decke ich meinen Babydrachen auf…“ Yugi schien schon zu ahnen was jetzt kam, denn er lachte leise und nickte Joey zu. Ja, der Zauberer der Zeit, fusionert mit dem Babydrachen, würde seinem Wächter erst mal schwer zusetzen. „… und dann spiele ich meinen Zauberer der Zeit!“ Als Joey das aussprach, schien das Licht in Yugis Zimmer einen Moment zu flackern, ehe mit einem Mal die Karte der Nechbet strahlend hell aufleuchtete. „Was zum…!“ entsetzt sprang Joey hoch und versuchte seinen Freund von dem Spielbrett wegzuzerren, doch das Licht entfaltete sich einer Supernova gleich und hüllte die beiden ein. Ein hoher Ton erklang, so hoch, dass die Gläser der Fenster sprangen und in einem Schauer von kleinen Splittern zu Boden gingen, ja selbst die Wände schienen zu vibrieren bis plötzlich … alles vorbei war. Das Zimmer lag ruhig da. Die Fensterscheiben waren gesprungen und der Wind, der von draußen rein kam, wehte die Vorhänge zur Seite und schob die Spielkarten über das Duell Monster Feld. Nechbet – die Geheime war verschwunden. Genauso wie Yugi. Und Joey. Kapitel 2: Willkommen in der Fremde ----------------------------------- Ein leiser Laut entkam dem regungslos daliegenden Yugi, ein Laut der fast schon einem Grunzen gleich kam. Sein Kopf dröhnte wie eine Glocke auf die man mehrmals eingeschlagen hatte und ihm war schwindlig. Was war eigentlich geschehen? Er hatte höllischen Durst und seine Haut an den Armen und im Nacken brannte. Vorsichtig bewegte er eine Hand, nur um zu merken, dass der Untergrund auf dem er lag nachzugeben schien. Erneut öffnete er die Lippen um einen Laut auszustoßen und hatte mit einem Mal den Mund voll seltsamer Körner, die zwischen seinen Zähnen knirschten und ihn zum Husten brachten. „Yugi?“ von weit weg drang Joeys Stimme zu ihm, die etwas zittrig und schwach klang, in etwa so zittrig und schwach, wie er selbst sich fühlte. „Yugi!“ erneut erklang sein Name, diesmal deutlich besorgter und Yugi zwang langsam das Leben wieder in seinen matten Körper. Joey machte sich Sorgen, das hörte er, und das wollte er vermeiden. Langsam öffnete er ein Augenlid, nur um es sofort wieder zu schließen, diese Helligkeit um ihn herum stach ihm so ins Auge, dass es tränte. „Warte, ich komme runter!“ rief Joey ihm diesmal laut zu und das nächste was Yugi hörte, war ein seltsamer Knacklaut, ein Fluch und ein lautes Rascheln. Was meinte Joey überhaupt mit „runter?“ Wo war Joey? Und wo zum Henker war er selbst? Einen zweiten Anlauf startend, öffnete Yugi erneut die Augen, langsam hatten sie sich an die Helligkeit gewöhnt und verschwammen nicht sofort. Das Erste was er sah … war Sand. Viel Sand. Und sofort wurde Yugi klar, was das für Körnchen waren die noch immer zwischen seinen Zähnen knirschten. Vor sich hin hustend versuchte er sich aufzurichten, spuckte dabei weiterhin Sand aus und stöhnte leise auf, als sein matter Körper ihm den Dienst zu versagen drohte. Es schien ihm wie eine Ewigkeit, doch endlich fand er sich auf allen Vieren wieder und sah sich um. Zu schnell durfte er den Kopf jedoch nicht drehen, denn mit jeder ruckartigen Bewegung schlug ein imaginärer Hammer auf ihn nieder. Seine violetten Augen suchten die Umgebung ab, nach etwas, dass ihm bekannt vor kam, doch alles hier war fremd und neu. Er lag auf einer Sanddüne, direkt neben einer kleinen, mit Dattelpalmen umpflanzten Oase, während um ihn herum eine weite, unendlich scheinende Wüste erstreckte. Aber wo war Joey? Yugi ließ die neue Umgebung erst einmal Umgebung sein und sah sich nach seinem Freund um, er hatte doch dessen Stimme gehört, wo war er nur? „Joey?“ Wie matt und krächzend seine Stimme doch klang. Jetzt wo er sprach fiel ihm auch auf, welch ungeheuren Durst er hatte. Ihm war noch zu schwindlig als dass er aufstehen konnte, weswegen er nun auf allen Vieren zu dem Wasserloch kroch um dort einen Schluck zu sich zu nehmen. „Hier … oben, Kumpel..“ Gerade als er seine Lippen mit dem kühlen Nass benetzte, hörte er Joeys Stimme ganz nah und zuckte mit dem Kopf nach oben, nur um festzustellen, dass das kein allzu guter Plan gewesen war. Die nächsten Augenblicke war er damit beschäftigt schwarze Punkte vor Augen zu sehen und sich gegen die warme Umklammerung der Ohnmacht zu wehren, die überfallartig in ihm aufstieg. Erst als er einige Male energisch geblinzelt hatte, konnte er die dunklen Schlieren vor seinem Blick vertreiben und zu Joey auflinsen. „Joey? Was zum-…“ Der Anblick verschlug Yugi nun wirklich die Sprache. Da hing Joey nun, in einer der fünf spärlichen Dattelpalmen, mit dem Kopf nach unten, da sich seine Jacke irgendwie im Blattwerk verfangen hatte und fluchte leise vor sich hin. „Geht’s dir gut Yugi?“ fragte das baumelnde Etwas schließlich, was Yugi trotz seines jämmerlichen Zustands zum Lächeln brachte. Joey mochte noch so in Schwierigkeiten stecken, immer kümmerte er sich erstmal um seinen Kumpel. Das war es, was Yugi so an ihm schätzte. „Danke, geht schon. Und was ist mit dir, Joey?“ Seine Stimme klang noch immer heiser und matt und strafte seinen Worten Lügen, aber seit er sich in den Schatten der Palmen zurückgezogen und ein paar Schlucke Wasser zu sich genommen hatte, fühlte Yugi sich wirklich ein wenig besser. „Brauchst du Hilfe?“ rief, nein, krächzte er seinem besten Freund zu, der vor sich hin schnaubte. „Pff, ich werde doch noch von so einer scheiß Palme runter kommen!“ „Joey bitte pass auf…“ „Ach was, Kindergarten hier..“ „Sei doch vorsichtig…“ „Und hepp .. und hepp.. und.. WAAAAH!“ „Joey!“ Das laute „Poff“ mit dem Joey in der Sanddüne eintauchte wurde untermalt von einer netten kleinen Staubwolke und während Yugi erschrocken auf seinen Kumpel zu kroch lag der wie ein geplätteter Skorpion im Sand. „Joey, sag schon was“ vorsichtig stupfte Yugi den regungslos Daliegenden an, der mit einem Mal nach oben schnellte, den Mund voll Sand ausspuckte und hastig nach Atem rang. „Scheiße, jetzt dachte ich echt das wärs gewesen..“ hustete er vor sich hin und ließ sich dann ermattet in den Schatten der nun etwas lädiert aussehenden Palme fallen. „Ist bei dir alles okay, Kleiner?“ fragte er schließlich leise und nickte erleichtert, als Yugi einen zustimmenden Laut von sich gab. „Scheiße Mann…“ leise kam der Fluch über Joeys Lippen, während er mit der Faust in den Sand unter sich schlug. „Wo sind wir? Und was ist passiert?“ ~oOo~ „Es gibt Probleme auf der Baustelle.“ „Hm, das sind keine guten Nachrichten. Der Pharao wird darüber nicht erfreut sein.“ „Das weiß ich selbst Mahad, aber durch diese ständigen Scharmützel mit Unterägypten haben wir nicht genug Sklaven zur Verfügung, da wir alle zur Versorgung des Heeres abkommandiert haben. Was soll ich tun, selber Steine ziehen und die Arbeiter zur Sklavenarbeit einteilen?“ Auch wenn das Gespräch leise gewispert war, mangelte es ihm nicht an Schärfe. Priester Seto war ohnehin dafür bekannt schnell eine zynische Zunge zu benutzen. Dennoch hielt der Pharao große Stücke auf ihn und hatte ihn mit dem Bau seines Totentempels betraut. „Natürlich nicht, Seto.“ Der Priester und Magier Mahad hob eine Hand um zu zeigen, dass er nicht an einem Streit interessiert war. „Gibt es keine Möglichkeit die Probleme zu beheben ohne sie direkt dem Pharao unterbreiten zu müssen?“ Seto schwieg auf diese Frage hin, er hatte sich das selbst oft genug gefragt und es wäre ihm sicher am liebsten so, doch dann schüttelte er den Kopf und wandte sich von dem Magier ab um den Flur entlang zu gehen. „Nein. Ich muss es ihm sagen, es ist schließlich sein Totentempel, also sollte er auch unterrichtet werden.“ Mahad zuckte leicht mit den Schultern und holte Seto mit drei schnellen Schritten ein. „Ich gehe mit dir.“ Im Thronsaal selbst saß der Pharao unter der steinernen Statue der Isis, die schützend ihre Flügel über ihren Sohn ausbreitete. Links neben dem vergoldeten Thron lag eine sandbraune Löwin, deren muskeldurchzogener Körper entspannt auf den Stufen lag, während rechts des Thrones zwei Bedienstete saßen. Eine fächerte dem Sohn der Götter mit einem riesigen Fächer Luft zu, während die zweite ein Tablett mit Krug und Wasserbecher hielt. Der Pharao selbst saß hoch aufgerichtet unter den Flügeln Isis’ gekleidet in seine weiße Tunika, geschmückt mit der Milleniumskette und der weißen Krone Oberägyptens auf deren Front der Geier als Abbild der königlichen Schutzgöttin Nechbet prangte. Ein durchdringender Geruch von Lilien lag in der Luft, denn da diese Blume die Wappenpflanze Oberägyptens darstellte, wurden die Räume in denen sich der Pharao aufhielt beständig damit geschmückt. „Edler Pharao.“ Seto war eingetreten und hatte sich, genauso wie Mahad, demütig vor dem großen König verneigt. Dieser nickte nur leicht und hob die Hand, um die Eingetretenen somit zum Sprechen aufzufordern. „Ich komme wegen dem heiligen Tempel, den Ihr mir aufgetragen habt zu errichten.“ Seto hatte sich wieder aufgerichtet und sah seinem Herrscher ernst, aber auch furchtlos entgegen. Viele wurden durch die Präsenz des Pharao eingeschüchtert, aber Seto kannte ihn schon seit dieser ein kleiner Junge gewesen war. Er war ein aufgeschlossener, neugieriger kleiner Kerl gewesen, mit mehr Schalk im Nacken als es einem Pharaonen-Sohn gut zu Gesicht gestanden hätte. Seto erinnerte sich an das eine Mal als der junge Prinz beinahe die Haupthalle des Tempels geflutet hätte, weil er unbedingt die Schleusen des künstlichen Dammes öffnen lassen wollte um zu sehen was passierte und - … „Sprich.“ Erst jetzt fiel dem Priester auf, dass er eine unnötige Pause eingelegt und sein Gegenüber unangemessen lange warten hatte lassen. Schnell schob er die Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. „Im Grunde kommen wir mit den Bauarbeiten gut voran, die Steine, die wir aus Assuan kommen lassen sind von bester Qualität und der Granit für die Obelisken ist gut zu bearbeiten.“ Die Züge des Pharao ließen keinen Schluss zu, ob ihn diese Nachricht nun freute oder nicht. Seit seiner Krönung hatte sich der junge Mann, dem jetzt ein halbes Land zu Füßen lag, verändert. Er war verschlossener geworden, härter und unnachgiebiger, ja selbst denen gegenüber, denen er früher mit Freude und einem Lächeln entgegen getreten war. „Das einzige Problem, das mir Sorgen bereitet sind die wenigen Arbeiter die wir haben. Die vielen Freiwilligen arbeiten zwar unter Aufbringung all ihrer Kräfte, aber uns fehlen die Sklaven im Hintergrund. Gestattet mir ein paar Sklaven mehr auf die andere Seite des Nils zu bringen, dann ginge es mit dem Bau schneller voran.“ Mahad, der bis dahin stumm daneben gestanden war, seufzte innerlich auf. Er wusste schon wie der Pharao antworten würde und siehe da … Mahad täuschte sich nicht. „Noch mehr Sklaven? Ich weiß nicht wie viele Kräfte ich dir noch zugestehen soll, Priester Seto. Ich benötige jeden Mann an der Front gegen Unterägypten und somit auch die Sklaven, die mein Heer versorgen. Sieh zu, dass du dieses Problem selbst löst, ich habe dir diesen Auftrag gegeben und will ihn in dem Zeitrahmen erledigt haben, den ich dir gewährt habe.“ Die violetten Augen des Königs verdüsterten sich während er sprach. Das Totengedenken war das Wichtigste im Leben aller Pharaonen und er selbst machte da keine Ausnahme. Während im Tal der Könige bereits sein Grab ausgehoben und geschmückt wurde, hatte er Seto mit dem Bau eines großartigen Totentempels beauftragt. Direkt gegenüber des Palastes sollte er liegen, auf der anderen Seite des Nils; in Theben-West wo alles Leben sein Ende fand. Eingeschlagen in die Felsenwand, die das Reich der Lebenden von dem Tal der toten Könige trennte, sollte es eine Linie bilden von seinem Grab, über seinen Tempel, bis hin zu dem Herrscherpalast in dem er jetzt saß. Die Götter würden sich seiner gnädig erweisen in Anbetracht solch architektonischer Meisterleistungen. „Aber … mein Pharao, so glaubt mir. Mit diesen wenigen Arbeitskräften-..“ „Schweig!“ Laut und herrisch donnerte die dunkle Stimme des Königs durch den Thronsaal und brachte die Dienerinnen dazu zusammen zu zucken. „Wie du diese Aufgabe meisterst ist rein dir überlassen, Priester Seto. Wenn es zu wenige Arbeitskräfte sind, dann sieh zu wie du welche bekommst! In fünf Jahren soll der Bau vollendet sein, wie du diese Frist einhältst ist deine Bürde.“ In einer wütenden Bewegung fegte der Pharao den Wasserkrug vom Tablett der Bediensteten als er aufstand und die Stufen vor seinem Thron herunter schritt. „Verlasst nun den Saal.“, herrschte er seine beiden Priester an, dabei versehentlich an der Kette ziehend die zu dem roten Halsband seiner Löwin führte. „Ruhig, Schesemtet“ raunte er der großen Raubkatze zu, die einen unwilligen Laut von sich gab und legte seine mit Ringen geschmückte Hand auf den großen, sandfarbenen Tierkopf. „Nun, zumindest hast du es versucht, Seto.“ Murmelte Mahad vor sich hin, als beide den Thronsaal verlassen hatten und seufzte leise. Der angesprochene Priester antwortete gar nicht, seine Augen blitzten nur wütend auf. Was war nur mit dem Pharao los? Natürlich musste er als Herrscher Oberägyptens streng sein und auch hart durchgreifen, doch das war nicht mehr der König der vor einigen Jahren den Thron bestiegen hatte. Die Zeit des Pharaonen Daseins hatte ihn verändert … und das nicht unbedingt zum Positiven. ~oOo~ „Okay, lass uns noch mal rekapiti-… rekai-… nachdenken.“ Joey, der mit dem Wort „rekapitulieren“ scheinbar leichte Probleme hatte, warf Yugi ein paar Datteln zu, die er von einer der Palmen gepflückt hatte. „Also, wir haben ganz normal Duell Monsters gespielt, plötzlich war alles hell und das nächste was ich weiß ist, dass ich auf einer Palme wach wurde und du Sand in der Fresse hattest.“ Yugi seufzte und verzog das Gesicht als hätte er Zahnschmerzen. Jetzt wo Joey ihn daran erinnerte fiel ihm auf, dass es immer noch knirschte sobald er sein Kiefer bewegte. Hastig schöpfte er etwas Wasser in seine hohle Hand und schlürfte es, in der Hoffnung endlich diese Sandkörner zwischen seinen Zähnen heraus zu bekommen. Während er das tat, scharrte er mit seinem Unterarm aus Versehen an einem Stein entlang, der aus dem Wasserloch ragte und zuckte heftig zusammen. Dadurch, dass er so lange Zeit bewusstlos in der Sonne gelegen hatte, waren seine Arme, wie auch sein Nacken vom Sonnenbrand krebsrot gezeichnet. Zum Glück war der Rest seines Körpers von Kleidung bedeckt und sein Gesicht durch den Sand geschützt worden, so dass er wenigstens dort keinen Sonnenbrand hatte. Joey sah nicht besser aus. Im Gegensatz zu Yugi, der mit seinem Landeplatz im Sand direkt noch Glück hatte, war er in einer Palme fest gehangen und hatte sich das gesamte, ungeschützte Gesicht verbrannt. „Wenn ich nur wüsste wo wir sind.“ murmelte Yugi nun vor sich hin und robbte wieder zu Joey um sich neben diesem gegen die Palme zu lehnen. „Kein Plan, alter Kumpel. Echt nicht. Du bist doch der Logiker unter uns.“ Joey zuckte nur müde mit den Schultern und starrte in die endlose Weite hinaus, die aus nichts als Sand zu bestehen schien. Nur am Horizont schienen sich einige Berge zu spannen. „Hey Yugi, meinst du wir sollten mal versuchen da hin zu kommen? Vielleicht ist hinter diesen Bergen was, das scheint nicht allzu weit weg zu sein.“ Yugi zögerte, er hatte nicht wirklich Lust darauf, durch diese unwegsame Wüste zu schlendern, nur um dann festzustellen, dass sich hinter den Hügeln noch mehr Wüste ausbreitete. „Ich weiß nicht …“ „Na wir können auch nicht hier bleiben und nichts tun.“ „Hm.“ Eigentlich hatte Joey Recht. Sie konnten hier bleiben und warten bis sie gefunden wurden oder sie mussten es wagen. Nach einem weiteren, tiefen Seufzen gab Yugi nach. Sie hatten ja doch keine andere Wahl. Sie warteten bis die Sonne am Untergehen war, denn in dieser glühenden Hitze war es praktisch Selbstmord eine solche Exkursion zu wagen. Was sie jedoch nicht bedacht hatten war die Tatsache, dass es des Nachts in der Wüste verdammt kalt werden konnte. Schon nach wenigen Schritten froren sie erbärmlich. Joey trieb Yugi unbarmherzig vorwärts, sie mussten in Bewegung bleiben, denn ohne Feuer war es zu kalt sich hier niederzulassen und vor allem mussten sie vor Sonnenaufgang in einer Gegend sein in der es irgendwo Schatten gab, sonst würde sie spätestens die Mittagshitze zu Boden bringen. Sie sprachen wenig bis gar nichts, der lange Marsch durch den ständig nachgebenden Sand kostete sie ihre ganze Kraft. Als der Mond zu sinken begann und die ersten roten Strahlen am Horizont den Sonnenaufgang ankündigten, hatten sie nur noch eine kurze Strecke vor sich. „Ich kann nicht mehr, Joey…“ murmelte Yugi ermattet, jeder Schritt war eine neuerliche Überwindung, da jeder Muskel in seinem Körper nach Schlaf schrie. Jetzt wo die Sonne am Aufgehen war und langsam die Wärme über die Wüste hinweg zo,g wurde die Reise noch schwieriger als vorher. Ein paar Schritte ging er sich noch vorwärts, doch dann brach er mit einem erschöpften Laut in die Knie. Er würde hier einfach liegen bleiben, keinen Millimeter wollte er sich jetzt noch bewegen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre er hier liegen geblieben bis die Aasgeier um ihn kreisten, aber er hatte nicht mit Joey gerechnet. „Nix da, Aufgeben gibt’s nicht. Komm schon, es ist wirklich nicht mehr weit!“ Energisch zog er seinen müden Freund vom Boden hoch, legte seinen Arm um dessen Schulter und zog ihn einfach mit sich. „Lass mich … ich bin einfach nur müde.“ „Halt die Klappe Yugi.“ Joey wollte eigentlich noch mehr sagen, aber das Mehrgewicht, das er nun mit sich zu schleppen hatte kostete ihn so viel Kraft, dass er das Reden einstellen musste. Die Schritte setzten sich nur schwer in diesen höllischen Sanddünen, mehr als einmal rutschte Joey aus und fing sich nur im letzten Moment. Das Einzige was ihn noch antrieb waren die Berge, die stetig aber langsam näher kamen. Die Sonne stieg immer höher und brannte schon in den frühen Stunden erbarmungslos auf die Wüste nieder, die sich sofort glühend aufheizte. Auch Joey kam langsam ans Ende seiner Kräfte, doch zwang er sich immer wieder dazu noch einen Schritt zu machen. Und danach noch einen. Und noch einen. Und mit einem Mal … spürte er die Kühle um sich. Sie hatten es geschafft! Sie hatten den Schutz der Kalkberge erreicht! ~ oOo ~ Erschrocken fuhr Ishizu zusammen als Mahad das Zimmer betrat und die Türe hinter ihm ins Schloss fiel. „Nanu, man sollte davon ausgehen, dass man die Trägerin der Milleniumskette nicht erschrecken kann?“ lachte der Magier leise und trat näher „Aber du siehst nachdenklich aus Ishizu, sag mir, was hast du gesehen?“ Die Priesterin zögerte etwas, doch dann zuckte sie mit den Schultern und erhob sich von dem Hocker auf dem sie eben gesessen hatte „Die Frage ist eher, was habe ich NICHT gesehen.“ An Mahads Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, dass er nicht ganz verstand was sie ihm damit sagen wollte. Ishizu bemühte sich zu einem Lächeln. „Es ist … seltsam, Mahad. Wenn ich versuche in die Zukunft des Pharao zu blicken, sehe ich nur ein paar Szenen, ehe alles hinter dunklen Schleiern verschwindet. Ich kann es nicht deuten, aber es ist kein gutes Omen.“ „Können wir irgendetwas tun?“ „Nein, ich glaube vorerst sind uns die Hände gebunden. Aber ich werde versuchen die Götter um Rat zu fragen.“ Eine Weile herrschte nun Schweigen zwischen dem Magier und der Priesterin, ehe Mahad sich mit einem leichten Nicken umwandte. An der Tür blieb er noch einmal stehen und sah zu Ishizu zurück. „Behalte das vorerst für dich. Versuche herauszufinden was dieses Omen bedeutet und komm dann zu mir. Wir sollten erst mit dem Pharao sprechen wenn wir genau wissen was wir ihm eigentlich sagen sollen. Bis dahin werde ich die Wachen im Palast verstärken … reine Vorsichtsmaßnahme.“ Als die Türe hinter ihm ins Schloss fiel, seufzte Ishizu leise auf. ’Versuch herauszufinden was dieses Omen bedeutet’… das sagte er so leicht. Natürlich versuchte sie das, sie versuchte das schon eine ganze Weile, doch irgendetwas verwehrte ihr den Zugriff. Eigentlich konnten nur die Götter selbst den Blick der Milleniumskette trüben, denn die Magie der Milleniumsgegenstände war so stark, dass es keinen Magier auf dieser Welt geben dürfte, der dagegen ankäme. Doch wenn die Götter sich einmischten … was sollte sie dann tun? ~ oOo ~ Es dauerte eine ganze Weile bis Joey und Yugi wieder in der Lage waren ihre Umgebung wahrzunehmen. Fast zwei Stunden lagen sie nur im Schatten und hielten die Augen geschlossen um ihren rebellierenden Körpern ein wenig Ruhe zu gönnen. Erst als die Sonne den Zenit überschritten hatte, kam wieder Leben in die Beiden. Großer Hunger und noch viel größerer Durst quälte sie, denn außer ein paar Datteln hatten sie nichts als Wegzehrung mitnehmen können. „Tja … und nun?“ murmelte Joey matt vor sich hin. Es war seine Idee gewesen hier her zu kommen und bis dato hatte er sie auch als sehr gut empfunden, doch jetzt wo sie hier in einer Spalte nackten Kalksteines lagen, stiegen starke Zweifel in ihm auf. Hier gab es nirgendwo Wasser oder etwas Essbares, vielleicht hätten sie doch besser in der Oase bleiben sollen. „Ich weiß es nicht Joey. Zumindest sind wir -…“ Mitten im Satz brach Yugi ab und richtete sich auf. Hatte er gerade ein Lachen gehört? „Was ist denn lo-…“ „Psst, sei mal still…“ Er lauschte noch einmal angestrengt und … tatsächlich! Da lachte jemand! So schnell er in seinem Zustand konnte, rappelte Yugi sich auf und kroch den Spalt entlang, bis er auf einem Plateau ankam. Vorsichtig streckte er den Kopf darüber um hinunter zu sehen – und erstarrte. Ein großes Tal aus leblosem Gestein erstreckte sich unter ihm. Und in diesem Tal wuselte es vor Menschen. Er kannte dieses Tal, er hatte es schon mal gesehen … auf Bildern und in Büchern, es war das -… „Mensch Yugi, was ist DAS denn?“ Unbemerkt war Joey hinter ihm her gerobbt und sah ihm jetzt über die Schulter, doch im Gegensatz zu Yugi, der das gesamte Ausmaß des Ausblicks erkannte, sah Joey nur den brodelnden Topf über einem der Lagerfeuer. „Alter, die haben was zu futtern! Los, lass uns runter!“ „Warte Joey!“ Yugis Stimme klang so panisch, dass Joey tatsächlich inne hielt und seinen Freund anstarrte. „Was ist denn los?“ „Weißt du … weißt du wo wir sind, Joey?“ „Nein Mann, weißt du es denn?“ „Das hier … ist das … Tal der Könige.“ Fasziniert sah Joey sich um. Das Tal der Könige war auch ihm ein Begriff und selbst wenn er gerade noch nicht so ganz damit klar kam wie zum Teufel sie hier her gekommen waren, so war die Tatsache, DASS sie hier waren wiederum äußerst faszinierend für ihn. „Das Tal der Könige…“ wiederholte er ehrfürchtig „ das ist echt krass, Alter. Wobei ich es mir immer anders vorgestellt habe. Mit viel mehr Staub und viel verfallener…“ „Joey…“ Yugis Gesichtsfarbe glich mittlerweile dem fahlen Stein des Kalkberges und als er weiter sprach, spürte auch Joey wie er selbst erblasste. „… das hier ist nicht das Tal der Könige in unserer Zeit.“ Kapitel 3: Atemu ---------------- „Priester Karim!“ Der Ausruf seines Namens brachte einen breitschultrigen Mann dazu innezuhalten. Mit einem Lächeln wandte er sich um und betrachtete die herannahende Priesterin, auf deren Milleniumskette sich der Schein dutzender Fackeln brach. "Ishizu.“ Er schenkte ihr ein freundliches Kopfnicken und trat aus der Mitte des Flures heraus, näher an die weiß getünchte und mit bunten Hieroglyphen verzierte Wand. „Weißt du, wo der Pharao zu finden ist?“ Ishizu wusste, dass Karim zwar für gewöhnlich gut darüber unterrichtet war, was im Palast vor sich ging, aber lange kein so enges Band zum Pharao pflegte wie Mahad. Wahrscheinlich hätte es mehr Sinn ergeben mit Mahad zu sprechen, aber Ishizu hatte das Gefühl, dass er ihre Sorgen nicht ernst nahm. Sie wollte lieber noch eine zweite Meinung einholen. Auf ihre Frage hin deutete Karim mit einer Hand vage gen Süden. „Er befindet sich im Tempel und spricht zu den Göttern. Dabei möchte er nicht gestört werden.“ Ishizus Gesichtsausdruck zeigte deutlich, was sie davon hielt. Sie hatte gehofft sich wenigstens eine kurze Audienz beim Pharao zu erhalten, selbst wenn Mahad versucht hatte ihr genau das auszureden. Karim blieb plötzlich stehen, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und sah die junge Priesterin vor sich mit einem scharfen Blick an. „Gibt es etwas, das ich wissen sollte?“ Ishizu antwortete zunächst nicht, was einerseits daran lag, dass sie sich jedes Wort ihrer Antwort gut überlegte und andererseits an den zwei Bediensteten die plötzlich um die Ecke bogen. Beide trugen große Körbe voll frisch geschnittener Lilien, mit denen sie gewissenhaft alle Vasen des Palastes bestückten. Die Priesterin beobachtete sie dabei schweigend. Selbst als die Diener den Flur verlassen hatten, starrte sie noch eine ganze Weile auf die Stelle an der die Beiden zuletzt gestanden hatten. Erst Karims leises Räuspern brachte sie dazu, sich ihm wieder zuzuwenden und sie spürte, dass sie nun zu lange gezögert hatte, als dass er sich mit Halbwahrheiten begnügen würde. Leise seufzend zuckte sie mit den Schultern und sah zu dem Priester hoch. Ihr Blick jedoch ging durch Karim hindurch und schien sich in der Schummrigkeit des weitläufigen Flures zu verlieren. „Ich muss dringend mit dem Pharao sprechen, aber er lässt fast niemanden mehr zu sich. Entweder ist er damit beschäftigt den Krieg gegen Unterägypten zu koordinieren oder er befindet sich im Tempel.“ „Nun, er ist nun einmal der Pharao, Ishizu.“ Sein leises Lachen ärgerte sie ein wenig, genauso wie seine mit sanftem Tadel gesprochenen Worte. „Das ist mir bewusst!“ Merkend, dass sie eine Spur zu viel Schärfe in ihre Stimme gelegt hatte, rettete sie sich in ein entschuldigendes Lächeln und lehnte sich dann mit verschränkten Armen gegen eine der vielen Säulen, deren Papyruskapitelle die tonnenschwere Decke des Palastes trugen. „„Ich würde ihn nicht stören, wenn ich nicht von der Wichtigkeit der Angelegenheit überzeugt wäre. Seit Tagen ist mir der Blick durch meine Milleniumskette verwehrt, ich erkenne nichts außer Schwärze. Selbst wenn es nur eine vorrübergehende Störung sein sollte, ist es kein gutes Omen.“ Der amüsierte Ausdruck in Karims grünen Augen verschwand und hinterließ eine nachdenkliche Entrücktheit. Abwesend strich er mit der Hand über einen kunstvoll gemeißelten Wandvorsprung und sah den Sandkörnern nach, die zu Boden rieselten. „Hast du mit Mahad darüber gesprochen?“, fragte er schließlich. „Ja. Und er vertritt die Ansicht, es sollten vorerst nur die Wachen verstärkt und dem Pharao nichts gesagt werden. Aber ich mache mir Sorgen. Schon lange spricht unser Herrscher davon, selbst an die Front zu reiten und sich ein Bild von der Lage zu machen. Gerade in dieser Situation dürfen wir ihm etwas derart Wichtiges nicht vorenthalten!“ Karim zögerte mit seiner Antwort, wandte sich dann jedoch wieder der Priesterin zu und schüttelte entschlossen den Kopf. „Nein Ishizu, das wäre der falsche Weg. Wir sollten den Schutz verstärken und noch wachsamer sein als sonst. Aber solange wir nicht wissen um welche Gefahr es sich handelt, würde der Pharao unserem Rat verständlicherweise wenig Beachtung schenken. Natürlich können wir ihm nahelegen, dass er besser nicht selbst am Kriegsgeschehen teilnehmen sollte, aber wenn sich der Krieg weiter so in die Länge zieht, wird er an die Front rücken müssen, selbst wenn das hieße sich in Gefahr zu begeben. Und sei es nur um die Moral des Heeres wieder zu stärken.“ Mit einer Handbewegung brachte er Ishizu zum Schweigen, die bereits entrüstet den Mund geöffnet hatte „Versteh mich nicht falsch. Auch ich bin besorgt, das gebe ich offen zu. Aber was erwartest du? Dass wir den Pharao in seinem Gemach einschließen, damit ihm nichts geschieht?“ Mit einem Seufzen unterbrach er sich und deutete mit einer weiteren Handbewegung an, dass das Gespräch für ihn nun beendet war. „Das Beste wäre, erst einmal herauszufinden was deine Milleniumskette stört. Vorher bleibt uns nichts anderes übrig als abzuwarten.“ ~oOo~ Im Allerheiligsten des Tempels herrschte Dunkelheit. Niemandem außer den Höchsten der Hohepriester und dem Pharao selbst war der Zutritt zum Heiligtum des Tempels und der Blick auf die dort beheimateten göttlichen Statuen gestattet. Langsam trat der Pharao näher. Er hatte sämtlichen Schmuck abgelegt, bis auf das Milleniumspuzzle. In seinen Händen hielt er einen unförmigen Gegenstand, eingeschlagen in feinstes Leinen. Vorsichtig löste der Pharao die Stoffbahnen und offenbarte eine weitere Götterstatue, die er auf dem Altar vor sich abstellte. Es war eine Tiergottheit mit langen Ohren und gebogener Schnauze, welche neben den Götterstatuen des Tempels seltsam fehl am Platze wirkte. „Heiliger Seth…“ Die dunkle Stimme des Herrschers drang durch den Tempel, während er auf die Knie ging und eine goldene Schale mit süßen Früchten vor die steinerne Statue stellte. „Gott der Wüste, Gefährte des Horus und ehrwürdiger Gebieter über den Süden. Ich stehe vor dir, nicht als Pharao des südlichen Landes, sondern als dein Diener.“ Einen Moment verharrte der König, als schien er auf etwas zu warten, doch da alles in dem kleinen Raum still blieb, erhob er seine Stimme erneut. „Ich bitte dich, mir Kraft zu schenken. Die Lage des Landes ist noch immer angespannt. Die Scharmützel an der Front kosten Kraft und Ressourcen, beides Dinge die bald zuneige gehen werden, wenn uns keine Hilfe zuteilwird.“ Wieder kehrte tiefe Stille ein und der Pharao erhob sich aus seiner knienden Position, beide Arme zur Seite ausbreitend, den Blick gen Himmel gerichtet. „Ich flehe dich an, großer Sohn der Nut, hilf mir und meinem Volk, zerschmettere die Feinde und halte deine schützende Hand über dieses Land.“ Der Pharao atmete tief ein und schloss die Augen. Ein sanftes Kribbeln durchzog seinen Körper, breitete sich langsam zu einem unangenehmen Pochen aus. Dennoch genoss Atemu dieses Gefühl. Seth war noch immer bei ihm und würde es sein, solange er ihm die Treue hielt. Noch eine ganze Weile stand er da und lauschte in die Stille, dann verneigte er sich demütig, schlug die Götterstatue wieder in den Leinenstoff ein und verließ das Allerheiligste. ~oOo~ „Alter… du… du verarschst mich doch jetzt, oder?“ Nur dumpf konnte Yugi Joeys Worte hören. Der Schock der Erkenntnis hatte ihn so unbarmherzig getroffen, dass er kaum mehr wahrnahm als das laute Pochen seines eigenen Herzens. Ihm war schwindlig und er war sich nicht sicher ob das nur eine Folge des kräftezehrenden Marsches war. „Sag was, Mann!“ Die Ungeduld in Joeys Stimme kippte und machte einer aufkeimenden Panik Platz. Mühsam wandte Yugi sich zu ihm um und deutete mit zitternder Hand auf das Tal, welches sich vor ihnen erstreckte. „Sieh doch hin. Sieh doch genau hin. Das ist…“ Seine Stimme brach und er schloss die Augen. Vielleicht halluzinierte er nur? Vielleicht hatte er einen Unfall gehabt und sich den Kopf gestoßen? Als er aufblickte erstarb die kleine Hoffnungsflamme, die kurzzeitig in ihm gelodert hatte. Noch immer war alles da. Die vielen Menschen in ihren weißen Lendenschurzen. Die großen Steinquader die nur durch Muskelkraft bewegt wurden. Die hölzernen Gerüste, die Unterstände, die vor der sengenden Hitze schützten. Die hochgewachsenen Männer, die argwöhnisch an den Seiten standen und offenkundig Wache hielten. Einer davon wandte plötzlich den Kopf und sah in ihre Richtung. Einen kurzen Moment sah es aus als hätte er sie nicht bemerkt und Yugi wollte schon erleichtert ausatmen, da wandte sich der Ägypter um und kam zielsicher auf sie zu. Neben ihm stieß Joey ein gepresstes „Scheiße“ hervor, doch Yugi nahm es kaum wahr. Seine Augen hingen wie hypnotisiert an dem Krummsäbel, den die ägyptische Wache in einer Hand trug und deren scharfe Klinge in der Sonne aufblitzte. Er war so erstarrt, dass er gar nicht erst an Flucht dachte. Wohin hätten sie auch fliehen sollen? „Wer seid Ihr?“ Die Stimme des Ägypters war rau und geprägt von Misstrauen. Yugi sank unbewusst tiefer in sich zusammen und linste unter halb gesenkten Augenlidern zu Joey hinüber. Für gewöhnlich ließ der sich durch nichts einschüchtern, aber all das Erlebte war scheinbar selbst für ihn zu viel. Stumm saß er da und starrte mit ungläubigem Blick zwischen dem Tal der Könige und der hochgewachsenen Wache hin und her. „Sprecht!“ Yugi zuckte zusammen und sammelte allen Mut, den er in seiner Kraftlosigkeit noch fand. „Ich…“ begann er und stockte. Er fand einfach keine Worte. Er war so müde, so hungrig, so geschockt und ausgelaugt, dass er nicht mehr denken konnte. Ein bitterer Geschmack stieg seine Kehle auf. Er konnte den Würgereiz nur schwer unterdrücken. „Seid ihr die Freiwilligen von deren Ankunft Hohepriester Seto uns unterrichtet hat?“ Nach einem kurzen Zögern nickte Yugi zaghaft. Solange ihm nichts einfiel, das ihre Anwesenheit hier rechtfertigte, war es wahrscheinlich besser sich der Umgebung anzupassen. Vorsichtig hob er den Kopf und ließ seinen Blick über sein Gegenüber gleiten. Von Nahem sah der Mann älter aus als zunächst gedacht, weniger einschüchternd machte ihn das allerdings nicht. Erst als er nach einem Moment des Schweigens seine Waffe mit einer geübten Handbewegung wieder am Gürtel befestigte, wagte Yugi aufzuatmen. Sie schienen nicht mehr in direkter Gefahr zu schweben. „Das ist gut. Wir können jede helfende Hand gebrauchen.“ Einen Schritt zurücktretend machte der Mann eine auffordernde Handbewegung. „In diesem Zustand seid ihr allerdings zu nichts nutze. Folgt mir. Man soll euch Kleidung und Essen geben. Morgen nach Sonnenaufgang fragt ihr nach Chafre, dann wird man euch wieder zu mir führen.“ Nur wenig später saßen Yugi und Joey in der Kühle eines einfachen Lehmhauses und schlangen grobes Brot und gesalzenen Fisch hinunter, bis der Hunger soweit gestillt war, dass die Müdigkeit überwog. Auch wenn Yugi ein starkes Unbehagen fühlte wenn er an den kommenden Tag dachte, so war er doch zu erschöpft um davon wach gehalten zu werden. Er schlief ein, noch bevor sein Kopf den Boden berührt hatte. ~oOo~ Der Mond stand hoch über dem Nil und tauchte die Stadt Theben in ein silbernes Licht. Der Königspalast lag still da, als genieße er es vom Mondlicht gestreichelt zu werden. Nur noch in wenigen Zimmern sah man von außen den unruhigen Schein der Fackeln und die Einzigen die noch außerhalb des Palastes zu sehen waren, waren die Medjay, die für den Schutz des Pharaos verantwortlich waren. Diese Tageszeit barg eine vollkommene Ruhe und die Illusion der Sicherheit, die sich mit Nut über das Land hinabsenkte. Der Pharao liebte diese Illusion. Wie so häufig stand er auch heute auf dem Balkon seines Gemachs und sah auf die Stadt hinab. Sein Theben. Jedes Mal, wenn er hier stand und auf sie herabsah, bestärkte es ihn darin, dass der Krieg der einzige Weg war. Sollte Unterägypten hier einfallen, würden Mord und Brandschatzung die Stadt zu einer seelenlosen Ruine zerfallen lassen, die der Wüstensand nach und nach zurückerobern würde. Ein Schnurrlaut unterbrach den Herrscher in seinen Gedankengängen und er löste seine Hand von der Brüstung, an der er sich angespannt festgekrallt hatte, um seine Löwin zu streicheln, die ihm auffordernd in die Seite stupste. „Warum schläfst du nicht Schesemtet?“ Sanft fuhr die ringgeschmückte Hand des Pharaos über den riesigen, sandfarbenen Kopf der Raubkatze, die sich nun neben ihrem Herrn niederließ und diesen lange und durchdringend ansah. Atemu zögerte leicht. Manchmal glaubte er in diesen wilden, braunen Augen ein Wissen zu erkennen, welches dem eines Menschen weit überlegen war. Aber wann immer dieses Gefühl in ihm aufstieg, verging es im gleichen Moment in dem es übermächtig zu werden drohte. Leicht schüttelte er den Kopf, schob die Gedanken beiseite und legte seine Hand auf das rote Band, das um den Hals des Tieres lag und es als königlichen Begleiter auswies. „Sieh nur, wie ruhig die Stadt zu unseren Füßen liegt, Schesemtet. Ich habe gehört, dass die Stadt den Namen ‚Die, die niemals schläft‘ trägt. Aber wer auch immer sich diesen Namen ausgedacht hat, hat die Stadt noch nie um diese Zeit betrachtet.“ Gemächlich ließ er seinem Blick über die Dächer der Häuser gleiten, schweifte weiter zum Nil und versank schließlich in dem glitzernden Licht des Mondes, der sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Ein leises Rascheln drang an sein Ohr, wie das Spiel des Windes in den Palmblättern des Palastgartens. Erst als er seine Löwin mit einem Seitenblick streifte wurde er aufmerksam, denn Schesemtet saß angespannt neben ihm, die Ohren angelegt, den Körper zum Sprung bereit und die klugen Augen auf eine im Dunkeln liegende Stelle des königlichen Gemachs gerichtet. Nur kurz warf der Pharao einen Blick in dieselbe Richtung, ehe er sich wieder abwandte und tat als hätte er nichts bemerkt. Eine Handbewegung von ihm gab Schesemtet zu verstehen, dass sie frei herumstreifen dürfe. Die Löwin schlich geduckt in das Gemach zurück, verschmolz regelrecht mit den Schatten und wurde eins mit ihnen. Es fiel Atemu schwer mit dem Rücken zum Gemach stehen zu bleiben, aber sein Haustier war gut trainiert und er war sicher, dass sie die Gefahr ausmerzen würde. Ein paar Sekunden vergingen, Sekunden in denen er nur seinen eigenen Herzschlag zu hören glaubte. Plötzlich durchschnitt das laute Fauchen Schesemtets die Stille, gefolgt von einem erschrockenen Aufschrei. Schnell fuhr Atemu herum und hastete durch den Raum, hin zu seiner Löwin, die hinter einem Pfeiler saß und den gestellten Eindringling zu Boden drückte. „Wer bist du, dass du es wagst, in mein Gemach vorzudringen?“ Mit kaum verhohlener Wut in der Stimme trat Atemu um die Säule, sah auf den Boden herab - und erstarrte. Die Szene, die sich nun vor ihm ausbreitete, war wirklich nicht das, was er erwartet hatte. Unter den riesigen Pranken der Löwin lag ein junges, braunhaariges Mädchen, das sich mit aller Macht das Kichern verbiss, weil Schesemtet ihr beständig voll Freude über das Gesicht leckte. „Mana!“ Der Pharao war so perplex, dass er einen kurzen Moment lang nicht ganz sicher war ob er lachen sollte, oder ob seine Wut die Oberhand gewann. „Ate- Atemu …“ Das junge Magiermädchen brachte die Worte nur schwer heraus, denn wann immer sie versuchte zu sprechen, glitt ihr die Löwenzunge wie ein Waschlappen über das Gesicht. „Nimm … nimm mal Schesemtet von …. mir runter… Bitte! Die- die ist verdammt … schwer!“ Atemu seufzte leise auf und gab seiner Löwin mit einem herrischen Zug an ihrem Halsband zu verstehen, dass sie nun ablassen sollte, was diese nur recht widerwillig tat. „Mana was soll das? Du kannst doch nicht einfach …“ „Ach nun sei mal nicht so Atemu. Ich wollte dich einfach mal wieder sehen!“ Mana strahlte den Pharao an und tat als bemerke sie nicht, wie sich dessen Gesicht verdüsterte nachdem sie ihn einfach so unterbrochen hatte. „Du weißt, dass ich wenig Zeit habe.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und trat wieder auf den Balkon hinaus um über Theben zu blicken. Mana folgte ihm, verharrte aber nach einem Schritt und musterte den jungen Pharao schweigend. Wie er so dastand, gehüllt in ein weißes Leinengewand, umgeben von einem purpurnen Umhang und geschmückt mit edlem Gold und dem mächtigen Milleniumspuzzle, strahlte er eine erhabene Unnahbarkeit aus. Ein Lächeln flog über Manas Lippen und sie schüttelte den Kopf. Egal wie sehr Atemu mit Gold behangen war und egal wie schwer die königliche Krone wog … für sie war er immer noch der kleine Junge, mit dem sie früher im Palastgarten herumgerannt war und dumme Streiche ausgedacht hatte. Er war ihr bester Freund und daran würde sich nie etwas ändern. „Was ist?“ Die dunkle Stimme Atemus riss sie aus ihren Gedanken. Sie lachte leise, ehe sie beide Beine über die Brüstung schwang und sich dort niederließ. „Ich habe an früher gedacht! Weißt du noch als wir am Nilufer Frösche gefangen haben und sie deinem Vater bringen wollten? Dummerweise sind sie uns entwischt und im Thronsaal hin und her gehüpft, die Senatoren waren ganz außer sich, aber dein Vater hat nur gelacht und die Besprechung eben verschoben. Ich hab später eine saftige Strafpredigt von Mahad bekommen. Ich solle den Prinzen nicht ständig in dumme Situationen bringen und blabla… Eigentlich die gleiche Strafpredigt, wie ich sie immer bekommen habe, wenn du und ich unterwegs waren.“ Mana lachte fröhlich auf und baumelte mit den Beinen, aber auf Atemus Gesicht war keine Regung zu erkennen. Ernst und beherrscht stand er da, als erreichten ihn Manas Worte gar nicht. „Atemu?“ Fast schon zaghaft raunte das Magiermädchen den Namen und als er wieder nicht reagierte, tippte sie ihm vorsichtig auf die Schulter. „Sag mir was mit dir los ist, Atemu“, forderte sie ihn nun sanft auf. „Ich weiß, dass du jetzt Pharao bist und dass es nicht mehr so ausgelassen und fröhlich werden kann wie früher. Aber … du hast dich so verändert, ich erkenne dich kaum wieder. Der Pharao zuckte leicht mit den Schultern und wandte sich nun endlich wieder seiner jungen Freundin zu „Wie du sagst, ich bin nun Pharao, Mana. Die Zeiten des Herumalberns sind vorbei.“ „Aber Atemu, ich finde da-“ „Nichts ’aber‘, Mana. Verstehst du nicht? Im Land herrscht Krieg, ich koordiniere die Fronten, leite Oberägypten und bin an der Spitze der Hierarchie. Was verlangst du von mir? Dass ich aus dem Palast schleiche und den Medjay dumme Streiche spiele?“ Erschrocken rutschte Mana ein Stück ab und starrte den Pharao mit großen Augen an. Dann aber presste sie ihre Lippen zu einem schmalen Spalt zusammen, glitt von der Brüstung herunter und ging an ihm vorbei, ohne ihm einen weiteren Blick zu schenken. Erst an der Tür angekommen wandte sie sich noch einmal um und drückte die königliche Löwin einen Moment lang fest an sich. „Atemu…“ Sie erhob sich wieder und sah zu dem weißgekleideten Mann zurück, der mit dem Rücken zu ihr stand. „Hörst du dich eigentlich überhaupt noch selber sprechen? Ja, du bist Pharao, das habe sogar ich mittlerweile verstanden, stell dir vor ich war sogar bei der Krönungszeremonie anwesend.“ „Mana, achte auf deinen Ton, du-“ „Nein ich achte nicht auf meinen Ton, sondern sage was ich denke. Wann warst du das letzte Mal auf der Baustelle deines Totentempels und hast die Fortschritte begutachtet? Wann warst du das letzte Mal in Theben und hast dich dem Volk gezeigt? Wann warst du das letzte Mal auf der Jagd? Wann-“ Mana unterbrach sich und biss sich leicht auf die Lippen, ehe sie leise und hörbar traurig weiter sprach. „Wann hast du das letzte Mal gelächelt, Atemu?“ „Mana!“ Der schneidende Ausruf ihres Namens erreichte das Magiermädchen nicht mehr, sie war nach ihren letzten Worten schon aus dem Gemach gelaufen und hatte den Pharao einfach stehen lassen. „Was erlaubt sie sich eigentlich?“ Noch nie hatte es jemand gewagt so mit ihm zu sprechen. Mit wehendem Umhang lief er in seinem Gemach auf und ab, während die Worte seiner Freundin hinter seiner Stirn pochten. Er war so aufgebracht, dass er gar nicht realisierte wohin er seine Schritte setzte und mit unbedachter Zielsicherheit genau auf die Schwanzspitze Schesemtets trat, die daraufhin mit einem Fauchen hochfuhr. Er war froh jemanden zu haben, an dem er seine schlechte Laune auslassen konnte. „Wenn du nichts Besseres zu tun hast als mir im Weg zu liegen, dann geh!“ Mit einer energischen Handbewegung scheuchte er sie davon, was die Löwin dazu brachte, ein dunkles Grollen von sich zu geben, während sie unwillig außer Sichtweite schlich. Wütend zog Atemu seinen Umhang von den Schultern und ließ sich auf dem Bett nieder. Die Stille, die jetzt in dem Zimmer herrschte, lastete schwer auf ihm. Wann hast du das letzte Mal gelächelt, Atemu? Manas Stimme klang so deutlich in seinen Ohren, als würde sie neben ihm stehen. Mit leisem Seufzen ließ er sich hintenüber auf die Matte fallen und sah zur reich verzierten Decke des Palastes auf. Ja … wann hatte er das letzte Mal gelächelt? Sie schienen lange her, diese unbeschwerten Tage der Kindheit. „Was ist eigentlich geschehen?“ murmelte der junge König Oberägyptens vor sich hin, doch im Grunde wusste er die Antwort. Er hatte es selbst so gewollt. Es war der einzige Weg gewesen. Kapitel 4: Nechbets Lächeln --------------------------- Trotz der brütenden Hitze herrschte in Theben aufgeregte Geschäftigkeit. Es war nicht mehr lange hin bis zum „Schönen Fest des Tales“, einem der Hauptfeste Oberägyptens. Auch dieses Jahr würde das Fest stattfinden, trotz des Krieges der an den Grenzen tobte. Besser gesagt, gerade wegen des Krieges der an den Grenzen tobte. In solch dunklen Stunden waren rituelle Feiern und alte Traditionen das einzige Mittel, um der Zivilbevölkerung das Gefühl von Normalität und Sicherheit zu bewahren. Einer der wenigen, die dem Fest mit gemischten Gefühlen entgegen sahen, war Mahad. In letzter Zeit wurde es immer schwieriger den Pharao zu beschützen, was weniger an einer großen Anzahl Feinden lag, sondern an den Launen des zu Beschützenden selbst. Immer häufiger kam es zu heftigen Wutausbrüchen, in denen nicht nur Kelche zu Boden, sondern auch Bedienstete aus dem Palast flogen. Selbst Schesemtet, ehemals des Königs katzenhafter Schatten, suchte immer häufiger abgelegene Plätze auf, um ihrem Herrn aus dem Weg zu gehen. Auch wenn niemand wagte es direkt auszusprechen, so wurden in den Dienstbotenkammern unter vorgehaltener Hand immer mehr Beschwerden laut. Wo Beschwerden waren, wuchs die Unzufriedenheit und Unzufriedenheit brachte Narren schnell dazu Dummheiten zu begehen. Eine Palastrevolte war das Letzte, was Mahad momentan gebrauchen konnte. Nun, langes Grübeln brachte nichts. Er musste mit dem Pharao sprechen. Und heute würde er sich nicht abweisen lassen! Energischen Schrittes trat der Hohepriester auf die schweren Flügeltüren zu, hinter denen sich die Privatgemächer des Pharaos verbargen. Er hob die Hand und klopfte durchdringend. „Ehrenwerter Pharao, ich bin es. Mahad. Bitte gewährt mir einzutreten, ich muss mit Euch spre-“ „Komm herein. Und beeil dich.“ Mahad war so perplex, dass er erst glaubte, sich die Stimme Atemus eingebildet zu haben. Aber als ein herrisches „Was ist? Tritt gefälligst ein!“ durch die Türen drang, riss er sich zusammen und kam dem Wunsch des Herrschers nach. Der Pharao saß an einem schweren Tisch im Schatten und schien mehrere Schriftrollen zu studieren, deren Inhalt Mahad bei flüchtigem Hinsehen nicht entschlüsseln konnte. „Danke, dass Ihr mich empfangt, großer Pharao. Ich wollte-“ „Dein Erscheinen hat mir die Arbeit erspart dich rufen zu lassen. Ich möchte, dass du für den heutigen Abend ein Fest im Palast vorbereitest.“ „Ein... Fest?“ Nur schwer konnte Mahad seine Stimme davon abhalten, unangemessen laut zu werden. Wer war er? Der Zeremonienmeister? Was kam als nächstes? Dass er die königlichen Tischdecken besticken sollte? Und warum, in aller Götter Namen, musste gerade jetzt ein Fest im Palast stattfinden, wenn das größte aller Feste in der Stadt bald beginnen würde? „Spreche ich undeutlich, Mahad?“ Durchdringende, violette Augen durchbohrten ihn mit einem kalten, abschätzenden Blick. Mahad zögerte einen Moment, ehe er den Kopf schüttelte. „Nein Pharao. Ich war nur überrascht. Ganz Theben ist gerade dabei Euch ein Fest zu bereiten und so dachte ich-“ „Was interessiert mich Theben?“ entfuhr es dem Pharao harsch, während er mit der flachen Hand auf den Schreibtisch schlug. „Ich sagte ein Fest im Palast und keines in den Straßen! Die bekommen ihr Fest noch früh genug!“ Mit offenem Mund stand Mahad da und starrte den jungen König an, der sich nun wieder seinen Schriftrollen zuwandte. Ein einzelner Sonnenstrahl brach durch die Zweige der schattenspendenden Palme und erhellte den Schreibtisch an dem er saß. Jetzt, wo er ihn so im Sonnenlicht betrachtete, fiel Mahad das erste Mal auf, wie erschöpft Atemu aussah. Seine Haut wirkte fahl, wie von Asche benetzt und feine, müde Linien zogen sich über das junge Antlitz. Belastete ihn etwas? War das der Grund für seine Launen und Wutausbrüche? Vielleicht brauchte er das Fest nur um ein wenig ausspannen zu können. Wer war er, Mahad, eigentlich, dass er die Entscheidungen seines Königs anzweifelte? Langsam und unwillig wandten sich ihm die Augen des Pharaos wieder zu. Die Ungeduld darin war so intensiv, dass sie körperlich zu spüren war. Eine Ungeduld, die es früher nie gegeben hatte. „Ich habe verstanden. Gibt es besondere Wünsche die Ihr gerne erfüllt hättet?“, fragte Mahad schnell und beeilte sich eine Verneigung anzuschließen. „Tänzer.“  war die königliche Antwort „Sende nach Djedefre.“ ~oOo~ Mahad ächzte leise, als die goldenen Flügeltüren schwer hinter ihm ins Schloss gefallen waren und gratulierte sich in Gedanken zu der Meisterleistung, die er gerade vollbracht hatte. Die Gemächer betreten mit dem Willen den Pharao zu schützen, selbst wenn es das eigene Leben kosten möge – die Gemächer verlassen als Zeremonienmeister einer abendlichen Tanzveranstaltung. „Du siehst aus als hättest du Zahnschmerzen. Ist alles in Ordnung?“ Erschrocken fuhr Mahad herum und blickte in die verwunderten Gesichter Manas und Ishizus, die auf dem Weg zum Thronsaal innehielten. Nachdem er seine Gesichtszüge wieder etwas sortiert hatte, lächelte der Priester leicht und schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Keine Zahnschmerzen. Es ist alles in Ordnung, ich habe nur nachgedacht.“ Er zögerte kurz. „Der Pharao möchte heute Abend ein Fest im Palast ausrichten und bat mich darum, ihn dabei zu unterstützen.“ Es war faszinierend dabei zuzusehen, wie die rechten Augenbrauen von Ishizu und Mana in einer solch synchronen Bewegung nach oben wanderten, als hätten sie es einstudiert. Mahad beeilte sich weiter zu sprechen. „Es wird sicherlich nur eine kleine Feier, ein wenig Zerstreuung für den jungen König, der gerade viel Last auf seinen Schultern zu tragen hat.“ Merkend, wie er es in seinem gespielten Enthusiasmus langsam etwas übertrieb, versuchte sich der Magier in eine Frage zu retten: „Sagt,  kennt eine von euch einen gewissen … Djedre? Nein ... Djedefre?“ Die beiden Frauen tauschten einen raschen Blick, ehe Ishizu antwortete: „J-ja. Der Name ist in Theben eigentlich bekannt.“ „Hervorragend, wo kann ich diesen Mann finden? Der Pharao wünscht ihn heute Abend zu sehen“ „Mh. Nun ja. Er ist, nun wie soll ich sagen… Man findet ihn in einem Etablissement namens ‚Die Röte der untergehenden Sonne‘. Irgendwo im südlichen Viertel.“ „Bist du dir sicher, Ishizu? Das ist doch…, ist das nicht… Ist das nicht ein Bordell?“ Mit leicht pink angelaufener Nasenspitze bejahte die Priesterin die Frage mit einem Kopfnicken. Auf Manas Gesicht breitete sich unterdessen eine solche Erheiterung aus, dass sie regelrecht zu strahlen schien. „Ein, ein... Bordell?“ „Ssssh! Nicht so laut Mahad! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Die Medjay starren uns schon an!“ „Verzeih, das war nicht, also… Ein Bordell? Nun, wenn der König es wünscht. Ein seltsamer Ort der Unterkunft. Aber so sind die Tänzer. Ein eigenes Völkchen, dass man oft nicht versteht, gerade was den Umgang mit, ah, niederem Volk, betrifft.“ „Tänzer?“ mischte sich nun auch Mana in das Gespräch ein, „Von was redest du überhaupt, Mahad?“ „Nun, der Pharao wünscht den Abend mit einer Tänzergruppe zu untermalen. Und bat mich dafür diesen Djedefre aufzusuchen.“ „Du bist sehr gutgläubig, kann das sein?“ „Sei nicht so respektlos, Mana!“ „Verzeih mir, aber, nun wie soll ich das erklären? Ehm, Djedefre ist nicht irgendein Tänzer, er ist der Besitzer dieses - wie hast du es genannt, Ishizu? Etablissements. Das ist doch weithin bekannt.“ „Der… Besitzer? Aber weshalb…?“ Mahad schwieg kurz, zuckte dann ergeben mit den Schultern. „Nun, der Pharao hat aber ausdrücklich nach Tänzern gefragt. Es ist sicher nur Zufall, dass die Tänzergruppe in einer solchen Unterkunft wohnt. Gerade jetzt, vor dem großen Fest des Tales, sind sämtliche Unterkünfte heillos überfüllt, da ist es nur zu verständlich, dass man auch in solche Häuser ausweicht.“ Wieder einmal tauschten die beiden Frauen kurze Blicke und während Ishizu peinlich berührt zu Boden sah, bereitete es Mana ein kindisches Vergnügen die Gedanken der beiden auszusprechen: „Sag mal Mahad… dir ist doch klar, dass es auch männliche, mh, Dienstleister gibt, oder?“ „Natürlich weiß ich das, was glau- oh.“ Es herrschte Schweigen. Mit jedem Augenblick, den das Schweigen länger dauerte, verbreiterte sich Manas Grinsen und intensivierte sich die Röte auf Mahads Zügen. Ishizu hielt den Blick noch immer zu Boden gesenkt, als seien die Bodenfliesen von solcher Schönheit, dass sie sich nicht abwenden konnte. „Ja, also, ich, ähm…“ Mahad räusperte sich mehrmals und versuchte vergeblich selbstsicher aufzutreten. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und so viele Rätsel schienen sich nun ganz von selbst zu lösen. „Pharao Atemu ist, also, es erklärt vieles – deshalb hat er kein Interesse an dem Harem, und deswegen…  bei Ra, wie oft habe ich seinen Garten betreten, während er gebadet hat? Ich Idiot! Ich hoffe, er empfand mich nicht als aufdringlich – er hätte doch nur etwas sagen müssen…“ „Sag mal Mahad…?“ Mit einem spitzbübischen Grinsen schob sich Mana in sein Blickfeld. „Darf ich mitgehen, wenn du diesen Djedefre aufsuchst? Ich möchte doch gern dabei sein, wenn du in deiner ganzen prachtvollen Selbstsicherheit dort auftauchst.“ „Du kleine…!“ Mahads Hand schnellte vor, aber erreichte Mana nicht, die flink wie ein Wiesel davongehüpft war. „Na warte. Es wird allmählich an der Zeit, dich einer weiteren Lektion zu unterweisen.  Magier-Regel Nummer 345: Mit Feuer unter den Sohlen läuft es sich schneller!“ Mit leisem Zischeln erschuf der Magier einige Feuerkugeln zwischen seinen Fingern und schnipste diese lässig hinter Mana her, die mit hohen Sprüngen und lautem Quietschen auszuweichen versuchte und dabei einen etwas ungelenken Stepptanz aufführte. Erst als Ishizu der ganzen Situation nicht mehr stumm zusehen konnte und in ein helles Lachen ausbrach, ließ Mahad von seiner flambierten Schülerin ab. Er mochte Ishizus weiches Lachen und hatte es in den letzten Monaten sehr vermisst. Einen Moment lang schien alles wie früher, als wären die bedrohlichen Schatten verschwunden. Ishizus helles Lachen, Manas nicht ernst gemeinte Respektlosigkeiten, seine eigene Gutmütigkeit – der Einzige, der nun noch fehlte, war der stolze Atemu. Früher hätten ihn Szenen wie diese äußerst amüsiert.  Es war Mahad gleichgültig wen der Pharao heute Abend zu sehen gedachte, wen er in sein Gemach einlud und wen nicht. Atemu war in der Tiefe seines Herzens ein guter König und wenn er, Mahad, seinem König mit einer Feier auch nur ein paar Stunden der Ruhe und Ablenkung schenken konnte, so würde er alles daran setzen dies zu tun. Mahad hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da flog die Tür der Privatgemächer auf und der Pharao trat mit einem energischen Schritt auf den Flur. Sein zorniger Blick flog zwischen den drei Priestern hin und her und heftete sich dann auf Ishizu, die ihm am nächsten stand. „Was soll dieses Affentheater?“ herrschte er sie zornig an und Mahad beeilte sich einen Schritt vor zu treten, um die Aufmerksamkeit des Pharaos auf sich zu ziehen. „Verzeiht, Pharao, falls wir Euch gestört haben. Es war keine Absicht. Wir-“ „Ich erinnere mich deutlich daran, dir einen Auftrag gegeben zu haben, Mahad. Hast du den etwa schon erledigt, dass du die Zeit hast, hier im Flur alberne Zaubertricks aufzuführen? Oder übst du für deine neue Berufung als Straßenkünstler?“ Der Zynismus in Atemus Stimme traf Mahad schwer. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Ishizu ihm einen mitfühlenden Blick zuwarf und er beeilte sich, eine kurze Verneigung anzuschließen, damit niemand seinen Gesichtsausdruck sehen konnte. „Nein. Verzeiht. Ich werde mich sofort auf den Weg machen.“ Schnell wandte er sich ab und verschwand, ohne sich anmerken zu lassen wie aufgewühlt er war. Atemu unterdessen wandte seine Aufmerksamkeit wieder Ishizu zu. Die Priesterin strich in einer nervös wirkenden Geste mit den Fingerspitzen über die Milleniumskette und schien mit sich zu hadern. Schließlich nickte sie fast unmerklich und schenkte dem Pharao ein leichtes Lächeln. „Es war mein Fehler, Pharao. Ich habe Mahad in ein Gespräch verwickelt. Ich war gerade auf dem Weg in den Thronsaal und da-“ „Dann lass dich nicht aufhalten.“ Ishizu verstummte und presste die Lippen zu einem feinen Strich zusammen. Dann aber nickte sie erneut, senkte den Kopf und lief an Atemu vorbei ohne sich noch einmal umzusehen. Dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte, war ihm dennoch aufgefallen. „Was… soll das, Atemu…?“ Mana sprach leise, mit deutlich unterdrücktem Zorn in ihrer Stimme. Ihre blauen Augen funkelten und ihre Wangen waren blass, als sie auf den Pharao zutrat. „Wie kannst du so mit Ishizu und Mahad umgehen? Sie haben dir immer loyal gedient, sie haben es nicht verdient so behandelt zu werden!“ Atemu schloss einen Moment die Augen. Er hatte stechende Kopfschmerzen und wenig Lust sich in eine Diskussion mit Mana verwickeln zu lassen. Ohne ein Wort zu sagen wandte er sich um und wollte gerade in seine Privatgemächer zurückkehren, als sich zitternde Finger um sein Handgelenk schlossen. „Bleib stehen, Atemu. Ich bitte dich, bleib stehen und antworte mir.“ Tatsächlich verharrte der Pharao mitten im Schritt und sah seiner engsten Freundin offen in die Augen. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine solche Trauer, Wut und Hilflosigkeit, dass Atemu einen Moment ins Stocken geriet.  Dann aber senkte sich sein Blick auf ihre schmale Hand, die fest um sein Handgelenk lag und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Er konnte eine solche Nähe gerade einfach nicht ertragen. Nicht von ihr. Und von keinem anderen Priester. Mit einer heftigen Bewegung riss er sich los, so dass Mana ins Stolpern geriet und sich nur im letzten Moment am Türrahmen abfangen konnte. Mit einem letzten, undurchdringlichen Blick fuhr er herum und warf dem aufgelösten Mädchen die Tür vor der Nase zu. ~oOo~ Mit einem leisen Seufzen tauchte Mana eine Hand in den Nil, den sie auf einem kleinen Papyrusboot gerade überquerte. Das kühle Wasser an ihrem Handgelenk ließ die Hitze zumindest ein wenig erträglicher werden. Als die Anlegestelle näher kam, erhob sich Mana und sprang vom Boot, noch bevor dieses am Flussufer richtig vertäut werden konnte. Bei jedem Schritt knirschte der staubige Untergrund unter ihren Füßen. An Tagen wie diesen war es kein angenehmes Arbeiten hier, im Tal der Könige. Eigentlich hätte Mana sowohl Priester Seto, als auch Mahad um Erlaubnis fragen müssen, um die Baustelle besuchen zu dürfen, aber sie hatte es im Palast einfach nicht mehr ausgehalten. Das ungezwungene Herumalbern mit Mahad und Ishizu hatte ihr erst wirklich deutlich vor Augen geführt, wie gedrückt die Stimmung im Königshof eigentlich war. Sie brauchte Ablenkung. Wenigstens ein paar Stunden, in denen sie dem Palast entfliehen konnte. Ein lautes Poltern ließ sie aufschrecken. Als Mana sich umwandte, sah sie einen jungen, auffallend hellhäutigen Arbeiter, der reglos dastand und sie mit offenem Mund anstarrte. Ein Vorarbeiter eilte heran und überhäufte den Mann mit einer Schimpftirade, dabei immer wieder auf das Werkzeug deutend, das dieser in seiner Schockstarre hatte fallen lassen. Ein mulmiges Gefühl stieg in Mana auf. Als Schülerin Mahads und enge Vertraute des Pharaos war sie eine gewisse Aufmerksamkeit gewöhnt, aber ein solches Verhalten ihr gegenüber hatte sie noch nie erlebt. Sie zögerte noch, ob sie auf den Fremden zugehen sollte oder nicht, da fuhr dieser plötzlich herum und packte den Vorarbeiter am Arm. Sein lautes „Ach, leck mich! Mach deinen Scheiß selber!“ war noch nicht verhallt, da stieß er sein Gegenüber auch schon von sich und rannte scheinbar zielsicher davon, dabei immer wieder über die Schulter hinweg zu Mana blickend. Das Magiermädchen war völlig verblüfft, doch kurz bevor der Fremde gänzlich außer Sichtweite zu geraten drohte, siegte ihre Neugierde. Eilig folgte sie ihm und konnte gerade noch sehen, wie er auf einen anderen Arbeiter zulief und diesen im Lauf einfach mit sich zog. Weit abseits der Baustelle, halb verborgen hinter einem Felsvorsprung, kamen die Beiden zum Stehen. Vorsichtig schlich Mana heran, bis sie so nah war, dass sie die Unterhaltung belauschen konnte. „Hör zu, Yugi! Du wirst nicht glauben wen ich hier gerade gesehen habe. Stell dir vor, Mana ist hier!“ „Mana? DIE Mana? Von unserer Schule?“ „Alter, wenn ichs dir doch sage! Ich hab sie gesehen, so deutlich wie ich dich hier sehe!“ „Aber-,das- das kann doch nicht sein!“ „Weißt du was das bedeutet, Yugi?“ „Nein. Was bedeutet das denn?“ Mana hatte es nicht mehr ausgehalten. Mit forschen Schritten löste sie sich aus ihrer Deckung und baute sich mit verschränkten Armen vor den Fremden auf. Misstrauisch, aber auch neugierig, musterte sie die Beiden, die mit zutiefst erschrockenem Gesichtsausdruck zu ihr herumfuhren.  Nachdem auch nach einer Minute noch immer niemand antwortete, schürzte Mana ungeduldig die Lippen. „Wer seid ihr? Woher kennt ihr mich? Und welche Schule meint ihr? Los, sprecht!“ Der Größere von Beiden trat schließlich einen Schritt nach vorne und schob den Kleineren in den Windschatten seiner eigenen, breiten Schultern. Eine gewisse Faszination breitete sich in Mana aus, als sie die blonden Haare und die helle Haut ihres Gegenübers betrachtete. Sie hatte noch nie jemanden wie ihn gesehen. Der blonde Fremde hob langsam die Hand zu einer beschwörenden Geste, öffnete den Mund - und gab nichts weiter von sich als ein gestammeltes „Ich- äh- wir, also- äh…“ Ein kurzes Schweigen folgte, in dem Mana ihn entgeistert anstarrte und er ihr den Gefallen tat knallrot anzulaufen. Schließlich war es der Kleinere der Beiden, der tief seufzte  und sich an einem vorsichtigen Lächeln versuchte. Auch er hatte so faszinierend helle Haut, dass Mana sich einen kurzen Moment fragte, ob man ihn des Nachts leuchten sehen könnte. „Wir- also- das ist sehr schwer zu erklären.“, begann er schüchtern und riss das Magiermädchen aus ihren absurden Gedanken „Ich- ich bin Yugi und das ist Joey. Wir waren, sind, sehr überrascht. Dort wo wir herkommen gibt es ein Mädchen, das ebenfalls Mana heißt und dir – wie soll ich sagen – sehr ähnlich sieht. Identisch. Um genau zu sein.“ Mana runzelte die Stirn und trat etwas näher, das Misstrauen glomm noch in ihr, war aber deutlich schwächer geworden. Yugis hilflos wirkende Art besänftigte sie. „Wo ihr herkommt?“ fragte sie neugierig „Wo kommt ihr denn her?“ Yugi zögerte und sah zu Joey auf, doch der starrte nur auf das Mädchen vor ihm und gab keinen Laut mehr von sich. „Hey, ich hab was gefragt.“ Mana klang mittlerweile etwas belustigt und Yugi wandte sich hastig wieder zu ihr um. „Du wirst es uns wahrscheinlich nicht glauben.“, beeilte er sich zu sagen. „Also, wir kommen nicht aus Ägypten, wir kommen nicht einmal aus einem Land in der Nähe, geschweige denn…“ Ein lautes Knirschen ließ Yugi verstummen. „Was … war das?“ Joey schien aus seiner Starre erwacht zu sein und sah sich hastig um. Auch auf Manas Miene spiegelte sich Besorgnis. „Ich ... weiß es nicht.“, murmelte sie leise. „Wir sollten zurück auf die Baustelle.“ Im gleichen Moment in dem sie das aussprach, sackte der Boden unter ihr weg. Mit einem heiseren Aufschrei brach die junge Magierin in den scheinbar so stabilen Felsen ein, der unter ihr nachgab und  Joey und Yugi mit sich in die Tiefe riss. Sie fielen nicht tief, aber landeten dafür umso härter. Yugi keuchte auf, als er seinen Ellenbogen stieß und ein heftiger Schmerz seinen Arm durchschoss. „Joey?“, rief er ängstlich in die Dunkelheit.  Überall wirbelte Staub durch die Luft und nahm ihm die Sicht. „Alles klar bei dir, Yugi?“ zum Glück war Joey nicht weit von ihm gelandet und das leise Husten aus einer nahen Ecke deutete an, dass auch Mana ganz in ihrer Nähe war. „Mir geht’s gut“, log Yugi, während er seinen schmerzenden Arm an den Körper presste. „Aber wo sind wir?“ Es zischte leise und mit einem Mal erhellte ein kleines, von Mana beschworenes Feuer die Dunkelheit. Der Schein der Flammen kroch über die steinernen Wände der unterirdischen Höhle in der sie saßen und offenbarte wundervolle Hieroglyphen, kunstvolle Zeichnungen und wertvollste, goldene Grabbeigaben. „Wir sind in einem Königsgrab“ erklärte Mana mit ehrfurchtsvoll gesenkter Stimme. „Die Decke muss nachgegeben haben, wir sind direkt in die ‚Halle der Wagen’ gefallen.“ „Halle der Wagen?“ fragte Joey verwirrt und senkte sofort die Stimme, als er hörte wie sehr sie widerhallte. „Ich seh hier keine Wagen.“ Ein teils amüsiertes, teils ungläubiges Schnauben von Mana war die Antwort. „Nein, die Halle der Wagen ist eine Säulenhalle, die direkt auf die Grabkammer zuführt. Seht ihr? Dieser große Stein verschließt den Zugang zu dem Sarkophag des Königs.“ Eine tiefe Besorgnis kehrte nun in ihre Stimme ein. „Wir sollten hier wieder raus, die alten Könige vergangener Zeit schätzen es nicht wenn man ihre Ruhe stört. Wir gehören hier nicht hin.“ Sie wollte sich gerade umwenden um den Ausgang zu suchen, als Yugis hastiges „Warte!“ sie innehalten ließ. „Bitte Mana, leuchte noch einmal diesen Stein an.“ Mana zögerte, sie wollte hier raus, aber Yugi hatte so flehend gesprochen, dass sie dennoch ihre Hand hob und den verzierten Stein ins Licht setzte. Als die Drei die wundervollen Reliefs entdeckten, stockte ihnen der Atem. In der Mitte der Steinplatte prangte eine lebensgroße Abbildung der Göttin Nechbet. „Die Beschützerin des Pharao“ Mit stockendem Atem fiel Mana respektvoll auf die Knie und neigte den Kopf vor der Zeichnung. „Das ist … die schönste Abbildung Nechbets, die ich je gesehen habe“ Die junge Magierin war so beeindruckt von der gezeichneten Göttin, dass sie nicht sah, welche Wirkung diese auf Yugi und Joey hatte. Beide zitterten am ganzen Körper und hatten jegliche Gesichtsfarbe verloren. Nur in ihren Augen loderte eine wilde Hoffnung. Joey war der erste, der auf den Stein zutrat, die Hand hob und vorsichtig über das weiße Gewand der Göttin fuhr. „Bist du wahnsinnig? Nimm sofort deine Finger von dem Relief!“, fauchte Mana, die gerade eben den Kopf wieder gehoben und ihn erblickt hatte. „Du kannst doch hier nicht einfach alles antatschen, ist dir klar wie lange es dauert, so etwas zu erschaffen?“ Mit ihrem Ausbruch erschreckte sie Yugi so sehr, dass er über seine eigenen Füße stolperte. Getragen vom eigenen Schwung stürzte er nach vorne und riss die Arme hoch um irgendwo Halt zu finden. Im gleichen Moment, in dem seine Hand über das Relief von Nechbet fuhr, durchflutete ein unerträglich heller Lichtstrahl die Säulenhalle. Mana schlug sofort ihre Arme schützend vor das Gesicht, dennoch drang die Helligkeit durch ihre geschlossenen Augenlider. Selbst als das Licht erlosch dauerte es, bis Mana sich in der Dunkelheit wieder ansatzweise zurecht finden konnte. „Yugi? Joey?“ vorsichtig sah sie sich um und versuchte die dunklen Schlieren zu vertreiben, die vor ihren Augen tanzten. Nur dumpf hörte sie ein leises Stöhnen, es klang nach Joey. Von Yugi kam kein Laut. Stattdessen tönte von oben Manas Name, als dutzende Bauarbeiter durch das Loch in der Decke in das Grab hinab starrten. Die Staubwolke, die aufgetaucht war als das Grabmal nachgegeben hatte, hatte die halbe Baustelle aufgeschreckt. Innerhalb weniger Minuten wurde ein kräftiges Seil herab gelassen, mithilfe dessen die Magierin und nach ihr auch Joey hochgezogen wurden. Yugi aber war verschwunden. Leer und still lag die Säulenhalle da. Doch im letzten Moment, bevor Mana die sichere Oberfläche erreichte, sah sie noch einmal zurück und merkte, wie ihr Körper von einer Gänsehaut überzogen wurde. Die Zeichnung Nechbets trug ein sanftes Lächeln auf den Lippen, von dem Mana sicher war, dass es vorher noch nicht dagewesen war. ~oOo~ Flüssiges Glas. Das war der erste Eindruck der sich Yugi bot, als er seine Augen einen schmalen Spalt öffnete. Schatten, Schemen, Silhouetten, alles verzerrt von silbrigen Schlieren. Vorsichtig stemmte er sich vom Boden hoch. Den wimmernden Laut hörte er, weit bevor er realisierte, dass er ihn selbst ausgestoßen hatte. Sein Kopf dröhnte. Mit einem weiteren kläglichen Stöhnen fuhr Yugi sich mit beiden Händen durch das Gesicht, hob dann den Kopf und sah sich zum ersten Mal wirklich um. Er war allein. Dennoch fühlte er keine Furcht, sondern empfand die Gewissheit, dass er träumte. Als wäre dieser Gedanke der Auslöser gewesen, begann sich die Umgebung um ihn zu verändern. Die silbernen Schlieren verschwanden, Sanddünen wuchsen im Zeitraffer und Sonne und Mond zogen in Sekunden über ihn hinweg. Mit einem Mal türmte sich eine altertümliche Stadt vor ihm auf, rote Banner auf Türmen und Toren. Sie brannte. Lichterloh. Yugis Herz verkrampfte sich, als die Schreie der Menschen zu ihm drangen, die qualvoll in den gierigen Flammen zu Tode kamen. Er wollte sich abwenden, wollte den Anblick nicht länger ertragen müssen, doch die Faszination des Grauens war so stark, dass er mit weit aufgerissenen Augen auf die sterbende Stadt starrte und die Tränen nicht bemerkte, die ihm über die Wangen liefen. Erst als ein Schatten über ihn fiel, schrak er zusammen und fuhr herum. Hinter ihn, so nahe, dass er ihn berühren hätte können, war ein Mann getreten. Ein Großteil seines Körpers wurde von surrealer Dunkelheit verhüllt. Nur das Gesicht war schemenhaft zu erkennen. Ein Gesicht, auf dessen Stirn ein königliches Diadem prangte. Obwohl Yugi wusste, dass er träumte, schluckte er schwer. Der Schein des lodernden Feuers spiegelte sich auf dem Gesicht des Pharaos wieder und umspielte das kalte Lächeln, das auf seinen Lippen lag. Seine violetten Augen drangen durch Yugi hindurch und betrachteten das Flammenmeer, doch Yugi fühlte, wie sich sein Inneres unter diesem intensiven Blick verkrampfte. Er fröstelte und musste einen kurzen Moment seinen Blick abwenden, um sich zu fassen. Als er wieder aufsah, war der König verschwunden. Genauso wie die brennende Stadt, die Toten, die Sterbenden. Stattdessen rauschten Bilder an ihm vorbei, die er nicht greifen konnte, Bilder die so schnell vorüber stoben, dass er nur Bruchteile davon behielt. Aber was er sah, waren Tempel, die zerstört und gebrandschatzt wurden, Götterstatuen die, aus den allerheiligsten Bereichen gerissen, unter großem Johlen auf dem Boden zerbarsten. Zurück blieben Ruinen, Priester ohne Bestimmung und Menschen, denen die Religion als wichtigster Teil ihres Alltages geraubt worden war. Er glaubte, die Verzweiflung der Menschen körperlich spüren zu können, die Angst, die Hilflosigkeit. Aber auch die Wut die sich anstaute, der Hass den sie mit sich brachte und die Gedanken der Revolution nährte, die um sich zu greifen begannen. Wieder fühlte er sich gepackt und durch Zeit und Raum gezerrt, wieder glitt alles an ihm vorbei, wie ein zu schneller Film den er nicht anhalten konnte. Er sah einfach gekleidete Menschen mit Fackeln und simplen Waffen, die auf einen Palast zustürmten und sich an den aufgereihten Wachen aufrieben. Doch je mehr fielen, desto mehr kamen nach. Sie kamen zu Hunderten, Tausenden, und bezwangen die Soldaten durch schiere Masse und den Mut der Verzweiflung. Laute Stimmen drangen an Yugis Ohren, Stimmen die den Tod des Pharaos forderten und immer weiter anschwollen – bis es auf einmal still wurde. Still, dunkel und unglaublich kalt. Es dauerte lange, bis Yugi sich an das Dunkel gewöhnt hatte. Er erahnte die kleine Kammer, in der er sich befand mehr, als dass er sie tatsächlich sah. Er wagte es kaum sich zu bewegen, selbst das Atmen fiel ihm schwer. Panik begann in ihm aufzusteigen, doch kurz bevor diese übermächtig zu werden drohte, tauchte plötzlich ein unruhiges Flackern vor ihm auf. Das Flackern kam näher und offenbarte sich bald als Schein einer Fackel, die von einem groß gewachsenen Mann getragen wurde. Hinter ihm folgten zwei weitere Männer, die eine mit einem schweren Leinentuch abgedeckte Bahre trugen. Unwillkürlich trat Yugi auf die Seite und presste sich in eine Ecke des Raumes, obwohl die drei Männer keinerlei Notiz von ihm nahmen. Derjenige, der die Fackel trug, trat an die Bahre heran, schlug das Leinentuch zurück – und brachte Yugi dazu scharf die Luft einzuziehen. Dort lag, blutverschmiert und geschunden, der Pharao, den er zuvor in seiner Vision bereits gesehen hatte. „Schnell. Das Harz und die Öle.“ „Es wird nichts bringen. Eine Mumifizierung benötigt 70 Tage!“ „Das weiß ich. Aber wir müssen es versuchen.“ Yugi achtete nicht darauf, wer von den Männern sprach. Er hörte ihre Worte, aber er war so schockiert von dem Anblick des Toten, dass er sich nicht abwenden konnte. Ein großer Teil seines Unterkiefers fehlte und Yugi war der Dunkelheit dankbar, dass sie das Schlimmste der Wunde verbarg. „Aber er kann seinen Namen nicht mehr sprechen. Er wird so nie vor Osiris treten können. Es ist doch sinnlos.“ „Sei ruhig, verdammt noch mal! Wenn wir ihm nicht helfen, wer soll es sonst tun? Wir sind die Letzten, die ihm treu zur Seite stehen.“ Der unruhige Schein der Fackel flog über harzgetränkte Leinenbinden, die mit schnellen und kundigen Bewegungen um den verstümmelten Leichnam gewickelt wurden. Bald war nur noch das Gesicht des Toten zu sehen, eine Fratze der Vergänglichkeit, die nichts mehr mit dem stolzen König zu tun hatte, den Yugi zuvor erblickt hatte. Als einer der Männer schließlich mit einer sanft anmutenden Bewegung den Kopf des Toten hob, um auch diesen mit Binden zu umwickeln, begann Yugis Blick zu verschwimmen. Die silbernen Schlieren kamen zurück und verbargen den Anblick durch einen dankbaren Schleier. Mit zitternder Hand griff Yugi nach seiner Kehle und schluckte schwer. Sein Hals war zugeschnürt, er konnte kaum atmen, doch er bekam keine Zeit sich zu fassen. Ein starker Ruck zerrte an ihm und plötzlich fühlte er, wie er in ein endloses Nichts stürzte. Die grauen Nebel lichteten sich und verschwanden. Noch während er fiel, wusste er plötzlich, dass die Vision ihn aus ihren Fängen ließ und zurück in die Realität katapultierte, aus der sie ihn so unsanft gerissen hatte. Kapitel 5: Rochade ------------------ Auffällig leise schlich Mana durch den königlichen Palast, äußerst penibel darauf bedacht, Mahad nicht zu begegnen. Es gab da eine dezente Kleinigkeit, die Mana lieber erst einmal mit Ishizu besprach, bevor sie es ihrem Lehrmeister beichtete. Ihr Atem ging flach, nachdem sie den halben Weg hierher gerannt war, aber für eine Pause hatte sie jetzt keine Zeit. Schnell hastete sie den Flur entlang, schlitterte um eine Ecke – und wäre beinahe mit Mahad zusammengeprallt, der gerade an Ishizus Tür klopfte. Mit einem entsetzten Hechtsprung rettete sich das junge Mädchen hinter die nächstbeste Horus-Statue und hoffte, dass Mahad sie nicht gesehen hatte. Da von dem Hohepriester keine Reaktion kam, wagte es Mana schließlich doch einen Blick zu riskieren. Die Tür zu dem Gemach stand mittlerweile offen und Ishizus schmale Gestalt zeichnete sich im Licht der Fackeln ab, mit denen der Raum hinter ihr erhellt wurde. Zum ersten Mal fiel Mana auf, wie zierlich Ishizu eigentlich war. “Wie kann ich dir helfen, Mahad?“ “Ich- Nun, ich wollte nur nachfragen ob … deine Befürchtungen immer noch so stark sind.“  Obwohl sie kein gutes Gefühl dabei hatte zu lauschen, horchte Mana unwillkürlich auf. Egal wie kurz Mahads Stocken gewesen war, es war ihr aufgefallen. Es war wirklich selten, dass der Hohepriester ins Haspeln geriet. Als er weitersprach, klang seine Stimme gefasster, aber auch wärmer als sie ihn je hatte sprechen hören. „Du bist sehr blass in der letzten Zeit, Ishizu. Ich mache mir Sorgen um dich.“ Mana fühlte sich mit einem Mal äußerst unwohl. Das hier ging sie alles nichts an. Sie sollte das gar nicht hören. “Es ist nichts.“ Man konnte das sanfte Lächeln in Ishizus Stimme hören. „Ich bin nur etwas müde.“ “Sei bitte vorsichtig. Du bist eine hervorragende Magierin, das weiß ich. Aber auch unsere Kräfte sind begrenzt.“ Mana wollte nicht lauschen. Sie wollte es wirklich nicht. Aber ihre Neugier war schon immer ihr größtes Laster gewesen und so linste sie doch noch einmal hinter der Statue hervor. Sie zuckte zurück, kaum dass sie die Szene vor sich wirklich greifen konnte, aber er Anblick der Hohepriester hatte sich tief in ihre Gedanken gebrannt. Mahad, dessen Fingerspitzen zärtlich an Ishizus Kinn lagen und sie dazu zwangen nach oben zu sehen. Ishizu, die unter dieser Berührung einen Moment die Augen schloss, ehe sie verlegen den Kopf wandte. Mana fühlte sich elend. Ishizu und Mahad waren wie Geschwister für sie, ihre Ratgeber, Lehrmeister und Tröster, wann immer  es ihr schlecht ging. Und sie hinterging die beiden, indem sie in ihren privatesten Bereichen herumschnüffelte. Sie hörte wie Mahad sprach, aber sie hielt sich die Ohren zu. Sie hatte schon viel zu viel gehört. Erst als es eine ganze Weile still war, wagte sie es wieder, sich zu bewegen. Vorsichtig schob sie sich hinter der Horus-Statue hervor und sah zu ihrer Erleichterung, dass Mahad verschwunden war. Womit sie jedoch nicht gerechnet hatte, war Ishizu, die noch immer in der offenen Tür ihrer Unterkunft stand und durch Manas Bewegung aus ihrer Erstarrung gerissen wurde. Die Augen der beiden Frauen trafen sich und Mana wünschte sich ein Mauseloch in dem sie verschwinden konnte. “Mana…“ Das Mädchen zuckte zusammen, als sie die Verletztheit in Ishizus Stimme hörte. Peinlich berührt vergrub sie ihre Hände in der weißen Tunika und kam betreten hinter dem Abbild des Falkengottes hervor. „Ishizu es ist… nicht wie du denkst. Ich wollte euch nicht… Es tut mir leid, ich wollte nur mit dir sprechen und- und dann war da Mahad. Und ich- ich wollte nicht, dass er mich sieht und …“ sie unterbrach sich und sah zu Boden. Es herrschte ein langes Schweigen, doch schließlich trat Ishizu einen Schritt zurück. „Komm erst einmal rein“, sagte sie tonlos und schloss die Tür hinter Mana, die kleinlaut in das Gemach geschlichen war. “Es tut mir leid…“, nahm Mana den Faden noch einmal auf. „Ich wollte euch wirklich nicht belauschen. Ehrlich, das musst du mir glauben.“ “Schon gut. Es ist nur … Du solltest … Nein. Es war nicht deine Schuld.“ Die Hilflosigkeit die mit der Stille Einzug hielt, legte sich schwer auf die beiden Frauen. Ishizu öffnete den Mund und schien noch etwas sagen zu wollen, aber stattdessen schüttelte sie leicht den Kopf und schwieg. Mit einer zaghaften Bewegung trat Mana auf sie zu und berührte die Priesterin sanft am Arm. „Ihr- Ihr liebt euch, nicht wahr?“ Der Arm unter ihren Fingerspitzen zuckte deutlich fühlbar und einen Moment sah es so aus, als ob Ishizu ärgerlich werden würde. Doch dann entspannte sich die Priesterin und atmete tief ein. „Mahad und ich haben beide den Eid geschworen unser Leben dem Pharao, und nur ihm, zu widmen. Das können wir nur, indem wir alleine bleiben.“ „Aber…“ „Es war unsere Entscheidung Mana. Weder er, noch ich, haben diese Entscheidung jemals bereut.“ Mana holte schon Luft, aber ein Kopfschütteln Ishizus brachte sie zum Schweigen. „Genug davon“ sprach die Priesterin nun mit fester Stimme. „Dürfte ich den Grund erfahren, warum du überhaupt hier bist?“ „Ich …“ Manas Gedanken waren noch immer so wirr, dass sie nicht recht wusste, wie sie beginnen sollte. Sie verschaffte sich einige Minuten Bedenkzeit, indem sie sich in Ishizus Gemächern umsah. Ihr Blick flog über Schriftrollen, zig Tiegelchen und Töpfchen, Schmuckkästchen und religiöse Statuetten. Alles war so wie immer. Vertraut und heimelig. „Also… ich…“ begann sie erneut, „Ich war ja heute auf der Baustelle. Ich war nur ein wenig neugierig und wollte nachsehen wie der Fortschritt dort so ist. Und … da habe ich zwei Männer getroffen, die vor mir davonrannten. Und dann sind wir eingebrochen und dann war einer der beiden weg, aber der andere ist noch da. Und- nein, ich muss von vorne anfangen, das ist so nicht richtig.“ Ishizus Gesichtsausdruck war tatsächlich so verwirrt, wie Mana es erwartet hatte. Sie schloss kurz die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Nach einem tiefen Atemzug berichtete sie konzentriert und deutlich gefasster von den Geschehnissen, die sich auf der Baustelle ereignet hatten. Ishizu saß die ganze Zeit ruhig da, die Hände im Schoß gefaltet und hörte aufmerksam zu. Der Schein der vielen Kerzen spiegelte sich auf ihrem tiefschwarzen Haar wieder, das sie heute ausnahmsweise nicht unter einem Schleier verbarg. Nachdem Mana geendet hatte, stand Ishizu auf und trat ans Fenster. Ein sanfter Wind war aufgekommen und trug den warmen Geruch herein, der so typisch für diese Stadt war. „Einer der jungen Männer ist jetzt noch auf der Baustelle sagst du?“ Mana nickte. „Ja. Er wurde verarztet und dann in seine Unterkunft gebracht.“ Nachdem Ishizu nicht weiter antwortete, sondern nachdenklich ins Nichts starrte, erhob sich Mana und trat an die Seite der Priesterin. Die Nase in den Wind streckend, sog sie den Geruch von offenen Feuern, Weihrauch, Ölen und Blüten ein. Es gab ihr das Gefühl von beruhigender Alltäglichkeit. „Du bist dir sicher, dass der zweite Mann nicht einfach nur verschüttet wurde?“ Mana erschrak etwas, als Ishizu doch plötzlich sprach, aber nickte dann bestimmt. „Da bin ich absolut sicher, ich konnte ihn genau sehen. Er stolperte, berührte das Relief und verschwand. Und weißt du, was ebenso seltsam ist? Diesen … Joey oder wie er hieß … schien das gar nicht zu überraschen. Er wirkte eher verzweifelt, dass ihm nicht das Gleiche widerfahren ist.“ Ishizu nickte langsam und legte ihre Fingerspitzen auf die Milleniumskette, die zwar wunderschön, aber erschreckend nutzlos um ihren Hals lag. Es war eine unsichere Geste, die man in der letzten Zeit etwas zu häufig bei ihr sah. „Irgendetwas geht hier vor sich.“, murmelte sie leise „Diese Männer könnten uns vielleicht einen Hinweis geben. Sind sie der Schlüssel? Oder doch nur ein Auslöser von vielen? Ich glaube das Beste ist es, diesen … Joey … unauffällig hierher zu bringen. Ich möchte selbst mit ihm sprechen.“ „Jetzt gleich?“ „Nun, eigentlich können wir nicht Fremde in den Palast schleusen, wann immer es uns gefällt. Wir müssten sehr vorsichtig sein. Und uns einen wirklich guten Plan zurecht legen.“ Verlegen kratzte Mana sich an der Nase. „Also … das trifft sich ganz phänomenal, weißt du?“ Langsam wich sie rücklings zur Tür zurück, dabei den Gesichtsausdruck von Ishizu genau beobachtend, der immer stärker entgleiste, je stärker auch die Erkenntnis bei ihr einsank. „Oh nein, Mana ... Sag mir nicht du hast ... Hast du?“ „Ich war vorsichtig! Niemand hat uns gesehen! Und ich habe ihn auch gleich in meiner Unterkunft versteckt!“ Hastig tastete das Magiermädchen hinter ihrem Rücken nach dem Türknauf und drückte die Tür mit der Hüfte auf. Mit einem „Ich bin sofort wieder da!“ quetschte sie sich durch den Türspalt und rannte davon. ~oOo~ Mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen lehnte Atemu an einer Säule in seinem Gemach. Hin und wieder zuckten seine Finger in innerer Unruhe, doch abgesehen davon bewegte er sich nicht. Er wartete. Eine einzelne Fackel erhellte den Raum nur halbherzig und die nächtliche Stille lag um Atemu wie ein undurchdringlicher Kokon. Plötzlich öffnete er die Augen. Er hatte ein Geräusch gehört. Das Geräusch von nackten Füßen auf dem steinernen Fenstersims. Genau das Geräusch, auf das er gewartet hatte. Die Unruhe in Atemus Innerem wuchs, mischte sich mit erwartungsvoller Erregung und brachte seinen Herzschlag dazu für einen Augenblick auszusetzen. Im düsteren Halbdunkel beobachtete er den jungen Mann, der wie ein Schatten durch das glaslose Fenster glitt. Atemu stieß sich von der Säule ab und zog so die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich, der sofort respektvoll auf die Knie sank. “ Kronprinz.“ Die leise, immer etwas rau klingende Stimme trieb eine Gänsehaut über Atemus Nacken. Mit einer ungeduldigen Handbewegung brachte er sein Gegenüber dazu, sich wieder zu erheben und ließ seinen Blick über dessen trainierten Körper schweifen. “Djedefre“ antwortete er leise, ohne den heiseren Unterton gänzlich verbergen  zu können. Der stadtbekannte Tänzer lächelte und schenkte Atemu diesen kokett-unschuldigen Augenaufschlag, der so typisch für ihn war. Atemu unterdrückte den Drang scharf die Luft einzuziehen, stattdessen rettete er sich in einen kontrollierten, tiefen Atemzug. Die goldenen Ringe an seinen Fingern blitzen im Schein der Fackel auf, als er langsam die Hand hob. Seine Fingerspitzen fuhren an der Wange des Tänzers entlang, so nah, dass er die Wärme seiner Haut spüren konnte und doch ein winziges Stück entfernt, sodass er ihn nicht direkt berührte. Mit der Zungenspitze benetzte er seine Lippen, die durch seinen eigenen, heißen Atem ausgetrocknet wurden. Seine Finger fuhren weiter, den schlanken Hals entlang, weiter in den Nacken  und vergruben sich dort in den schulterlangen Haaren. Sein Denken setzte im gleichen Moment aus, indem Djedefre dem Zwang nachgab und ihre Lippen aufeinander trafen. Es war kein Platz für Sanftheit, zu viel Hunger, zu viel Verlangen brannte in dem jungen Kronprinz. Schwer atmend löste er sich aus dem Kuss und legte den Kopf in den Nacken. Ein leiser Laut entkam ihm, als sich Djedefres Lippen ihren Weg über seinen empfindlichen Hals suchten. Seine Fingernägel gruben sich in den warmen Rücken des Tänzers und er ließ es zu, dass dieser ihn gegen die im Halbdunkel liegende Säule drängte. Die Kälte der Steinmauer drang durch seine Tunika, aber er spürte es kaum über die Hitze hinweg, die in seinem Inneren loderte. Seine Hände lösten sich zunächst nur widerwillig, fuhren dann aber gieriger als er es ihnen zugestehen wollte, an dem schmalen Körper des jungen Tänzers herab und pressten dessen Hüfte fest an die seine. Die Aufforderung annehmend, drängte sich Djedefre mit einer katzenhaften Bewegung zwischen Atemus Schenkel, während sich ihre Lippen erneut  zu einem hitzigen Kuss trafen. „Atemu!“ Zu Tode erschrocken fuhren die Beiden auseinander und Atemu fühlte sich grob an der Schulter gepackt, noch ehe er wusste wie ihm geschah. Als er den Kopf hob, zogen sich seine Eingeweide so schmerzhaft zusammen, als würden sie sich selbst verschlingen. Vor ihm stand sein Vater. Weiß vor Zorn. Mit  solch Ekel und Abscheu im Blick, dass Atemu am liebsten vor ihm auf die Knie gesunken wäre. „Mein eigener Sohn…“ Die Stimme seines Vaters war nur ein Flüstern, aber jedes Wort traf Atemu wie ein Dolchstoß. Zaghaft hob er seine bebenden Hände, versuchte sich an einer beruhigenden Geste. „Vater, ich, ich kann das erklären. Ich-“ „Erklären? Was kannst du erklären? Dass du für einen dahergelaufenen Gossenjungen die Beine spreizt wie ein Weib?“ Mit jedem Wort war die Stimme Pharao Aknamkanons lauter geworden, bis sie wie Donner widerhallte. Atemu biss sich heftig auf die Lippen. Er spürte, dass er taumelte. Die Scham, die Verzweiflung, sie stiegen in ihm auf und schnürten ihm die Kehle zu. „Vater…“ Er brach ab, als er hörte wie brüchig seine Stimme klang und wandte den Blick ab. Aus den Augenwinkeln sah er zwar, dass die Hand seines Vaters vorschnellte, doch wirklich bewusst wurde es ihm erst, als sie sich tief in seinem Haarschopf vergrub. Mit zorniger Wucht wurde er zur Seite gerissen und zu Boden geschleudert, wo er so heftig aufschlug, dass seine Lippe aufplatzte. Warmes Blut floss über seine Zunge und brachte ihn zum Husten. Sein Blick traf den von Djedefre, der sich hastig in dem Schatten der Säule verborgen hatte. Atemu wischte sich eilig das Blut von den Lippen und versuchte aufzustehen. Er wusste nicht, was schlimmer war. Dass sein Vater ihn geschlagen hatte, oder dass einer vom einfachen Volk ihn so sah. Bevor er jedoch die Möglichkeit hatte, sich vom Boden hochzustemmen, riss sein Vater ihm die weichen Ledersandalen von den Füßen. Als ihn der erste Schlag des Stockes auf die bloßen Fußsohlen traf, schossen unerträgliche Blitze durch seinen Körper. Wie ein Wahnsinniger schlug der Pharao zu. Immer wieder. Mit einem gequälten Aufschrei warf Atemu seinen Kopf in den Nacken- und erwachte. Mit einem Ruck richtete er sich auf und sah sich hektisch um. Er saß an seinem Schreibtisch, die Papyrusrollen an denen er gearbeitet hatte, lagen zerknittert auf dem Boden. Er musste kurz eingenickt sein. Mit zittrigen Händen fuhr er sich über das Gesicht. Warum träumte er von vergangenen Dingen? Und dann auch noch von dem Tag, an dem er die schlimmste Demütigung seines Lebens erfahren hatte? Nie hatte sein Vater die Hand gegen ihn erhoben; bis auf dieses eine Mal. Er hatte ihn geprügelt wie einen einfachen Bauern. Ihn, seinen eigenen Sohn und Thronfolger. Atemu presste die Zähne so fest zusammen, das sie knirschten. Er hatte sich damals geschworen, nie wieder eine solche Demütigung zu erfahren. Nie wieder eine schwache Seite zu zeigen, die ihn angreifbar machte. Nur einer wusste über ihn Bescheid. Ein daher gelaufener Tänzer, von dem er nicht los kam. Der ihn in seinem schmachvollsten Moment gesehen hatte und nur durch pures Glück Aknamkanons Rage entgangen war. Die Bewegung, mit der Atemu sich erhob, war ungewöhnlich kraftlos. Es ärgerte ihn. Schnell trat er auf den Balkon und stützte sich schwer auf der Brüstung ab. Der schale Geschmack des Traumes wich der Wut. Sein Vater war tot. Er war es, der jetzt über dieses Land herrschte. Er war es, der die Zügel in der Hand hielt. Und er war es, dem seit jenem verhängnisvollen Tag eine mächtige Gottheit zur Seite stand. Atemu merkte, wie er wieder ruhiger zu werden begann. Sein Herzschlag verlangsamte sich und sein Atem brannte nicht mehr wie Feuer in seiner Kehle. Seine Stimme, als er einen Diener herbeirief, war zwar noch etwas rau, aber selbstsicher und fest wie eh und je. Der Wein, den der Diener ihm schließlich brachte, spülte auch den letzten Rest der Trockenheit von seinen Lippen und der Traum begann zu verblassen. Nachdenklich sah Atemu zum Horizont. Vielleicht sollte er heute doch noch einmal vor dem kleinen, privaten Schrein im Nebenraum beten. Nur ein kurzes Gebet. Damit ihn solche wirren Träume nicht noch einmal belästigen würden. Etwas hinter ihm ließ ihn plötzlich stocken. Er war sich nicht sicher etwas gehört zu haben, oder ob es nur das Gefühl einer fremden Anwesenheit war, aber er wusste plötzlich, dass er nicht mehr allein war. Er fuhr herum – doch außer dem Diener, der neben der Tür des Gemachs verharrte und auf weitere Anweisungen wartete, war dort niemand. Atemu ballte die Hand zur Faust. Wurde er paranoid? Die feinen Härchen in seinem Nacken begannen sich aufzustellen. Nein. Er wurde nicht paranoid. Da war jemand. Langsam wich Atemu einen Schritt zurück, bis er die Brüstung des Balkons in seinem Rücken spürte. Ein leiser Laut ertönte über ihm und Atemus Blick zuckte nach oben. Ein Schatten kam auf ihn zu und er konnte gerade noch einen Schritt zur Seite machen, als plötzlich ein junger Mann vor ihm zu Boden stürzte. Einen Moment lang schien sich die Zeit zu verlangsamen und Atemu erlebte alles wie in Zeitlupe. Große, erschrockene Augen sahen vom Boden zu ihm auf, ein schmaler Mund formte lautlose Worte. Vom Inneren des Gemachs stürmten einige Medjay herein, aufgeschreckt durch das laute Rufen des Dieners. Mit gezückten Chepesch zerrten sie den jungen Fremden vom Boden hoch, der panisch auf die gefährlichen Krummsäbel starrte. “…Pharao?“ Die Stimme eines Medjay riss Atemu aus seiner Erstarrung. Erst jetzt merkte er, dass die Wache ihn wohl schon mehrmals angesprochen hatte. Mit einer betont langsamen Bewegung hob Atemu eine Hand, als habe er sich bewusst Zeit mit der Antwort gelassen; einer Antwort auf eine Frage die er nicht einmal wahrgenommen hatte. Noch immer lag sein Blick auf dem kleinen Häuflein Elend, das da paralysiert zwischen den Medjay hing. Hatte er es sich eingebildet, oder war der junge Mann einfach aus dem Nichts erschienen? Einen Moment zögerte Atemu, doch dann ging ein Ruck durch ihn. Es war Unsinn. Natürlich war der Fremde nicht einfach vom Himmel gefallen. Er musste über die Dächer gekommen sein. Entschlossen wandte er sich ab. „In die Katakomben“, befahl er mit einer knappen, herrischen Geste über die Schulter hinweg. „Das Urteil fällt am morgigen Tag.“ Es war nur ein sehr schwacher Protest zu hören, als die Wachen ihren Gefangenen aus dem Gemach zerrten. Genau genommen war es kein Protest, sondern ein erstickter Laut, in dem sich Verzweiflung, Panik und Hoffnungslosigkeit mischten. Atemu widerstand der Versuchung sich umzudrehen und dem Fremden nachzusehen. Er verharrte schweigend, mit irritiert zusammengezogenen Augenbrauen und versuchte zu begreifen, was gerade eigentlich geschehen war. Der schale Geschmack in seinem Mund kehrte wieder zurück. Doch diesmal waren es nicht die Nachwirkungen eines Traumes, die das ausgelöst hatten. ~oOo~ „Erheben wir die Kelche auf den edlen Pharao – Leben, Heil und Gesundheit unserem Herrscher!“ „Leben, Heil und Gesundheit!“ Aus zig Kehlen erklang der ehrfürchtige Ausruf und hallte durch den Audienzsaal. Nachdem die Gäste auf das Wohl des Pharaos getrunken hatten, versank alles wieder in einem Stimmengewirr aus Unterhaltungen, Scherzworten und dem Ruf nach mehr Wein. Die anfängliche Verwunderung, dass überhaupt ein Fest stattfinden sollte, hatte sich recht bald gelegt und war dem hellen Gelächter gewichen, das im Saal widerhallte. Atemu ließ sich gemächlich in das purpurne Kissen in seinem Rücken zurücksinken und hob den reich verzierten Alabasterkrug, um ihn erneut füllen zu lassen. Er sprach wenig, aber er genoss die ausgelassene Stimmung. Hin und wieder strich er mit seiner linken Hand über den Kopf der Löwin, die sich ausnahmsweise mal wieder an seiner Seite niedergelassen hatte und das Fest fast gelangweilt zu betrachten schien. Hochrangige Beamte und Angehörige des städtischen Adels hatten sich heute versammelt und genossen das Können der Hofmusikanten genauso, wie die delikaten Speisen und Getränke, die unermüdlich aus den Küchen des Palastes herausgeschleppt wurden. Atemu selbst begnügte sich mit dem würzigen Geschmack des teuren Shedehs in seinem Kelch. „Ich hoffe es ist alles zu Eurer Zufriedenheit, Pharao?“ Mahad war unbemerkt aus dem Schatten der Säulen zu ihm getreten. Atemu ließ sich zu einem knappen Nicken herab und schenkte dem Magier einen ruhigen Blick. Mahad hatte gute Arbeit geleistet und Atemu war in einer solch besänftigten Stimmung, dass er bereit war das auch einzugestehen. Nach einem weiteren Schluck Shedeh, der endlich begann seine Wirkung zu entfalten, stellte der Pharao den Kelch auf einem niedrigen Tisch ab und strich nachdenklich über den Kopf seiner Löwin. Trotz des Alkohols und der guten Stimmung, konnte Atemu das Fest nicht gänzlich genießen. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu dem jungen Mann zurück, der so plötzlich auf seinem Balkon erschienen war. Je mehr er versuchte alles zu verdrängen, desto häufiger tauchten die Bilder wieder vor seinem inneren Auge auf. Mit einem auffordernden Blick wandte er sich schließlich wieder dem Hohepriester zu, der noch immer geduldig neben ihm stand und wartete. „Konntest du etwas über den Eindringling herausfinden?“ Als er den verwirrten Ausdruck sah, der über Mahads Züge glitt, wurde Atemu klar, dass der Hohepriester keine Ahnung von dem Gefangenen haben konnte. Mahad war während der Gefangennahme gar nicht im Palast gewesen, Atemu erinnerte sich, dass der Hohepriester aufgrund der Vorbereitungen so beschäftigt gewesen war, dass er erst kurz vor Beginn der Feier zurückgekehrt war. Er hatte sich bei ihm ja sogar noch für sein spätes Erscheinen entschuldigt. “Verzeiht, Pharao. Ich verstehe nicht. Eindringling?“ Atemu unterdrückte ein Seufzen. Er hätte mit dem Thema gar nicht anfangen sollen, er wollte ein paar unbeschwerte Stunden erleben und wenigstens für diese kurze Zeit sämtliche Gedanken und Sorgen beiseiteschieben. Aber er kannte Mahad. Und er kannte den Ausdruck, der in dessen wachsamen Augen lag. Der Hohepriester würde nun garantiert nicht mehr locker lassen, bis er alles über diesen ominösen Zwischenfall herausgefunden hatte und das war wirklich das Letzte, was Atemu sich für diesen Abend vorgestellt hatte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Mahad bereits den Mund öffnete, um weitere Fragen zu stellen, doch die Ankunft der Tänzergruppe gab Atemu die Möglichkeit, dieses unumgängliche Gespräch zu verschieben. Mit einer kurzen Handbewegung gab der Pharao seinem Magier zu verstehen, dass sie sich später unterhalten würden und er nun die Tanzdarbietung genießen wolle. Einen Moment sah es so aus, als wolle Mahad protestieren, aber schließlich verneigte dieser sich und zog sich zurück. Atemu nahm einen tiefen Schluck des Shedehs und ließ seinen Blick über den Kelchrand hinweg zu dem Haupttänzer der Gruppe gleiten. Obwohl er gerade trank, glaubte er zu fühlen, wie seine Lippen trocken wurden. Er genoss den Anblick des Mannes, der –wie alle Tänzer Ägyptens- bis auf einen schmalen Schmuckgürtel unbekleidet war. Nur das tiefschwarze Haar bedeckte ihn bis zu den Schultern und schuf einen sinnlichen Kontrast zu der bronzenen Haut. Djedefre tanzte mit einer solchen Leidenschaft, dass sie fast körperlich zu spüren war. Sein noch immer so jungenhaft wirkender Körper strahlte eine katzenhafte Geschmeidigkeit aus und schien eins zu werden mit den Klängen der Sistren, Harfen und Tamburine. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen durch die hohen Fenster hinein und tauchten Djedefre in ein magisches Spiel aus goldenem Licht und verschleiernden Schatten. Betont langsam griff Atemu nach einer Dattel, weniger weil er Lust darauf verspürte, sondern als reine Schutzmaßnahme, damit nicht auffiel, wie sich seine Hand um die Stuhllehne verkrampft hatte. Gerade als er in die Dattel biss und den süßen Geschmack der Frucht auf seiner Zunge schmeckte, sah Djedefre über seine Schulter hinweg zu ihm auf und sandte einen so neckenden Blick in seine Richtung, dass Atemu gezwungen war sich abzuwenden. Er hasste den Tänzer für die Macht die er über ihn hatte. Dieser gespielt naive Blick, dieser für einen Mann viel zu kokette Augenaufschlag. Jedes Mal aufs Neue brachte er Atemus Selbstbeherrschung damit zum Wanken. Mit einer schnellen Bewegung leerte der Pharao seinen Kelch, erhob sich und verließ den Saal ohne sich noch ein weiteres Mal umzusehen. In seinen Gemächern angekommen, zog er den schweren Umhang von seinen Schultern und warf ihn achtlos neben das Bett. Das letzte Glas Shedeh hatte er etwas zu schnell getrunken, der Alkohol ließ seine Gedanken träge und wirr werden. Er sah den aufreizenden Augenaufschlag von Djedefre vor sich, die geschmeidigen Bewegungen, den sinnlichen Tanz – und violette Augen, die ihn offen und angstvoll anstarrten. Atemu presste zwei Finger gegen seine Nasenwurzel und versuchte die Erinnerung an den fremden Eindringling zu unterdrücken. Er wollte nicht an ihn denken. Nicht jetzt. Mit einer harschen Bewegung fuhr der Pharao herum, als könnte er die Erinnerung dadurch abstreifen und rief seinen Hauptdiener herbei.  „Sende nach Djedefre. Unauffällig.“ Als der Diener sich verneigt und das Schlafgemach verlassen hatte, schloss Atemu einen Moment die Augen. Er verabscheute diese Heimlichtuerei schon seit dem Tag, an dem er Djedefre das erste Mal verstohlen in den Palast gerufen hatte. Und gleichzeitig war es genau diese Heimlichtuerei, die das unruhige Kribbeln in seinem Inneren sofort entfachte. Ein Klopfen an der Türe ließ ihn aufhorchen und auf sein knappes „Herein“ trat der Mann ein, den er im Moment gleichzeitig herbeisehnte und verabscheute wie die Motte das Feuer. „Ihr habt mich rufen lassen, mein Pharao.“ Allein schon die Tatsache, dass Djedefre seine Worte nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung betonte, ließ Atemus Zorn kurz aufflammen. Doch ein Blick in die dunklen, braunen Augen seines Gegenübers stoppten die harschen Worte, die ihm bereits auf den Lippen lagen. Stattdessen wandte er sich ab und löste den blauen Leinengürtel, der sein Gewand zierte. „Ihr seht erschöpft aus edler Herrscher. Lasst mich das für Euch tun“, bemerkte Djedefre sanft und trat näher, um das weiße Königsgewand zu öffnen. Wie zufällig fuhren seine Fingerspitzen dabei über die dunkle Haut des jungen Pharaos und hinterließen ein Prickeln, das sich alsbald in Atemus ganzen Körper ausbreitete. Der sanfte Geruch des würzigen Öles, mit dem sich Djedefre vor Auftritten einzureiben pflegte, stieg Atemu in die Nase; ein Geruch der seine Gedanken vernebelte und das mühsam unterdrückte Verlangen nährte. Langsam ließ er sich auf seinem Bett nieder und sah auf den Mann hinunter, der vor ihm auf die Knie gesunken war. So demütig, so unschuldig wirkend. Alles was er jetzt wollte und brauchte. Es war nur noch ein kurzer Moment in dem Atemu zögerte, doch in dem Augenblick in dem Djedefres Lippen ihren Weg zu seinen Lenden fanden ergab er sich seinem Verlangen, schloss die Augen und lehnte sich zurück. ~oOo~ Ishizu musste zugeben, dass sie etwas nervös war. Sie stand zurückgezogen im Schutz einer mannshohen Vase und neben ihr lehnte, deutlich fehl am Platz wirkend, der fremde Mann, den Mana von der Baustelle aufgelesen hatte. Sie hatten Joey zwar in ein hiesiges Priestergewand gesteckt, in der Hoffnung, dass er zwischen den Gästen einfach untergehen würde, aber seine helle Haut und die strahlend blonden Haare stachen aus der Masse hervor wie der Leuchtturm von Pharos. Ishizu hatte das Gefühl, dass selbst die vielen Tier- und Götterstatuen direkt zu ihnen hinabstarrten. Nur schwer widerstand sie der Versuchung, die Schultern fröstelnd hochzuziehen. “Ich habs immer noch nicht kapiert…“ murmelte Joey plötzlich und zog Ishizus Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Was genau soll ich jetzt hier?“ Ishizu seufzte und zuckte schwach mit den Schultern. „Wir müssen miteinander sprechen, Joey. Bis jetzt wissen wir durch deine Erzählungen nur, dass du, dieser Yugi und Nechbet in irgendeinem Zusammenhang stehen. Es gibt noch so vieles was ungeklärt ist. Aber sprechen wir nicht hier und jetzt. Es sind zu viele Ohren anwesend, die nicht mithören sollen.“ “Ja, das hab ich schon kapiert. Ich will wissen was ich hier soll.“ Mit weit ausladender Geste deutete Joey auf den durch hell erleuchteten und mit Gelächter widerhallenden Audienzsaal. Mit leisem Lächeln schüttelte Ishizu den Kopf. „Wenn der Pharao zu einem Fest lädt, hat man anwesend zu sein. Und dich konnten wir ja schlecht in einer Vorratskammer lagern, oder?“ Joey schnaubte nur, aber kam nicht dazu zu antworten, denn plötzlich trat Mahad aus dem Schatten einer schwarzen Katzenstatue heraus. Er wirkte nachdenklich und in sich gekehrt, aber als er Ishizu entdeckte, flog ein leichtes Lächeln über seine Züge. Er kam näher und öffnete gerade den Mund um die Hohepriesterin anzusprechen, da fiel sein Blick auf Joey und er stockte stirnrunzelnd. “Du hast einen Gast?“ fragte er Ishizu mit einem Anflug von Misstrauen in der Stimme. Bei der aktuell angespannten Atmosphäre im Palast waren unangekündigte Fremde nicht gerne gesehen. Ishizu zögerte einen Moment. Sollte sie Mahad gleich die Wahrheit sagen? Alles in ihr drängte sie dazu, aber nach einem Blick auf die vielen Anwesenden entschied sie sich doch dagegen. „Ja.“ Antwortete sie schlicht. „Darf ich euch bekannt machen? Das ist Joey. Er ist ein-“ Sie stockte kurz und rettete sich in ein ausweichendes „… Wanderpriester.“ Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Joey der Mund offen stehen blieb, doch als Mahad sich zu ihm umwandte, hatte er sich wieder im Griff und setzte einen Gesichtsausdruck auf, den er wohl als `würdevoll` definierte. Mahads Augen verengten sich, aber nach einem Moment des Haderns neigte er den Kopf zu einer begrüßenden Geste. „Seid willkommen im Palast, Priester Joey. Darf ich fragen, in welchem magischen Bereich Eure Talente liegen?“ Seine Stimme hatte etwas Lauerndes und Ishizu ärgerte sich darüber. Wenn sie ihn nicht tatsächlich angelogen hätte, hätte er sie mit seinem Misstrauen gegenüber Joey gerade öffentlich brüskiert. Genau genommen war es ja keine richtige Lüge. Es war ja nur eine kleine … Unwahrheit. “Ach weißt du, Alter, ich hab so Tricks mit der Zeit drauf.“ Perplex starrte Ishizu zu Joey hinüber und fragte sich, ob der gerade seinen Verstand verloren hatte. “Ein Zauberer der Zeit, also?“ Mahad zögerte deutlich, noch immer zwischen Misstrauen und Akzeptanz schwankend. Es war ein Diener, der die Situation rettete. Unterwürfig kam er näher, verneigte sich tief und raunte dem Hohepriester eine Botschaft zu. Der nickte leicht und wandte sich dann noch einmal an Ishizu. „Entschuldige mich, Ishizu. Seto ruft mich, wir haben Einiges zu besprechen.“ Joey noch einen seltsamen Blick schenkend, hob er grüßend die Hand und eilte aus dem Audienzsaal. Sein Umhang war noch nicht ganz zwischen den schwer beschlagenen Türen verschwunden, da fuhr Ishizu schon zu Joey um. „Spinnst du?“ zischte sie leise „Zeitzauberer? Ist das dein Ernst?“ Joey kratzte sich verlegen am Kopf und nuschelte ein solch zerknirschtes „Sorry“, dass Ishizu schon wieder Mitleid bekam. „Schon … gut“ seufzte sie leise „Es ist alles … etwas viel heute, nicht wahr?“ Mit verschränkten Armen lehnte sich Joey gegen eine Säule, winkelte ein Bein an und stützte sich ab. Nur schwer widerstand Ishizu dem inneren Drang, ihn ungehalten darauf aufmerksam zu machen, dass sein Fuß gerade äußerst taktlos auf der Abbildung eines Skarabäuskäfers ruhte. „Was für eine Scheiße“, gab Joey leise von sich und Ishizu wandte ihren Blick zögernd von dem Relief ab. „Da spielt man ein Kartenspiel und dann ist man urplötzlich im alten Ägypten. Mit einem Mal ist mein bester Kumpel weg und ich hocke hier fest. Was geht hier eigentlich ab?“ Ishizu schwieg betroffen. Sie hätte gerne ein paar beruhigende Worte für Joey. Aber sie verstand ja selbst nicht was hier geschah. „Ishizu! Joey! Den Göttern sei Dank, dass ich euch gefunden habe!“  Dem Ausruf folgend, schlängelte sich eine kleine Gestalt durch einen der schmalen Eingänge, die sonst eigentlich nur von Dienstboten benutzt wurden. „Was ist denn los, Mana?“, fragte Ishizu alarmiert, „du bist ja ganz erhitzt. Beruhige dich, man dreht sich schon zu uns um.“ Mana schüttelte den Kopf, während sie eine Hand auf ihre Seite presste und nach Atem rang. „Egal! Ich habe gerade Mentu getroffen und der hat mir was Wichtiges erzählt: Heute wurde auf dem privaten Balkon des Pharaos ein Eindringling festgenommen!“ Ishizu öffnete schon den Mund um etwas zu sagen, aber Mana fuhr schnell fort: „Er hat gesagt, der Eindringling sei klein gewesen, weiß wie Leinen und wie aus dem Nichts vor dem Pharao erschienen! Mentu beschwört, dass er einfach vom Himmel gefallen ist! Joey! Das könnte Yugi sein!“ Joey zuckte heftig zusammen und packte Mana so fest am Arm, dass diese leise ächzte. Mit harter Stimme fragte er: „Ist das wahr? Wo ist er? Was ist mit ihm geschehen?“ Keuchend die Luft einziehend, deutete das Magiermädchen in eine vage Richtung. „Man hat ihn in die Katakomben gebracht, mehr weiß ich nicht. Aber er steht unter dem Verdacht, einen Anschlag auf den Pharao geplant zu haben! Morgen früh soll das Urteil gesprochen werden. Wenn sich der Verdacht aber erhärtet, dann ….“ Sie stockte. Sie sprach nicht aus, dass auf einen Versuch den Pharao zu verletzen oder gar zu töten, die Todesstrafe stand. Joey schien es dennoch zu ahnen. „Dann hole ich ihn da raus!“ Er schob das Mädchen harsch von sich und rannte aufs Geradewohl los. „Warte!“ rief Ishizu hastig und holte ihn mit schnellen Schritten ein. „Überstürze nichts, Joey!“ „Mann, wenn das tatsächlich Yugi ist, dann ...“ „… hilfst du ihm nicht, wenn du jetzt blindlings losstürmst und am Schluss noch selber deinen Kopf riskierst!“ Im ersten Moment sah es so aus, als ob Joey Ishizus Warnung in den Wind schlagen würde. Dann aber ballte er die Hände zu Fäusten und blieb tatsächlich stehen. Sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, wie schwer es ihm fiel, seinen Freund sich selbst überlassen zu müssen. Ishizu unterdessen wägte noch einmal ihre Gedanken ab, doch dann nickte sie bestimmt. „Uns bleibt keine Wahl. Wir werden Mahad in Alles einweihen.“ „Aber Mahad wird den ganzen Abend mit Priester Seto verbringen, die beiden wollten einiges wegen dem Totentempel besprechen. Ich glaube nicht, dass Seto erfreut drüber sein wird, dass wir einen dubiosen Fremden – entschuldige Joey - in den Palast geschleust und ihn als Priester vorgestellt haben.“ „Ich weiß Mana. Wir unterrichten dennoch beide davon. Sie … Sie werden es schon verstehen.“ Es schwang mehr Unsicherheit in Ishizus Stimme mit, als ihr gefiel und sie rettete sich damit, dass sie loslief, ohne sich noch einmal nach Mana und Joey umzusehen. Es war nicht leicht, sich unauffällig durch die Menge an Feiernden zu zwängen, die sämtliche Kissen, Hocker und Nischen besetzt hielten, aber sie kamen doch schneller voran als zunächst befürchtet. Schließlich bogen sie in einen von Fackeln erleuchteten Flur ein. Kunstvolle Darstellungen magischer Rituale und Zauberformeln an den Wänden kennzeichneten ihn als die Residenz der Hohepriester. Vor einer Tür mit den eingravierten Milleniumsgegenständen blieben sie stehen und Ishizu klopfte erst nach einem merklichen Zögern. „Nicht jetzt.“ Eine deutlich unwillige Stimme erklang und Joey zuckte so heftig zusammen, dass es den beiden Priesterinnen nicht verborgen blieb. „Hast du was?“ flüsterte Mana ihm irritiert zu, während Ishizu ihre Verwunderung beiseiteschob und stattdessen vor der geschlossenen Tür eine Erklärung abgab: „Ich bin es: Ishizu. Ich muss dringend mit euch sprechen. Es duldet keinen Aufschub.“ Im Inneren des Raumes blieb es ruhig. Ishizu fasste sich ein Herz und drückte die Flügeltür auf, während Mana noch immer zu Joey starrte, der mit seiner Antwort zu hadern schien. „Ich kriege schon Paranoia, glaube ich“ antwortete er schließlich leise und sah dabei zu, wie die Tür aufging. „Ich war mir einen kurzen Moment sicher, dass ich diese Stimme schon mal gehört ha-“, er unterbrach sich in dem Moment, in dem sein Blick in den Raum fiel und an der Gestalt hängen blieb, die neben Mahad an dem großen Tisch saß. „K-Kaiba?“ Mit aufgerissenen Augen und weit offen stehendem Mund deutete Joey auf den Hohepriester, was diesem eine Mischung aus Überraschung und Ablehnung über das Gesicht jagte. „Wer ist das? Und von was spricht er?“ fragte Priester Seto knapp und musterte Joey wie ein äußerst unangenehmes Insekt. Joey fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und ächzte. „Ich werde echt wahnsinnig … Erst Mana, jetzt Kaiba ... Was ist das für eine Scheiße? Und warum zur Hölle unbedingt du, Kaiba? Falls du überhaupt Kaiba bist. Zumindest siehst du genauso aus, wie dieser arrogante Geldsack.“ „Mein Name ist Seto.“ schnarrte der Hohepriester nun deutlich unterkühlt und erhob sich zu seiner vollen Größe, bei der er Joey um wenige Zentimeter überragte. „Dieser Kaiba von dem du sprichst, ist mir völlig unbekannt. Ich habe jetzt weder Zeit, noch Interesse niveaulose Unterhaltungen mit einem Gesprächspartner zu führen, der sich benimmt wie ein Bauerngör.“ Seine eisblauen Augen fixierten Ishizu und sie beeilte sich, zwischen die beiden Streithähne zu treten. Mit einem herrischen Blick brachte sie Joey zum Schweigen, der den Mund schon wieder geöffnet hatte. So wie dessen Augen blitzten, hätte seine nächste Antwort die Situation wahrscheinlich gänzlich eskalieren lassen. „Ishizu. Was hat das zu bedeuten?“ In Setos kühle Stimme war nun eine schneidende Schärfe getreten und Ishizu hob beschwichtigend die Hand. „Verzeih, Seto. Bitte setze dich wieder, ich werde alles erklären. Es ist eine Geschichte, die vielleicht mehr Fragen aufwirft, als sie klärt. Es geht dabei nicht nur um Joey hier, sondern es geht auch um den heutigen Gefangenen des Pharaos. Und, so vermute ich, auch um den Pharao selbst.“ Einen Moment sah es aus, als würde der Hohepriester sie viel lieber allesamt hochkant hinauswerfen, doch dann ließ er sich betont langsam auf seinen Stuhl zurücksinken und verschränkte die Arme. Von den offenen Fenstern drang ein lautes Lachen aus dem Palasthof herein und übertönte das erleichterte Seufzen der Hohepriesterin, mit dem auch sie sich auf einen niedrigen Hocker niederließ.  Erst als es draußen wieder ruhig geworden war, faltete sie die Hände in ihrem Schoß, sah kurz zu Joey hinüber und begann zu erzählen. ~oOo~ Es war still geworden im Palast. Die Feier war ausgeklungen und auch die letzten Gäste hatten den Audienzsaal verlassen. Atemu stand vor einem Tischchen und durchsuchte eine große Schmuckschatulle, ohne wirklich etwas finden zu wollen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Djedefre, der sich langsam und mit einer für seine Position seltsam unangebrachten Würde ankleidete. Es waren diese Momente die Atemu so verabscheute. Gleich würde Djedefre seinen Lohn verlangen. Atemu bezahlte ihn nie aus freien Stücken, er erwartete stets dass der Tänzer darum bat. Es gab ihm das Gefühl die Kontrolle zu haben, Herr über die Situation zu sein. „Ihr wart zufrieden“ Djedefre gab sich keine Mühe, es auch nur ansatzweise wie eine Frage zu formulieren. Atemus Oberlippe zuckte leicht.  Er zwang sich dazu, betont lässig einen Ring aus der Schatulle zu nehmen und steckte ihn sich an den kleinen Finger; als sei sein Schmuck interessanter als der anwesende Tänzer. Er ließ sich nicht dazu herab zu antworten, einerseits um eine gewisse Distanz zu wahren und anderseits weil er nicht ausschließen konnte, dass seine Stimme kratzig geklungen hätte. Ein Teil in ihm schrie nach Nähe, nach der warmen Umarmung des einzigen Menschen, der ihm geben konnte was er wollte. Aber da war dieser andere Teil ihn ihm, der Teil der verächtlich auf seine viel zu menschlichen Bedürfnisse und Vorlieben herabsah und ihm beständig zurief, sich zum Teufel noch mal wie ein Pharao zu verhalten. Djedefre unterdessen war zu ihm herangetreten und verneigte sich. Sein Blick taxierte Atemu von oben bis unten und blieb schließlich an einem smaragdbesetzten Ring hängen, den der Pharao am linken Ringfinger trug. „Darf ich um meinen Lohn bitten, ehrenwerter Pharao?“ Atemu widerstand dem Drang seine Hand hinter seinem Rücken zu verbergen. Stattdessen öffnete er eine Truhe aus Elfenbein und zählte betont langsam 5 Deben Kupfer heraus, die er vor dem Tänzer auf den Boden warf. Djedefre aber schenkte den Metallstücken keine Beachtung. Seine sanften, braunen Augen lagen noch immer auf dem schmalen Goldring und er lächelte kokett. “Das ist ein wundervoller Ring, Pharao.“ Diesmal konnte Atemu den Drang nicht mehr unterdrücken und schob seine Hand hinter seinen Rücken. „Das ist mir bewusst“, anwortete er betont beiläufig. „Es ist ein Ring meines Vaters.“ “Ihr tragt die Ringe, die Euer Vater getragen hat? … Damals …?“ “Wage es nicht …“ Wütend ballte Atemu die Hände zur Faust und trat auf den Tänzer zu, doch dieser verneigte sich sofort so tief, dass sein Haar zur Seite fiel und der ungeschützte Nacken zum Vorschein kam. “Ich dachte nur…“ begann er leise und sah unter seinen langen, dichten Wimpern zu Atemu auf „… man sollte Erinnerungen nicht absichtlich pflegen, mein Pharao. Es quält nur.“ Atemu erstarrte mitten im Schritt und sah mit zusammengepressten Lippen auf den Tänzer herab. Er wusste, dass Djedefre ihn manipulierte. Aber er wusste auch, dass er dabei sehr erfolgreich war. Er würde diesen Ring nie wieder tragen können, ohne an die erlebte Schmach zu denken. Mit einer schnellen Bewegung zog er das Schmuckstück vom Finger und warf es neben dem Kupfer zu Boden. „Verschwinde,“ presste er hervor „und schaffe diesen Ring aus meinen Augen.“  Er sah nicht hin als der Tänzer seinen Lohn vom Boden aufsammelte. Er sah auch nicht hin, als dieser auf dem üblichen Weg über den Balkon hinweg verschwand. Er hatte schon zu oft dabei zugesehen. Als Djedefre weg war, zog Atemu tief die Luft ein. Er brauchte die Nähe, die Djedefre ihm bot, wenn ihn die Einsamkeit seines Titels zu überrennen drohte. Und doch konnte er ihn nie lang neben sich ertragen. Djedefre hatte zu viel Macht über ihn. Macht, die ihren Ursprung in dem Wissen hatte, dass der Tänzer über all die Jahre hinweg über ihn gesammelt hatte. Mit einer aufgewühlten Bewegung betrat Atemu den Balkon, um über das nächtliche Theben hinweg zu blicken, wie er es so oft um diese Tageszeit tat. Die Nacht umfing ihn und kühlte seine hitzige Stirn. Es beruhigte ihn und half ihm dabei seine schnell dahin fließenden Gedanken zu ordnen. Ein weißer Gegenstand am Boden des Balkons erregte seine Aufmerksamkeit. Es war der Alabasterkrug aus dem er getrunken hatte, bevor ihm dieser seltsame Fremde vor die Füße gefallen war. Nachdenklich hob Atemu das Gefäß auf und betrachtete es. Ein gezackter Riss zog sich am Kelchrand entlang. Ein hässliches Grau in dem ansonsten so glänzend weißen Stein. Die Haut des Fremden war genauso weiß gewesen. Weiß wie Alabaster. Atemus Blick glitt weiter zu der Stelle an der der junge Mann gelegen hatte. Er hatte nicht ausgesehen wie jemand, der einem wilden Entschluss nachging. Im Gegenteil. Er hatte eher gewirkt, als wüsste er selber nicht, was er hier eigentlich tat. In Atemu stieg der Verdacht auf, dass der Fremde nicht aus freien Stücken gekommen, sondern von jemandem geschickt worden war. Atemus Augen verengten sich. Wenn dem so war, dann wollte er die Hintermänner finden. Entschlossen kehrte er in sein Gemach zurück und wies seinen Diener Mentu an, den Gefangenen in den kleinen Raum bringen zu lassen, in dem für gewöhnlich die Privataudienzen abgehalten wurden. Den gesprungenen Krug hatte er unbewusst auf seinen Schreibtisch gestellt. Das Mondlicht tauchte ihn in ein silbernes Licht, verbarg den hässlichen Sprung und schuf einen Moment lang die Illusion von perfekter Schönheit. Es war Atemu nicht einmal einen beiläufigen Blick wert. ~oOo~ Wassertropfen fielen in langsamer Regelmäßigkeit auf steinernen Boden. Es war kalt hier unten. Die Feuchtigkeit des Bodens kroch an ihm entlang und schmerzte in seinen Gliedern. Yugi schlang die schmächtigen Arme um seine Knie und versuchte sich verzweifelt zu wärmen. Leises Getrappel ließ ihn aufschrecken und in der schummrigen Dunkelheit seiner Zelle glaubte er kleine, pelzige Körper zu sehen, die durch die Schatten huschten. Ratten. Yugi zitterte vor Anspannung und vergrub sein Gesicht in seinen Armen. Er wollte weinen, schreien, um Hilfe rufen; aber der Kloß in seiner Kehle war so schwer und bitter, dass er Angst hatte sich übergeben zu müssen, wenn er den Mund öffnete. Was würde nun mit ihm geschehen? Er hatte mitangehört, wie sich zwei Medjay über eine Hinrichtung unterhalten hatten. War damit seine eigene gemeint? Würde er tatsächlich sterben, wenn diese Nacht beendet war? Der Kloß in seiner Kehle stieg ein Stück nach oben und brachte ihn zum Würgen. Nur mit letzter Willenskraft konnte er den Reiz noch einmal unterdrücken und fiel matt gegen die feuchte Mauer. Wenn er nur wüsste, was ihm vorgeworfen wurde. Seine Gedanken waren so wirr, er konnte sich nicht richtig erinnern, was überhaupt geschehen war. Jedes Mal wenn er versuchte sich zu konzentrieren, drang das monotone Stakkato der Wassertropfen in sein Bewusstsein. Mit jedem Tropfen wurde es lauter und lauter, bis Yugi das Gefühl hatte, dass sein Kopf bald platzen würde. Mit zitternden Händen deckte er seine Ohren ab und presste so fest darauf, dass es schmerzte. Es half ein wenig. Seine Gedanken wurden ruhiger. Er erinnerte sich wieder an die Vision, die er gehabt hatte. Und an den tiefen Fall danach. Seine Finger zitterten und er senkte sie, um die Spitzen anzuhauchen, die sich vor Kälte taub anfühlten. Müde starrte er auf seine Hände und dachte an den Mann, dem er es zu verdanken hatte, dass er überhaupt hier war. Es war alles so schnell gegangen. Aber diesen durchdringenden Blick würde er dennoch nie wieder vergessen. Diese violetten Augen, die ihn so überrascht angesehen hatten. Augen, von denen er wusste, dass er sie schon einmal gesehen hatte. Yugis Stirn sank mit einem Schluchzen auf seine Knie. Er war so überfordert, so müde, so verängstigt. Der bittere Geschmack in seiner Kehle wurde stärker, er schluckte krampfhaft, aber kam nicht dagegen an. Er schaffte es nur noch sich zur Seite zu drehen, bevor er sich zitternd übergab. Ein lautloses Weinen schüttelte ihn, bis er kraftlos auf den Boden sank. Er war am Ende seiner Kräfte. Selbst als Schritte laut wurden reagierte er nicht. Er nahm alles nur durch einen dumpfen Schleier wahr. Erst als er mit einem Mal vom Boden hochgezogen wurde, kam wieder etwas Leben in ihn zurück und er starrte eingeschüchtert auf einen breiten Medjay, der sich vor ihm aufgebaut hatte. Wortlos band dieser ihm die Hände zusammen und Yugi wurde durch das Seil gezwungen ihm zu folgen. Sein Herz raste schmerzhaft. War es nun soweit? Würde man ihn nun hinrichten? Mit Tränen in den Augen senkte Yugi den Blick zu Boden. Wie eine Marionette stolperte er hinter der Wache drein und sah nur auf seine eigenen Füße. Beobachtete, wie sie ohne sein Zutun ihre Schritte setzten. Einen nach dem anderen. „Du bringst den Gefangenen? Sehr gut.“ Als eine nasale Stimme erklang, zuckte Yugis Blick nach oben und er blinzelte überrascht. Er hatte einen Gerichtsaal erwartet. Oder gleich das Schafott. Aber stattdessen sah er nur eine goldene Flügeltür, auf der eine große Sonnenscheibe prangte. Ein drahtiger Ägypter in hellem Schurz stand davor und nahm gerade das Seil entgegen, mit dem Yugis Hände gebunden waren. „Du kannst gehen.“ Sagte der Mann nun zur Palastwache. „Der Pharao wünscht den Gefangenen allein zu sprechen.“ Während sich der Medjay umwandte und genauso wortlos verschwand wie er erschienen war, wurde Yugi durch einen schmerzhaften Zug an seiner Fessel ein paar Meter nach vorne gezwungen. „Du sprichst nur wenn du gefragt wirst, hältst den Blick gesenkt und bleibst solange auf den Knien, bis unser König es dir erlaubt aufzustehen, verstanden?“ Yugi nickte nur zaghaft, in seinem Kopf verschwamm alles. Wie betäubt trottete er hinter dem Mann her, der eine der Türen mühsam öffnete und sich danach tief verneigte. „Der Gefangene, edler Pharao. Wie von Euch gewünscht“ Er versetzte Yugi dabei einen derben Schlag in den Rücken, sodass dieser ein paar Schritte nach vorne stolperte und in die Knie brach. Das knarzende Geräusch der schließenden Türen trieb Yugi eine Gänsehaut über den Körper, aber er wagte nicht aufzusehen. Er verharrte kniend und reglos. In seinen Ohren rauschte das Blut und er glaubte jeden seiner Atemzüge wie Donnerhall zu hören. Doch abseits davon… Nichts. Erdrückende Stille. Die Augenblicke zogen sich wie Stunden. Yugis Angst wuchs, bis er das Gefühl hatte, daran ersticken zu müssen. Angespannt wartete er auf einen Laut, irgendein Wort, doch als schließlich tatsächlich jemand sprach, erschrak er trotzdem bis tief ins Mark. „Sieh mich an.“ Was für eine durchdringende Stimme… Sie war ruhig und angenehm leise, doch die Autorität die in jedem einzelnen Wort mitschwang, war so erdrückend, dass sie Yugi eine Gänsehaut über den Körper jagte. Unter großer Anstrengung hob er den Kopf. Quälend langsam flog sein Blick über edle Sandalen, muskulöse Beine, einen dunklen Körper in einer strahlend weißen Tunika und legte sich schließlich in ein ernstes, scharf geschnittenes Gesicht. Yugis Atem setzte einen kurzen Moment aus. „Wie ist dein Name?“ Mehrmals öffnete Yugi die Lippen, versuchte zu antworten, aber bekam keinen Ton heraus. Erst beim vierten Versuch schaffte er es, eine brüchige Antwort zu formulieren. „… Yu… gi… Ich… ich heiße Yugi...“ Der intensive Blick des Pharaos schien ihn bis ins Innerste zu durchdringen und er spürte wie eine brennende Röte sein Gesicht überflutete. Hastig senkte er den Kopf und starrte auf den Boden. „Yugi also.“ Wieder dieser Blick. Dieser durchdringende Blick. Er konnte spüren, wie er sich in seinen Nacken brannte. „Was hat man einem leichtsinnigen Narren wie dir geboten, damit du in den Palast eindringst und mich in meinen eigenen Gemächern anzugreifen versuchst?“ Fassungslos zuckte Yugi nach oben und machte Anstalten sich zu erheben, doch ein strenger Blick des Pharaos ließ ihn innehalten. „Ich hätte Euch niemals angegriffen!“, rief er ehrlich und beschwörend „Ich würde niemanden angreifen! Niemals! Ich- Ich könnte das gar nicht, das müsst Ihr mir glauben!“ Ein süffisantes Lächeln flog über die Züge des Pharaos, während er seinen Blick langsam über Yugis Körper wandern lies. „Das glaube ich dir aufs Wort“ gab er von sich und Yugi spürte, wie erneut eine Welle flammender Röte über sein Gesicht schwappte. Einige lange Augenblicke vergingen, in denen der Pharao schweigend vor ihm stand und ihn gedankenverloren musterte, doch dann ging ein Ruck dessen Körper. Halb von Yugi abgewandt, blieb er vor einem großen, aber recht niedrigen Tisch stehen, auf dem eine riesige Papyrusrolle lag. Yugi glaubte eine Landkarte darauf zu erkennen, aber er war zu nervös um solchen Details wirkliche Beachtung zu schenken. Mit ausgebreiteten Armen stützte sich der Pharao auf die Tischplatte auf. Es schien Yugi als würde er ihn gar nicht weiter beachten und eine vorsichtige Erleichterung begann in ihm aufzusteigen. Vielleicht würde der Pharao ihn wieder gehen lassen? Er sah nicht so aus, als sähe er eine Gefahr in ihm. Als hätte der Pharao seine Gedanken gelesen, sah er aus den Augenwinkeln zu dem am Boden kauernden Yugi hinab. „Denke nicht mal daran, dein Vorhaben zu beenden. Nur ein Wort von mir und es wimmelt hier von Medjay, von denen jeder Einzelne ein großes Vergnügen daran haben wird, dich aufzuspießen. Du wirst dich keinen Millimeter bewegen.“ Es lag eine solche Schärfe in seinen Worten, dass Yugi zusammenzuckte und hastig nickte. Der Pharao musterte ihn durchdringend, schien dann aber zufrieden. Aus einer silbernen Schale am Tischrand holte er ein paar weiße und rote Steine hervor, die er nachdenklich in der Hand wog, während er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Papyrusrolle legte. „Und nun“, bemerkte er wie beiläufig, „gebe ich dir die Möglichkeit, mir zu sagen wer dich schickt. Gib mir Namen, dann schenke ich dir das Leben. Kleine Fische wie du sind nicht wichtig für mich. Ich will wissen, wer der Aufrührer ist, der sich in meiner eigenen Stadt verbirgt.“ Seine Finger schoben die bunten Steine über die Landkarte, bis ein engmaschiges Muster entstand, das für ihn einen Sinn zu ergeben schien. Nach der Art, wie sich seine Augenbrauen zusammenzogen, war es jedoch kein positives Bild, das er da sah. Er war so in sein Tun vertieft, dass er den Gesichtsausdruck nicht bemerken konnte, der sich auf Yugis Züge gelegt hatte. Yugi wusste, dass seine Antworten nun darüber entschieden, ob er den nächsten Morgen erleben durfte oder nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, wieviel Macht in einzelnen Worten lag. Und zum ersten Mal in seinem Leben war sein Kopf so leergefegt, dass nur ein blankes Nichts zurück blieb. Kapitel 6: Sakrileg ------------------- Mana und Ishizu tauschten irritierte Blicke. Seit Mahad den Raum verlassen hatte, um in den Katakomben nachzusehen, ob der dortige Gefangene tatsächlich Yugi war, herrschte tiefes Schweigen im Raum. Während Ishizus Erzählung hatte Hohepriester Seto kein einziges Wort von sich gegeben, geschweige denn, dass er sich überhaupt bewegt hatte. Mana rutschte auf ihrem Hocker hin und her und warf erneut einen fragenden Blick zu Ishizu, die diesen mit einem fast unmerklichen Schulterzucken beantwortete. Als hätte Seto diese Bewegung gesehen, hob er plötzlich den Kopf und fixierte die Hohepriesterin mit einem unwilligen Blick. „Ich hätte dir deutlich mehr Intellekt zugetraut, Ishizu“, sprach er unterkühlt. „Du machst alle Hohepriester verrückt, indem du ständig das Problem mit deiner Milleniumskette breittrittst. Du forderst Mahad auf, den Pharao zu bemuttern wie eine Glucke, nur weil du glaubst, dass Gefahr bestehen könnte. Und zu guter Letzt schleust du einen fremden Ausländer in den Palast und krönst das Ganze damit, dass du ihn als Priester ausgibst?“ Ishizu zuckte unter Setos Worten sichtlich zusammen und presste aufgebracht die Lippen aufeinander. „Dennoch…“ Seto hielt einen Moment inne und als er weitersprach hatte die Kälte in seiner Stimme einer neutralen Geschäftsmäßigkeit Platz gemacht. „Entweder muss ich deinen Worten trauen, oder ich muss dich für verrückt erklären. Aber ich schätze dich und deine Fähigkeiten zu hoch ein, als dass ich an deinem Geisteszustand zweifeln könnte.“ Mana atmete erleichtert aus als sie sah, wie sich Ishizus Züge wieder entspannten. Sie selbst hatte während Setos Ausbruch unwillkürlich die Luft angehalten. Wenn der Hohepriester wütend wurde, dann war man besser nicht der Grund dafür. Eine Bewegung neben ihr lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Joey. Er hatte sich vorgelehnt und hob eine Hand zu einer entschuldigenden Geste. „Okay, ich hab mich geirrt“, bemerkte er freimütig. „Du bist echt nicht Kaiba. Sorry, Alter. Kaiba hätte hier jetzt einen Aufstand erster Sahne geprobt und dabei mindestens fünfmal darauf hingewiesen, wie unglaublich überragend er doch selber ist. Können wir das Ganze von vorhin vergessen? Also, meinen Auftritt, meine ich. War bescheuert.“ Mana zögerte einen Moment, doch da Seto nicht antwortete, sondern Joey nur irritiert anstarrte, mischte sie sich schließlich doch ins Gespräch ein: „Von was redest du da eigentlich dauernd? Wer oder was soll dieser … Kaiba … sein?“ Joey antwortete mit einer verächtlichen Handbewegung. „Naja, du weißt doch, dass in der Welt, aus der ich komme, auch eine andere Mana existiert, die genauso aussieht wie du.“ „Erschreckenderweise, ja“, murmelte das Magiermädchen. „Nun, es gibt nicht nur eine Mana, es gibt dort auch einen Seto. Sein voller Name ist Seto Kaiba und er ist das größte, arroganteste Arschloch, das du dir vorstellen kannst.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte Mana, dass sich der Hohepriester interessiert vorlehnte und dem Gespräch folgte. In seinen eisblauen Augen lag ein amüsiertes Blitzen und Mana war sich nicht ganz sicher, ob ihr das gefiel oder nicht. „Ich glaube…“, sprach Joey unbeeindruckt weiter, „Kaibas einziger Lebensinhalt ist es, allen und jedem auf die Nerven zu fallen und ich bin dafür sein erklärtes Hauptziel. Es vergeht kein Tag, an dem er mir nicht nach allen Regeln der Kunst auf den Zeiger geht. Ein echter Kotzbrocken, das kann ich euch sagen!“ „Sehr sympathisch dieser Kaiba“, bemerkte Seto süffisant und musterte Joey von oben bis unten. „Bei weitem sympathischer als ein herumstreunender Wanderpriester, der sich ins gemachte Nest setzt.“ Einen Moment starrte Joey den Priester mit offenem Mund an, um sich dann drohend zu erheben. „Ey, willst du mich anmachen?“ „Wer spricht hier von wollen?“ entgegnete Seto gedehnt  „Wir Ägypter sind gastfreundlich. Ich möchte nur, dass du dich wie Zuhause fühlst.“ „Ich zeig dir gleich, was ich von deiner Gastfreundschaft halte!“ „Und was willst du tun? Mich mit einer Sanduhr bewerfen, du Zeitzauberer?“ „Letzte Warnung, Kaiba!“ „Für dich: Hohepriester Seto.“ Joey holte gerade Luft um dem Hohepriester Dinge entgegen zu blaffen, von denen wahrschscheinlich mehr als die Hälfte aus Beleidigungen bestanden hätte, da öffnete sich die Tür und schnitt ihm das Wort ab. Mahad war ungewöhnlich schnell zurückgekehrt und seine Miene verhieß nichts Gutes. „Ihr hattet recht“, erklärte er sofort. „Der Gefangene in den Katakomben ist der, den sie heute auf dem Balkon festgenommen hatten. Er passt genau auf die Beschreibung dieses Yugis. Allerdings muss ich euch mitteilen, dass er nicht mehr in den Katakomben ist. Der Pharao hat ihn zu sich rufen lassen und seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört.“ In einer kraftlos wirkenden Geste sank Joey auf den Hocker zurück. „Was?“, gab er schwach von sich, „Soll das heißen, er ist- er ist- tot?“ Mahad schüttelte den Kopf und umrundete den Tisch mit energischen Schritten „Nein. Der Pharao pflegt Hinrichtungen nicht selbst zu vollstrecken. Ich bin mir sicher, dass er ihn nur befragen will. Auch wenn ich nicht verstehe, weshalb er…“ Er unterbrach sich, ohne den Satz zu beenden, aber Mana ahnte, was er hatte sagen wollen. Atemu begann immer irrationalere Entscheidungen zu treffen. Einen Gefangenen nachts, in den eigenen Gemächern, und dazu noch ohne den Hauptbefehlshaber seiner Wachen zu befragen, war definitiv eine davon. „Und was machen wir jetzt?“, fragte Mana schließlich und sprach damit die Frage aus, die schon eine ganze Weile unausgesprochen durch den Raum schwebte. Die drei Hohepriester tauschten mehrmals Blicke untereinander aus, bis Mahad schließlich mit den Schultern zuckte. „Im Moment: Nichts.“ Joeys Kopf fuhr ruckartig nach oben. „Aber-!“ „Es tut mir leid, Prie- ich meine, Joey. Wir können gerade nichts tun, auch wenn du das nicht hören möchtest. Wenn dein Freund beim Pharao ist, dann ist er außerhalb unserer Reichweite. Wir müssen bis morgen früh warten. Dann werde ich mit dem Pharao sprechen, um sein weiteres Vorgehen zu erfahren.“ Mahad konnte eine sehr überzeugende Autorität an den Tag legen, die auch bei Joey ihre Wirkung nicht verfehlte. Statt noch einmal aufzubegehren, saß er stumm da und starrte auf die Tischplatte, das Einzige was sich bewegte, waren seine malmenden Kieferknochen. Ishizu seufzte und schenkte Joey schließlich ein müdes Lächeln. „Komm“, forderte sie ihn leise auf. „Ich zeige dir, wo du vorerst unterkommen kannst, Joey. Du bekommst Räume im Priesterbereich. Wir haben mit dieser Farce angefangen, also müssen wir dich auch weiterhin als Priester ausgeben. Es erspart uns lästige Fragen.“ Mana sah ihnen nach, bis sie um die Ecke verschwunden waren. Sie fühlte die schale Besorgnis in sich aufsteigen, dass das Auftauchen von Joey und Yugi der Beginn großer Veränderungen sein würde. Es schwang aber auch die leise Hoffnung mit, dass diese Veränderungen Positives mit sich brachten.   ~oOo~ Lautes Gepolter ließ Yugi aus seinem unruhigen Schlaf hochschrecken. Seine verspannten Muskeln in Rücken und Nacken rebellierten gegen diese hektische Bewegung und ließen ihn leise ächzen. Er wusste nicht mehr, wie oft der Pharao ihn am vergangenen Abend nach den Hintermännern des Attentats gefragt hatte. Immer wieder hatte Atemu ihm Namen genannt, die er nie gehört hatte und nach Gruppierungen gefragt, von deren Existenz er nicht die geringste Ahnung hatte. Jedes Mal aufs Neue hatte Yugi verneint, hatte erklärt, dass er niemanden hier kenne und dass er nicht wisse, wie er auf den königlichen Balkon gekommen sei. Inmitten dieses unbarmherzigen Verhörs brach seine Erinnerung irgendwann ab und verlor sich in tiefer Dunkelheit. Verwirrt rappelte Yugi sich auf, zog die Beine an und sah sich um. Der markante Geruch von Lilien lag in der Luft und ein warmer Wind drang durch das offene Fenster herein.  Er befand sich in einem der wundervollsten Räume, die er je gesehen hatte. Hohe Säulen mit blütenförmigen Abschlüssen trugen die Decke, die mit  der atemberaubenden Darstellung einer Gottheit verziert war. Yugi glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben, aber er konnte sich an ihren Namen nicht erinnern. Wehmütig dachte er daran, wie glücklich sein Großvater wohl wäre, wenn er all das sehen könnte. Sein Blick begann zu verschwimmen und er hob hastig die Hände, um sich in einer umständlichen Geste über die Augen zu fahren. Ein paar Mal atmete er tief ein und aus um sich zu beruhigen, dann stemmte er sich vom Boden hoch. Vom Flur drangen wieder die gleichen Geräusche durch die geschlossene Tür, die ihn zuvor geweckt hatten. Langsam erkannte Yugi, dass es sich um unzählige, gehetze Schritte und wirr durcheinander tönende Stimmen handelte. Es lag eine solche aufgeregte Erregung in der Luft, dass er sie trotz der geschlossenen Tür spüren konnte. Die Angst begann wieder in ihm aufzusteigen und ihm mit klammen Fingern die Luft abzuschnüren. Er hatte die gestrige Nacht überlebt, aber was bedeutete das in seiner Situation schon? Yugi schlang unruhig die Arme um sich, als ihm bewusst wurde, dass er gestern mitten im Verhör einfach eingeschlafen war. Der Pharao war darüber wahrscheinlich nicht sehr erfreut.  Mitten in Yugis bangen Überlegungen, flog die Tür des Raumes auf und ein einfach gekleideter Ägypter eilte herein. Sein Blick wanderte suchend umher, bis er Yugi entdeckte. „Folge mir“, befahl er und trat einen Schritt zur Seite um den Durchgang frei zu machen. Yugi zögerte, aber er hatte ja doch keine andere Wahl als zu gehorchen. Zaghaft stieß er sich von der Wand ab, trat in den Flur hinaus und verharrte mitten im Schritt. Der Flur glich einem Ameisenhaufen. Scheinbar planlos hasteten dutzend Ägypter hin und her, schwerbepackt mit Krügen, Stoffen, Amphoren oder Schriftrollen, angetrieben von kahlrasierte Männer mit Tierfellen über den Schultern, die jeden anblafften, der nicht schnell genug von einem Zimmer zum nächsten eilte. Yugi war so überfordert, dass er mit offenem Mund mitten in diesem Gewühl stand und es nicht wagte sich zu bewegen. Erst als ihm der Diener eine Hand auf die Schulter legte und Yugi vor sich herschob, begannen ihm seine Gliedmaßen wieder einigermaßen zu gehorchen.   Eine überbordend verzierte Flügeltüre öffnete sich knarzend und Yugi wurde in einen Raum geführt, der noch prunkvoller war als der in welchem er am Morgen aufgewacht war. Königliche Reliefs starrten von den Wänden hinunter, während sich das Licht auf glänzendem Gold und sanft schimmerndem Elfenbein brach. Mitten in all diesem Luxus stand der Pharao. Im Gegenlicht der tief stehenden Morgensonne lag sein Gesicht im Schatten, nur die hellen Augen stachen so intensiv hervor, dass Yugi erschrocken zusammen fuhr. Er hatte einen solchen Anblick schon einmal gesehen. Dieselben Augen, dieselbe Silhouette – wie in seiner Vision. Wie versteinert stand Yugi da und starrte Atemu atemlos an, der mit einem seltsam entrückten Blick in der Mitte des Raumes stand und sich von seinen Dienern ankleiden ließ. Einer rückte die weiße Tunika zurecht, ein anderer schloss die goldenen Schmuckreifen um den Arm und ein dritter tauschte den royalblauen Lendenschurz gegen ein imposantes Leopardenfell. Selbst Ringe und Schuhe wurden ihm angelegt, so wie jeder einzelne Handgriff des Ankleidens einem alten Ritual zu folgen schien. Yugi fühlte sich wie ein Fremdkörper. Er fragte sich insgeheim, weshalb er überhaupt hierher gebracht worden war. Unruhig verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das andere und strich sich fröstelnd über die Oberarme. Sein Blick suchte den des Ägypters der neben ihm stand, doch in dessen ausdruckslosem Gesicht konnte Yugi keinen Hinweis darauf erkennen, was nun mit ihm geschehen sollte. Das Klappern einer Tür ließ Yugi aufhorchen und er entdeckte einen hochgewachsenen, weißgekleideten Mann, welcher den Raum soeben betreten hatte. Die Diener verneigten sich ehrfurchtsvoll und Yugi tat es ihnen nach einem abwägenden Zögern gleich. Als er den Kopf wieder hob, bemerkte er, dass der Fremde ihn durchdringend musterte. Yugi schluckte. Er fühlte sich wie auf einem Präsentierteller. „Ist alles vorbereitet, Mahad?“ Atemus Stimme drang durch das aufgeregte Treiben und brachte die Anwesenden sofort dazu zu verstummen. Der angesprochene Hohepriester wandte sich langsam von Yugi ab und verneigte sich vor dem Pharao. „Ja. Es ist alles bereit für das schöne Fest des Tales. Die Medjay zu Eurem Schutz stehen bereit und die Hohepriester warten im Thronsaal, um Euch zum Tempel zu begleiten.“ „Gut.“ Atemu scheuchte mit einer Handbewegung sämtliche Diener nach draußen und sah Yugi schließlich zum ersten Mal an diesem Morgen offen ins Gesicht. Unwillkürlich wich dieser etwas zurück und begann nervös auf seiner Lippe zu kauen. Mit dem Verlassen des letzten Bediensteten war es ruhig geworden in dem Zimmer. Es war so ruhig, dass selbst das leise Rascheln der Palmen von draußen deutlich zu hören war. Yugis Hände verkrampften sich in seiner Tunika, doch plötzlich trat er mit dem Mut der Verzweiflung einen Schritt nach vorne und brach das Schweigen. „Ihr… ihr habt nach mir … rufen lassen, Pharao? Kann ich… kann ich etwas für Euch… tun?“ Über Atemus Gesicht flog ein ironischer Ausdruck, als er sich an seinen Hohepriester wandte. „Hast du jemals einen so höflichen Attentäter gesehen?“ Mahads Augenbrauen zogen sich irritiert zusammen, er schien die Belustigung des Pharaos nicht recht nachvollziehen zu können. Er verschränkte die Arme und deutete mit einer Kopfbewegung auf Yugi. „Was habt Ihr mit ihm vor?“ Atemu strich eine imaginäre Falte im Leopardenfell zurecht. „Ich habe beschlossen ihn vorerst hier zu behalten. Ich will an die Hintermänner herankommen, er ist letztendlich doch nur ein kleiner Fisch.“ „Halte den Feind so nah, dass er keinen Platz hat nach einem Dolch zu greifen. Ein bekanntes Sprichwort.“ murmelte Mahad und griff nach einem schweren, purpurnen Umhang, den er dem Pharao mit Bedacht um die Schultern legte. Unter der Berührung von Mahads Händen, die den Stoff des Umhanges glattstrichen, spannte Atemu sich sichtlich an und wies den Hohepriester schließlich mit einer harschen Handbewegung an, einen Schritt zurückzuweichen. „Ich möchte, dass er gut bewacht wird.“ „Natürlich, Pharao. Ein Aufenthalt in den Katakomben sollte aber nicht nötig sein, ich denke-“ „Es hat niemand davon gesprochen, dass er in die Katakomben kommt. Ich gedenke, ihn hier zu behalten.“ „In den Privaträumen?“ „In den privaten Nebenräumen. Dort ist er leicht zu überwachen.“ Yugi ballte die Hände zu Fäusten und presste die Zähne so fest aufeinander, dass sie knirschten. Man sprach über ihn wie über ein dahergelaufenes Haustier. Wie ein Streuner, mit dem man nichts anzufangen wusste. Ein tiefdunkles Rot flog über sein Gesicht und ließ seine Wangen schmerzhaft brennen. Unwillkürlich zog er sich zurück, bis er mit dem Rücken gegen eine der Säulen stieß. „Eure Krone, Pharao.“ Die Stimme des Hohepriesters ließ Yugi wieder aufblicken. Mahad hatte von einem geschmückten Podest eine große, weiße Krone aufgenommen und setzte sie respektvoll auf Atemus Haupt. Einen kurzen Moment glaubte Yugi einen erschöpften Ausdruck über das Gesicht des Pharaos huschen zu sehen, doch er war verschwunden, bevor er ihn wirklich greifen konnte. Schließlich wandte Atemu Mahad den Rücken zu, was Mahad als Aufforderung zu verstehen schien. Er verneigte sich und verließ wortlos den Raum. Yugi starrte ihm solange hinterher, bis die Türen bereits ins Schloss gefallen waren. Jetzt, da er wieder alleine in einem Raum mit dem Pharao war, begann sein Herz vor Nervosität schmerzhaft zu pochen. Er faltete unruhig die Hände und schluckte schwer, doch dann zwang er sich dazu, seinen Blick von der Tür zu lösen. Als er sich Atemu wieder zuwandte, verharrte Yugi irritiert. Der Pharao hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Sein Kopf lag leicht im Nacken, die Augen waren geschlossen. Mit einer Hand fuhr er sich über das Gesicht und ließ sie schließlich auf seiner Stirn liegen. Obwohl er dadurch das Meiste seines Gesichtes verbarg, konnte Yugi den angestrengten Zug erkennen, der sich um die schmalen Lippen des Pharaos zog. Unschlüssig trat Yugi von einem Bein auf das andere. Erst als er hörte wie Atemu tief, aber seltsam stockend die Luft einzog, fasste er sich ein Herz und näherte sich zaghaft. „Ph-Pharao?“ Atemu zuckte sichtlich zusammen und starrte Yugi an wie eine Erscheinung. „Du? Ich dachte Mahad hätte dich mit …“ Er unterbrach sich und presste die Lippen einen Moment fest aufeinander. Yugi beeilte sich damit, die Hände zu einer beschwichtigenden Geste zu heben und fragte: „Kann ich etwas für Euch tun? Soll ich jemanden rufen?“ Selbst er konnte hören wie belegt seine Stimme klang und er rettete sich in ein hilfloses Lächeln. Atemu schwieg, holte noch einmal tief Luft und stieß sich mit einer betont kraftvollen Bewegung von der Wand ab. Das leichte Zittern seiner Hände strafte dieser aufgesetzten Stärke jedoch Lügen. „Ist es die Krone?“ fragte Yugi in die Stille. „Sie sieht sehr schwer aus.“ Nach einem Moment des Zögerns fügte er nachdenklich hinzu: „Könnt Ihr sie nicht einfach gegen eine andere austauschen?“ Atemus linke Augenbraue zuckte leicht, doch dann flog ein amüsiertes Lächeln über seine Züge. „Nein. Ich kann sie nicht einfach austauschen“, antwortete er trocken und verschränkte die Arme. Yugi, der plötzlich das eindeutige Gefühl hatte, etwas ungemein Dummes von sich gegeben zu haben spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Atemus Mundwinkel zuckten erneut, doch bevor er noch etwas hinzufügen konnte, klopfte es an der Tür und eine sonore Stimme ertönte. „Ehrenwerter Pharao, die Sänfte ist bereit. Die Feierlichkeiten können nun beginnen.“ Atemu schloss einen Moment die Augen und wandte sich dann ruckartig um. Das Zittern seiner Hände hatte nachgelassen und seine Bewegungen waren so sicher und energisch wie zuvor. An der Tür angekommen, wandte er sich noch einmal zu Yugi um und fixierte ihn scharf. „Innerhalb des privaten Bereiches kannst du dich frei bewegen. Denke aber immer daran: Du bist nicht mein Gast.“ Es schien als wollte er noch etwas sagen, doch nach einem kurzen Zögern verließ er den Raum und ließ die Tür lautstark hinter sich ins Schloss fallen. Yugi blieb allein zurück. Nachdenklich starrte er auf den bunten Mosaikboden zu seinen Füßen, ohne die Muster wirklich wahrzunehmen. Das Lächeln, das auf dem Gesicht des Pharaos aufgeblitzt war, hing in seinen Gedanken fest. Atemu hatte nur kurz gelächelt, fast unscheinbar. Aber es hatte seine Augen erreicht und war offen und warm gewesen. Yugi ließ sich gedankenverloren auf dem Fenstersims nieder und sah in die Palastgärten hinaus. Wenn der Pharao lächelte, wirkte er wie ein anderer Mensch. Es nahm ihm die angsteinflößende Erhabenheit, die Yugi bis dahin so eingeschüchtert hatte. Er fragte sich, ob hinter der Fassade des Pharaos noch ein anderer Teil verborgen war. Ein Teil, auf den Yugi durch feine Risse im Mauerwerk hindurch einen kleinen Blick hatte erhaschen können. Ein leiser Funken Hoffnung begann sich in ihm auszubreiten. Atemu hätte ihn schon längst hinrichten lassen können, wenn er gewollt hätte. Aber vielleicht war er doch gütiger, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Vielleicht konnte Yugi ihm doch glaubhaft machen, dass er kein Attentäter war. Vielleicht konnte er den Pharao sogar davon überzeugen, ihn gehen zu lassen. Einen Moment lang pochte Yugis Herz merklich schneller als zuvor. ~oOo~ Jubelschreie, Gesänge und Kinderlachen. So viele unterschiedliche Geräusche prasselten auf Atemu ein, dass er kaum noch in der Lage war, einzelne Laute darunter herauszuhören. Alles verschmolz zu einer Geräuschkulisse, die sich wie ein fein gewobenes Leinentuch über Theben legte. Die Stadt kochte vor Aufregung und Atemu musste sich eingestehen, dass er sich dieser Aufregung nicht völlig verweigern konnte. Seine Fingerspitzen zitterten leicht als er die Hand hob, um seine Augen vor der gleißenden Sonne abzuschirmen. Sein Blick flog über die vielen Priester, die den Tross begleiteten, weiter zu den unzähligen Schaulustigen, die sich an den Straßen versammelt hatten und von den Medjay nur schwer zu bändigen waren. Selbst auf den Dächern drängten sich die Menschen - jeder versuchte einen Blick auf den Pharao zu erhaschen. Atemus Oberlippe kräuselte sich leicht. Er fühlte sich unwohl. Die vielen starrenden Menschen, der ohrenbetäubende Lärm, die unbequeme Sänfte und die schwere Krone verlangten ihm unendlich viel Kraft ab. Je näher der Tempel kam, desto mehr schnürte sich ihm die Kehle zu. Sein Herz schlug so stark, dass es ihm Schmerzen. Der Singsang der Priester, das Jubeln seiner Untertanen – alles wurde immer dumpfer, bis er es über seinen eigenen Herzschlag hinweg nicht mehr hören konnte. Sein Blickfeld schrumpfte, er sah nur noch die Tore des Tempels, weit geöffnet wie der aufgerissene Schlund der Urschlange Apophis. Ein leichter Ruck riss ihn aus seiner Trance und er bemerkte, dass die vier Träger seine Sänfte zu Boden gelassen hatten. Einen Moment lang ballte er die Hände so fest zur Faust, dass sich seine Fingernägel schmerzhaft in die Handballen gruben, dann erhob er sich. Mit aller Willenskraft die er aufbringen konnte, schaffte er es seine Schritte fest und sicher wirken zu lassen, als er seine drei hochrangigsten Priester auf dem Weg zum Allerheiligsten anführte. Dort warteten sie auf ihn. Amun, Mut und Chons – Die Göttertriade Thebens. Jeder Meter wurde für Atemu zur Qual. Die Krone schien immer enger zu werden, sie umklammerte ihn wie eine todbringende Schlange. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und seine Zunge war taub vor Trockenheit. Seine Schritte wurden langsamer. Die Säulenhalle wurde kleiner, dunkler, zog sich um ihn zusammen wie die Wände eines Gefängnisses. Mit letzter Kraft trat er in den sakralen Bereich ein und hielt inne um sich zu beruhigen. Durch dumpfen Nebel hindurch flog sein Blick über Opfergaben und Blumen, bis er auf den steinernen Gesichtern der Götterstatuen liegen blieb. Im gleichen Augenblick schoss ein quälender Schmerz durch seine Schläfen, durchfuhr sein Rückenmark und bohrte sich in seine Brust. Er konnte es nicht. Er konnte diese Götter nicht anbeten. Götter, die ihm in seiner dunkelsten Stunde nicht beigestanden hatten, Götter, die tatenlos zusahen, wie sein Land vor die Hunde ging, Götter, die ihm weder Kraft, noch Stärke gesandt hatten, als er in ihren Schreinen darum bat. „Nein.“ Es war nur ein einzelnes Wort, doch es war so entschlossen gesprochen, dass Ishizu, Mahad und Seto, die ihn hierher begleitet hatten, mitten in ihren Bewegungen erstarrten. Atemu lächelte leicht, ein schales, dünnes Lächeln und wandte den Götterstatuen offen den Rücken zu. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich auf den Gesichtern der drei Hohepriester Fassungslosigkeit und Entsetzen widerspiegelte. „Aber… aber Pharao, ihr könnt nicht…“ Mit einer Handbewegung brachte er Ishizu zum Schweigen, die als Erste ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Ich sagte: Nein.“ Seine Stimme klang selbst in seinen Ohren gefährlich gepresst und Ishizu tat ihm den Gefallen erschrocken zusammen zu zucken. Mit einer schnellen Bewegung verließ er das Allerheiligste, ohne sich noch einmal zu den drei Priestern umzusehen. Je weiter er sich von den Götterstatuen entfernte, desto energischer wurden seine Schritte. Die Kraft kam zurück, durchströmte ihn wie eine Flutwelle und verbannte den Schmerz aus seinem Körper. Sein Blick war wieder klar, er erkannte alles in einer nie dagewesenen Schärfe und tief in seinem Inneren begann eine leise Stimme zu flüstern, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es war eine Stimme die er nicht kannte, sie war tonlos und kalt, doch die Worte die sie sprach waren so verlockend und umschmeichelnd, dass er sie aufsog wie das Land die Nilschwemme. Er hatte das Richtige getan. Er hatte den Göttern abgeschworen, die ihn nie erhört hatten. Der einzige Gott, der ihm treu zur Seite stand, war Seth. Er schenkte Atemu nicht die Hoffnung, dass er siegreich sein würde. Er schenkte ihm die reine Gewissheit.   Kapitel 7: Offenbarung ---------------------- Yugi hatte gerade eine grundlegende Lektion gelernt: Die beiden großen Räume am Ende des Flurs waren Schlafgemach und Privatschrein des Pharaos und somit für ihn absolut tabu. Hilfreiche Unterstützung bei dieser Erkenntnis, waren ein Medjay und dessen vorgehaltener Krummsäbel gewesen. Nachdem Yugi schnellstens kehrt gemacht hatte, wanderte er nervös im Privatbereich hin und her. Ein offener Durchgang am anderen Ende des Flurs führte in den königlichen Privatgarten und nach einem kurzen Zögern trat Yugi in den warmen Sonnenschein hinaus. Während seine nackten Füße durch das satte Gras streiften, zogen seine Gedanken ihre Kreise. Wo Joey wohl war? Ob es ihm gut ging? In Yugis Brustkorb begann es schmerzhaft zu ziehen. Was sollte er jetzt nur tun? Sollte er fliehen und auf gut Glück nach Joey suchen? Oder zunächst abwarten, in der täglichen Hoffnung den nächsten Tag zu erleben, bis er mehr über die jetzige Situation herausgefunden hatte? Yugi ächzte erstickt. Er verstand plötzlich, wie sich ein wildes Tier in einem Käfig fühlen musste.

 Von irgendwo her ertönte plötzlich ein leises Stimmengemurmel. Yugi schrak zusammen und sah sich hastig nach einem Versteck um. Sein Blick flog über kleine Büsche, zierliche Statuen und dünnes Papyrusschilf; nichts davon bot genug Schutz um sich dahinter verbergen zu können. Der bittere Geschmack von Panik kroch seinen Rachen hinauf und trocknete seine Zunge aus. Schritt um Schritt wich er zurück und versuchte die Richtung zu orten, aus der die Stimmen kamen, bis sich sein Fuß plötzlich in einer Wurzel verfing. Wie in Zeitlupe fühlte er, dass er das Gleichgewicht verlor. Er griff um sich, um Halt zu finden und schlug doch ungebremst rücklings auf dem Boden auf. Hastig biss er sich auf die Lippe um keinen Laut von sich zu geben und lauschte, ob ihn sein Sturz verraten hatte. Sein Herzschlag tönte aber so dumpf in seinen Ohren, dass er das Stimmengemurmel erst wieder wahrnahm, als es nah war. Zu nah für eine Flucht. Sein Atem stockte. „Du hast echt nicht mehr alle Latten am Zaun, Mädchen!“
 „Was denn? Du wolltest zu Yugi, oder nicht? Und das hier ist nun mal der einzige inoffizielle Weg.“ 
 Yugis Herz schlug plötzlich schmerzhaft gegen seine Rippen. Er kannte diese Stimme! Er fuhr so schnell hoch, dass ihm schwarz vor Augen wurde, doch er kämpfte den Schwindel verzweifelt nieder. Atemlos zwängte er sich durch einen dornigen Busch hindurch und rannte auf die beiden Personen zu, die sich gerade in einer halsbrecherischen Aktion von einem nahegelegenen Balkon herabhangelten. 
 „Joey… JOEY!“ 
 Yugi rannte seinen besten Freund regelrecht über den Haufen, kaum dass dieser festen Boden unter den Füßen hatte. Er hörte, wie Joey unter der erdrückenden Umarmung ächzte, aber statt locker zu lassen, drückte er noch fester zu. Er war so unendlich erleichtert, ihn wieder zu sehen. „Na, na, du machst mir Falten ins Hemd“, bemerkte Joey belustigt, was in Yugi ein albernes Kichern auslöste. Er lachte, bis ihm die Tränen in die Augen stiegen und er japsend nach Luft rang. Endlich fielen die ganze Anspannung, die Nervosität und die Angst für einen Moment von ihm ab. 
 „Du weißt gar nicht … was ich mir … für Sorgen gemacht ... habe …“ presste Yugi angestrengt hervor, als er sich endlich etwas beruhigt hatte. Mit einem breiten Grinsen schlug Joey ihm so fest auf die Schulter, dass Yugi ächzend in die Knie ging und tönte: „Ach was, Unkraut vergeht nicht. Aber jetzt erzähl mal, Junge. Was geht hier ab? Was machst du beim Obermufti höchstpersönlich?“ „Zeig wenigstens einen Funken Respekt, Joey. Der Obermufti ist Pharao Atemu, klar?“ Tadelnd schob sich Mana in Yugis Sichtfeld und schüttelte den Kopf. Dann grinste sie und bedeutete den Beiden ihr zu folgen. „Man sollte uns besser nicht sehen. Kommt mit; der andere Teil des Gartens ist dicht bewachsen.“ Über einen Umweg führte sie Joey und Yugi an das andere Ende des Geländes. Dort zwängte sie sich zwischen zwei engstehenden Palmen hindurch hinter denen eine kleine, sonnenbeschienene Nische lag, die dank dichtem Gebüsch und hohen Blumenranken vollständig vor Blicken geschützt war. „Hier haben Atemu und ich uns auch früher immer versteckt, wenn wir wieder etwas angestellt hatten.“, erklärte sie mit einem raschen Seitenblick. „So schnell findet uns hier niemand.“ Seufzend ließ Yugi sich auf dem warmen Boden nieder und lehnte sich an einen abgestorbenen Baumstumpf. Neben ihm fiel Joey übermütig ins weiche Gras und grinste breit. „Mann, Mann, Mann… du machst Sachen, Alter.“ „Ist ja nicht so, als hätte ich mich absichtlich in diese Lage gebracht.“, maulte Yugi abwehrend und erntete einen milden Boxschlag in die Seite. 
 „Ach, ist doch egal ob du schuld bist, oder du. Jetzt erzähl erstmal was dir überhaupt passiert ist, Yugi. Ich glaube, du hast mehr erlebt als ich.“
 Yugis Augenbraue zuckte nach oben, als er seinen Blick über Joeys wertvolle Priesterrobe und schließlich sein eigenes, zerschlissenes Gewand gleiten ließ. Aber er sagte nichts, sondern seufzte nur ergeben und begann zu erzählen.
 
 Es herrschte ein hilfloses und etwas betroffenes Schweigen, nachdem er geendet hatte. Yugi musterte Mana und Joey aufmerksam. Während Joey halb verwirrt, halb aufgebracht ins Nichts starrte, zupfte Mana abwesend einen Grashalm nach dem anderen aus. In ihren Augen lag ein so trauriger Ausdruck, dass es Yugi berührte.
 „Aber es ist wirklich nicht soooo schlimm hier“, fügte er schnell hinzu und schenkte Mana ein aufmunterndes Lächeln. Joey schnaubte leise und warf Yugi einen seltsamen Blick zu. „Komm schon Yugi. Ich weiß, dass du immer versuchst alles positiv zu sehen. Aber sei ehrlich, das hier ist doch…“ 
 Joey verstummte. Sämtliche Farbe wich von seinen Wangen , während er entsetzt in das dichte Buschwerk starrte, vor dem Mana saß und ihn fragend musterte.  Yugi folgte Joeys Blick irritiert, wandte sich um – und sah direkt in das Gesicht einer ausgewachsenen Löwin. Sein Mund klappte auf und er versuchte zu schreien, aber ihm entkam nur ein heiseres Krächzen. Sein Kopf schrie ihm zu er solle aufspringen und davonlaufen, doch sein Körper war schwer wie Blei. Plötzlich fühlte er sich gepackt und zu Boden geworfen und noch ehe er verstand was mit ihm geschah, hatte Joey sich auf ihn geworfen.
 „B-Bleib starr liegen Yugi! Mit d-dem Vieh n-nehm ich es schon auf! H-Hau ab, du z-zu groß gewachsenes K-Kätzchen!“
 Die Löwin schien nicht sonderlich beeindruckt. Sie musterte Joey wie ein besonders langweiliges Insekt, ließ sich auf den Hinterpfoten nieder und gähnte so ausgiebig, dass Mana in helles Lachen ausbrach.
 „Joey das ist zwar sehr heldenhaft, aber wirklich unnötig“, kicherte das Magiermädchen und lehnte sich vor um der Löwin sanft über den Kopf zu streicheln. „Darf ich vorstellen? Schesemtet: Atemus Haus- und Schoßtier.“
 
 „Schoßtier?“ Joeys Stimme klang ungesund schrill. „So viel Schoß gibt es auf der ganzen Welt nicht, dass dieses Vieh da drauf passt!“
 Sein eiserner Griff lockerte sich und gab Yugi endlich genug Bewegungsfreiheit um sein Gesicht aus dem Gras zu heben. Keuchend schnappte er nach Luft, hustete und spuckte ein paar Grashalme aus. Erst dann rappelte er sich langsam wieder auf, sorgsam darauf bedacht keine hektischen Bewegungen zu machen. Sein Blick klebte misstrauisch an der Raubkatze. Im Sonnenlicht schienen ihre tiefgründigen Augen in einem goldenen Licht zu glühen. Sie saß reglos an ihrem Platz, die vorderen Pranken so parallel nebeneinander, wie die vielen Statuen, die den Palast schmückten. Yugi schluckte schwer. Etwas an diesem Anblick war so surreal, dass es ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Sein Blick glitt an dem massigen Tierkörper entlang zu Boden – und plötzlich fühlte Yugi sich, als wäre ein Eimer eiskalten Wassers über ihn ausgeleert worden. 
 „Joey … Mana …“ Yugis Stimme war so heiser, dass sie sich überschlug. „Seht ihr … das auch?“ Mit bebender Hand deutete er auf den Boden, doch weder Mana, noch Joey schienen zu begreifen, was er ihnen zeigen wollte.
 „Der Schatten“, erklärte Yugi mit nervösem Nachdruck „Er … er steht in völlig falschem Winkel zur Sonne!“ Er hörte, wie Joey ächzte, aber er konnte seinen Blick nicht von dem Schatten abwenden. Irgendetwas geschah dort. Es schien, als ob sich die Schwärze des Schattens bewegen würde, ganz so als wäre er lebendig. Jedes einzelne Haar auf Yugis Körper begann, sich aufzustellen als ihm plötzlich bewusst wurde, dass der Schatten der Löwin verschwunden war. Stattdessen spannte sich zu ihren Füßen die Silhouette einer Frau, auf deren Schultern das mächtige Haupt einer Raubkatze thronte. Rechts neben Yugi zog Mana scharf die Luft ein. Sie war leichenblass und schien am gesamte Körper zu beben. „Das ist…“ presste sie fassungslos hervor, „Das … ist …“

 Ich bin Schesemtet, die Schützerin des Re. Als eine durchdringende Stimme erklang, schlug Mana sich mit einem erstickten Aufschrei die Hände vor die Ohren. Meine Zeit hier ist begrenzt und ich habe euch viel zu erklären. Habt keine Angst vor mir. Yugi, Joey. Es ist keine Laune des Zufalls, die euch hierher führte. Ihr seid hier, weil Nechbet euch gerufen hat. „Die Beschützerin des Pharaos.“, flüsterte Mana tonlos und schrak zusammen, als der Schatten zu ihren Füßen den Kopf wandte. Hört mir zu. Schesemtet klang ungeduldig. Die Aufgabe von Nechbet und mir ist es, die Pharaonen zu schützen. Vor einiger Zeit jedoch gelang es dem Gott Seth, Pharao Atemu auf seine Seite zu ziehen. Seitdem ist Seth so stark, dass wir den Kontakt zu Atemu gänzlich verloren haben. Der Pharao verehrt den Wüstengott von ganzem Herzen und stärkt ihn mit jedem Gebet und jeder Opfergabe. „Soll das heißen, der Pharao ist irgendwie … besessen, oder so?“, fragte Joey etwas verständnislos, doch Schesemtet hob die Hand und schnitt ihm das Wort ab.

 Ihr müsst eines verstehen: Sollte Seths Kraft noch weiter zunehmen, ist die Ordnung der Maat in Gefahr. Seth muss aufgehalten, seine Kraft wieder gebrochen werden. Erst dann ist es Nechbet und mir wieder möglich, den Pharao so zu schützen, wie es unsere Aufgabe ist. Wenn ihr den Bann durchbrochen habt, den Seth um Atemu gewoben hat, dann wird Nechbet euch wieder zurück in eure angestammte Zeit senden. Yugi öffnete den Mund, schloss ihn wieder, schüttelte verwirrt den Kopf und versuchte es erneut: „Ich verstehe gar nichts“, gab er zu. „Was sollen wir – nein, wie sollen wir das alles tun?“
 Der Schatten der Göttin flackerte leicht. Um den Handel endgültig zu machen, fordert Seth Blutzoll. Atemu hat sich entschieden, den Pharao Unterägyptens als Opfer darzubringen. Ihr müsst dieses Ritual unter allen Umständen verhindern! Mana entkam ein spöttisches Schnauben, doch sie zuckte sofort zusammen und biss sich auf die Unterlippe. „Verzeih mir, Schesemtet“, murmelte sie kleinlaut und senkte mutlos den Kopf. „Ich möchte nichts lieber, als Atemu zu helfen. Aber selbst ich, als seine engste Freundin, komme nicht mehr an ihn heran. Wie sollen wir ihn vom Einfluss eines Gottes befreien, wenn er nicht einmal mehr auf ein einzelnes Wort seiner loyalsten Gefährten hört?“ Das Auge des Re, begann Schesemtet, und Yugi glaubte ein kurzes Zögern in ihren Worten zu hören, ist mächtig genug, um Seths Einfluss einzudämmen. Nechbet war seit je her die Trägerin dieses Artefaktes. Als sie in Raum und Zeit eingegriffen hat, um Yugi und Joey hierher zu geleiten, hat sie einen großen Teil ihrer Kraft aufbringen müssen. Sie regeneriert sich an einem sicheren Ort und dort werdet ihr auch das Artefakt finden. Ihr müsst…
 Die Göttin unterbrach sich. Mehrere Male flackerte die Silhouette unruhig. Keine Zeit… . Die Struktur des Schattens zerbrach und formierte sich erneut zu den Umrissen einer ägyptischen Kobra. Seth nähert sich, zischte die Schlange… muss …. gehen… „Warte!“ Mana hatte die Hand gehoben, als ob sie nach dem Schatten greifen wollte, verharrte dann aber mitten in der Bewegung. „Wo ist das Auge des Re? Wo finden wir es?“
 Auge… Pranken des Löwen… Bewacher der Toten. In Sa-
 Der Schatten zerbarst. 

 Der Körper der großen Raubkatze fiel schwer zu Boden und kam vor Mana zum Liegen. Mit zitternder Hand fuhr das Magiermädchen über den sandfarbenen Kopf und entlockte der Löwin ein kraftloses Schnurren. „Was… soll das heißen? Was ist da eben passiert?“ Aufgelöst starrte Mana zu Yugi hinüber, der nur schwach mit den Schultern zuckte. „Das fragst du mich?“, entgegnete er leise „Woher soll ich …“
 „Mahad,“, murmelte Mana abwesend und schnitt Yugi das Wort ab. „Ich muss Mahad davon berichten. Er kann uns sicher weiterhelfen.“ Sie erhob sich wie in Trance, doch Joey packte sie hastig am Handgelenk und zog sie zurück.
 „Warte mal, Mana! Was ist mit Yugi? Du kannst doch jetzt nicht einfach weglaufen und..“
 „Ich muss zu Mahad, Joey! Du hast Schesemtet gehört, oder nicht?“
 Joey schnaubte. „Lass mal überlegen: Mir hat grade eine zu groß geratene Schoßkatze erzählt, dass sie ‘ne Göttin ist und dass wir doch bitte so ein komisches Auge finden sollen, weil das dem Obermufti hier wieder etwas Verstand in die Birne prügelt, richtig?“ „Joey! Ich habe dir schon einmal gesagt, dass dich dein loses Mundwerk in Schwierigkeiten-“
 „Ach, als ob’s mich kümmert. Ich sag dir mal was Überraschendes, Mana: Ich bin schon mitten in den Schwierigkeiten drin!“
 „Hey… Leute…“ Yugi hob beschwichtigend die Hände. „Uns gegenseitig anzufahren bringt uns jetzt nicht weiter. Bitte, hört auf.“
 Mana fuhr herum und funkelte ihn aufgebracht an, antwortete dann jedoch mit gezwungener Ruhe. „Du hast Recht. Ich wollte nur… wir müssen… Ach, ich weiß doch auch nicht was hier gerade geschehen ist. Aber ich bin mir sicher, dass Mahad uns helfen kann. Er ist nicht umsonst Hohepriester.“
 „Natürlich,“, kam es bissig von Joey. „Er hat uns bis jetzt ja auch so wundervoll geholfen.“
 „Verdammt noch mal!“ Mana schlug mit der flachen Hand auf den Rasen. „Dann sag du mir doch, was wir tun sollen! Los, her mit deinem supertollen Plan, der uns all das erklärt!“
 „Ich hab‘ vielleicht keinen Plan, aber ich weiß eines: Ich lasse Yugi garantiert nicht zurück! Er ist mein bester Kumpel, glaubst du ich lass‘ den hier bei einem Oberguru versauern, der offenkundig nicht mehr ganz frisch im Kopf ist?“
 Yugi sah zwar noch wie sich Mana spannte und sprang auf, aber er war zu langsam. Ihre Ohrfeige traf Joey so unvorbereitet, dass es diesem ein überraschtes Keuchen auf die Lippen trieb. 
 Ohne eine Reaktion abzuwarten fuhr Mana ruckartig herum und hastete davon. Joey, der mit offenem Mund dagesessen war, sprang auf die Füße, erstarrte dann aber mitten in der Bewegung.  
 „Zicke…“, fluchte er leise und wandte sich nach kurzem Zögern wieder an Yugi. „Komm. Ich bring‘ dich hier erstmal raus. Alles andere überlegen wir später. Wir brauchen keinen Mahad, oder Seto oder sonst wen. Ich pack‘ das schon.“
 Yugi zögerte. Er wollte nichts lieber als Joey zu folgen. Raus aus diesem Käfig, weg von dem Pharao und den Medjay. Aber dennoch… 
 „Joey… ich… also weißt du…“
 „Alter, du willst mir jetzt nicht ernsthaft sagen, dass du hier bleiben willst? Nee du.“ „Natürlich nicht. Klar will ich hier weg. Aber wir müssen logisch denken, Joey. Wo sollen wir hin? Wenn ich hier fliehe, haben wir dutzende Wachleute am Hals, denen es wahrscheinlich egal ist ob sie uns tot oder lebendig erwischen. Wir sind nicht nur in einem fremdem Land, sondern auch in einer fremden Zeit.“
 Joeys dunkle Augen blitzten wütend. „Mann, weißt du wie schwierig es war, hier rein zu kommen? Ich hätte mir beinahe den Hals gebrochen und jetzt stellst du dich vor mich hin und erklärst mir, dass du lieber unter der Fuchtel dieses Oberpsychos bleiben willst?“
 Yugi seufzte leise, aber erwiderte Joeys Blick standhaft und entschlossen. „Ich bin mir sicher, dass es nicht einfach für dich war und ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen. Trotzdem ist es jetzt das Beste erst einmal die Füße still zu halten. Wir sind hier vielleicht nicht gänzlich sicher, aber zumindest sicherer als allein auf uns selbst gestellt irgendwo im Alten Ägypten. Wir brauchen einen Plan und sollten jetzt nicht kopflos drauf los rennen.“
 Joey schwieg. In seinem Blick flackerte Unschlüssigkeit und Yugi zwang sich zu einem Lächeln. „Vielleicht kann uns dieser … Mahad Informationen geben, die uns weiterhelfen. Ich komme hier schon noch eine Weile allein zurecht. Wirklich. Es ist nicht so schlimm wie du dir das vorstellst.“ 

 Es dauerte einige Sekunden, bis Joey sich wieder rührte. Sein düsterer Gesichtsausdruck sprach Bände über seine Gedanken, doch er überraschte Yugi, indem er stockend nickte. „Also … gut. Dann schwirre ich erstmal wieder ab. Aber ich sag dir eins, Kumpel. Sollte dir was passieren oder solltest du mies behandelt werden, dann schlage ich dem Pharao so auf die königliche Schnauze, dass selbst den Götter die Zähne ausfallen, kapiert?“
 Auch wenn Yugi nicht nach Lachen zumute war, flog ein ehrliches Lächeln über seine Züge. „Danke Joey.“, antwortete er leise. „Pass bitte auf dich auf, ja? Und hör ein wenig auf Mana. Sie ist die einzige Verbindung in diese Welt, die wir haben. Wir müssen ihr vertrauen.“ Joey schenkte ihm noch einen ungehaltenen Blick, wandte sich dann um und stapfte unwillig davon. Yugi stieß die Luft aus, die er angehalten hatte und fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht. 

 Ein leises Schnauben ließ ihn aufhorchen. Sein Blick fiel auf die massige Löwin, die bis dahin erschöpft geschlafen hatte. Ihre Lefzen zuckten leicht und Yugi schob sich so leise wie möglich zwischen den Büschen hindurch und eilte in den Palast zurück. Er wollte nicht in ihrer Nähe sein, wenn sie erwachte.

 Mit ungelenken Schritten hastete er in den nächstbesten Raum, ließ die Tür laut hinter sich ins Schloss fallen und ächzte leise. Seine Gedanken rasten wirr umher und er schloss einen Moment die Augen um sich zu sammeln. Er musste über all das nachdenken, was er gerade gehört hatte. Nachdenklich schürzte er die Lippen, öffnete die Augen – und sah direkt in das Gesicht des Pharaos, der mit hochgezogenen Augenbrauen vor ihm stand. Yugi spürte, wie ihm der Mund aufklappte und er schloss ihn so hastig, dass es ihm einen froschähnlichen Laut entlockte. Peinlich berührt kratzte er sich an der Nasenspitze. „Oh… Ähm… ich wusste nicht, dass Ihr hier seid. Ich… dachte Ihr wärt bei der Prozession.“ Der Versuch sein überfallartiges Eintreten zu entschuldigen, brachte ihm nur einen abwertenden Blick des Pharaos ein.
 „Ich bin dir keine Rechenschaft über meine Anwesenheit schuldig.“

 Yugis Wangen brannten. Er öffnete mehrmals den Mund, aber da ihm keine intelligente Erwiderung einfiel, schwieg er. Nach einigen Augenblicken in quälender Stille trat ein Diener ein und begann damit Atemu das Leopardenfell abzunehmen und es mit dem blauen Schmuckgürtel auszutauschen, den er am Morgen noch getragen hatte. „Sag mir, Yugi, was war deine Aufgabe in deiner Heimat?“
 Irritiert sah Yugi auf, er verstand die Frage des Pharaos nicht richtig. „Meine Aufgabe?“ wiederholte er gedehnt. 
 Atemu wandte seinen Blick betont langsam von dem Diener ab. „Aufgabe, Beruf – nenne es wie du willst, aber antworte, wenn dir Fragen gestellt werden.“ In seinen Augen lag eine spürbare Ungeduld. Und eine eisige Kälte.
 Yugi versteifte sich unwillkürlich. „Nun… ich … ich war…“, begann er und zögerte dann. Wie sollte er dem Pharao verständlich machen, dass er eigentlich ein ganz normaler Schüler war, der gerade den Abschluss an der Oberstufe machen sollte? Er schüttelte leicht den Kopf und entschied sich für eine andere Variante. „Ich habe meinem Großvater geholfen. Er ist … Händler“
 Atemu schwieg, aber er schien vorerst zufrieden mit der Antwort. „Kannst du schreiben? Lesen?“ 
 Yugi nickte, stockte plötzlich und schüttelte den Kopf. „Nicht die hiesige Sprache“, gab er zu, was Atemu ein verächtliches Schnauben entlockte. 
 „Zusammengefasst bist du also gänzlich nutzlos.“
 Yugi schnappte empört nach Luft. „Nutzlos? Verzeiht, Pharao, aber das ist…“ eine Frechheit, dachte er „…nicht sehr gerecht.“ sagte er.
 Atemu schlüpfte in die weißen Leinenschuhe, die sein Diener ihm bereit hielt. „Gerecht? Du bist in keiner Position um Gerechtigkeit einzufordern zu können.“ Er wandte Yugi den Rücken zu und trat näher an den Schreibtisch heran. „Du erhältst hier Kost und Unterkunft, glaubst du, dass ich dafür keine Gegenleistung erwarte?“
 Yugi schnaubte und murmelte an sich selbst gewandt unter zusammengebissenen Zähnen: „Kost und Unterkunft? Ich lebe hier wie ein verdammtes Haustier.“
 Die Ohrfeige traf ihn so hart und unvorbereitet, dass er mit einem unterdrückten Aufschrei zu Boden ging. 
 "Ich würde dir raten, deine Zunge im Zaum zu halten, Gossenjunge." Atemus Stimme bebte vor Wut und Yugi biss sich auf die Zunge um jeden weiteren Laut zu unterdrücken. Mit zitternden Fingerspitzen fuhr er sich über die brennende Wange. Es war ein verdammt harter Schlag gewesen. Fassungslos hob Yugi seinen Blick und sah zu dem Pharao auf, der mit noch immer erhobener Hand vor ihm stand. Als sich ihre Blicke trafen, flackerte plötzlich etwas Atemus violetten Augen. Langsam senkte er seinen Blick auf die zum Schlag erhobene Hand, sah zurück in Yugis Gesicht und verharrte dort. Sekunden vergingen, in denen der Pharao reglos vor Yugi stand, der Blick starr, die Augen leicht geweitet. Seine Lippen öffneten sich, doch er sagte kein Wort. Mit einem Mal fuhr Atemu herum und verschwand zu schnell um noch gefasst zu wirken. Yugi starrte ihm nach, bis er ihn nicht mehr sehen konnte.
 Seine Wange brannte noch immer. ~oOo~ „…und das war alles.“ Mahads rechte Augenbraue zuckte, als Mana ihre Geschichte beendetet hatte. Er schwieg lange, um vollständig nachzuvollziehen zu können, was er gerade gehört hatte. Ein Räuspern von Seto riss ihn schließlich aus seinen Gedanken. „Glaubst du ihr, Mahad?“
 Mana zuckte unter dieser direkten Frage sichtlich zusammen. Mahad zögerte mit der Antwort. Nachdenklich ließ er seinen Blick über das Gesicht seiner jungen Schülerin schweifen. So blass und aufgewühlt hatte er sie noch nie erlebt. Auch wenn die Geschichte abstrus klang, hatte er das Gefühl, dass Mana die Wahrheit gesagt hatte. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr und hob den Kopf, als Ishizu näher heran trat. Sie sah ihn an, aber schien gedankenverloren durch ihn hindurch zu blicken während sie sprach. „Während meiner Zeit als Jungpriesterin habe ich einmal eine Schriftrolle gelesen, in der das Auge des Re als reales Artefakt dargestellt wurde. Ich habe es damals für eine Legende oder eine Art Metapher gehalten, aber vielleicht…“
 Sie kam nicht dazu ihren Satz zu beenden, denn plötzlich fuhr Mana von ihrem Stuhl hoch. „Natürlich existiert es! Ich sage die Wahrheit! Warum sollte ich in so einer wichtigen Angelegenheit lügen?“
 Seto schnaubte. „Es ist schwer, jemandem zu glauben, der es mit der Wahrheit oftmals nicht so genau nimmt.“ Mahad hob schnell eine Hand als er sah, wie die Farbe gänzlich aus Manas Gesicht wich. „Lass es gut sein, Seto. Es mag sein, dass Mana mehr Flausen im Kopf hat, als eine Jungpriesterin haben sollte, aber sie lügt nicht. Ich glaube ihr und das sollte dir genügen.“
 Seto schnaubte erneut und stieß sich dann von der Wand ab, an der er gelehnt hatte. „Nun gut. Das Auge des Re also.“ Er schwieg einen Moment und warf Mana einen durchdringenden Blick zu. „Pranken des Löwen. Bewacher der Toten. Was soll das überhaupt heißen? Es klingt eher, als hättest du wieder einmal nicht richtig zugehört.“ „Seto, es reicht!“ Mahad spürte wie der Ärger in ihm aufstieg. „Es wäre uns mehr geholfen, wenn du deine Aufmerksamkeit mehr auf das vorliegende Problem und weniger auf Mana legen würdest.“
 „Meines Erachtens sind das vorliegende Problem  und Mana recht eng miteinander verknüpft. Wie sollen wir mit diesen wenigen Angaben arbeiten?“

 „Die Sphinx.“
 Ishizus nachdenklicher Einwurf unterbrach Seto und zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. Ihre blauen Augen schimmerten hell. „Es ist die Sphinx.“
 Mahads Augenbrauen hoben sich überrascht. „Natürlich,,“ murmelte er. „Ein Löwe…“ 
„..…als Bewacher der Toten.“ Beendete Ishizu seinen Satz. „Das verkompliziert die Sache allerdings.“ 

 Seto massierte sich mit spitzen Fingern die Nasenwurzel und schüttelte leicht den Kopf. „Sakkara also. Gut. Ich werde einen Trupp zusammenstellen und schnellst möglich aussenden. Dann sollte das Artefakt bald in unseren Händen sein, sofern es existiert.“ Mahad merkte, wie ihm einen kurzen Moment der Mund vor Überraschung offen stand. „Das meinst du doch jetzt nicht Ernst? Du willst nach Sakkara?“
 Seto zuckte mit den Schultern und musterte Mahad abschätzig. „Ich gehe nicht davon aus, dass sich das Artefakt gnädigerweise selbst auf den Weg macht.“
 „Muss ich dich daran erinnern, dass Sakkara mitten im Feindesland liegt? Seto, wir haben Krieg, wir können nicht einfach durch Unterägypten reisen!“
 Ein durchdringender Blick von Seto traf ihn und Mahad verschränkte betont entschlossen die Arme. Setos Oberlippe zuckte unwillig. „Ich brauche keine Belehrungen, Mahad. Wenn das Auge in Sakkara liegt, muss es von dort geholt werden.“

 Noch ehe Mahad etwas erwidern konnte, mischte Ishizu sich ein. „Es ist gefährlich,“ bemerkte sie nachdenklich. „An der Front herrscht eine sehr brüchige Ruhe. Wenn auch nur einer unserer Männer gefangen werden würde, könnte das zu einer Kettenreaktion führen.“
 Seto massierte erneut seine Nasenwurzel. „Auch das ist mir bewusst, Ishizu, danke für diesen unnötigen Exkurs.“ 

 Mahad spürte, wie eine Ader an seiner Stirn zu pochen begann. „Ich glaube tatsächlich, du bist nicht bei klarem Verstand.“, zischte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Du stellst dich gegen jede Anweisung unseres Pharaos. Ist dir bewusst, dass du Landesverrat begehen willst?“
 Seto knurrte leise und erhob sich. „Der Einzige, der nicht bei klarem Verstand ist, ist unser Pharao.“
 „Achte auf deine Worte, Seto, ich lasse nicht zu, dass du in meiner Gegenwart so respektlos über unseren Pharao sprichst!“
 „Willst du es nicht begreifen, Mahad? Der Pharao ist nicht mehr in der Lage, klare Entscheidungen zu treffen. Mir ist sein irrationales Verhalten schon lange aufgefallen. Wenn er so weitermacht, geht dieses Land vor die Hunde, zusammen mit allen, die sich in falschem Pflichtbewusstsein verrannten. Das werde ich nicht zulassen und wenn es gegen seinen Willen ist!“
 Mahad erhob sich in einer so wütenden Bewegung, dass sein Hocker umkippte. „Du willst dich tatsächlich gegen eine Entscheidung stellen, die wir im Rat der Hohepriester getroffen haben?“
 „Seit wann triffst du die Entscheidungen alleine?“
 „Ich treffe sie nicht alleine. Ishizu ist der gleichen Meinung wie ich. Solltest du dennoch einen Trupp lossenden, werden wir alles in unserer Macht stehende tun, um das zu verhindern.“

 „Nun hört doch auf!“ Ishizus Stimme peitschte scharf durch den Raum und hinterließ gepresste Stille. „Mahad, wir müssen handeln. Du warst doch selbst anwesend, als Pharao Atemu das Gebet im Tempel verweigert hat. Kein Pharao zuvor hat je…“ Mahad unterbrach sie mit einem harschen Laut. „Stellst du dich auf Setos Seite? Ich hätte dich für vernünftiger gehalten, Ishizu.“
 „Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, dass es so nicht weiter gehen kann. Eine überhastete Abreise nach Sakkara wäre jedoch der falsche Weg. Ihr habt beide Recht und Unrecht gleichermaßen.“
 Setos Blick verdüsterte sich. „Du machst es dir ganz schön leicht, nicht wahr? Du sprichst jedem ein wenig nach dem Mund, aber deine eigene Meinung kund zu tun ist dir ein zu hohes Risiko. Ich für meinen Teil werde das tun, was ich für das Wohl dieses Landes als richtig erachte. Das ist meine Pflicht als Hohepriester. Versteckt ihr euch weiterhin hinter gedankenlosem Pflichtbewusstsein und feiger Kompromissbereitschaft.“ Mit diesen Worten fuhr er herum und verließ den Raum in weit ausgreifenden Schritten. Mahad sah ihm lange nach und versuchte das wütende Beben seiner Hände zu unterdrücken. Er musste Seto irgendwie aufhalten!

 „Hörst du überhaupt zu?“
 Mahad zuckte leicht zusammen und wandte sich Ishizu zu, die augenscheinlich schon eine Weile mit ihm gesprochen hatte, ohne dass er auch nur ein Wort wahrgenommen hatte.
 „Ich habe…“, begann der Hohepriester, wurde jedoch sofort von Ishizu unterbrochen, die mit zornig blitzenden Augen auf ihn zu trat.  
 „Nicht zugehört. Ja, das ist mir durchaus bewusst. Kannst du mir dein Verhalten gerade bitte erklären? Seit wann bist du der alleinige Vorsitz des Rates und kannst Entscheidungen fällen?“
 „Fang jetzt nicht auch noch du damit an, Ishizu. Es ist doch...“
 „Anfangen? Ich konnte bisher nicht einmal mitreden! Ich stehe auf der gleichen Ebene wie du, ich habe das gleiche Entscheidungs- und Vetorecht und doch erdreistest du dich, mir über meinen Kopf hinweg eine Meinung anzudichten!“
 „Das war nicht…“
 „Du behandelst mich vor Seto wie eine Schülerin, die nur dafür da ist, deine eigenen Entscheidungen zu bejahen. Und wenn ich das nicht tue, fühlst du dich persönlich angegriffen und sprichst mir jegliche Vernunft ab. Hast du schon einmal daran gedacht, dass vielleicht du derjenige bist, der falsch liegt?“
 Mahad war zu überrascht, als dass er es auf eine weitere Erwiderung ankommen ließ. Stattdessen verschränkte er die Arme, wandte Ishizu den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. Er hörte sie noch einmal aufgebracht schnauben, ihre schnellen Schritt, die sich von ihm entfernten und die Tür, die so heftig ins Schloss fiel, dass er zusammenzuckte. „Hysterische Gans“, entfuhr es dem Hohepriester leise und er wischte sich hastig mit der Hand über den Mund.

 Es wurde still im Raum. So still, dass er seinen eigenen, unruhigen Atem übermäßig laut hören konnte. Mahad schloss die Augen und atmete mehrere Male betont langsam ein und aus. Er war noch immer wütend. In diesem Zustand konnte er nicht klar denken. Waren Ishizu und Seto beide verrückt geworden? Sie konnten doch nicht tatsächlich auch nur einen Gedanken daran verschwenden, den Pharao zu hintergehen. Sollten sie in Unterägypten gefasst werden, würden sie entweder als Spione hingerichtet oder als Pfand gegen den Sieg eingetauscht werden. Doch egal wie – der Krieg würde erneut in aller Härte aufflammen.
 Mahad seufzte. Was sollte er tun? Würde er sich offen gegen sie stellen, müsste er sie des Verrats bezichtigen. Und auf Hochverrat stand seit jeher die Todesstrafe.

 „Ähem…“
 Ein leises Räuspern ließ Mahad herumfahren. Auf einem niedrigen Hocker neben einem Schrank voll Papyrusrollen, saß noch immer, klein und verloren, Mana. Es dämmerte Mahad, dass seine Schülerin den Raum nie verlassen hatte. Er hatte ihre Anwesenheit völlig vergessen.
 „Also…“, murmelte Mana langsam. „Was… ist nun mit der Reise?“
 Der letzte, dünne Geduldsfaden in Mahad riss. Er schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass ein Tonkrug ins Wanken kam und unter lautem Klirren auf dem Boden zerbarst. „Es wird keine Expedition geben! Dieses vermaledeite Auge wird unter der Sphinx bleiben, bis es verrottet! Und wage es ja nicht auch nur daran zu denken, dich hinter meinem Rücken aus dem Staub zu machen! Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, eine Anweisung von mir zu missachten, dann ist deine Ausbildung zur Priesterin noch im gleichen Moment beendet und ich werfe dich höchstpersönlich aus dem Palast, hast du das verstanden!?“
 Als er den erschrockenen Ausdruck in Manas weit aufgerissenen Augen sah, wurde Mahad bewusst, dass er seine Wut nicht mehr unter Kontrolle hatte. Er musste hier raus. 
 Mit wehendem Umhang eilte er den Flur entlang. Es war ihm gleichgültig, dass es wie eine Flucht wirken musste und er blieb erst stehen, als er die sandigen Ufer des Nils erreichte. ~oOo~ Die Sonne war schon längst untergegangen und hatte der Nacht Platz gemacht. Stumm saß Mana auf dem Flachdach ihrer Behausung und starrte zur Mondsichel auf. 
 Sie hatte die Hohepriester noch nie so erlebt. Vor allem Mahad nicht. Sie hatte einen Moment lang tatsächlich Angst vor ihm gehabt. Würde Mahad die Drohung wahr machen? Würde er sie tatsächlich rauswerfen? Die Ausbildung zur Magierin war der größte Wunsch ihres Lebens, sie hatte doch so hart dafür gearbeitet. Seufzend lehnte Mana sich zurück und baumelte mit den Beinen. 

 „Ach da bist du. Ich hab dich schon überall gesucht. Und damit meine ich wirklich überall. Wusstet du, dass die Bediensteten in der Küche etwas verschnupft reagieren, wenn man da einfach rein latscht?“
 Mana schrak zusammen, als plötzlich eine Stimme zu ihr drang und linste überrascht über die Dachkante. Joey grinste breit zu ihr auf und zog sich mit einem kräftigen Ruck nach oben, wo er sich mit einem schweren Ächzen neben sie fallen ließ. Eine Weile herrschte ein unangenehmes Schweigen, bis Joey schließlich seufzte und verlegen mit den Fingern Kreise in den Staub malte. 
 „Du, ich wollte… hm… also… sorry, wegen vorhin. Ich hätte dich nicht so anschreien sollen. Das war alles irgendwie etwas viel und … ach, ich weiß auch nicht. Sorry.“ Mana zwang sich zu einem leichten Lächeln. „Schon gut. Heute ist alles einfach verrückt.“ 
 Sie schwiegen wieder.

 „Und was macht Yugi?“
 „Der wollte bei dem Obermu-… Pharao bleiben. Er sagte, wir sollten erstmal einen guten Plan zurecht schustern, statt blindlings ins Verderben zu laufen.“
 „Ja. Das ist vernünftig.“
 Stille.

 „Und was war bei dir so? Hast du schon mit Mahad gesprochen?“
 Die Frage verursachte bei Mana Zahnschmerzen. „Ja. Aber irgendwie ist das alles aus dem Ruder gelaufen. Am Ende schrie jeder jeden an…“ 
 Sie seufzte und schüttelte den Kopf, als könnte sie dadurch das schale Gefühl abstreifen, das zurückgeblieben war. 
 „Ach, sowas gehört doch auch mal dazu. Einmal ordentlich Luft machen und dann sieht die Welt schon wieder anders aus.“ Joey fuhr sich salopp durchs Haar und schenkte Mana ein aufmunterndes Grinsen. Im Mondlicht glänzten seine hellen Haare wie silberne Fäden und zogen Manas Bewunderung auf sich. Erst nach einer Weile wurde ihr bewusst, dass sie Joey deutlich zu lang angestarrt hatte. Hastig fuhr sie sich mit einer Hand über das Gesicht um die Röte zu verbergen, die mit einem Mal über ihre Wangen floss. 
 „Das ist nicht so einfach“, beeilte sie sich zu sagen, zog die Beine an und umklammerte ihre Knie mit den Armen. „Weißt du, Mahad und Ishizu sind für mich der Fels in der Brandung. Sie sind immer ruhig, gelassen und vernünftig. Ich wollte immer so sein wie sie.“ 
 Nachdenklich legte sie ihr Kinn auf ihre Knie und sah zu Joey hinüber, der sie mit einem seltsamen Grinsen musterte. „Was ist?“ fragte sie herausfordernd, aber Joey grinste nur noch breiter, hob eine Hand und wuschelte ihr freundschaftlich durch die langen Haare. „Du passt genau so, wie du bist. Außerdem kannst du gar nicht so werden wie Mahad. Seine Tunika wäre dir viel zu groß.“
 „Was …?“ Mana starrte ihn mit offenem Mund an, doch dann begann sie leise zu kichern. „Du bist echt ein Blödmann.“ 
 Joey zwinkerte albern, wurde dann aber wieder ernst und starrte in den Nachthimmel. „Ich weiß schon was du meinst…“, murmelte er dann leise. „Für mich ist Yugi so eine Person. Er ist immer da wenn ich ihn brauche. Er rückt mir den Kopf zurecht, wenn ich wieder mal durchdrehe und ich kann mich immer auf ihn verlassen.“ Als er sich wieder zu ihr umwandte, strahlte er eine solche Ernsthaftigkeit aus, dass Mana eine Gänsehaut bekam. „Ich will und ich werde Yugi da raus holen“, fuhr er entschlossen fort. „Da wird mich niemand aufhalten. Und wenn ich dafür dieses Auge brauche, dann hole ich es.“
 Mana spürte, wie ihr Herz einen Moment aussetzte, ehe es merklich schneller zu pochen begann. Unruhig rutschte sie auf ihrem Sitzplatz umher. „Das ist… nicht so einfach,“, entgegnete sie matt. „Der Weg ist sehr weit und wirklich gefährlich.“ 
 Joey wischte ihren Einwand mit einer lässigen Handbewegung beiseite. „Besser als hier zu sitzen ist es aber allemal.“ 

 In Manas Nacken begann es zu kribbeln. Sie wusste, dass Joey sie schon längst überredet hatte. Sie wollte nichts mehr, als Atemu zu helfen wieder zu dem zu werden, der er gewesen war – egal ob es gefährlich wurde oder nicht. Doch Mahads Worte hallten in ihren Ohren nach. Wenn sie Joey begleitete, würde sie alles verlieren, was sie sich aufgebaut hatte. Es stach schmerzhaft in ihrer Brust. 
 „Du musst nicht mit, wenn du nicht willst. Sag mir einfach, wo ich hin gehen muss.“ 
Joeys Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie wandte sich zu ihm um und zuckte leicht zusammen, als sie sah, wie nah er ihr war. Er hatte sich zu ihr vorgebeugt und sah sie ernst an. In seinen braunen Augen lag eine solche Willensstärke, dass etwas in Mana zerriss. 
 „Karten.“, murmelte sie leise. „Wir brauchen Landkarten.“
 „Wir?“ Joeys Mundwinkel zuckten leicht.
 Mana holte noch einmal tief Luft, dann nickte sie. „Ja. Wir.“ 


 Kapitel 8: Königsgambit ----------------------- Yugi schrak auf, als vorwitziges Palmenblatt mit präziser Treffsicherheit auf seinem Gesicht landete. Verwirrt rappelte er sich auf und fuhr sich unkoordiniert durch die wirren Haare. Er war scheinbar doch kurz eingenickt. Wieder traf ihn das Palmenblatt, diesmal direkt in den Nacken und er nahm es zum Anlass aufzustehen. Er ächzte. Es war unerträglich heiß heute. Auch wenn am späten Nachmittag ein starker Wind aufgekommen war, so brachte dieser doch nichts weiter mit sich, als die drückende Hitze der weitläufigen Wüsten. Als ihn das Palmenblatt nun zum dritten Mal traf, maulte Yugi leise und setzte sich im Schneckentempo in Bewegung. Während er ziellos durch den Garten wanderte, musste er sich eingestehen, dass ihm tatsächlich langweilig war. Er hatte nichts mehr von Mana und Joey gehört, Schesemtet war unauffindbar und da das Fest in Theben noch immer tobte, war auch der Palast fast gänzlich ausgestorben. In den ersten Stunden hatte Yugi diesen Umstand genossen. Nach all der Aufregung der vergangenen Zeit hatte ihm diese Ruhe sehr gut getan. Doch nach und nach war in ihm ein Gefühl der Leere entstanden. Er wusste einfach nicht, was er überhaupt tun sollte. Mana und Joey hatten eine Aufgabe, ein greifbares Ziel, das es zu erreichen galt. Aber er? Er hangelte sich vom Frühstück zum Abendessen und tat sonst nicht viel, außer ein Versteckspiel mit dem Pharao zu führen, der von seiner Teilnahme daran rein gar nichts wusste. War es Ironie des Schicksals, dass Yugi sich tatsächlich genauso nutzlos fühlte, wie der Pharao ihn genannt hatte? Seufzend trat Yugi nach einem kleinen Steinchen, verfehlte es deutlich und wandte sich unwillig ab. Eine Bewegung unweit von ihm zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Yugi zuckte leicht zusammen. Es war Pharao Atemu, der dort auf einem aufwändig gewobenen Teppich im Halbschatten eines Perseabaumes saß und gedankenverloren auf eine ausgebreitete Papyrusrolle blickte, die auf seinen Knien lag. Yugis erste Reaktion bestand darin, sich tiefer hinter den Schutz des Busches zu ducken. Doch dann zögerte er. Hatte er sich nicht gerade in Gedanken beschwert, dass er sich nutzlos fühlte? Was tat er also hier? Wenn er dem Pharao weiterhin nur auswich, würde er garantiert nichts erreichen. Mit etwas Mühe schluckte er den schalen Geschmack von Unwohlsein hinunter, straffte die Schultern und nahm den direkten Weg durch das Unterholz. Als Yugi sich mit der Geschmeidigkeit eines hinkenden Flusspferdes durch das störrische Gebüsch wühlte, sah Atemu auf und musterte ihn lange. Yugi zupfte sich schnell ein Blatt aus den Haaren und schenkte seinem Gegenüber ein offenes Lächeln, doch es gefror ihm im Gesicht, als der Pharao nur ein abwertendes: „Sehr elegant.“ von sich gab. Da stand er nun. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Ihm fehlte eindeutig die Übung darin, ein Gespräch mit einem Staatsoberhaupt zu beginnen. Einem nicht allzu gut gelaunten Staatsoberhaupt, um genau zu sein. „Was willst du?“ Atemu klang genervt und Yugi beeilte sich sein Lächeln wieder gerade zu rücken. „Ich habe mich gefragt, ob ihr vielleicht Gesellschaft wünscht“, begann er langsam und suchte nach einer Möglichkeit, diese lahme Ausrede in ein besseres Licht zu rücken. „Es ist… ja doch sehr ruhig momentan im Palast.“ „Dass ich die Gesellschaft eines Gossenkindes wünsche, ist ebenso wahrscheinlich, wie die Sichtung eines weißen Löwen.“ Yugi unterdrückte ein Seufzen. Er sehnte sich nach seinem gewohnten Leben zurück, wo es das Schwierigste gewesen war, mit Seto Kaiba auszukommen. Aber selbst mit Kaiba war es einfacher gewesen, ein Gespräch am Laufen zu halten. Yugi war ratlos. Nach einer Weile des drückenden Schweigens, presste Atemu Daumen und Zeigefinger so fest  auf seine Nasenwurzel, dass auf der Haut weiße Abdrücke sichtbar wurden. „Bei Seths heiligem Andenken… Wenn du schon da bist, dann mach dich wenigstens nützlich!“, stieß er hervor und deutete auf seine Schulter. „Nimm meinen Umhang ab und bring ihn in den Palast.“ Yugis Augenbraue zuckte, aber er verkniff sich jegliche Frage, warum der Pharao den Umhang nicht einfach selbst abnahm, wenn ihm zu warm war. Zögerlich trat er näher. Atemu hatte sich bereits wieder in sein Papyrus vertieft und schien ihn zu ignorieren. Nervös begann Yugi an einer Falte des Umhangs herum zu zupfen. Er nahm einen warmen Geruch wahr, eine Mischung aus Ölen und Blüten, die auf seiner Nasenspitze kribbelte. Yugis Fingerspitzen fuhren fahrig über den schweren Stoff, suchten nach einer Möglichkeit ihn zu lösen und glitten plötzlich über Atemus bronzene Haut. In gleichen Moment, in dem Yugis Fingerspitzen aus Versehen in Atemus Nacken zum Liegen kamen, zuckte der Pharao wie unter einem Schlag zusammen. Er fuhr herum und schlug Yugis Hand so heftig davon, dass dieser durch die Wucht nach hinten kippte. „Was…“, begann Atemu zischend, unterbrach sich dann aber mit einem Keuchen. Seine Hand verkrampfte sich so fest in der Vorderseite seiner Tunika, dass die Adern hervor traten. „Pharao? Verzeihung… Was ist denn passiert? Pharao??“ Entsetzt rappelte Yugi sich auf, doch genauso schnell, wie der Schwächeanfall gekommen war, war er auch schon wieder vergangen. Atemus verkrampfte Muskeln entspannten sich, sein Atem wurde wieder ruhiger. Langsam fuhr er sich mit einer Hand über die Augen, hob dann den Blick und sah Yugi fragend an. „Wann bist du…“ Er zögerte, schüttelte fast unmerklich den Kopf und setzte neu an. „Sag mir Yugi, hast du meinen Diener Mentu gesehen?“ Yugis Unterkiefer klappte nach unten. Atemus Augenbrauen zogen sich fragend zusammen. „Ist etwas?“ „Nein, es ist…“ …nur das erste Mal, dass du meinen Namen nennst, statt eine Beleidigung zu verwenden. „…gar nichts“, haspelte Yugi. Atemu musterte ihn einen Moment irritiert, schwieg jedoch und erhob sich. Der purpurne Umhang glitt mit einem samtigen Laut von seinen Schultern und begrub Yugi, der unter dem Gewicht des Stoffes ächzte. Als er sich ungelenk daraus hervor wühlte, hörte er einen Laut, der ihn verwundert inne halten ließ. Der Pharao lachte. Es war nur ein leises Lachen, aber es war weich und so warm, dass es Yugi ein Lächeln auf das Gesicht trieb. Verlegen schob er den Umhang beiseite und sah zu Atemu auf. Die kleinen Lachfältchen, die hervor traten, nahmen dem ernsten Gesicht die einschüchternde Strenge und zum ersten Mal fiel Yugi auf, wie jung der Pharao eigentlich war.  Ein leises Rascheln zog Yugis Aufmerksamkeit auf das nebenliegende Gebüsch und obwohl es nicht das erste Aufeinandertreffen war, so erschrak er doch wieder, als plötzlich der breite Löwenkörper Schesemtets auftauchte. Unwillkürlich zog Yugi sich etwas zurück und musterte das Tier misstrauisch. „Keine Angst, Yugi.“ Atemu war einen Schritt nach vorne getreten und streichelte der Raubkatze sanft über den Kopf. „Das ist Schesemtet, meine treueste Gefährtin.“ „Aber… es ist ein Löwe. Ist das nicht … gefährlich?“ Atemu lächelte. „Genau genommen ist es doch nur eine etwas groß gewachsene Katze. Verspielt und eigenwillig, aber auch loyal und anhänglich.“ Yugi warf dem Pharao einen zweifelnden Blick zu. „Gab es die nicht im Taschenformat und etwas weniger … unhandlich?“ Atemus Oberlippe zuckte und wenig später brach er erneut in ein leises Lachen aus. Ein überraschter Laut unterbrach ihn. Als Yugi sich umwandte sah er einen Palastdiener, der wie versteinert da stand und den Pharao mit offenem Mund anstarrte. In der linken Hand trug er eine Karaffe, die er mittlerweile so schief hielt, dass er mit der darin befindlichen Flüssigkeit den Rasen tränkte. „Mentu?“ Als der Pharao ihn ansprach, zuckte der Diener so heftig zusammen, dass er den Krug in einem Schwall zur Gänze leerte. Mit kreidebleichem Gesicht warf er sich auf die Knie und neigte sich nach vorn, bis seine Stirn das Gras berührte. „Verzeiht mir großer Pharao, es war ein Versehen. Ich wollte nicht… will sagen, ich war nur … ich habe Euch…. Was ich meine, ist…“ Atemu hob eine Hand und winkte ab. „Es war nur Wein, Mentu. Nicht der Rede wert. Sag mir, sind die Frontberichte eingetroffen, auf die ich warte?“ Mentu, der allem Anschein nach mit allem gerechnet hatte, aber nicht mit dieser Gleichmütigkeit, nickte mechanisch. Atemu überlegte einen Moment und legte dann eine Hand auf den Rücken seiner Löwin. „ Das ist gut. Komm Schesemtet. Es wird Zeit einen Blick hinein zu werfen. Danke Mentu, du kannst gehen.“ Als der Pharao, flankiert von der großen Raubkatze, zum Palast zurückging, sah Yugi ihm nach, bis er ihn nicht mehr sehen konnte. Erst jetzt spürte er, wie schnell sein Herz in den letzten Augenblicken geschlagen hatte. Hastig wandte er sich um und versuchte die Röte zu ignorieren, die ihm in die Wangen stieg. Er hob den Blick und sah direkt in die aufgerissenen Augen des Dieners, der noch immer wie festgegossen da stand. Yugi zögerte, hob dann eine Hand und berührte den Ägypter vorsichtig an der Schulter. Mentu zuckte zusammen wie unter einem Stromschlag, doch es löste die Anspannung unter der er gestanden hatte. „Er hat gelacht“, murmelte er schleppend. „Bei Osiris! Der… Pharao hat … gelacht?“ Yugi lächelte leicht. „Na und? Darf er das etwa nicht?“ Mentu wandte langsam den Kopf und musterte Yugi, als sei er sich nicht ganz sicher, ob er ihn für unglaublich weise oder unerträglich beschränkt halten sollte. „Mit jedem Jahr, das seit seiner Thronbesteigung verging, wurde unser großer Pharao ernster“, begann Mentu langsam „Seit fast zwei Jahren hat ihn niemand je wieder zum Lachen gebracht.“ Der Diener schwieg, doch es war Yugi, als könnte er dessen Gedanken hören. Niemand Yugi. Außer du. ~oOo~ Theben war endlich zur Ruhe gekommen. Die Feier war verebbt und die wenigen, die noch in den Straßen unterwegs waren, waren meist noch so betrunken, dass sie nicht ansprechbar waren. Im Schutz der Nacht schlich Mana durch die engen Gassen und Flure des königlichen Palastes. Sie lief schnell und leise, tauchte von einem Schatten in den nächsten und verschmolz mit jedem Vorsprung den die Mauer ihr bot. „Es ist nicht mehr weit“ flüsterte sie leise und obwohl sie sich nicht nach hinten umsah, glaubte sie zu wissen, dass Joey nickte. Vorsichtig bog sie um eine Ecke, quetschte sich durch einen dünnen Mauerspalt – und erschrak bis ins Mark, als plötzlich die hochgewachsene Gestalt Priester Setos vor ihr auftauchte. „Mana. Joey. Dachte ich mir doch, dass ich euch hier antreffen würde.“ Unbeholfen zog das Magiermädchen den Umhang von ihrem Kopf und biss sich nervös auf die Unterlippe, doch bevor sie einen Ton sagen konnte, wurde sie von Joey zur Seite geschoben. Mit wütend blitzenden Augen trat er auf den Hohepriester zu, die Hände demonstrativ zu Fäusten geballt. Seto musterte ihn emotionslos, schüttelte dann den Kopf und seufzte „Was soll das werden, wenn es fertig ist?“, fragte er gedehnt. „Habt ihr überhaupt irgendeine Ahnung auf was ihr euch da einlasst?“ In einer Bewegung, die Selbstsicherheit ausstrahlen sollte, schließlich aber doch nur trotzig wirkte, verschränkte Mana die Arme vor der Brust. „Hast… Hast du nicht selbst gesagt, dass man das Auge holen müsse?“ „Natürlich. Aber ich habe von einer gut geplanten Expedition gesprochen und nicht von zwei verbohrten Dickschädeln, die wie blinde Nattern in ihr Verderben rennen.“ „Aber-“ „Nichts aber, Mana!“ Der schneidende Ton in Setos Stimme mahnte deutlich ihn nicht weiter zu reizen. Im Gegensatz zu Mana, die sofort verstummte, schien Joey sich davon jedoch nicht beeindrucken zu lassen. „Jetzt hör mir mal zu du, Oberpfaffe“, blaffte er los und schüttelte seine Faust. „In der Bonzen-Hütte da hinten spielt mein bester Kumpel Babysitter für einen Kerl, der offenkundig nicht ganz knusprig ist. Yugi hat mich immer rausgeboxt, egal in was für einer Scheiße ich schon gesteckt habe und jetzt sitzt er da oben, wartet auf mich und ich soll mich von so einer Type wie dir aufhalten lassen? Das kannst du echt knicken, Alter. Es ist mir völlig schnurz, wie gefährlich es wird. Ich habe Yugi mein Wort gegeben und werde es halten, selbst ich dabei draufgehe. Ich werde ich jetzt dieses alberne Auge holen und wenn Mana mich begleiten will, dann geht sie gefälligst mit, scheißegal, ob dir das passt oder nicht. Im Gegensatz zu dir tut sie wenigstens was, um eurem Pharao zu helfen, während du in deinem bodenlagen Tütü nur mordsmäßig würdig durch die Flure wandelst und schlaue Reden schwingst. Also sieh zu, dass du Leine ziehst oder es wird ungemütlich, kapiert?“ Mana war so entsetzt, dass sie nichts weiter von sich geben konnte, als ein ersticktes Stöhnen. Tränen schossen ihr in die Augen, als ihr die Konsequenzen von Joeys Unverschämtheit bewusst wurden. Seto hatte wenig Geduld. Er hatte Auspeitschungen schon aufgrund geringerer Vergehen angeordnet. Der Hohepriester straffte sich und Mana spürte, wie ihre Beine nachgaben. Langsam sank sie auf die Knie und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.  „Dein Ton gefällt mir nicht, Straßenbengel.“ Setos schneidend kalte Stimme trieb Mana eine Gänsehaut über den Rücken. „Es wird mir eine Freude sein, dir dafür eine angemessene Behandlung zukommen zu lassen. Falls ihr lebend zurückkehrt.“ Manas Kopf zuckte so schnell nach oben, dass ihre Zähne aufeinander schlugen. Der Hohepriester musterte sie mit verschränkten Armen. „Ich kann es nicht gut heißen. Ich kann euch auch nicht wissentlich gehen lassen. Aber ich kann davon ausgehen, dass ihr gerade nur einen abendlichen Spaziergang tätigt, was mich nicht zum Handeln zwingt. Sollte aber morgen, nach Sonnenaufgang, auffallen, dass euer Spaziergang länger gedauert hat als beabsichtigt, werden Ishizu und Mahad nach euch suchen lassen. Ich muss und ich werde mich dieser Suche anschließen, es ist meine Pflicht als Untergebener des Pharaos. Wenn ich euch finde, dann werde ich euch in den Palast zurückholen und unter der Anklage des Hochverrats vor Gericht bringen.“ Mana öffnete die Lippen um zu antworten, doch sie brachte keinen Laut hervor. Nach einigen Augenblicken, die sich unter Setos stechendem Blick wie eine Ewigkeit dehnten, fuhr der Hohepriester plötzlich herum und verschwand mit wehendem Umhang in der Dunkelheit. Mana schnappte keuchend nach Luft und wischte sich über das schweißnasse Gesicht. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Erleichterung verspürt. „Ich trau dem Kerl nicht.“ drang Joeys Stimme plötzlich durch den Nebel der Euphorie zu ihr hindurch und Mana rappelte sich umständlich vom Boden auf. „Ich weiß nicht, wie der Seto aus deiner Welt ist, Joey. Aber der hiesige steht zu seinem Wort.“ Das Magiermädchen zog den Umhang wieder über ihren Kopf und versuchte, ihre Finger zu beruhigen, die noch immer heftig zitterten. „Hohepriester Seto ist ein enger Vertrauter des Pharao und ich bin mir sicher, dass er sich genauso wie wir alle wünscht, dass Atemu wieder zur Vernunft kommt.“ Joey warf ihr einen schiefen Blick zu. „Hast du mir nicht erzählt, dass er während deinem Gespräch mit Mahad völlig gaga war?“ „Wenn du das formulierst, klingt das alles immer so negativ“, maulte Mana genervt und stapfte hölzern an Joey vorbei. „Priester Seto steht im Rang theoretisch über Mahad und Ishizu, aber er kann nicht einfach über ihre Köpfe hinweg entscheiden. Sie können diskutieren, streiten, sich die Köpfe einschlagen – im Endeffekt müssen sie einen Kompromiss schließen. Das hier war seine Art, dem Pharao zu helfen.“ Sie lächelte leicht, auch wenn sie selbst merkte, dass es gequält wirkte. „Komm. Wir haben nur wenig Vorsprung. Die Sonne geht bald auf und bis dahin müssen wir so weit vom Palast weg sein wie nur möglich.“ Joey öffnete schon den Mund um etwas zu erwidern, aber Mana schnitt ihm das Wort mit einer schnellen Handbewegung ab. Sie waren mittlerweile an einer kleinen, künstlichen Bucht angekommen, an der die Schiffe mit den täglich benötigten Waren des Palastes vor Anker gingen. Hastig schlich Mana am Ufer entlang, bis sie zwischen den stolzen Feluken endlich ein kleines Papyrusboot fand, das sanft in den Wellen des Nils schaukelte. Mit geübten Griffen lockerte sie das Seil, mit dem das Boot vertäut war und zog es näher an das Ufer heran. Joey schüttelte ungläubig den Kopf. „Ist das dein Ernst? Auf dieser Nussschale sollen wir los? Wir gehen doch baden, bevor wir aus dem Hafen schippern können!“ Augenrollend gab Mana ihm zu verstehen, dass er weniger reden und mehr mit anpacken sollte und raunte: „Keine Sorge. Die Boote sind stabil. Außerdem sind sie leicht zu verbergen und wir sind sicher vor Krokodilen.“ „K-k-k-kroko-di-dilen?“ „Ja. Sie ignorieren die Boote. Wir dürften also nicht in Gefahr laufen, angegriffen zu werden.“ „G-g-ganz s-sicher?“ „Nein. Aber besser als schwimmen, oder?“ Joey antwortete nicht, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht, zeigte deutlich, was er von Manas Beteuerungen hielt. Mit leicht grüner Gesichtsfarbe saß er wie gemeißelt auf dem kleinen Boot und starrte ins Wasser, als würde er erwarten, sofort von allen Seiten von Krokodilen belagert zu werden. Mana schüttelte leicht den Kopf, stieß das Boot mit einer kräftigen Bewegung ab und zog das Ruder ein, um keine auffälligen Geräusche zu machen. Die Strömung des Nils nahm das kleine Schiff an und trieb es langsam voran. Mit klopfendem Herzen sah Mana zu, wie die Mauern des Palastes an ihr vorbei glitten, wie sich das Ufer immer weiter von ihnen entfernte und wie die Lichter Thebens dunkler zu werden begannen. Ihre Kehle war so trocken, dass es schmerzte. Es gab kein Zurück mehr. Ihre große Reise hatte begonnen und sie hoffte inbrünstig, dass die Götter ihr und Joey beistehen würden. ~oOo~ Der Wind hatte gedreht und als die Sonne am Morgen über Theben aufging, brachte er nicht mehr das Glühen der Wüste mit sich, sondern die angenehme Kühle des Nils. Mahad sog tief die Luft ein und trat in den Vorhof des ersten Palastbezirks. Langsam ließ er seinen Blick über den Platz schweifen und zog irritiert die Augenbrauen zusammen. Irgendetwas schien heute anders zu sein, er konnte es nur nicht ganz greifen. Der Palast erwachte und füllte sich mit Beamten, Dienern, Ärzten und Haremsdamen. Es war ein Tag wie jeder andere und doch hatte Mahad das Gefühl, als ob etwas fehlen würde. Der Hohepriester schüttelte leicht den Kopf und erwiderte dann den Gruß eines vorbeieilenden Hofarztes mit einer leichten Handbewegung. Wahrscheinlich sah er schon Gespenster. Es gab keinen Grund zur Nervosität. Es war ein wunderbar ruhiger Morgen und - Mahad stockte. Es war tatsächlich wunderbar ruhig. Viel zu ruhig! Wo, bei allen Göttern, war Mana? Für gewöhnlich turnte sie um diese Uhrzeit schon quer durch den Palast und rief ihm von weitem ein derartig lautes „Guten Morgen, Mahad!“ entgegen, dass halb Theben von seiner Anwesenheit informiert war. Doch heute hatte er noch nicht einmal den kleinsten Zipfel ihres Gewandes gesehen und das obwohl sie für den frühen Tempeldienst vorgesehen war. Hatte sie es vergessen? Nach einem kurzen Moment des Überlegens entschied er sich dazu Ishizu aufzusuchen. Er wusste, dass Mana viel Zeit bei der Hohepriesterin verbrachte. Nur, wie sollte er Ishizu gegenüber treten? Seit dem Eklat im Priesterrat waren sich die Hohepriester konsequent aus dem Weg gegangen. Noch immer lagen all die Beleidigungen und Vorwürfe in der Luft, die sie sich gegenseitig an den Kopf geworfen hatten. Mit einem kleinlauten Seufzen zog sich Mahad das Tuch zurecht, das ihn vor der Sonne schützte. Er gestattete sich noch ein paar Minuten des Abwartens, die er vor sich damit rechtfertigte, dass Ishizu um diese Zeit sicher noch nicht wach war, doch dann straffte er die Schultern und schlug den Weg in das Priesterviertel ein. Vor Ishizus Tür angekommen, hielt er inne. Durch die geschlossene Tür konnte er leises Gemurmel hören und Mahad war sich nicht gänzlich sicher, ob es sich um Ishizus morgendliches Gebet oder eine Unterhaltung mit einer zweiten Person handelte. Leise neigte der Hohepriester sich vor und brachte sein Ohr näher an das Holz heran. Gerade als er glaubte, aus dem Gemurmel einzelne Worte heraushören zu können, sah er aus den Augenwinkeln einen jungen Medjay, der ihn entgeistert musterte. Mahad fuhr zusammen und bemühte sich einen neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen, während er heftiger als gewollt an Ishizus Tür klopfte. Der Medjay ging langsam an ihm vorüber, deutlich irritiert, aber zu respektvoll ergeben, um unangenehme Fragen zu stellen. Als die Wache endlich verschwunden war, schlug Mahad sich mit einer Hand an die Stirn. Er hörte jetzt schon das Getuschel unter den Palastangestellten, die sich daran ergötzten, dass er sich vor der Tür einer alleinstehenden Hohepriesterin die Ohren plattgedrückt hatte. Großartig. „Kopfschmerzen, Mahad? Schon wieder zu viele Entscheidungen mit dir selbst ausgefochten?“ Schon zum zweiten Mal in kurzer Zeit fuhr der Hohepriester heftig zusammen, als Ishizus kühle Stimme zu ihm drang. Im Gegensatz zu sonst, hatte sie die Tür nur einen Spalt geöffnet und sah ihn nicht direkt an, während sie mit ihm sprach. Mahad musste sich eingestehen, dass ihm dieses Verhalten einen Stich versetzte. „Nein. Du weißt, dass ich Entscheidungen für gewöhnlich…“, er unterbrach seinen lahmen Verteidungsversuch und schüttelte den Kopf. „Ishizu, ich hatte nicht wirklich vor, dich aufzusuchen, doch mir bleibt leider keine Wahl. Ich bin auf der Suche nach Mana.“ Noch bevor er Ishizus an sah, wurde Mahad klar, dass er die Sache ganz falsch angefangen hatte. Er öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber der verletzte Ausdruck in ihren Augen traf ihn so tief, dass sein Herz einen Moment aussetze. Ishizu schwieg. Als sie sich abwandte, glaubte Mahad in ihren dichten Wimpern Tränen blitzen zu sehen. Sein Kopf war wie leer gefegt und bevor er realisierte, was er tat, stemmte er bereits die Tür mit einer harschen Handbewegung auf. Kaum, dass er sich seinen Weg in Ishizus Unterkunft gebahnt und die Tür hinter sich geschlossen hatte, zog er die völlig perplexe Hohepriesterin in seine Arme und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. „Verzeih…“ flüsterte er leise. „Bitte verzeih mir, Ishizu.“ Nach einigen Sekunden der Starre, schlangen sich plötzlich Ishizus schlanke Arme um ihn und vergruben sich in seiner weißen Tunika. Mahad sog den warmen Geruch ihres dunklen Haares ein, seine Hand fuhr in ihren Nacken und zwang sie sanft zu ihm aufzusehen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Zeit still zu stehen, als sich die Lippen der Priester zu einem zarten Kuss trafen. Mahads Fingerspitzen glitten ohne sein Zutun über Ishizus Rücken, er fühlte das sanfte Beben ihres Körpers, das er trotz der dichten Tunika spüren konnte. Ein leiser Laut entkam der Hohepriesterin – und katapultierte Mahad zurück in die Realität. Mit einem Keuchen zuckte er zurück und löste sich von Ishizu, die sich erschrocken die Hand auf den Mund legte. Mit einem leisen Fluch fuhr Mahad herum, stützte sich am Fensterbrett ab und schloss die Augen, um sich zu sammeln. Ein tiefes Schweigen begann den Raum auszufüllen. Er hörte das Rascheln von Ishizus Tunika, als sich die Hohepriesterin bewegte, zuckte aber dennoch zusammen, als er ihre Hand plötzlich auf seinem Schulterblatt fühlte. „Mahad“, Ishizus Stimme klang belegt. „Was eben geschehen ist… Also ich meine…“ Sie atmete tief ein und Mahad konnte hören, wie sie um Selbstsicherheit rang. „Ich denke, ich kann deine Entschuldigung annehmen. Ja.“ Irritiert sah Mahad über seine Schulter. In Ishizus Augen lag noch immer eine große Unsicherheit, aber sie bemühte sich einen gespielt ernsthaften Gesichtsausdruck aufzusetzen. Mahad lächelte leicht und tat es Ishizu gleich, indem er die vergangene Situation mit einer aufgesetzten Leichtigkeit überspielte. Er räusperte sich. „Nun… ich habe dich eigentlich aufgesucht, um nachzusehen ob Mana hier ist. Aber wie ich sehe, ist das nicht der Fall.“ Ishizus trat einen Schritt zurück. „Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit du sie geschickt hattest, um Landkarten von Unterägypten zu holen. Ehrlich gesagt, war ich sehr verwundert, dass du…“ „Moment. Was habe ich?“ Mahads Ton war schärfer als gewollt und Ishizus Augenbrauen zogen sich irritiert zusammen. „Nun, Mana sagte, du würdest Karten benötigen für…“ sie unterbrach sich und zog erschrocken die Luft ein. „Mahad, sag mir nicht, dass sie allein nach Gizeh aufgebrochen ist!?“ Der Hohepriester rieb sich die Schläfen, als er plötzlich alles verstand. „Sie ist nicht allein.“ „Was? Aber wer-“ „Sag mir, Ishizu, wann hast du Joey zuletzt gesehen?“ Ishizu antwortete nicht. Es war auch nicht nötig. „Ishizu, ich werde sofort ein paar meiner Medjay aussenden, geh du und unterrichte Seto. Seine berittenen Söldner sind schnell, vielleicht können sie die beiden noch einholen.“ Die Hohepriesterin nickte zögerlich und murmelte leise: „Bitte Mahad, lass es uns diskret behandeln. Der Pharao darf nichts davon erfahren. Lass sie uns zurückholen, ohne sie als Verräter zu brandmarken. Versprichst du mir das?“ Mahad musterte die Priesterin lange und versucht das sanfte Kribbeln zu ignorieren, das sich auf seine Lippen schlich. „Ich kann es dir nicht garantieren“, entgegnete er rau, „aber ich werde alles daran setzen, was in meiner Macht steht.“  Er hob eine Hand, doch kurz bevor seine Fingerspitzen Ishizus Kinn berührten, hielt er inne. Hastig zog er sich zurück und fuhr herum, um in den weitläufigen Fluren des Palastes zu verschwinden. Keine Stunde später schwärmten die ersten Eingeweihten der Hohepriester aus dem Palast aus. Seto stand an einem Nebentor des Palastes und ließ seinen Blick über die einberufenen Söldner schweifen. Er hatte den anderen Hohepriestern nichts davon gesagt, dass er die beiden Ausreißer in der Nacht zuvor noch gesehen hatte. Er verstand sie. Und er hatte in Joeys Augen lesen können wie ernst es diesem gewesen war. Er mochte diesen selbsternannten Wanderprediger nicht, aber er respektierte einen eisernen Willen und Loyalität – und beides hatte Joey gestern bewiesen. Ob das allerdings ausreichen würde, würde man sehen. Seto schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein, ehe er seinen Männern den Befehl gab die Nilufer zu durchkämmen. Die Jagd war eröffnet. Es war das erste Mal, dass Seto die Hoffnung hegte, dass seine Söldner erfolglos zurückkehren würden.   Kapitel 9: Eröffnung -------------------- „Gibt es Neuigkeiten, Seto?“ „Nein. Das habe ich auch noch nicht erwartet. Theben ist ein Labyrinth, sie dort zu finden wird dauern. Und sollten sie ein Boot genommen haben, haben sie mittlerweile eine gute Strecke zurückgelegt. Jetzt entschuldige mich, ich werde im Tempel erwartet.“ Mahad sah Seto eine Weile angespannt hinterher. Mit jedem Tag an dem sie Mana und Joey nicht fanden, stieg die Gefahr, dass dem Pharao das Fehlen auffiel. Bisher hatten sich die Hohepriester noch immer nicht einigen können, wie sie in diesem Fall handeln sollten. Mit einem leisen Seufzen schob Mahad die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Einteilung der Wachen. Seitdem Joey und Yugi so plötzlich im Palast erschienen waren, hatte der Hohepriester die Anzahl der diensthabenden Medjay deutlich verstärkt. Keine Ratte sollte in diesen Palast hinein oder hinaus kommen, ohne dass er davon informiert wurde. Nur wie, bei den Dämonen der Duat, hatten Mana und Joey es geschafft, sich unbeobachtet fortzustehlen? Die Schreibbinse des Hohepriesters flog so schnell über den Papyrus, dass die Spitze brach. Mit einem unterdrückten Fluch warf Mahad das Schreibgerät zu Boden und fuhr sich über die Stirn. Ein Klopfen an der Tür ließ ihn aufhorchen. Es war ein Diener, der ihm mitteilte, dass Pharao Atemu ihn zu sehen wünsche. Mit dem schalen Gefühl einer schlechten Vorahnung erhob Mahad sich und kam der Aufforderung nach. Als er die Privaträume des Pharaos betrat, stockte er. Etwas hier drin irritierte ihn, ohne dass er sagen konnte, was es war. „Tritt ein, Mahad. Ich habe eine Aufgabe für dich.“ Der Hohepriester verneigte sich, während sein Blick schnell durch das Zimmer schoss. Der Pharao stand am Fenster und sah hinaus. „Ich habe ihn nun eine Weile beobachtet“, sprach er ruhig. „doch er gibt mir noch immer Rätsel auf.“ Als Mahad näher trat und Atemus Blick folgte, entdeckte er Yugi, der im Garten des Palastes stand und scheinbar gedankenverloren auf die spiegelnde Oberfläche des Wasserbassins starrte. Mahads Oberlippe zuckte. „Ich möchte, dass du ihn genau durchleuchtest“, fuhr der Pharao fort. „Ich will wissen, wo er herkam. Wenn er über den Nil kam, will ich wissen, mit welchem Boot. Wenn er zu Fuß nach Theben kam, will ich wissen auf welchem Weg. Ich will wissen, mit wem er gesprochen, wo er geschlafen und was er gearbeitet hat. Ich möchte, dass du dich persönlich um diese Angelegenheit kümmerst. Ich schätze dich sehr für deine Loyalität.“ Mahad erstarrte innerlich zu Eis. Wenn er dem Pharao ehrlich antwortete, musste er ihm auch von Joey erzählen. Und letztlich auch von Mana. In den Gedanken des Hohepriesters tauchte der bittende Ausdruck von Ishizus Augen auf, als sie ihm das Versprechen abnahm, Mana zu schützen. „Gibt es ein Problem mit dem Auftrag, Mahad?“ Mahads Kehle wurde trocken. Er öffnete den Mund und sprach, noch ehe er begriff, welche Worte er von sich gab. „Ich habe ihn bereits überprüfen lassen, nachdem er im Palast gefangen genommen wurde, Pharao. Über Yugi ist nichts bekannt. Es ist, als sei er aus dem Nichts erschienen. Es gibt keine Bekanntschaften, keine Verbindungen, keine vorherigen Sichtungen. Das erste Mal, dass man von ihm hörte, war, als er auf Euch traf.“ Die Worte verhallten. Der Pharao antwortete. Nichts davon erreichte Mahad wirklich. Dumpf bemerkte er, dass Atemu ihn aus dem Gespräch entließ und er verneigte sich hölzern. Es blieb nichts als Leere in ihm zurück. Er hatte soeben seinen Pharao belogen. Selbst der Gedanke daran, dass er es für Ishizu getan hatte, konnte die Bürde nicht erleichtern, die ihm plötzlich wie Blei auf den Schultern lag. ~oOo~ Mentu war Diener in mittlerweile vierter Generation. Schon seiner Väter Väter hatten den Pharaonen selbst gedient und somit hatte Mentu eine Position, die es ihm erlaubte nur Aufträge von Pharao Atemu persönlich entgegen zu nehmen. Ausnahmen machte Mentu nur für Hohepriester Seto – denn wenn er ehrlich war, überwog dort die Angst über seinen Dienerstolz. Und doch fand er sich jetzt im Garten des Palastes wieder, die Arme voll mit diversen Dingen, die er heimlich im Palast zusammen gesucht hatte und deren Sinn er nicht verstand. „Ich habe alles, worum Ihr mich gebeten habt, Herr Yugi“, begann der Diener und kam nicht umhin festzustellen, dass sein Gegenüber bei der respektvollen Ansprache rote Ohren bekam. „Ich weiß nur nicht, ob genug Tinte in dem Behältnis ist.“ Mit einem dankbaren Lächeln nahm Yugi ihm alles ab und reihte es ordentlich auf. Mentus Blick flog über ein großes Stück Papyrus, eine Schreibbinse, Tinte und einen Berg kleiner Statuetten unterschiedlichster Art. Er verstand noch immer nicht, aber er schwieg. Sein Blick glitt weiter zu dem jungen Mann, der ihn überhaupt erst um diesen Gefallen gebeten hatte. Mentu musterte ihn lange. Yugi war … seltsam. Ein besseres Wort fand Mentu nicht dafür. Seit dem Vorfall im Garten, hatte Yugi sich verändert. Zuvor hatte Mentu ihn oft dabei beobachtet, wie er ziellos umher gewandert war. Wie sein Blick ins Nichts ging und Gedanken in sich trug, die so weit weg zu sein schienen, dass sie nicht greifbar waren. Doch jetzt war die Lethargie vollständig von ihm abgefallen und sein ganzes Verhalten strahlte eine ernste Entschlossenheit aus. Mentu lächelte leicht. Er konnte nicht sagen weshalb, aber er hatte das Gefühl, dass Yugis plötzliches Erscheinen einen tieferen Grund hatte. Um ihn nicht weiter zu stören, wandte der Diener sich leise ab. Erst kurz vor dem Palast sah er noch einmal über seine Schulter zu Yugi zurück, der tief in sein Tun versunken war. Vor Mentus Augen blitzte das Bild des Pharao auf, das er am Tag zuvor im Garten gesehen hatte. Ein Bild, das ihn an lange zurückliegende Zeiten erinnert hatte. Er glaubte noch immer das ehrliche Lachen des Pharao zu hören, das so viele schon als verloren geglaubt hatten. Mentu war der Höchste im Rang der Dienerschaft und niemandem, außer dem Pharao selbst unterstellt, doch er entschloss sich, Yugi ebenso als Ausnahme zu werten wie Priester Seto. Er hatte das Gefühl, als wäre es das Richtige. ~oOo~ Es war doch früher, als Atemu es erwartet hatte. Die Besprechung mit seinen Senatoren war unproblematischer vonstattengegangen als sonst und die Sonne war noch nicht untergegangen, als der Pharao den Audienzsaal verließ. In seinen Privatgemächern angekommen, wandte er sich seinem Schreibtisch zu, doch weder die neuesten Frontberichte, noch sonstige dringlichen Nachrichten waren angekommen. Fast etwas irritiert von dieser ungewohnten Ruhe durchwanderte Atemu den Raum und legte eine Hand an das Holz der Tür, hinter der sein Privatschrein stand. Er verharrte und lauschte in sich. Zum ersten Mal seit langer Zeit, empfand er kein Bedürfnis nach einem Gebet. Ein angenehmes Gefühl. Nach einem Augenblick des Zögerns zog er seine Hand zurück und wandte sich ab. Während sein Blick ruhig durch den Raum glitt, zogen seine Gedanken eher ziellos ihre Kreise, bis sie plötzlich bei seinem unfreiwilligen Gast verharrten. Atemu fuhr sich nachdenklich über das Kinn, nickte dann leicht und rief seinen Diener Mentu, den er anwies, Yugi zu ihm zu bringen. Während der Pharao wartete, fiel sein Blick auf einen Alabasterkrug auf seinem Schreibtisch. Als er ihn hochhob, entdeckte er einen gezackten Riss in dem weißen Stein und erinnerte sich, das Trinkgefäß an dem Abend dort abgestellt zu haben, an dem Yugi auf seinem Balkon aufgetaucht war. Er hätte den Krug schon längst entsorgen lassen sollen. Ein leises Klopfen an der Tür ließ ihn aufhorchen und er stellte das Gefäß beiläufig auf den Schreibtisch zurück, ehe er sich umwandte und Yugi musterte, der sich leise durch den Türspalt quetschte. „Ihr habt mich rufen lassen, Pharao?“ Etwas an dem jungen Mann schien heute anders. Atemu musterte ihn aufmerksam. Wo kam diese innere Ruhe her, die Yugi plötzlich ausstrahlte und die die eingeschüchterte Unterwürfigkeit beiseiteschob? „Es ist an der Zeit, dass wir uns noch einmal unterhalten“, erklärte der Pharao schließlich und ließ sich auf einem Hocker nieder, während er seinem Gegenüber mit einer Handbewegung zu verstehen gab, sich ebenfalls zu setzen. Yugi lächelte leicht. „Darf ich Euch zuerst etwas überreichen?“ Atemus Zögern war fast unmerklich, ehe er nickte. „Ich habe erfahren, dass es üblich ist, dem Pharao ein Geschenk zu machen“, erklärte Yugi, „und ich habe lange überlegt, was ich Euch schenken könnte. Ich kann Eure Sprache nicht lesen und schreiben, ich kenne wenige Eurer Gepflogenheiten und Vorlieben. Aber ich bin der Enkel eines Spielehändlers und so habe ich ein Spiel aus meiner Heimat als Präsent ausgewählt.“ Während er sprach, hatte er einen Papyrus vor dem Pharao ausgebreitet, auf dem mehrere schwarze und weiße Felder aufgemalt waren. Jetzt flogen seine Finger geschickt darüber und verteilten mehrere unterschiedliche Figuren, von denen Atemu einige vage bekannt vorkamen. „Da ich den Palast auf Euren Wunsch hin nicht verlasse, hatte ich nur begrenzte Möglichkeiten, aber es wird gehen.“ Yugi lächelte erneut und deutete dann auf die aufgereihten Figuren. „In meiner Heimat nennt man dieses Spiel auch das Spiel der Könige.“ Atemu neigte sich vor, sein Interesse war geweckt. „Erkläre.“ Yugi nahm eine Figur auf. Es war nur eine Holzstele, in die etwas unbeholfen, aber dennoch bemüht korrekt das Milleniumspuzzle eingeritzt worden war. „Das ist der König“, begann Yugi und stellte ihn wieder auf seinen Platz zurück. „Er ist mit allen Mitteln zu verteidigen. Vor ihm, die Reihe aus Käfern-“ „Skarabäen.“ „… Skarabäen, symbolisieren Bauern. Die Obelisken stehen für die Turmfiguren, die Löwen gelten als Springer. Diese Figuren hier, mit diesen Hundeköpfen-“ „Schakalen.“ „…Schakalsköpfen nehmen die Funktion der Läufer ein. Hier, diese Stele links neben dem König, ist die Dame. Sie ist eure stärkste Figur. Ich erkläre euch nun noch, wie die einzelnen Figuren ziehen dürfen und was es zu beachten gilt.“ Während er Yugis Ausführungen lauschte, hob Atemu die Damenfiguren auf und betrachtete sie. In das weiche Holz der Stele war mit mehr Eifer als Kundigkeit ein Ankh eingeritzt und eines davon mit schwarzer Tinte eingefärbt worden. Als Yugi geendet hatte, stellte Atemu die Figuren zurück und fragte: „Wer hat diese Stelen hergestellt?“ Yugis Ohren brannten fast augenblicklich in einem tiefen Rot. „Das … das war ich. Es war schwerer als gedacht.“ Dann lachte er verlegen und deutete mit der flachen Hand auf das Schachfeld. „Bitte, Pharao. Weiß beginnt.“ Es dauerte einige Augenblicke, doch dann neigte Atemu sich vor und schob einen Skarabäus über zwei Felder nach vorn. Während Yugi mit einem genau gespiegelten Zug antwortete, musterte Atemu ihn durchdringend. „Ich habe dich überprüfen lassen“, bemerkte der Pharao beiläufig, während er seinen Springer ins Spiel brachte. „Tatsächlich hat dich niemand gesehen, gekannt oder mit dir gesprochen, bevor du in meinem Palast aufgetaucht bist.“ Yugis Fingerspitzen zuckten kurz. Er gewährte sich einige Momente des nachdenklichen Schweigens, ehe er einen Läufer vor den weißen Springer setzte. „Ich habe Euch nie belogen, Pharao. Alles was ich Euch sagen kann ist, dass ich nicht weiß weshalb ich hier bin, geschweige denn wie ich hierher kam. Ich weiß nur, dass meine Heimat sehr weit entfernt liegt und ich den Weg dorthin nicht kenne.“ Atemu schwieg und versetzte seinen Springer, um damit den eben ins Spiel gebrachten Läufer zu bedrohen. Yugis Augen verengten sich, doch er reagierte prompt und schlug einen von Atemus weißen Skarabäen. „Ihr versteht es offensiv zu spielen.“ „Darin stehst du mir in nichts nach.“ In einem schnellen Zug, holte Atemu seinen weißen König aus dem Schutz des Heeres und schlug den schwarzen Läufer, der sich in Reichweite befand. Dann lehnte er sich zurück und beobachtete Yugi, der sich gedankenverloren mit dem Daumen über die Unterlippe fuhr. Unwillkürlich verfolgte der Pharao diese Bewegung und riss sich fast hastig los, als es ihm auffiel. „Schach.“ Atemus Augenbraue zuckte, als Yugis Ankündigung erklang. Yugi hatte seine Dame ausgesandt und zwang Atemu zu einer schnellen Reaktion. Ein leichtes Lächeln flog über die Lippen des Pharao. Das Spiel war ernst und er genoss diesen Umstand sehr. Es war selten, dass jemand den Pharao zu einem Spiel aufforderte und selbst wenn, spielten seine Kontrahenten meist bedeckt, um ihn nicht zu brüskieren. Yugi war anders. In seinen hellen Augen lag ein unbändiger Wille zu siegen. Atemu würdigte das, hatte aber nicht vor, ihm deswegen den Sieg zuzugestehen. Er zog seinen König schräg nach vorne und brachte ihn zunächst aus der Gefahrenzone. „Von Euren Dienern habe ich erfahren, dass Spiele in Ägypten sehr beliebt sind“, begann Yugi das Gespräch erneut und ließ seine Hand kurz über eine Skarabäenfigur schweben, ehe er es sich augenscheinlich anders überlegte und stattdessen seine Dame bewegte. „Doch ich habe nie gesehen, dass Ihr je gespielt habt, Pharao.“ „Staatsangelegenheiten haben Vorrang“, entgegnete Atemu und wechselte den Platz des Königs erneut. „Ich kann mir vorstellen, dass Enkel von Spielehändlern mehr Gelegenheit zum Spiel haben.“ Yugi schob einen Bauern nach vorne und schmunzelte. „Unterschätzt das Leben eines Händlers nicht, Pharao. Bei uns ist der Kunde König.“ „Und somit ein Tyrann, den man ständig zufrieden stellen muss?“ Atemus Mundwinkel zuckten amüsiert, als Yugis Ohren feuerrot zu brennen begannen. Während sich der weiße König um ein weiteres Feld bewegte, senkte Yugi den Kopf, als hoffe er, das verräterische Rot zu verstecken. „Das … habe ich nie behauptet“, nuschelte er und schlug beiläufig einen weißen Bauern. Atemu hob seine Hand, griff nach dem weißen König – und zögerte. Schon wieder wurde er gezwungen diese Figur zu bewegen. Sein Blick glitt zu Yugi, der noch immer damit beschäftigt schien, seine Gesichtsfarbe zu normalisieren. Er sah so harmlos aus, wie er hier vor Atemu saß und mit glänzenden Augen auf den nächsten Zug wartete. Und doch jagte er den Pharao so gnadenlos, dass er ihm die Luft abzuschnüren begann. Atemu musste sich eingestehen, dass er Yugi kurzzeitig unterschätzt hatte. „Erzähl mir von deiner Heimat“, forderte er Yugi schließlich auf und zog gezwungenermaßen erneut mit seinem König. Zum ersten Mal schien sein Gegenspieler unschlüssig zu zögern. „Nun ich…“, begann Yugi und unterbrach sich dann. Er schien mehr darüber nachzudenken, was er antworten, als wie er seine Figuren setzen sollte. „Meine Heimat ist … anders als Ägypten“, versuchte er es schließlich erneut und schob seinen Springer an den Rand des Brettes. „Wir haben ein deutlich anderes Klima. Und wir haben keinen Pharao.“ „Ein Umstand, den du dir gerade sehr herbeisehnst, nicht wahr?“ Ein belustigter Zug legte sich auf Atemus Gesicht, als Yugi ihm einen halb gespielt, halb ernst gemeinten, düstern Blick zuwarf. „Ihr dreht mir jedes Wort im Mund herum“, beklagte er sich mit einem Anflug von Theatralik. „Versucht Ihr etwa, mich abzulenken?“ Atemu lachte leise und setzte einen Skarabäus ein Feld nach vorn. „Im Spiel und im Krieg muss man jede Möglichkeit ergreifen, die sich einem bietet.“ Aus den Augenwinkeln sah er, wie Yugis Lippen kurz zu einem Schmollmund zuckten und er konnte nicht anders als erneut zu lachen. Yugi fing sich rasch, ordnete seine Gesichtszüge und beugte sich interessiert über das Schachbrett. „Ihr habt eine solche Ablenkung nicht nötig, Ihr spielt hervorragend“, bemerkte er dann und legte seine Fingerspitzen auf die Damenfigur. „Außerdem hat mein Großvater es mir früh abgewöhnt, auf Ablenkungen zu reagieren. Er hat mir immer erzählt, dass seine Figuren von einem Fluch besessen wären, der mich treffen würde, wenn ich zu oft gegen ihn gewinne. Als ich noch jünger war, habe ich das natürlich geglaubt und konnte nächtelang nicht schlafen.“ Yugi fuhr sich durch die Haare und begann hell zu lachen. Atemu spürte, wie der Klang dieses ehrlichen Lachens ein Lächeln auf seine Lippen trieb. „Ach ja, Schach.“ Atemus Lächeln gefror. Sein Blick flog auf das Spielbrett und taxierte die Figuren. In seinem letzten Zug hatte Yugi mit seiner Dame Atemus Läufer geschlagen. Doch jetzt stand die schwarze Dame in Schlagweite des weißen Königs. Der Pharao zögerte. Hatte Yugi einen Fehler gemacht? War es Taktik? Atemus sah auf und fixierte Yugi scharf, doch dieser hielt dem bohrenden Blick mit einem freundlichen Lächeln stand. Betont langsam neigte Atemu sich schließlich vor und nahm die schwarze Dame vom Spielfeld. Yugi schien durch den Verlust seiner stärksten Figur nicht sehr bekümmert zu sein. Als wäre nichts gewesen, zog er seinen Springer zur Seite und ließ den Druck auf Atemu nicht abreißen. Dem Pharao blieb vorerst nichts anderes übrig, als seinen König außer Gefahr zu bringen, indem er ihn nach rechts verschob. „Wer hat dir eigentlich dabei geholfen, dieses Spiel zusammenzustellen?“, fragte Atemu, während er aufmerksam dabei zusah, wie Yugis schlanke Finger über das Spielfeld fuhren. Wie sie Wege bahnten und Opfer brachten – stets begleitet von diesem sanften Lächeln, das Yugi auf den Lippen trug. „Mentu“, entgegnete Yugi, „er ist sehr freundlich.“ Atemus Augenbraue zuckte. Von allen Dienern dieses Palastes war Mentu der eigenwilligste. Dass der Diener sich dazu herabgelassen hatte, Yugi behilflich zu sein, gab ihm zu denken. Mehr beiläufig schlug Atemu mit seinem König den weißen Springer und bemerkte erst dann, dass Yugi seinen vergangenen Zug nicht dazu genutzt hatte, den Springer in Sicherheit zu bringen, sondern einen weiteren Bauern nach vorn zu ziehen. Yugi verzog keine Miene über diesen Verlust. Stattdessen setzte er seinen bis dahin unbewegten Springer vor seine Königsfigur und gab das Brett sofort wieder frei. „Mir ist aufgefallen, dass du nur von deinem Großvater erzählst“, begann Atemu und nutzte das Gespräch, um das Spielfeld in Ruhe überblicken zu können. „Was ist mit deinem Vater? Ist er ebenfalls Händler?“ Yugi schwieg. Als Atemu aufsah, bemerkte er den harten Zug, der sich auf Yugis Gesicht festgesetzt hatte. Als sich ihre Blicke trafen, schüttelte Yugi leicht mit dem Kopf. „Ich möchte nicht über ihn sprechen.“ „Es interessiert mich. Erzähle.“ „Nein.“ Atemu Augen verengten sich. Er war es nicht gewohnt, dass man sich ihm so offenkundig widersetzte. Nach einem Moment des Innehaltens, beließ er es jedoch dabei und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Spiel zu, indem er seinen Läufer vor den schwarzen König zog. „Schach.“ Nach der fast etwas hart klingenden Ankündigung lehnte Atemu sich zurück und stützte einen Arm auf die Lehne des Hockers. Yugi reagierte nicht sofort. Es war offensichtlich, dass Atemus Zug keine wirkliche Bedrohung darstellte, er schien aus anderen Gründen inne zu halten. Schließlich seufzte er leise und lächelte. „Es tut mir leid“, sprach er sanft und schob seinen König aus dem Windschatten des Springers. „Ich wollte nicht so harsch antworten. Es ist nur… Bitte fragt mich nicht erneut nach meinem Vater. Ich spreche ungern über ihn und möchte keinen Schatten auf dieses spannende Spiel werfen.“ Atemu war sich nicht sicher, was ihn besänftigte, ob es diese entwaffnende Reaktion war, oder die Tatsache, dass er eine Taktik zu entwickeln begann, wie er das Spiel langsam zu seinen Gunsten drehen konnte, aber es wirkte. Mit einer leichten Handbewegung deutete er an, dass das Thema für ihn beendet war und konzentrierte sich auf das Brett. Um seinen Läufer abzusichern, der im Schlagbereich des schwarzen Springers stand, zog er seinen König zur Seite. Nach diesem Zug zögerte Yugi lange. Sein Blick hob sich zu Atemu und schien ihn etwas fragen zu wollen. Doch er blieb stumm, schob seinen Bauer nach vorne und ließ seine Fingerspitzen diesmal eine unerträglich lange Zeit auf der Figur ruhen. Erst dann gab er das Spielfeld wieder frei und lehnte sich zurück. Sie schwiegen beide. Langsam ließ Atemu seinen Blick über das Schachbrett schweifen. Seine Fingerspitzen zuckten kurz, doch er hob die Hand nicht zum Zug. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er ganz zu Beginn des Spieles einen Fehler gemacht hatte, der ihm jetzt zum Verhängnis wurde. Draußen war mittlerweile der Abend hereingebrochen und das Zirpen der Zikaden erfüllte den Palast. Die Schatten wurden länger, verschwanden und gaben der Dunkelheit Raum. Mit einem Mal erhob Atemu sich und trat auf den Balkon hinaus. Während er sich auf der Brüstung abstützte und über das nächtliche Theben sah, bemerkt er, dass Yugi ihm folgte. „Ich hoffe… ich habe Euch nicht beleidigt?“, murmelte Yugi. Atemu sog die kühle Nachtluft ein und lauschte in sich. Sein Stolz mochte ein wenig angekratzt sein, doch die Faszination über das Spiel selbst überwog. Schließlich lachte er leise. „Nein. Es war ein interessantes Spiel.“ Er wandte sich zu Yugi um. „Im Spiel der Könige ein Remis gegen einen Pharao zu erzwingen… Wie viele Talente stecken in dir, von denen ich nichts weiß?“ Er lächelte über die Röte, die Yugis Wangen überzog. „Ich habe doch nicht… also… Talent ist doch übertrieben“, stammelte Yugi und fuhr verlegen mit den Fingern über die steinerne Balkonbrüstung. „Im Gegenteil muss ich Euch ein Kompliment machen. Nur wenige erkennen so früh, dass ein Weiterspiel keinen Sinn ergibt. Ich hätte zwar noch Euren Läufer geschlagen, aber die meisten Wege waren versperrt und so…“ er unterbrach sich mit einem Schulterzucken. „Ich hätte dir nicht zugetraut, Dame und Läufer so bereitwillig zu opfern“, bemerkte der Pharao, was Yugi erneut verlegen zu Boden blicken ließ. „Den König zu schützen ist das oberste Ziel. Das ist den Preis einer verlorenen Dame wert, solang es dazu führt, dass der eigene König aus dem Blickfeld des Gegners gerät.“ Atemu nickte leicht. „Wann hast du gemerkt, dass es auf ein Remis hinauslaufen wird?“ „Als der König sich zu weit von seinem Heer entfernt hatte.“ Yugi zögerte kurz. „Ein König sollte nie allein eine Schlacht schlagen müssen.“ „Und doch gebührt es dem König, das Heer in der Schlacht anzuführen.“ Atemu schnalzte leise mit der Zunge. „Dagegen ist nichts einzuwenden“, entgegnete Yugi sanft. „Er darf nur nie vergessen, wie viele ihm im Hintergrund beistehen und bereit sind, ihr Opfer zu bringen um ihn zu beschützen.“ Der Pharao antwortete mit einer abweisenden Handbewegung. „Agiert der König jedoch allein, sind Opfer oft nicht nötig.“ Yugis Augen schienen ihn durchdringen zu wollen. „Dann ist er sicher ein guter Mensch“, sprach er ruhig. „aber sehr einsam.“ Atemus Blick fuhr zur Seite und bohrte sich in Yugis ehrliche Augen. Er schwieg lange. Mit jedem Augenblick, den er Yugi beobachtete, glaubte er, ihn weniger greifen zu können. Der Pharao verlor sich in seinen Gedanken. Ohne sein Zutun hoben sich seine Finger und umschlossen Yugis Fingerspitzen. Er spürte wie heftig Yugi zusammen zuckte, als er ihn näher zu sich heran zog. „Wer bist du wirklich“, murmelte Atemu leise und fuhr mit dem Daumen über Yugis Finger, die sichtbar zitterten. „Hände, die kein Anzeichen von schwerer Arbeit tragen. Eine Haut, die so weiß ist, dass sie nur selten die Sonne gesehen haben kann.“ Seine zweite Hand legte sich unter Yugis Kinn und zwang ihn dazu, zu ihm aufzusehen. „Ein Gesicht, das so offen ist, dass man darin lesen kann, wie in einer Schriftrolle. Und dennoch verbirgt sich dahinter ein so scharfer, strategischer Verstand.“ Yugis Haut schien unter seiner Berührung zu glühen. In seinen weit geöffneten Augen spiegelte sich der Mond wieder, wie auf dem ruhig daliegenden weißen Nil. Atemu glaubte, bis auf den Grund der Seele zu sehen, in der Yugis Selbstsicherheit in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus. Er musste sich eingestehen, dass er von diesem fremdartigen jungen Mann fasziniert war, der sich seiner Position bewusst zu sein schien, aber dennoch einen Pharao herausforderte – und sich ihm als ebenbürtig erwies. Noch immer lag Atemus Hand unter Yugis Kinn und hinderte ihn so daran, das Gesicht abzuwenden. Seine dunklen Finger ließen Yugis helle Haut so weiß strahlen, dass es die weiche Röte fast gänzlich überdeckte, die das Gesicht überzog. Atemu lächelte leicht. Sein Griff war federleicht, die Fingerspitzen nur sanft mit Yugis überkreuzt. Yugi könnte sich jederzeit befreien – doch er tat es nicht. Er verharrte wie gelähmt, nur sein Brustkorb hob und senkte sich ruckartig, während in seinen Augen Dämonen Kämpfe fochten. Atemu genoss es, diesem Kampf zuzusehen, dem Zwiespalt, der so offen vor ihm lag. Unendlich langsam neigte der Pharao sich vor, jeden Augenblick aufs Äußerste auskostend, bis seine Lippen so nah an Yugis waren, dass er die Hitze fühlen konnte, die sie ausstrahlten. Ein Beben lief durch Yugis schlanken Körper und mit einem Mal spürte der Pharao, wie Yugi einen Schritt rückwärts tat. Atemus Finger lösten sich rasch von Yugis Fingerspitzen und legten sich um dessen Handgelenk. Mit einem kurzen, entschlossenen Zug fing Atemu Yugis Rückwärtsbewegung ab und zwang sie ins Gegenteil. Yugi versuchte sich zu fangen, seine freie Hand presste sich gegen Atemus Brustkorb, doch in dem Moment, indem sich ihre Lippen trafen, erstarb seine zaghafte Gegenwehr. Das Violett seiner Augen schien heller zu werden, fast durchsichtig, bis sich seine dichten Wimpern schlossen. War es diese Gegenwehr, die ihn so reizte? Oder das Wissen, sie überwunden zu haben? Atemu wusste es nicht. Es kümmerte ihn auch nicht. Alles was er jetzt noch wollte, war dieser Kuss. Er schloss die Augen, öffnete die Lippen und - „Großer Pharao?“ Mentus Stimme zerrte Atemu zurück in die Wirklichkeit. Mit einem leisen Keuchen fuhr er zurück und riss sich von Yugi los. Hastig sah er sich um, doch Mentu, der soeben auf den Balkon trat, schien nichts bemerkt zu haben. „Großer Pharao, Senator Arem-t-akh ist hier, er bittet noch einmal um eine Audienz. Er sagt, es gäbe Probleme bei der Getreideversorgung in den Ortschaften nahe der nubischen Grenze.“ Atemu ballte seine Hände zu Fäusten, einerseits um das verräterische Zittern zu unterbinden und andererseits um seine Selbstsicherheit wiederzufinden. „Geleite ihn in den Audienzsaal“, befahl er und atmete tief ein, als er hörte, wie belegt seine Stimme klang. „Ich komme sofort.“ Als Mentu den Balkon verließ, folgte der Pharao, ohne sich noch einmal umzusehen. Doch selbst als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, spürte er noch immer Yugis Blick, der sich wie Feuer in seinen Rücken brannte. ~oOo~ Yugi fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Wann immer er die Augen schloss, sah er den Pharao vor sich, so klar und deutlich als stünde er tatsächlich vor ihm. Er sah das Lächeln auf den schmalen Lippen, die feinen Linien um diese durchdringenden Augen und das Mondlicht, das über bronzene Haut floss. Er glaubte sogar den Geruch der Öle in der Nase zu haben, der immer von Atemu ausging. Yugi vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Er hatte doch nur eine Möglichkeit gesucht, nicht nur untätig im Palast zu sitzen, sondern wie Joey und Mana aktiv zu handeln. Er wollte doch nur Atemus Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, um näher an diesen schwer greifbaren Pharao heran zu kommen. Wann war ihm die Situation aus den Händen geglitten? Wann hatte der Pharao sich über ihn gebeugt? Wann hatten sich ihre Lippen…? Yugi unterbrach seinen Gedankengang mit einem erstickten Laut und schlang die Arme um die Knie. Wie sollte er dem Pharao jetzt nur gegenüber treten? Er spürte, wie ihm bei diesem Gedanken eine flammende Röte über das Gesicht zog. Hastig stand er auf und begann im Raum hin und her zu laufen, als könne er der Verlegenheit dadurch entfliehen. Seine krampfhaften Versuche sich zu beruhigen verpufften erfolglos. Verdammt noch mal, es war nicht sein erster Kuss gewesen, warum warf ihn das so aus der Bahn? Er war nur überrascht. Ja, das musste es sein. Er hätte schließlich niemals geglaubt, dass der Pharao ihn, einen Mann, … Er schob den Gedanken angestrengt von sich. Sein Herz schlug so hart in seiner Brust, dass es schmerzte. Ohne sein Zutun fuhren seine Fingerspitzen über seine Lippen. Warum hatte er sich nicht gewehrt? Warum hatte er es überhaupt zugelassen? Atemus Griff war fest, aber nicht eisern gewesen. Es hätte nur einer Handbewegung bedurft und Yugi hätte sich frei machen können. Warum hatte er es nur nicht getan? Von der Ferne der im Westen liegenden Kalkberge kündigte ein heller Blitz ein aufziehendes Gewitter an. Yugi hob den Kopf und starrte in die Nacht hinaus. Tief in sich hörte er eine leise Stimme, die ihm die Antwort auf all die Fragen zurief. Sie ging im Grollen des Donners unter und Yugi entschied sich dazu, nicht noch einmal in sich zu lauschen. Er war ohnehin zu aufgewühlt dafür. Und wenn er ehrlich war, hatte er Angst, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde. *************************************** [A/N] Das beschriebene Schachspiel stellt die Unsterbliche Remispartie zwischen Carl Hemppe und Philipp Meitner von (ca.) 1871 dar. Eine kleine Autorenfreiheit habe ich mir erlaubt: Die J’adoube Regel ist in diesem Spiel aufgehoben. In einem Turnier wäre das nicht erlaubt, aber da es ein rein freundschaftliches Schachspiel ist, kann man die Regel auch mal getrost beiseitelassen. Kapitel 10: Gewitterwolken -------------------------- Atemu fror. Zumindest glaubte Yugi eine Gänsehaut zu sehen, die sich über die nackten Unterarme des Pharaos schob. Seit sich an den Kalkbergen im Westen die Gewitterwolken stauten, war es kühl geworden, doch das hielt Pharao Atemu nicht davon ab, seinen Schreibtisch wie jeden Tag in den Garten verlegen zu lassen. Yugis Finger glitten über die knorrige Rinde des Mandelbaumes, als er sich vorsichtig am Stamm entlang schob, um einen besseren Blick zu erhaschen. Sein Herz schlug so schnell, dass er Angst bekam, es würde ihn verraten. Zwei Tage waren seit dem Schachspiel vergangen. Zwei Tage, die Yugi fieberhaft damit verbracht hatte, dem Pharao aus dem Weg zu gehen – und ihm gleichzeitig zu folgen wie ein Schatten. Yugis presste die Lippen zusammen, als ihm die Erbärmlichkeit seines Tuns bewusst wurde, aber er konnte nicht anders. Mit jedem Schritt, den er auf Atemu zuging, schrie ihm eine Stimme zu, davonzulaufen; und mit jedem Schritt, den er sich entfernte, bat ihn dieselbe Stimme zaghaft, zurückzukehren. Ob Motten dasselbe fühlten, in dem kurzen Moment, bevor ihre Flügel Feuer fingen? Yugi schluckte schwer. Sein Blick taxierte den jungen Pharao, der, sein Kinn auf den Handrücken gestützt, über mehreren Landkarten grübelte. Der Wind verfing sich in Atemus Haaren und drückte ihm eine vorwitzige Strähne in die Stirn. Er schien es kaum wahrzunehmen. In Yugi brannte das unbändige Verlangen danach die Hand auszustrecken, diese Haarsträhne beiseite zu streichen und dabei zufällig die bronzene Haut zu berühren, die er so warm in Erinnerung hatte. Ohne es wirklich zu realisieren, tat Yugi einen Schritt aus der Deckung des Mandelbaumes heraus – und erschrak bis ins Mark, als plötzlich ein heller Blitz den Himmel spaltete. Yugis erschrockener Laut ging in dem heftigen Grollen des Donners unter. Ohne dass er es bemerkt hatte, hatten sich die dunklen Wolken nun doch über die Berge geschoben und ein schweres Gewitter mit sich gebracht. Noch bevor Yugi den Schreck überwunden hatte, kamen plötzlich von allen Seiten Palastdiener herbeigeeilt, rafften Schriftrollen und Landkarten zusammen und sorgten mit einem Baldachin dafür, dass der Pharao den Palast trocken erreichte. Yugi dagegen hatte weniger Glück. Als er sich endlich in den Flur des Privatbezirks geflüchtet hatte, war er nass bis auf die Knochen. Das Wasser, das in Bächen von ihm herabfloss, verwandelte den Mosaikboden in eine spiegelglatte Fläche, und Yugi schlitterte mehr vorwärts, als dass er lief. „Herr Yugi!“ Der Ausruf von Mentu brachte Yugi so aus dem Konzept, dass ihm ein Fuß wegrutschte und er sich gerade noch am nächstbesten Wandvorsprung festklammern konnte. Als er den Kopf wandte, sah er noch, wie der Pharao am Ende des Flures in seinen Privatgemächern verschwand, ehe Mentu sich in Yugis Blickfeld schob. „Der Pharao wünscht Euch zu sehen, Herr Yugi.“ Erklärte der Diener und musterte Yugi mitleidig. „Ich werde Euch eine trockene Tunika bringen. So könnt Ihr unserem Pharao nicht unter die Augen treten.“ Wenig später konnte Yugi endlich in eine Tunika wechseln, die nicht wie ein nasser Sack an ihm klebte.  Er seufzte erleichtert auf, aber eine wirkliche Ruhe wollte sich in ihm nicht einstellen. Dass der Pharao ihn sprechen wollte, machte ihn nervös. Er glaubte zwar, dass Atemu nichts davon bemerkt hatte, dass Yugi ihn seit zwei Tagen beschattete, aber er wusste es nicht. Fahrig strich Yugi ein paar Falten in seiner Tunika glatt und folgte Mentu schließlich in die königlichen Privaträume. Der Diener verneigte sich nur kurz und zog sich dann zurück. Yugi musterte den Pharao unauffällig. Er wirkte weder wütend noch angespannt und Yugi entschied sich zur Flucht nach vorne. „Ich habe Euch sicher warten lassen, entschuldigt bitte“, erklärte er mit einer Verbeugung. „Aber der Regen hat mich überrascht und… naja…“ „Ich weiß. Du hast meinen Flur überflutet.“ Etwas unsicher hob Yugi seinen Blick, doch als er das leichte Zucken in Atemus Mundwinkel entdeckte, wich die Nervosität einer tiefen Erleichterung. Wenn der Pharao davon wissen würde, dass Yugi ihm nachspionierte, wäre er sicherlich nicht in so guter Stimmung. „Entschuldigt“, entgegnete Yugi in einem Anfall von alberner Euphorie. „Wenn ich das nächste Mal nass werde, werde ich versuchen, das Tropfen in Eurer Gegenwart einzustellen.“ Atemu schüttelte belustigt den Kopf. „Das Remis scheint dir zu Kopf zu steigen. Es wird Zeit, dich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Ich fordere dich zu einer Revanche auf, doch diesmal spielen wir das bedeutendsten Spiel meines Landes.“ Mit einer Handbewegung deutete auf einen großen, reich verzierten Kasten, der umrahmt von prächtigen Kissen auf dem Boden stand. Während Yugi neugierig näher trat, hatte Atemu sich bereits auf einem dieser Kissen niedergelassen. „Senet“, erklärte der Pharao beiläufig, während er mit schnellen Bewegungen schwarze und weiße Steine zu gleichfarbigen Häufchen sortierte, „ist nicht nur ein simples Spiel, sondern hat gesellschaftliche und religiöse Bedeutung. Man benötigt ein wenig Glück, aber vor allem eine gute Strategie um hier gewinnen zu können.“ Mit einem freudigen Lächeln nahm Yugi auf einem weiteren Kissen Platz und zog die Beine zu einem Schneidersitz heran. „Ich habe Mentu ein paar Mal dabei beobachtet, wie er das Spiel gegen einen anderen Diener gespielt hat“, erzählte er gut gelaunt und neigte den Kopf schief, um die Hieroglyphen auf dem Spielfeld genauer zu betrachten. „Ich glaube, ich habe die Regeln bereits verstanden. Gewinner ist derjenige, der alle eigenen Spielfiguren ins Ziel gebracht hat. Auf Feld 26, 28, 29 und 30 darf man nicht geschlagen werden und Feld 27 ist eine Falle, die den Stein zurück auf Feld 15 setzt.“ „Du weißt, dass du deinen Welpenschutz hiermit verspielt hast?“, bemerkte Atemu trocken. Yugi lachte. „Ich habe nur gesagt, dass ich die Regeln verstanden habe, gespielt habe ich Senet noch nie.“ „Dann werden wir diese Wissenslücke nun schließen“, gab Atemu zurück und reichte Yugi vier Stäbchen, die auf der einen Seite schwarz, auf der anderen Seite golden waren. „Beginne.“ Yugis erster Wurf der Würfelstäbchen war ebenso unelegant, wie erfolglos und wurde auch nach mehrmaligen Wiederholungen nicht besser. Während der Pharao eine Fünf nach der anderen würfelte und seine Steine über das Feld schob, hatte Yugi bisher nur zwei Steine nach vorn versetzen können. „Also irgendwie stelle ich mich äußerst dumm an“, nuschelte er, in einer Mischung aus Frustration und Belustigung. „Diese Würfelstäbchen bringen mir kein Glück.“ Mit offenkundiger Genugtuung setzte Atemu seinen siebten Stein auf das Spielfeld und schlug eine von Yugis Figuren, die er lässig vom Feld schnippte. „Das liegt daran, dass sie verflucht sind“, erklärte der Pharao „Wenn du in diesem Spiel zu oft gegen mich gewinnst, dann wird der Fluch…“ Yugi schlug sich die Hände auf die Ohren und brach in helles Lachen aus. „Das ist unfair!“, rief er übermütig. „Ich werde Euch nie wieder eines meiner Kindheitsgeheimnisse anvertrauen!“ Atemus Lächeln nahm einen seltsamen Zug an. „Das wäre bedauernswert.“ Yugi hörte, wie sein Lachen zu zittern begann und er rettete sich in ein raues Husten. Das Lächeln des Pharaos verunsicherte ihn, genauso wie der Blick dieser violetten Augen, die so durchdringend auf ihm lagen. Yugis Herz schlug plötzlich so stark in seiner Brust, dass es schmerzte. Hastig wandte er den Blick ab und beeilte sich damit, die Würfelstäbchen an sich zu nehmen. Sein nächster Wurf war jedoch so fahrig, dass sich eines der Stäbchen in seiner Tunika verfing und durch den Schwung quer über den Spielkasten katapultiert wurde. Yugi spürte die Röte, die über seine Wangen kroch. In Atemus Augen blitzte es amüsiert und die Hitze auf Yugis Wangen wich einem schmerzhaften Brennen. Wahrscheinlich würde sein Gesicht gerade selbst im Dunkeln leuchten. Als er kleinlaut das wanderlustige Stäbchen vom Boden aufklaubte, lachte der Pharao plötzlich. „Versuch es noch einmal, Yugi“, forderte er ihn auf und neigte sich vor. Seine Finger legten sich federleicht um Yugis angespannte Hände und schoben die Stäbchen in eine andere Position. „So funktioniert es besser“, erklärte Atemu ruhig und drückte Yugis kleinen Finger etwas weiter nach innen. „Wenn du den Stäbchen mit diesem Finger noch etwas mehr Schwung gibst, kannst du die Flugrichtung leicht verändern. Ein Trick, den wir Ägypter schon im Kindesalter lernen.“ Yugi wollte etwas erwidern, aber seine Zunge war so trocken, dass sie sich taub anfühlte. Stumm ließ er seine Hände von Atemu führen und sah den Stäbchen wie in Trance beim Fallen zu. „Siehst du?“ Die Stimme des Pharaos schien so weit weg zu sein. „Eine Vier.“ Erst als sich Atemus Hände von den seinen wieder lösten, war es Yugi wieder möglich, normal zu denken. Schnell schob er einen Stein über das Feld, wartete Atemus Zug ab und würfelte erneut. Eine Eins. Yugi stöhnte leise, was jedoch über Atemus helles Lachen ungehört blieb. „Ich sehe schon“, sagte der Pharao verschmitzt, „wenn ich dich weiterhin allein würfeln lasse, endet das Spiel erst bei der nächsten Nilschwemme. Komm her.“ Wieder schmiegten sich seine Hände um Yugis, so fest, dass er erschauderte, aber doch sanft genug, um sich ihnen entziehen zu können. Yugi biss sich auf die Zunge. Er musste das hier unterbinden. Er konnte nicht klar denken, wenn der Pharao ihn berührte. Jede Faser in ihm schien zum Bersten angespannt, sein Herz pumpte das Blut so schnell durch seinen Körper, dass er das Rauschen in den Ohren hören konnte. Seine Finger warfen die Stäbchen bereits wieder, doch Yugi sah nicht hin. Sein Blick lag wie gebunden in dem Gesicht des Pharao. Er wusste nicht, wie oft er dieses Gesicht in den letzten Tagen beobachtet hatte, aber ihm wurde bewusst, dass er jede Einzelheit daran kannte. Jede Regung darin schien ihm so vertraut zu sein, dass er sie vorhersagen konnte, noch bevor der Pharao sie tat. Er wusste von den kleinen Lachfältchen an den Mundwinkeln, die nur so selten hervortraten und er kannte die sorgenvollen Linien, die sich durch die Haut unter Atemus Augen fraßen, wann immer er schwere Entscheidungen zu treffen hatte. Yugi glaubte, trotz der kurzen Zeit, kein Gesicht je so genau gekannt zu haben wie dieses. „Nun. Wenigstens eine Drei. Immer noch besser als deine vorherigen Versuche.“ Atemus Stimme holte Yugi aus seiner Entrückung. Langsam sah er auf die Würfelstäbchen hinab und zwang sich dazu, sich wieder auf das Spiel zu konzentrieren. Mit der linken Hand schob er einen Spielstein um drei Felder nach vorne und versuchte den Umstand zu vergessen, dass seine rechte Hand noch immer unter der des Pharaos lag. Yugis Fingerspitzen zuckten heftig. Atemus Blick fiel auf ihre verkreuzten Hände, wanderte an Yugis Arm entlang nach oben und blieb schließlich in seinem Gesicht liegen. Yugis Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, als versuche es sich aus dem engen Gefängnis zu befreien. Nach ein paar Sekunden, die sich in die Unendlichkeit zu strecken schienen, hob der Pharao plötzlich eine Hand und strich eine Haarsträhne aus Yugis Stirn. Unwillkürlich lehnte Yugi sich den Fingerspitzen entgegen, damit sie seine Stirn berühren mussten. Atemu schien kurz zu stocken, führte dann die Bewegung jedoch zuende und klemmte die Strähne hinter Yugis Ohr. „Du bist… unkonzentriert heute.“ Zum ersten Mal hörte Yugi, dass der Pharao mitten im Satz stockte. Verlegen fuhr Yugi mit seiner freien Hand über das Kissen, auf dem er saß. „N-nein“, entgegnete er leise. „Ich… ich muss mich nur erst daran gewöhnen.“ Die Fingerspitzen des Pharao ließen die Haarsträhne gehen und begannen an Yugis Wange entlang zu streichen. „Daran gewöhnen?“ Nur schwer widerstand Yugi dem Drang die Augen zu schließen und seine Wange in Atemus Hand zu schmiegen. „Ein… wenig Welpenschutz… wäre doch nett gewesen.“ Der Pharao war mittlerweile so nah, dass Yugi die Wärme spüren konnte, die von ihm ausging. Er merkte kaum, wie er sich führen und zurückdrängen ließ, bis sein Rücken in den weichen Kissen einsank. „Wir sprechen noch über das Spiel, nicht wahr?“ Atemus Stimme war so viel leiser als sonst, so viel sanfter. Yugi wollte antworten, doch er bekam keinen Laut über die Lippen. Er nickte nur leicht, tat einen tiefen, zittrigen Atemzug und sog den Geruch des Pharaos ein, bis er glaubte, schwindelig zu werden. Langsam hob er eine Hand, er wollte den Pharao berühren, seine Haut unter seinen Fingerspitzen fühlen – doch mitten in der Bewegung verließ ihn der Mut. Seine Finger strichen nur über die Falten der feinen Tunika, bis Atemu sein Gewicht verlagerte und sich so der Berührung entzog. War er absichtlich ausgewichen? Yugi zögerte einen Moment, doch der Gedanke war schneller verschwunden als er gekommen war, als sich der Pharao vorneigte und seine Lippen so nah an Yugis brachte, dass sein Atem dagegen schlug. Eine Gänsehaut zog über Yugis Körper hinweg und brachte ihn zum schaudern. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, aber mehr als ein brüchiges „Pharao…“ brachte er nicht zustande. Er verstummte, als die Lippen des Pharao endlich an den seinen entlang streiften. „Atemu.“ Raunte der Pharao so leise, dass Yugi es mehr erahnte, als wirklich hörte. „Nur Atemu.“ Eine leise Stimme in ihm rief Yugi zu, dass es falsch sei, dass er nicht nachgeben durfte, aber er konnte nicht anders. Leise und zittrig flog der Name des Pharao über seine Lippen, wurde erstickt von Atemus Kuss und schuf die innige Verbindung, die jegliche Bedenken verwischte. Wie konnte etwas falsch sein, wenn es sich so richtig an fühlte? Atemus hungrige Lippen, sein warmer Körper, die sanfte Erregung, die ihn durchzog. Yugi seufzte leise. Seine Hand glitt über Atemus Arme, erfühlten die schweren Schmuckreifen, deren Gold so kühl zu sein schien und hinterließen eine kaum merkliche Gänsehaut auf der bronzenen Haut. Ohne den Kuss zu lösen, griff der Pharao plötzlich nach Yugis Hand, verschränkte ihre Finger ineinander und drückte sie mit sanfter Gewalt auf die Kissen zurück. Nur mit Mühe unterband Yugi einen enttäuschten Laut. Seine Haut kribbelte, alles in ihm schrie danach, die Arme um den Pharao zu schlingen und ihn an sich zu pressen, ihn zu fühlen, zu umarmen, diesen Hauch von Entfernung überbrücken, den Atemu stets zwischen ihnen ließ. Mit einem Seufzen unterbrach er den Kuss und lehnte den Kopf weit in den Nacken. Er wollte Atemus Lippen an seinem empfindlichen Hals spüren, unter der Berührung erschaudern. Seine freie Hand fuhr ohne sein Zutun nach oben und vergrub sich in Atemus weichem Haar. Sanft, fast flehend versuchte er den Pharao zu leiten, doch erneut wischte dieser Yugis Hand mit einer unwirschen Bewegung beiseite. Ohne auf die stumme Bitten einzugehen, zwang Atemu Yugi wieder in einen hitzigen Kuss, fuhr mit seinen Händen unter Yugis Tunika und schob den Stoff achtlos nach oben. Etwas in Yugi zerbarst. Auch wenn er seine Erregung nicht leugnen konnte – das hier wollte er nicht. Nicht so schnell. Nicht auf diese distanzierte Weise. Mit einem Keuchen unterbrach er den Kuss, die einzige Berührung, die Atemu ihm gestattete und stemmte seine Hände gegen die Brust des Pharao. „Nein“,  presste Yugi zwischen schweren Atemzügen hervor. „Bitte… Hör auf.“ Er spürte, wie sich Atemus gesamter Körper anspannte. Einen Moment trafen sich ihre Blicke. Wut. Verletzter Stolz, Schrecken, Unsicherheit, Verwirrung, Schuldgefühl. Zum ersten Mal lag so viel Emotion in Atemus Augen, dass Yugi erschauderte. So viel Menschlichkeit. Ohne nachzudenken, hob Yugi eine Hand, wollte Atemu sanft über die Wange streichen, doch kurz bevor er die dunkle Haut berührte, gewann der Zorn die Vorherrschaft in den violetten Augen. Wortlos schlug der Pharao Yugis Hand beiseite und stemmt sich hoch. Yugi wusste nicht, was ihn mehr verletzte. Der Hall der zuschlagenden Türe, oder dass Atemu den Raum verlassen hatte, ohne ihn auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. ~oOo~ Stunden waren vergangen. Stunden, in denen Yugi das Gesicht in den Armen vergraben und gewartet hatte. Atemu war nicht wieder erschienen. Yugi schluckte schwer, doch der bittere Kloß in seiner Kehle wollte nicht weichen. Ungelenk stand er schließlich auf, bewegte sich so leise wie möglich durch den Raum und blieb vor der Tür stehen, hinter der Atemu verschwunden war. Der bittere Kloß rutschte ein kleines Stück höher. Langsam legte er seine bebenden Hände gegen das kalte Holz und lehnte seine Stirn dagegen. Er wusste, dass Atemu noch im angrenzenden Raum war. Er fühlte es. Lange rang er mit sich, doch dann drückte er die Tür mit dem Mut der Verzweiflung einen kleinen Spalt auf und spähte hinein. Das Erste, was er erblickte, war ein erdrückend großer, goldener Schrein, dessen schwere Türen weit offen standen. Aus dem Inneren starrte ein Wesen hervor, das Yugi ein Schaudern über den Rücken jagte. Unförmige Ohren, ein dürrer Leib aus mattem Schwarz, eine gebogene Schnauze und tiefliegende, gelbe Augen. Obwohl das Wesen aus Stein gemeißelt war, schien es seltsam lebendig zu sein. Yugi glaubte, die Heimtücke und Verschlagenheit körperlich spüren zu können, die von der großen Statue ausging. Nur mit großer Überwindung konnte er sich dazu zwingen den Blick zu lösen und dem Pharao zuzuwenden, der reglos vor der Statue verharrte. Demütig war er auf die Knie gesunken, die Stirn berührte den kalten Mosaikboden. Jeglicher Schmuck, selbst sein königliches Diadem, lag achtlos verstreut neben der Tür, nur das Milleniumspuzzle lag um seinen Hals. Hatte er die ganze Zeit so verharrt? Yugi biss sich auf die Unterlippe, versuchte den galligen Geschmack zu ignorieren, der über seine Zunge kroch. Er sah, dass Atemus Fingerspitzen bebten. Er sah, wie angespannt der gesamte Körper des Pharaos war, hörte die leise geflüsterten Gebetsformeln, ohne eine davon wirklich zu verstehen. Und er wusste plötzlich, dass er hier nicht hin gehörte. So leise, wie er die Tür geöffnet hatte, zog er sich zurück und ließ sich wieder neben dem Senet-Spiel nieder. Seine Fingerspitzen schoben die Steine auf dem Spielbrett umher, brachten sie zurück in ihre alte Position und verschoben sie erneut. Was sollte er tun? Wie konnte er dem Pharao gegenüber treten? Kälte floss über seinen Rücken als er an die Statue dachte, die dort im Schrein lauerte. Was war das für ein Wesen? Es schmerzte Yugi zu sehen, wie demütig Atemu auf dem Boden gelegen hatte. Er, der sonst so stolz, so autoritär schien. Der Laut einer sich öffnenden Tür riss Yugi aus seinen Gedanken und als er den Kopf wandte, sah er den Pharao eintreten. Yugi erhob sich hastig, zögerte dann einen Moment und trat ihm dann doch mit einem zaghaften Lächeln entgegen. „Atemu! Ich dachte schon du kommst gar nicht mehr zu-“ Er sah die Bewegung zwar noch aus dem Augenwinkel, aber er war zu überrascht um der Ohrfeige auszuweichen. Sie traf ihn mit voller Wucht. Noch ehe er fassen konnte, was gerade geschah, grub sich Atemus Hand in die Vorderseite seiner Tunika und zerrte ihn grob vom Boden hoch. Als Yugi entsetzt aufsah, erstarrte er. Aus Atemus Augen war jegliche Menschlichkeit verschwunden. Wo noch Stunden zuvor Verwirrung und verletzter Stolz geschimmert hatten, herrschte nur noch bodenlose Kälte. „Du elendes Gossenkind.“ Atemus Stimme schnitt durch die Luft wie gebrochenes Glas. „Was erlaubst du dir eigentlich?“ Er fuhr herum und zerrte Yugi mit sich, der viel zu schockiert war, um zu reagieren. In einer wütenden Bewegung riss Atemu die Tür auf, die in den Flur hinaus führte und schleuderte Yugi so heftig von sich, dass dieser einige Schrittlängen über den Boden schlitterte. „Verschwinde! Such dir irgendein Loch in diesem Palast, in das du dich verkriechen kannst, aber geh mir aus den Augen!“ Yugi zog zittrig die Luft ein. Der Pharao bebte vor Zorn, seine Stimme hallte im Flur wieder, traf auf steinerne Fresken und wurde zurückgeworfen. Der ganze Palast schien zu verstummen. Atemu fuhr herum und fixierte mit seinem Blick plötzlich zwei Diener, die in einer Mischung aus Schrecken und Neugier aus einem nahen Raum lugten. „Du! Geh und hole Djedefre. Er hat in zehn Minuten hier im Palast zu sein. Und du, informiere Ishizu darüber, dass mein Privatschrein neue Opfergaben benötigt.“ Während die Diener in panischer Eile davonstoben, trat der Pharao noch einmal auf Yugi zu, der sich vor Fassungslosigkeit nicht regen konnte. Atemu schien sich wieder unter Kontrolle zu haben, seine Stimme war leise und ruhig, doch von einer solchen Schärfe, dass Yugi glaubte, sie würde ihm ins Fleisch schneiden. „Kenne deinen Platz, Straßenbalg“, zischte Atemu, während er sich schon wieder abwandte, „und versuche nie wieder ihn zu verlassen.“ Als die Tür hinter dem Pharao ins Schloss fiel, ergriff Yugi ein heftiges Beben. Er wollte schreien, aber brachte keinen Ton über die Lippen. Er fühlte Tränen in sich aufsteigen, Tränen der Wut, der Frustration, aber auch Tränen, deren Ursprung er nicht deuten konnte. Hastig drängte er sie zurück, biss sich so fest auf die Lippe, dass es schmerzte. Er wusste nicht, wie lange er dort auf dem Boden verharrte und versuchte, sich wieder zu fassen. Irgendwann rissen ihn jedoch schnelle Schritte aus der Starre. Einer der Diener war zurückgekehrt, begleitet von einem kleingewachsenen, schlanken Ägypter, der nicht viel mehr trug, als einen schmalen Lendenschurz. Vor der Tür zu Atemus Privaträumen angekommen, verharrte der Fremde kurz, atmete einige Male tief ein und aus und strich sich das schulterlange Haar glatt. Schließlich lächelte er selbstgefällig, klopfte an die Tür und verschwand in dem Raum. Auch wenn Yugi wusste, dass es ein Fehler war, kroch er langsam über den Boden und lehnte sich gegen die schwere Flügeltür. Er hörte den Fremden sprechen, hörte Atemu knapp antworten, doch mehr als einzelne Worte konnte er durch das dicke Holz nicht verstehen. In seinem Magen tobte ein Sturm. Mit zitternden Fingerspitzen fuhr Yugi über die Reliefs, welche die Tür schmückten. So seltsam es schien, doch diese alten Hieroglyphen spendeten ihm ein wenig Ruhe und Trost. Die Unterhaltung zwischen Atemu und dem Fremden war verstummt. Es schien ruhig zu sein im Raum. Yugi holte tief Luft und schloss gerade die Augen, als plötzlich ein seltsames Geräusch zu ihm hindurch drang. Sein Inneres erstarrte zu Eis. Ihm war sofort klar, was er hörte; er sah sofort die Bilder von dem vor sich, was gerade in dem Raum geschah. Der Geschmack von Galle überflutete seine Kehle, brachte ihn zum würgen. Die Tränen, die er bis dahin unterdrückt hatte, brachen hervor und plötzlich wurde ihm bewusst, was es war, das da neben Wut und Frust in ihm nagte. Es traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube, als er den Kopf mit einem Schluchzen in den Armen vergrub und der Eifersucht nachgab. ~oOo~ Djedefre war ein Meister darin, sämtliche Gefühlsregungen in seiner Mimik verbergen zu können und doch tat er sich heute schwer damit, die Arroganz aus seinem Gesicht zu verbannen. Es war tatsächlich endlich geschehen. Der Pharao ließ ihn in den Palast rufen. Öffentlich und ohne einen Täuschungsgrund vorzuschieben. Endlich hatte Djedefre eine Position erreicht, die es ihm ermöglichte, direkten Einfluss auf den Pharao zu nehmen. Der Tänzer biss sich auf die Zunge, um ein Lachen zu unterdrücken, während er hinter dem Palastdiener durch die Flure eilte. Heute war der triumphalste Tag seines Lebens. Bevor er die Tür zu Atemus Privaträumen betrat, fuhr er sich mehrmals durch das Haar, er wollte nicht zerzaust und außer Atem vor den Pharao treten. Als er sich gesammelt hatte, klopfte er und trat ein. Der Pharao stand im Halbschatten und war schwer auszumachen, doch Djedefre konnte den durchdringenden Blick spüren, der auf ihm lag. Er bemühte sich um ein besonders kokettes Lächeln und verneigte sich so tief, dass sein Haar zur Seite fiel und seinen Nacken offenbarte. „Guten Abend, edler Pharao. Es ist mir eine Freude-“ „Schweig“, unterbrach Atemu ihn unwirsch und Djedefre schnappte lautlos nach Luft. Noch ehe er sich wieder aufrichten konnte, hatte der Pharao bereits den Raum durchschritten und vergrub seine Hand in dem ungeschützten Nacken des Tänzers. „Ich habe dich nicht für ein Gespräch hierher bestellt.“ Djedefre war so perplex, dass er nicht wusste, wie er reagieren sollte. Stumm ließ er sich von Atemu auf das Bett drängen und verharrte reglos. Atemu hielt sich weder mit einem Kuss auf, noch mit einer sanften Berührung. In jeder Bewegung konnte Djedefre die Wut fühlen, die in Atemu loderte und er biss sich heftig auf die Unterlippe, damit ihm kein Laut entkam. Trotz einem Leben zwischen Tanz und Prostitution hatte er sich noch nie so gedemütigt gefühlt. Atemu würdigte ihn keines Blickes, schien durch ihn hindurch zu sehen, als existiere er gar nicht; er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht sich zu entkleiden. Nach einer Zeit, die sich für Djedefre schier endlos anfühlte, war es endlich vorbei. Atemu spannte sich ein letztes Mal an, schloss die Augen und verharrte einige Sekunden, ehe er sich sofort zurückzog und abwandte. Schwerfällig glitt Djedefre von dem prachtvollen Bett und tastete nach dem Lendenschurz, den der Pharao ihm unsanft heruntergerissen hatte. Was war mit Atemu geschehen? Noch nie hatte Djedefre ihn so gesehen. Verwirrt sah der Tänzer auf und musterte den Pharao, der aufgestützt auf seinen Schreibtisch, mit dem Rücken zu ihm, stand und auf einen gesprungenen Alabasterkrug starrte. Djedefre wusste, dass es nun an ihm war um seinen Lohn zu bitten, aber zum ersten Mal zögerte er. Das hier war nicht der Pharao Atemu, den er kannte. Und das war nicht der Pharao Atemu, der sich von ihm manipulieren ließ. Langsam erhob er sich, zögerte erneut und sank dann doch auf die Knie. „Mein…“ Er räusperte sich, als er hörte, wie heiser seine Stimme klang. „Mein Lohn, werter Pharao. Bitte.“ Zuerst schien es, als würde Atemu nicht reagieren, doch dann warf er ohne hinzusehen einige Kupferstücke zu Boden. Djedefre sammelte das Metall hastig ein, zählte es und stockte. „Werter… Werter Pharao, für gewöhnlich besteht mein Lohn aus fünf Deben Kupfer. Ich zähle jedoch nur drei und-“ „Das ist mehr als reichlich. Geh jetzt. Lass mich allein.“ Djedefre presste wütend die Lippen aufeinander. Sein ganzer Einfluss auf den Pharao schien von heute auf morgen verschwunden zu sein. In einer schnellen Bewegung erhob er sich und wandte sich der Tür zu. Auf dem Weg dorthin vergewisserte er sich, dass Atemu nicht zu ihm sah und ließ einen achtlos herumliegenden Schmuckreif in einer kleinen Tasche seiner Tunika verschwinden. „Dieses verfluchte Gossenkind…“ Der Fluch, der leise über Atemus Lippen brach, ließ Djedefre aufhorchen. War das der Grund für die Laune des Pharaos? Nachdenklich ließ Djedefre die Tür hinter sich ins Schloss fallen – und stolperte beinahe über eine kleine Gestalt, die im Flur kauerte. Überrascht musterte Djedefre den fremden jungen Mann, sein Blick flog über exotisch weiße Haut und große, tiefe Augen, die rot von vielen Tränen waren. Plötzlich begriff er. Djedefre ballte die Hände zu Fäusten und umrundete den Fremden mit weitausgreifenden Schritten. Dieses Häuflein Elend zu seinen Füßen machte ihm allem Anschein nach den Platz streitig. Wenn Djedefre sich nicht vorsah, würde er jeglichen Einfluss auf den Pharao verlieren. Das konnte er nicht zulassen. Kurz bevor Djedefre den Privatbereich des Palastes verließ sah er noch einmal zurück. Dieses Gossenkind war ein Problem. Er musste dieses Problem aus der Welt schaffen. Und zwar schnell. ~oOo~ Seine Augen brannten, seine Kehle war trocken. Er fühlte sich elend und erbärmlich gleichermaßen. Und einsam. Unendlich einsam. Ein letztes, leises Schluchzen brach aus ihm hervor und endete in einem traurigen Seufzen. Was sollte er denn jetzt tun? „Der Boden kann kalt werden bei diesem Wetter. Steh auf.“ Eine weiche Stimme ließ Yugi heftig zusammen zucken und er sah hastig auf. Das erste, was er erblickte, war eine schmale Hand, die sich ihm auffordernd entgegenstreckte, das zweite waren freundliche Augen und ein sanftes Lächeln. „Du bist sicher Yugi, nicht wahr?“ fragte die junge Frau, die ihm vom Boden aufhalf und sein stummes Nicken mit einem weiteren Lächeln quittierte. „Keine Angst, ich kenne deine Geschichte. Ich bin Ishizu, die Hohepriesterin des Pharao. Komm. Es ist besser, wenn unser Pharao dich nicht auf dem Flur antrifft.“ Nach einem kurzen Zögern nickte Yugi erneut und folgte der Priesterin zaghaft in einen Raum, der vollgestopft war mit Papyri, in Leder geschlagenen Schriftrollen und Stoffstreifen voll Hieroglyphen. Ishizu benetzte ein Leinentuch mit etwas kaltem Wasser aus einer nahestehenden Karaffe und reichte es Yugi weiter. „Hier. Kühle dein Gesicht ein wenig. Und dann erzähle, was geschehen ist.“ Das kühle Tuch half tatsächlich, auch wenn es an den Augen brannte. Aber die Kühle ließ ihn wieder klare Gedanken fassen und beruhigte sein aufgebrachtes Inneres. „Ich … weiß es gar nicht so genau“, antwortete er leise und schlug seine erhitzten Hände in das kalte Tuch ein. „In den vielen Tagen, die ich hier bin, habe ich den Pharao nie so erlebt. Er war sonst so … nett. Streng und ruhig, aber freundlich.“ Ishizus bemerkenswert blaue Augen verengten sich, doch sie unterbrach ihn nicht. Yugi zuckte leicht mit den Schultern. „Er hat … Spiele mit mir gespielt. Hat mir Senet beigebracht. Und er hat…“, er unterbrach sich und bedeckte sein Gesicht hastig mit dem Leinen, als er spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen. Nach einer Weile unterbrach Ishizu das Schweigen wieder. „Was ist dann vorgefallen?“, fragte sie und Yugi seufzte leise. „Wenn ich das nur wüsste“, antwortete er. „Nachdem ich ihn dabei beobachtet habe, wie er vor seinem Schrein kniete, da-“ „Moment.“ Ishizu unterbrach Yugi mit einer hastigen Handbewegung. „Du hast den Schrein gesehen?“ Yugi nickte zögerlich. „Du hast auch das Innere des Schreins gesehen?“ Yugi nickte wieder. „Was hast du gesehen? Was für eine Statue war dort zu finden?“ Yugi musterte die Hohepriesterin irritiert und kratzte sich nachdenklich an der Wange. „Ich kann es nicht genau sagen. Sie war … seltsam. Ein wenig unheimlich, wenn ich ehrlich bin. Sie hatte komische, lange Ohren und einen langen … Rüssel, oder eine Schnauze, da bin ich mir nicht sicher. Sie stand auf allen Vieren und ….“ „Seth.“ „Wie bitte?“ „Der Gott der Wüsten und des Chaos. Seth.“ Ishizu atmete tief ein. „Es ist also wahr.“ Yugis Gesichtsausdruck musste deutlich machen, wie wenig er verstand, denn plötzlich lächelte Ishizu verzeihend. „Du kannst das natürlich nicht wissen. In dem Schrein des Pharao stehen für gewöhnlich die drei wichtigsten Gottheiten des Landes. Das war auch früher bei Pharao Atemu der Fall. Seit einiger Zeit ist es uns Hohepriestern nicht mehr erlaubt, den Schrein zu öffnen, und es wurden Gerüchte laut, dass die Statuen ausgetauscht wurden. Wie es scheint, bewahrheiten sich viele Dinge, die mir zu Ohren gekommen sind.“ Der Gesichtsausdruck der Priesterin wurde ernst und sie fügte leise hinzu: „Mana hatte Recht.“ Yugi zuckte bei der Erwähnung der Jungpriesterin leicht zusammen, widerstand aber der Versuchung nach Joey zu fragen. Ishizu schien die Bewegung jedoch bemerkt zu haben, denn sie lächelte erneut und schüttelte leicht den Kopf. „Keine Sorge, Yugi. Ich weiß nicht nur über dich Bescheid, ich weiß auch von Joey und eurer Begegnung mit Schesemtet.“ Die Woge der Erleichterung, die über Yugi hinwegfloss, war so stark, dass er leise aufstöhnte. „Wo ist Joey? Wie geht es ihm? Hat man von ihm gehört? Und wo ist Mana? Geht es ihr gut?“ Ishizu hob beide Hände, als die Fragen auf sie einprasselten. „Langsam, Yugi, langsam. Über Joey und Manas Verbleib habe ich keine Informationen. Sie haben vor einigen Tagen Theben verlassen und sich auf eine Reise begeben. Ich vermute, dass sie hinter dem Auge des Re her sind. Mana hat all ihre Hoffnung in dieses Artefakt gesetzt.“ Yugi seufzte leise. „Und statt sie zu unterstützen, mache ich alles nur noch schlimmer.“ Ishizus Lächeln nahm einen warmen Zug an. „Den Pharao, den du kennengelernt hast, Yugi, hat viele Jahre niemand mehr gesehen. Du hast es nicht schlimmer gemacht. Du hast nur etwas verändert. Ob zum Guten oder Schlechten wird sich erst zeigen.“ Nach einem prüfenden Blick aus dem Fenster erhob sich die Priesterin schließlich. „Es ist schon sehr spät. Ich werde mich nun zurückziehen. Lass den Kopf nicht hängen, Yugi. Im Nachhinein sieht vieles anders aus und neue Wege offenbaren sich meist dann, wenn man es am wenigsten erwartet.“ Sie schenkte Yugi ein kurzes Lächeln und hielt an der Tür noch einmal inne. „Ich werde morgen in den Tempel gehen und die Götter darum bitten, Joey und Mana heil zurückkehren zu lassen. Vielleicht beruhigt dich das ein wenig.“ Nachdem sie gegangen war, saß Yugi noch lange an dem leeren Tisch und starrte in den prasselnden Regen hinaus. Er glaubte endlich zu verstehen, was Schesemtet gemeint hatte, als sie von Seths Einfluss auf Atemu sprach. Seth beeinflusste nicht nur Atemus Entscheidungen. Er stülpte dem Pharao Wesenszüge über, die diesem eigentlich fremd zu sein schienen. Yugi fröstelte. Er wollte Atemu helfen. Er wusste noch nicht, wie ein einfacher Mensch gegen eine Gottheit wie Seth antreten konnte. Aber er wusste, dass Schesemtet, Joey und Mana auf ihn vertrauten. Doch noch mehr als dieses Vertrauen, wog der innige Wunsch, Atemus sanftes Lächeln noch einmal zu sehen. Kapitel 11: Sturmnacht ---------------------- Joey fuhr zusammen und blinzelte. War er schon wieder kurz eingenickt? Schnell tauchte er eine Hand in den Nil und schöpfte sich Wasser ins Gesicht. Es half etwas. Gähnend wandte er sich um und sah zu Mana auf, die am Heck des kleinen Bootes stand. Er erschrak, als ihm bewusst wurde, wie unglaublich erschöpft sie aussah. Ihre sonst so strahlenden Augen wirkten matt, ihre dunkle Haut fahl und eingefallen. Eine Woge schlechten Gewissens schwappte über Joey hinweg. Seit unzähligen Stunden waren sie unterwegs und in all der Zeit war er nur mit sich selbst und seinen Gedanken beschäftigt gewesen. Hatte Mana überhaupt eine Sekunde geschlafen? Die Tatsache, dass er die Antwort auf diese Frage nicht wusste, versetzte ihm einen Stich in die Magengrube. Ungelenk rappelte er sich auf die Knie und streckte die Hand nach dem Ruder aus, das Mana führte. „Hey Mädchen“, nuschelte er, „mach mal Pause. Das bisschen im Wasser Rumstochern kann ich auch übernehmen.“ Ein dankbares Lächeln flog über das Gesicht der Jungpriesterin, doch es erlosch so schnell, wie es erschienen war. „Nein“, antwortete sie leise und Joey  fiel plötzlich auf, wie angespannt sie war. „Seit einigen Stunden wird die Strömung immer schneller. Es benötigt Erfahrung, das Boot jetzt lenken zu können.“ Irritiert sah Joey sich um und stellte fest, dass Mana Recht hatte. Das Ufer glitt so schnell an ihnen vorüber, dass ein ungutes Gefühl in Joey aufstieg. „Wäre es nicht besser, rechts ran zu fahren? Wir können doch ein paar Meter zu Fuß latschen.“ Mana schüttelte den Kopf. „Noch kann ich das Boot kontrollieren. Je schneller wir in Unterägypten angekommen sind, desto besser.“ Dann grinste sie müde „Ein wenig Risiko muss bei einer Heldenreise doch dabei sein, oder?“ Im Gegensatz zu sonst ließ Joey sich von ihrem Grinsen nicht anstecken. Es wirkte so aufgesetzt, dass es ihn eher schauderte. „Ich meine das ernst, Mädchen. Ich bin sonst auch wirklich bei jedem Mist dabei, aber hast du dich in den letzten Stunden mal genauer angesehen? Du siehst aus, als wenn du gleich aus den Latschen kippst. Du brauchst dringend eine Pause.“ Mana schnaubte und paddelte hastig mit dem Ruder, um einer großen Wurzel auszuweichen, die in bemerkenswerter Geschwindigkeit an ihnen vorbei schoss. „Ich brauche keine Pause. Ich bin am Nil aufgewachsen, ich weiß, wie man ein Boot führt.“ Ihre Dickköpfigkeit begann Joey zu ärgern. „Jetzt sperr mal die Gehörgänge auf, Kleines. Ich habe keine Lust draufzugehen, nur weil du dich überschätzt. Wir gondeln jetzt an das Ufer und laufen ab hier, kapiert?“ „Sag mal, wer glaubst du denn, wer du bist?“ Mana stach mit dem Ruder in den Nil, als wolle sie ihn erdolchen. „Wer ist es denn, der sich ständig überschätzt? Wer fängt denn Streit mit Hohepriestern an und zeigt keinen Funken Respekt vor Autoritäten? In den letzten Tagen hast du dich schön bequem über den Nil schippern lassen und jetzt glaubst du, mir reinreden zu können? Setz dich einfach wieder hin und starre debil in die Landschaft, das kannst du wenigstens.“ Joey ballte die Hände zu Fäusten. „Du und dein elendes Gezicke, weißt du eigentlich, wie das nervt? Da will man dir mal helfen und du…“ Ein lauter Donnerschlag übertönte Joeys Tirade und erstickte Manas erschrockenen Aufschrei. Über ihr Gezanke hinweg hatten sie nicht bemerkt, wie schnell sich der Himmel mit schwarzen Wolken überzogen hatte. Ein heftiger Windstoß ergriff das kleine Boot, wirbelte es umher wie ein Blütenblatt und verwandelte den Nil in eine reißende Strömung. Erschrocken klammerte sich Joey in dem Papyrusgeflecht des Bootsrumpfes fest. Er hörte, wie Mana ihm etwas zurief, aber er verstand kein Wort über das Tosen des Unwetters. Er sah nur die Leichenblässe, die sich auf den Wangen der Jungpriesterin zeigte  und die blanke Angst, die in ihren Augen stand. Das Boot wankte unter den Schlägen, die ihm der Sturm zufügte, und Joey glaubte, das Ächzen der Fasern unter seinen Fingerspitzen zu spüren. Wie lange würde das Papyrus noch halten? Ein weiterer Donnerschlag hallte über den Nil und vermischte sich mit Manas panischem Aufschrei. Joey biss die Zähne zusammen und versuchte sich hochzustemmen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Es war nur eine kurze Distanz, aber es verlangte ihm viel Kraft ab, zu Mana zu robben. Er rief ihren Namen, doch von ihr kam keine Reaktion. Sie klammerte sich so fest an dem lotusförmigen Heck des Bootes, dass ihre Adern unter der Haut hervortraten. Ihre unnatürlich aufgerissenen Augen starrten ins Nichts, über ihre bleichen Lippen flogen die Namen der ägyptischen Götter, die sie atemlos um Schutz anflehte. Joey fluchte. „Reiß dich zusammen, Mädchen!“ Mana schien ihn nicht zu hören. Joey fluchte erneut, klammerte sich ebenfalls am Heck fest und zog Mana fest in seine Arme. Er versuchte das Ruder aus ihrer Hand zu nehmen, doch sie hielt es so krampfhaft fest, dass er Angst hatte, ihre Finger brechen zu müssen. „Lass das Ruder los! Verdammt, wir kippen noch um!“ Mana reagierte noch immer nicht. Sie murmelte nur beständig Osiris‘ Namen, schien Joey nicht einmal wahrzunehmen. Joey reagierte instinktiv. Ohne darüber nachzudenken holte er aus und schlug Mana mit der flachen Hand auf die Wange. Mana schrie auf, blinzelte – und krallte sich plötzlich in Joeys Tunika fest. „Wir müssen ans Ufer!“, rief sie mit überschlagender Stimme. „Hilf mir!“ Wäre die Situation weniger Ernst gewesen, hätte Joey wahrscheinlich trocken darüber gelacht. So aber griff er nach dem Ruder, während er gleichzeitig versuchte, Mana mit seinen breiten Schultern ein wenig vor dem Sturm zu schützen. Nach wenigen Augenblicken waren seine Hände taub und seine Muskeln brannten vor Anspannung. Irgendwie gelang es ihnen das Boot immer näher an das rettende Ufer treiben zu lassen und Joey wollte schon erleichtert aufatmen, als plötzlich ein Stück Treibholz heranschoss, den Bootsrumpf durchbohrte und den Papyrus zur Hälfte aufschlitzte. „Runter!“, brüllte Joey, als ihm klar wurde, dass sie das Schiff nicht mehr unter Kontrolle hatten. „Wir müssen schwimmen!“ „Spinnst du? Das ist zu gefährlich!“ „Frauen und Kinder zuerst!“ Ohne auf Manas weiteren Protest zu achten, stieß er sie in die Fluten und sprang. Der Nil verschluckte ihn wie endlose Schwärze. Joey kämpfte sich an die Oberfläche, wurde von den Wellen nach unten gedrückt und wühlte sich wieder nach oben. Er schluckte Wasser, würgte, rang keuchend nach Atem und kratzte allen Überlebenswillen zusammen, den er in sich fand. Plötzlich trafen seine Finger auf nasses Schilf. In einem letzten Kraftakt zog er sich daran aus dem Wasser und fiel schwer auf das schlammige Ufer. Neben sich hörte er Mana husten und mit einem Mal fühlte er nichts weiter, als unendliche Erleichterung. Ohne, dass er groß nachdachte, rollte er sich zu ihr, schlang die Arme um ihren zitternden Körper und drückte sie so fest an sich, dass sie leise ächzte. „Mach sowas nie wieder, du kleiner Dickkopf“, murmelte er so leise, dass es im Rauschen des Regens fast unterging. „Ich hatte echt Angst um dich.“ Er spürte, wie Mana ihr Gesicht in seiner Tunika vergrub und wusste plötzlich, dass sie weinte. Sanft strich er durch ihr langes, zerzaustes Haar, immer wieder, bis das stumme Beben ihrer Schultern nachließ. Inmitten des Gewittersturmes, der Kälte und des prasselnden Regens, war sie vor Erschöpfung in seinen Armen eingeschlafen. ~oOo~ Sie war sich sicher, den Wind zu hören, der übermütig mit Palmenblättern spielte. Doch als Mana die Augen aufschlug, wurde ihr bewusst, dass es der unaufhörlich prasselnde Regen war, der sie geweckt hatte. Verwirrt rappelte sie sich auf und sah sich um. Sie befand sich in einer kleinen, natürlichen Höhle, deren Eingang so schmal war, dass sich gerade eine Person durchquetschen konnte. Wie war sie hierhergekommen? Sie wusste noch, dass Joey sie ins Wasser gestoßen und sie es irgendwie ans Ufer geschafft hatte. Hatte Joey sie danach hierher getragen? Eine leichte Röte zog über ihre Wangen, als sie sich daran erinnerte, dass sie wie ein kleines Mädchen in seine Tunika geheult hatte. Aber seine Umarmung war so warm gewesen. So tröstend. Es hatte ihr so gut getan. Ein leises Ächzen ließ sie aufhorchen und sie entdeckte Joey, der sich durch den Felsspalt quälte. Als er ihren Blick auffing, grinste er schief. „Es regnet noch“, bemerkte er überflüssigerweise. Mana nickte und schlang die Arme um ihre Knie. „Joey … ich wollte … Entschuldige.“ „Hm?“ „Ich sagte: Entschuldige.“ „Hab ich verstanden. Ich wollte wissen, warum?“ Mana seufzte kleinlaut. „Du hattest Recht. Ich hätte früher ans Ufer fahren müssen. Es hat schon einige Zeit im Westen geregnet, ich wusste, dass der Nil dann sehr schnell und ohne Vorankündigung anschwellen kann. Aber ich wollte die Schnelligkeit so lange wie möglich ausnutzen. Und dann… dann habe ich alles falsch eingeschätzt.“ Joey fuhr sich ungelenk durch die blonden Haare. „Ach was solls. So eine Schwimmstunde hat noch niemandem geschadet.“ „Aber…“ „Nix aber. Die Hauptsache ist doch, dass wir hier sind und aufbrechen können, sobald du bereit bist.“ Mana erstarrte. „Auf…brechen? Jetzt? Bei … bei diesem Regen?“ „Was spricht dagegen?“ Joey musterte sie irritiert. Plötzlich weiteten sich seine Augen. „Sag mir nicht… hast du etwa Angst vor Gewitter?“ Mana spürte, wie ihr Gesicht rot anlief. „Nein! Also Angst ist hier eindeutig das falsche Wort dafür!“ „Bammel? Schiss? Muffensausen?“ „Joey!“ Obwohl es ihr unglaublich peinlich war, musste sie lachen. „Du bist unmöglich!“, kicherte sie,  stützte dann ihr Kinn auf ihre Knie und seufzte erneut. „Ich habe keine … Angst. Aber … weißt du, in Ägypten regnet es kaum. Wir sehen den Regen meistens nur wie einen Vorhang, weit in Nubien. Dann wissen wir, dass die Nilschwemme kommen wird. Ein solches Unwetter wie dieses habe ich viele Jahre nicht erlebt. Es heißt…“, sie stockte kurz und senkte ihre Stimme als sie sprach. „Es heißt, dass ein solcher Regen ein schlechtes Omen ist und dass die Götter erzürnt sind. Vielleicht ist Osiris…“ „Ach Unsinn!“ Joey schnitt ihr mit einem Schnauben das Wort ab und tippte sich auf die Brust. „Da, wo ich her komme, regnet es ständig. Da ist das bisschen Regen da draußen gar nichts dagegen. Das sind keine Götter, die die Dusche aufdrehen, weil sie pampig sind. Das ist ganz natürlich.“ Er ließ sich neben ihr auf den Boden fallen, zog seine Beine in einen Schneidersitz und streckte den Zeigefinger lehrerhaft in die Luft. „In meiner Heimat regnet es manchmal so stark, dass man nichts mehr sehen kann. Man kann den Regen schneiden, so dick ist er! Drum lernen Kinder bei uns beizeiten schwimmen, damit sie nach Hause schwimmen können, wenn die Schule aus ist. Das ist Regen!“ Manas Augenbraue zuckte. Joey übertrieb sicherlich maßlos. Kinder, die aus der Schule schwimmen – so ein Unsinn. Andererseits… er wirkte so völlig von sich überzeugt, dass Mana ins Zweifeln kam. Joey grinste breit und schlug ihr kumpelhaft auf die Schulter. „Na komm. Lass uns weiterziehen. Hier können wir schlecht bleiben, es gibt ja nicht mal was zu essen.“ Auch wenn Mana ihm insgeheim Recht geben musste, zögerte sie noch eine Weile, ehe sie sich dann doch erhob und Joey vor die Höhle folgte. Der Regen schlug ihr sofort aufs Gemüt, auch wenn er deutlich an Intensität verloren hatte. Joey lächelte aufmunternd. „Ist doch alles halb so wild. Das hört schon wieder auf. Und in null Komma nix sind wir wieder zurück in Protzhausen und du kannst deinen Pharao heilen, heiraten, Kinderchen kriegen und glücklich bis ans Ende deiner…“ „Bitte… was?“ Mana verharrte mitten im Schritt und starrte Joey an wie eine Erscheinung. „Äh… bist du nicht mit dem Typen verlobt?“, fragte Joey irritiert. „Als du auf der Baustelle aufgetaucht bist, hat mich diese Vorarbeiter-Nulpe angebrüllt, ich solle aufhören dich so anzustarren, weil du den Pharao heiraten wirst.“ Mana schwankte zwischen Schreien und Lachen. „Atemu ist mein bester Freund seit meiner Kindheit, wir sind praktisch zusammen aufgewachsen. Er ist wie ein großer Bruder für mich! Ich und ihn heiraten? Und gemeinsam Kinder... bei Horus, ich glaube, mir wird schlecht…“ Täuschte sie sich, oder schienen Joeys Augen plötzlich heller zu strahlen? Er antwortete nicht weiter darauf, sondern lief nur stumm neben ihr her. Mana fiel auf, dass seine Schritte federnder und leichter schienen als zuvor. ~oOo~ „Du bist dir da wirklich sicher?“ „Ja. Zugegeben, ich habe nicht viel Zeit mit ihm verbracht, aber ich glaube ihm. Er ist ein ehrlicher, junger Mann, dem man jede Lüge an der Nasenspitze ansehen würde.“ Seto schnaubte nur und Ishizu unterdrückte ein amüsiertes Lächeln. Sie kannte niemanden, der misstrauischer war als Seto, kein Wunder dass er nicht an Geschichten von grundehrlichen Fremden glaubte. Aber er schien zumindest ihrem Urteil zu trauen, denn nach einem Moment des Schweigens zuckte er mit den Schultern. „Nun gut. Dann sollten wir der Tatsache ins Auge sehen, dass unser Pharao tatsächlich den Wüstengott verehrt. Wir müssen eine Lösung für dieses Problem finden und zwar schnellstmöglich.“ Sein Blick legte sich auf die Milleniumskette der Hohepriesterin und Ishizu widerstand dem Drang, das Schmuckstück zu verbergen. „Die Milleniumskette wird uns nicht helfen“, antwortete sie auf Setos unausgesprochene Frage. „Sie schweigt, egal wie sehr ich es versuche.“ Der Hohepriester schien etwas sagen zu wollen, doch das Herannahen eines Soldaten unterbrach ihn. Seto gab Ishizu mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ihr Gespräch nur unterbrochen, nicht beendet sei und wies sie an, einen Moment zu warten. Ishizu musterte den hinzugetretenen Fremden mit hochgezogenen Augenbrauen. Setos Söldnertrupp bestand aus breitschultrigen, dunkelhäutigen Nubiern, die in der hiesigen Gesellschaft nicht sonderlich hoch angesehen waren. Ishizu hatte nichts gegen Nubier. Bei Osiris, sie würde niemals Vorurteile haben, sie war schließlich eine Hohepriesterin. Aber man hörte eben doch Geschichten… „Was gibt es?“ Setos knappe Frage brachte Ishizu in die Wirklichkeit zurück und sie schob die Gedanken von sich. Der hinzugetretene Nubier verneigte sich vor beiden Hohepriestern mit höchstem Respekt und hielt Seto einen zerfledderten Leinensack entgegen. „Das wurde mir vom Kommandanten des zweiten Trupps überreicht, ehrenwerter Priester. Ich sollte es sofort zu Euch bringen.“ Setos Augenbrauen rutschten nach oben, doch er schwieg. Mit einem schnellen Griff schlug er das Leinen auseinander, sah hinein und stockte. Sein Blick flog zu Ishizu, während er mit der linken Hand eine Papyrusrolle herauszog, die unter seinem festen Griff halb zerbröselte.  Die Erkenntnis traf Ishizu, noch bevor Seto den Papyrus gänzlich auseinanderrollen konnte. Ihr Herz setzte einen Moment aus. Das, was Seto dort in der Hand hielt, war die Karte Unterägyptens, die sie Mana gegeben hatte. Mit einem entsetzten Laut griff Ishizu nach dem Fetzen, der von der wertvollen Karte noch übrig war. „Woher hast du das?“, entfuhr es Seto harsch. „Wo wurde es gefunden?“ Der Nubier sah sich kurz um, antwortete erst, als er sich sicher war, dass niemand lauschte. „Es wurde am Nilufer angeschwemmt. Wenig später stieß der zweite Trupp auf ein Papyrusboot, das…“, er unterbrach sich kurz, sah zwischen Seto und Ishizu hin und her und sprach leise weiter. „Es war komplett zerstört. Von den gesuchten Personen war niemand zu finden. Aber wenn ich offen sprechen darf, edle Priester, ich weiß nicht, ob jemand auf diesem Boot überlebt haben konnte. Der Nil war aufgrund des Unwetters lebensgefährlich.“ Ishizu ballte die Hände zu Fäusten, um sich nicht anmerken zu lassen, dass sie zitterte. Ein bitterer Geschmack legte sich auf ihre Zunge, machte das Schlucken schwer. „Das ist nicht wahr“, flüsterte sie rau. „Ich glaube nicht, dass das wahr ist.“ Seto schnalzte leise mit der Zunge. „Du kannst glauben und nicht glauben, was du möchtest, Ishizu. Fakt ist, dass das hier offenkundig die Karte ist, mit der Mana und dieser Straßenköter aufgebrochen sind.“ „Na und?“, fuhr Ishizu auf. „Was bedeutet das schon? Vielleicht ist das Boot gesunken, das mag sein. Aber das heißt noch lange nicht dass sie… dass sie…“, sie unterbrach sich und biss sich auf die Unterlippe. Seto musterte sie lange, ohne dass Ishizu deuten konnte, was er dachte. Schließlich wandte er sich zu dem dunkelhäutigen Söldner um und winkte ihn zu sich heran. „Trupp zwei soll weitersuchen. Wenn Trupp eins zurückkehrt, sende ihn sofort wieder aus; er soll den zweiten Trupp bei der Suche unterstützen. Ihr werdet diese Narren finden, koste es was es wolle.“ Der Nubier salutierte, fuhr auf der Ferse herum und rannte hastig über den Palasthof. Ishizu sah ihm nach, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. „Es sind fähige Männer“, hörte sie Seto sagen, doch sie wandte sich nicht zu ihm um. „Sie werden Mana und den Bengel finden und hierher zurückbringen, damit die Zwei ihre gerechte Strafe erhalten.“ Er schwieg einen Augenblick und als er weitersprach, glaubte Ishizu ein kurzes Kratzen in der kühlen Stimme zu hören. „Oder eine ehrenhafte Bestattung.“ ~oOo~ In den letzten Tagen hatte Yugi Ishizu oft zu Gesicht bekommen. Der Pharao schien viel zu beten, denn beständig trug die Hohepriesterin einen neuen Korb voll Opfergaben in den privaten Tempel. Von Atemu selbst war jedoch kaum etwas zu sehen. Immer, wenn sich eine Tür öffnete, spähte Yugi hoffnungsvoll in den Flur, doch bisher hatte er den Pharao nur einmal erblicken können – flankiert von einigen Senatoren war er genauso schnell im Palast verschwunden, wie er aufgetaucht war. Yugi seufzte tief und konzentrierte sich wieder auf die Schreibbinse in seiner Hand. Ishizu war der Meinung gewesen, dass er dringend eine Aufgabe benötigte, nachdem sie ihn zum vierten Mal dabei ertappt hatte, wie er vor Atemus Privaträumen hin und her schlich. Nun lehrte sie ihn das Schreiben, wann immer sie ein paar Augenblicke Zeit erübrigen konnte. Yugi war ihr sehr dankbar dafür. Immer, wenn ihn seine eigenen Gedanken zu ersticken drohten, lenkte er sich damit ab, indem er die hieratische Schrift übte und da das sehr häufig der Fall war, machte er große Fortschritte. Auch heute schrieb er wieder, bis der Papyrus komplett mit Schriftzeichen übersäht und die Sonne bereits am Untergehen war. Yugi streckte seine verkrampften Muskeln, bis es laut in seinem Nacken knackte und legte die Schreibbinse zur Seite. Das Schreiben machte ihm mehr Spaß, als er zunächst geglaubt hatte. Zufrieden mit seinem Tagwerk erhob er sich und betrat den Flur. Er hatte Lust, noch kurz in den Garten zu gehen und die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu genießen, nachdem es nun so lang geregnet hatte. Außerdem hoffte er, noch einmal auf die Hohepriesterin zu treffen. Sie war ihm so fahrig und abwesend erschienen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. „Du! Fremder!“ Yugi lief noch ein paar Schritte weiter, ehe ihm dämmerte, dass wohl er selbst damit gemeint war. Verwundert wandte er sich um und stockte, als er am Ende des langen Flures einen Ägypter stehen sah, dessen Gesicht er so schnell nicht mehr vergessen würde. Die Erinnerung stach so tief in seinen Brustkorb, dass er es in seinen Eingeweiden spüren konnte. „Ja, du bist gemeint. Komm zurück!“ Yugi antwortete nicht. Er wusste nicht, wie er sich dem Fremden gegenüber verhalten sollte. Er war eifersüchtig und schämte sich gleichzeitig über diese Gefühlsregung, die ihm seines Erachtens nach gar nicht zustand. Stumm stand er da, die Hände tief in seine Tunika gegraben und wartete. „Kannst du nicht sprechen, oder willst du nicht? Steh nicht da und glotze wie ein Fisch, komm schon her. Der Pharao will dich sehen.“ Die Eifersucht in Yugi zerfloss in zaghafte Hoffnung. Er ignorierte den arrogant-amüsierten Ton in der Stimme des Ägypters und schenkte ihm ein vorsichtiges Lächeln. Der Fremde schien kurz zu stocken, doch dann öffnete er die Tür zu Atemus Privaträumen und bedeutete Yugi einzutreten. „Wir müssen noch ein wenig warten“, erklärte er Yugi beiläufig und winkte ihn dann näher zu sich heran. „Mir wurde aufgetragen, dir in der Zwischenzeit etwas zu überreichen.“ Mit diesen Worten streckte er Yugi einen Schmuckreif entgegen. Yugi zögerte irritiert. Warum sollte ihm der Pharao, nach allem was geschehen war, Schmuck schenken wollen? „Du bist scheinbar wirklich etwas schwer von Begriff.“ Der Ägypter schnalzte mitleidig mit der Zunge. „Das ist für dich. Nimm es ruhig. Es ist ein ... Geschenk.“ Hatte er kurz gestockt? Yugi fühlte sich nicht wohl bei der ganzen Sache. Etwas in ihm riet ihm, den Schmuck nicht anzufassen. Aber was, wenn Atemu ihm wirklich nur ein Geschenk machen wollte? Wäre es nicht ein Affront es abzulehnen? Außerdem… war es nicht ein schöner Gedanke, dass der Pharao ihm eine Aufmerksamkeit zukommen ließ? Ein hoffendes Herz ist stets lauter als der Verstand und ohne dass Yugi sich wirklich dazu entschlossen hatte, griff er plötzlich nach dem Schmuckstück. Es war schwerer als es aussah. Auf dem filigran gearbeiteten Reif prangten, neben wertvollen Edelsteinen, zierliche Hieroglyphen. Yugi konnte sie noch nicht richtig lesen, aber er glaubte, Atemus Namen ausmachen zu können. Er war so in die Betrachtung des wertvollen Geschmeides vertieft, dass er nur beiläufig wahrnahm, wie sich die Tür öffnete. Plötzlich vergrub sich eine Hand tief in seiner Schulter und riss ihn so schmerzhaft herum, dass er taumelte. „Wie kannst du es wagen, den Pharao zu bestehlen? Wenn er … oh, Ihr kommt genau zur rechten Zeit, edler Pharao! Hier! Diesen Dieb habe ich gerade in Eurem Zimmer erwischt!“ Yugi war so schockiert, dass er kein Wort herausbrachte. Er hörte zwar, wie der fremde Mann sprach, realisierte auch, dass es dessen Fingernägel waren, die sich ihm tief in die Schulter gruben, aber die Situation war zu surreal, als dass er sie wirklich begreifen konnte. Wie betäubt hob er den Kopf und starrte in die Richtung der geöffneten Tür. Im Gegenlicht des durch Fackeln erhellten Flures stand der Pharao. Sein Blick flog zwischen Yugi und dem Fremden hin und her. Abgesehen davon reagierte er nicht. Yugi öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber als hätte der Ägypter seinen Versuch vorhergesehen, gab er ihm einen Stoß, sodass Yugi nach vorne stolperte und vor Atemu auf die Knie fiel. „Er wollte soeben davonlaufen!“, tönte der Ägypter. „Seht selbst, mit was er sich aus dem Staub machen wollte!“ Yugis Inneres erstarrte zu Eis. Erst jetzt begann er zu realisieren, in was für Schwierigkeiten er steckte. Sein Blick fuhr nach oben, bohrte sich in Atemus, suchte nach Verständnis und Vertrauen und fand nur eine maskenhafte Leere. Plötzlich neigte sich der Pharao vor, öffnete Yugis Hand, die sich noch immer krampfhaft um das Schmuckstück schloss und nahm den Reif an sich. Kaum dass sein Blick darauf fiel, veränderte sich Atemus gesamte Haltung. Seine Lippen pressten sich so fest zusammen, dass sie weiß wurden; seine Augen verdunkelten sich vor Zorn. Unendlich langsam erhob er sich wieder, den Blick fest auf das Kleinod in seinen Händen gelegt. „Das ist der Schmuckreif meiner Mutter.“ Seine Stimme war so leise wie Schneefall und so schneidend wie die Kälte. „Mein Vater hat ihn ihr am Tage meiner Geburt geschenkt und sie trug ihn bis zu ihrem Tod.“ In Yugi begann Panik aufzusteigen. Eine schleichende, würgende Panik, die jeglichen Atemzug erstickte und das Blut aus den Adern trieb.  „Es ist mein wertvollster Besitz. Du wusstest das…“ Yugi erstarrte, als Atemus Blick sich langsam hob, haltlos über ihn glitt und sich schließlich in den fremden Ägypter bohrte. „… nicht wahr, Djedefre?“ Die Atmosphäre kippte. Yugi glaubte körperlich zu spüren, wie die triumphale Überlegenheit Djedefres in wilde Panik umschlug. Der Tänzer öffnete den Mund, schloss ihn wieder, wich einen Schritt zurück und versuchte es erneut. In seiner Stimme waberte plötzlich eine unnatürliche Schrillheit. „J-ja … das heißt… nein! Ich bin Eurem Ruf gefolgt und wollte hier auf Euch warten… Und da … da sah ich wie dieser Ausländer den Reif stehlen wollte und … ich habe nur reagiert, edler Herrscher! Ich wollte nur…“ Er brach ab und wich einen weiteren Schritt zurück, als Atemu langsam auf ihn zutrat. „Was wolltest du, Djedefre?“ Atemu klang so sanft, fast zärtlich, während er eine Hand hob und eine schwarze Haarsträhne aus dem dunklen Gesicht strich. „Mir helfen? Indem du jemanden des Diebstahls bezichtigst?“ Djedefre erzitterte unter der Berührung, versuchte zu antworten und brachte doch keinen Laut heraus. „Den Pharao zu bestehlen ist ein Kapitelverbrechen, das weißt du.“ Ein leichtes Lächeln flog über Atemus Lippen. „Du wolltest mir also damit helfen, indem du jemanden in den Tod schickst?“ Das Lächeln zerfloss, verzerrte das ebenmäßige Gesicht des Pharao in eine wütende Fratze. Yugi sprang erschrocken auf, als sich Atemus Faust so heftig in Djedefres Magen grub, dass der Tänzer mit schmerzerfülltem Laut in die Knie brach. „Glaubst du, ich habe es nicht bemerkt?“ Fast spielerisch holte der Pharao aus und traf ein zweites Mal. „Wie du mich all die Jahre bestohlen hast? Wie du all die Jahre versucht hast, mich zu beeinflussen?“ Atemu schien wie im Rausch. Wieder und wieder schlug er zu; jeder Treffer schien ihn nur noch weiter anzustacheln.    Djedefre keuchte, aus seinem eingerissenen Mundwinkel tropfte Blut. Yugi reagierte ohne nachzudenken. Mit ausgebreiteten Armen stürzte er nach vorne und warf sich zwischen Atemu und Djedefre. „Hört auf! Hört doch auf!“, schrie er dem Pharao entgegen, der mitten in seiner Bewegung erstarrte. „Hör bitte auf. Das … das bist nicht du.“ In Atemus Augen flackerte es, sein Brustkorb hob und senkte sich unter schweren Atemzügen. Seine Faust war noch immer zum Schlag erhoben, doch sie bebte deutlich. Beschwörend hob Yugi die Hände. Seine Stimme war leise, fast flehend. „Lass ihn gehen. Ich bitte di-, Ich bitte Euch, Pharao.“ „Dieser Bastard hätte dich in den Tod geschickt!“, entgegnete Atemu gepresst. „Er ist es nicht wert…“ „Jedes Leben ist es wert, geschützt zu werden.“ War es Stärke oder Unverfrorenheit, dass er dem Pharao ins Wort fiel? Yugi wusste es nicht. Es war ihm in diesem Moment auch egal. Vorsichtig wischte er Djedefre eine Spur aus Blut und Schweiß von der Wange. „Habt Ihr nicht selbst gesagt, dass Opfer nicht nötig sein sollten?“ Der Pharao schwieg lange. So lange, dass Djedefre bereits wieder aus dem Dämmerzustand erwachte, in den er durch die vielen Schlägen geglitten war. Plötzlich fuhr Atemu herum, riss die Tür auf und rief nach seinen Medjay. Während die Wachen Djedefre vom Boden hochzogen und ihn grob Richtung Katakomben zerrten, wandte Atemu sich ab. Auf die breiten Fensterrahmen gestützt, starrte er wortlos in die untergehende Sonne. Die letzten Strahlen des Tages legten einen goldenen Schimmer auf sein Gesicht und ließen die tiefen Linien unter seinen Augen noch schärfer hervortreten als zuvor. Yugi hatte Atemu noch nie so leer, so erschöpft gesehen. Es war, als hätten die Medjay mit Djedefre einen Teil des Pharao selbst mitgenommen. Yugi schluckte. Er trat einen Schritt vorwärts, streckte die Hand nach Atemu aus – und zog sie doch wieder zurück. Er spürte, dass er mit einer Berührung alles nur noch schlimmer machen würde. Nach einem Moment des Verharrens wandte Yugi sich um und verließ den Raum. Als die Tür schwer hinter ihm ins Schloss fiel, schrak er zusammen. Erst jetzt fiel ihm auf, wie sehr er zitterte.   Kapitel 12: Unrast ------------------ Abydos schien unendlich. Mit offenem Mund starrte Mana auf die Silhouette der ausladenden Nekropole, in der sich überbordende Totentempel, reich verzierte Schreine und erdrückende Monumente wie Mosaiksteine aneinanderreihten. Mana hatte in Theben oft Geschichten darüber gehört, wie eindrucksvoll Abydos sei, doch der Anblick der sich ihr bot, überragte die Erzählungen bei weitem. „Das ist … mal ein nettes Dörfchen…“ Die Ehrfurcht in Joeys Stimme strafte seiner Lässigkeit Lügen. Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander, bis ein lautes Magenknurren die magische Faszination unterbrach. Mit hochrotem Kopf presste Mana eine Hand auf ihren Bauch und streckte Joey die Zunge raus, der sie albern angrinste. „Ich habe Hunger.“ Murmelte Mana überflüssigerweise. „Komm, wir müssen etwas Essbares und einen Unterschlupf finden, bevor es Nacht wird.“ Sie seufzte leise. Bisher waren sie trotz des Verlustes ihres Bootes gut durchgekommen. Sie hatten zwar ihr komplettes Proviant verloren, aber die üppige Vegetation am Nilufer hatte die Reise unbeschwerlicher gemacht, als zunächst befürchtet. Schwerer wog, dass sie auch all die wertvollen Papyrusrollen verloren hatten, die Mana eingepackt hatte, um sie gegen Essen, Unterkunft und neue Transportmittel eintauschen zu können. Zögernd blieb das Magiermädchen vor dem riesigen Stadttor stehen und starrte zu den weißen Bannern auf, die im Abendwind wehten. Sollten sie Abydos umgehen? Am Nil schliefen sie ungeschützt, aber wenigstens hatten sie etwas zu essen. Eine Hand, die sich auf ihre Schulter legte, riss Mana aus ihren Gedanken. Als sie erschrocken herumfuhr, sah sie in Joeys braune Augen, die sie nachdenklich, aber sanft musterten. „Mach dir keinen Kopf. Wir kommen schon zurecht.“, raunte er leise und schob das Mädchen ein Stück nach vorne. „Such‘ du eine Unterkunft, ich kümmere mich später um was zu futtern.“ Mana seufzte, nickte dann aber und versuchte sich in der fremden Stadt zu orientieren. Sie ließen die sakralen Prachtbauten links liegen und bewegten sich in die deutlich ärmeren Viertel, eilten von Lehmhaus zu Lehmhaus, bis sie tatsächlich eine heruntergekommene Ruine fanden, in der sie die Nacht verbringen konnten. Erleichtert ließ sich Mana auf den staubigen Boden nieder und zog das bisschen Schuh von den Füßen, das von dem langen Marsch noch übrig war. Joey unterdessen war verschwunden. Mit jeder Minute wurde Mana unruhiger. Was, wenn man ihn geschnappt hatte? Wurde überhaupt schon nach ihnen gesucht? Und wenn ja, wie schnell waren solche Suchtrupps? Mana nagte an ihrer Unterlippe herum, bis es schmerzte. Plötzlich hörte sie Schritte und noch bevor sie aufspringen konnte, wurde sie von einer Dattel an der Stirn getroffen. „Reflexe: 0 Punkte“, grinste Joey, als er sich in die Hütte schob. Mana schnaubte. „Eine Horde Affen ist weniger anstrengend als du“, maulte sie vorwurfsvoll. „Wo warst du so lange? Ich hab mir schon alles Mögliche ausgemalt.“ Statt zu antworten, trat Joey näher und ließ Datteln, Mandeln und Perseafrüchte in Manas Schoß fallen. Mana blieb der Mund offen stehen. „Woher... hast du das alles?“ Wieder gab Joey keine Antwort. Stattdessen zog er das Tuch von seinem Kopf, mit dem er seine auffällig blonden Haare verbarg und nutzte es als Unterlage für die Brotstücke und Granatäpfel, die er aus einer Tasche in seiner Tunika zog. Während Mana noch mit großen Augen auf die ansehnliche Auswahl an Lebensmittel starrte, angelte Joey nach einem Brotkanten und aß. Das Schweigen zwischen ihnen dauerte unangenehm lang. Irgendwann spukte Joey einen Dattelkern aus und seufzte. „Ich hab viel Scheiße gebaut, früher“, erzählte er leise und strich einige Brotkrümel von seiner Tunika. „Prügeleien, kleinere Diebstähle, jüngere Schüler abgezogen – hab ich alles durch.“ Mana öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber der Ausdruck in Joeys Gesicht ließ sie verstummen. „Tja. War keine glorreiche Zeit. Ich war echt ein Arsch, aber kam mir so großartig dabei vor.“ Joey zuckte mit den Schultern und angelte nach einer weiteren Dattel. „Und dann hab ich Yugi getroffen. Er war ganz anders als meine Kumpels und irgendwie hat er es geschafft, meinen wirren Schädel wieder geradezubiegen. Ich hab die Gang zurückgelassen. Bin wieder regelmäßig in die Schule. All sowas, eben.“ Er starrte die Dattel an und warf sie dann Mana entgegen, die sie geistesgegenwärtig auffing. „Aber Stehlen kann ich immer noch recht gut. Traurig, was?“ Er grinste schief. Mana schluckte. Hier in Ägypten waren Diebe der Abschaum der Gesellschaft und sie tat sich schwer damit, Joey mit diesem Gesindel in Zusammenhang zu bringen. Vielleicht gab es ja einen Grund für sein Tun? Joey schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er schüttelte mit dem Kopf. „Nee, ich hab nicht aus guten Gründen gestohlen, um es armen Waisen zu überlassen, oder so. Ich war einfach ein Vollidiot.“ Mana zögerte, doch dann lächelte sie. „Früher ist früher. Heute ist heute und heute hatten wir nunmal Hunger. War ja meine Schuld, dass unser Tauschmittel abgesoffen ist.“ „Und das Boot.“ „Ja. Und das Boot.“ „Und die Karten.“ „Jaaaa... und die Karten.“ „Und wir.“ „Ist ja gut jetzt!“ Joey lachte über ihr Gemaule und nach ein paar Augenblicken stimmte Mana mit ein. Es war seltsam. Sie waren auf einer lebensgefährlichen Reise und dennoch hatte Mana schon lange nicht mehr so häufig und herzlich gelacht, wie seit ihrem Aufbruch. Als sie aufsah, merkte sie, dass Joey sie seltsam musterte. „Du bist echt’n cooles Mädchen.“ sagte er plötzlich mit einer ungewöhnlichen Ernsthaftigkeit. Mana spürte, wie sie rot anlief. Hastig wandte sie sich ab und rutschte näher an eine halb zerfallene Wand heran. „Wir ... wir sollten schlafen“, murmelte sie. „Wir müssen morgen sehr früh aufbrechen.“ Joey schien etwas sagen zu wollen, doch dann lächelte er leicht und nickte wortlos. Wenig später schlief er bereits. Nur Mana lag noch lange wach und versuchte ihr klopfendes Herz zu beruhigen, das wie ein Sturm in ihrer Brust tobte. ~oOo~ Nachdenklich fuhr Yugi über das weiche Fell Schesemtets, die wie ein überdimensionierter Bettvorleger neben ihm im Gras lag und schnurrte. Seit dem späten Nachmittag summte der Palast vor Aufregung wie ein Bienenstock. Yugi hatte bisher noch nicht herausfinden können, was geschehen war. Weder Mentu, noch Ishizu waren ihm über den Weg gelaufen und der Pharao – nun, Yugi hielt sich nicht mit dem Wunschdenken auf, dass er noch einmal mit Pharao Atemu sprechen konnte, geschweige denn, dass er sich sicher war mit ihm überhaupt noch ein Wort wechseln zu wollen. Yugi kaute abwesend auf seiner Unterlippe und entschied sich dann dafür, doch noch einmal nach Mentu zu suchen. Irgendetwas ging vor sich und er musste einfach wissen, was es war. Mit einer entschlossenen Bewegung stand Yugi auf und ließ seinen Blick über die Schreibutensilien schweifen, die er in den letzten Stunden in einem großzügigen Radius um sich verteilt hatte. Zum Glück war alles noch da, auch wenn der Wind den Papyrus schon ein ganzes Stück weit weg geweht hatte. Mit einem Seufzen lief Yugi los, um die Schriftrolle einzufangen und bückte sich auf dem Weg dorthin kurz nach einer Schreibbinse. Als er sich wieder aufrichtete, fand er die Papyrusrolle in den Händen des Pharao wieder, der sie scheinbar aufmerksam studierte. Yugi schrak vor Überraschung so heftig zusammen, dass ihm die Binse wieder aus den Händen fiel. „Hast du das geschrieben?“, fragte der Pharao knapp. Yugi nickte fast unmerklich und widerstand dem Drang, vor Atemu zurückzuweichen. „Das sind nur ... Übungen. Eine Eurer Hohepriesterinnen war so nett, mir das Schreiben ein wenig beizubringen.“ Atemus Augen verengten sich fragend. „Ishizu?“ Er schwieg kurz und sah wieder auf die hieratischen Schriftzeichen hinab. „Es ist überraschend gut geschrieben“, bemerkte er nach einer Weile ruhig, streckte Yugi den Papyrus entgegen und deutete auf ein Wort. „Achte nur hier besser auf die Querstriche. Hier ist unklar, ob es sich um zwei Wörter handelt, oder nur um eines, was eine ganz andere Bedeutung ergeben würde.“ Yugi schwieg irritiert. Nach all dem, was geschehen war, empfand er Atemus belanglose Reden äußerst fehl am Platz. Stumm nahm er die Papyrusrolle entgegen und beschäftigte sich eine unangenehm lange Zeit damit, seine Schreibutensilien zusammenzusammeln. „Es ist seltsam“, bemerkte Atemu plötzlich und sah zu der Löwin hinüber, die sich träge erhoben und zu Yugi aufgeschlossen hatte. „Schesemtet ist Fremden gegenüber für gewöhnlich eher zurückhaltend.“ „Ah“, machte Yugi und verstummte wieder. Das Schweigen wurde länger und unangenehmer. Trotz Atemus Selbstbeherrschung konnte Yugi erkennen, dass der Pharao unruhig wurde. Doch diesmal hatte Yugi nicht die Kraft, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Er war zu müde von dem ständigen Auf und Ab. „Es wird dich interessieren, dass Djedefre heute Morgen aus Theben verwiesen wurde.“ Yugi sah auf, als der Pharao das Schweigen endlich brach. Atemu hatte den Blick abgewandt, es schien fast, als wollte er einen Blickkontakt mit Yugi vermeiden. „Verwiesen?“, fragte Yugi emotionslos und sah zu, wie sich die feinen Lippen des Pharao kurz zusammenpressten. „Er wird nicht hingerichtet?“ „Nein.“ Langsam wandte Atemu sich wieder um, doch sein Blick schien durch Yugi hindurch zu gehen. „Das Exil ist Strafe genug.“ Yugi legte den Kopf schief. „Für ihn? Oder für Euch?“ Atemu fuhr zusammen, doch bevor er antworten konnte, sprach Yugi schon weiter. „Was war die Grundlage dieses Urteils? Euer Mitgefühl? Oder Fluchtinstinkt?“ Die Selbstsicherheit des Pharaos bröckelte. Zum ersten Mal bekam Yugi das Gefühl, die Oberhand zu gewinnen. Es überraschte ihn, wie sehr er diesen Umstand genoss. „Es gibt ein Sprichwort in meinem Land.“, fügte Yugi langsam hinzu und verlagerte die Schriftrolle von der rechten in die linke Hand. „Wenn es Götter gibt, die uns wegwerfen, gibt es auch Götter, die uns retten.“ Er verschränkte die Arme und fixierte Atemu mit einem offenen, kühlen Blick. „Erstere habe ich hier zur Genüge gesehen. Aber gibt es auch die anderen?“ Die Wangen des Pharao wurden blass, doch er hielt verbissen die Farce der Selbstbeherrschung aufrecht. Er antwortete nicht und Yugi unterdrückte ein resigniertes Schnauben. „Ich werde Euch nun besser in Ruhe lassen, Pharao“, schloss er müde. „Das kommt Euch sehr entgegen, schätze ich.“ Damit verneigte er sich so höflich, wie er es bei den Dienern gesehen hatte, wandte sich um und trat auf den Palast zu. „In wenigen Tagen werde ich mein Heer in die entscheidende Schlacht führen.“ Atemu sprach, als Yugi gerade durch die Tür ins Innere treten wollte. Yugi erstarrte mitten im Schritt. Es dauerte eine Weile, bis er sich umwenden konnte, seine Muskeln gehorchten ihm nur schwer. „W-Was…?“, fragte er heiser. Atemu wandte den Kopf und sah Yugi direkt in die Augen. „Ich habe heute Befehl gegeben, die letzten verbliebenen Soldaten einzuberufen. Ich breche nach Memphis auf, sobald das Heer ausgerüstet ist.“ Er setzte sich in Bewegung und lief an Yugi vorbei, nur um einen Schritt später inne zu halten. Er wandte sich nicht um, als er sprach. „Ich habe auch die Anweisung erteilt, dich frei zu lassen, falls ich falle. Ein Medjay wird dich aus dem Palast bringen und es steht dir dann frei zu gehen, wohin du möchtest. Du wirst nicht behelligt werden.“ Nach diesen Worten verschwand er im Palast. Yugi blieb fassungslos zurück, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Er hatte verstanden, was Atemu gesagt hatte, aber er weigerte sich, es zu begreifen. Die vergangenen Minuten zogen wie ein Film an seinen Augen vorbei und er begriff plötzlich. Der banale Gesprächsbeginn, das lange Zögern, das Vermeiden von Blickkontakt – Atemu hatte all die Zeit versucht, sich zu verabschieden. Yugi lief es so kalt den Rücken hinab, dass er schauderte. Was hatte er getan? Er war so damit beschäftigt gewesen, seinen Frust rauszulassen, dass er den Pharao darüber hinaus völlig übersehen hatte. Abschied. Das Wort klang so bitter in seinen Gedanken. Wie es für Atemu sein musste, zu wissen, dass er vielleicht nie wieder zurückkehren würde? Yugi fluchte gepresst und drückte die Schriftrolle so fest an sich, dass sie knisterte. Er musste den Aufbruch irgendwie verhindern. Oder wenigstens verzögern. Joey und Mana waren noch immer nicht zurück, und er selbst hatte bisher nichts erreicht, außer einer vollständigen Eskalation der Situation. Nur, wie sollte er das anstellen? Wie sollte er allein ein ganzes Heer aufhalten? Das war Wahnsinn! Aus den Augenwinkeln sah er, dass Schesemtet sich aufgerichtet hatte. Die Löwin saß hoch aufgerichtet da und starrte ihn durchdringend an. Ihr Blick war so warm und tröstend, dass der wirre Gedankenstrom hinter Yugis Stirn verebbte. Er atmete tief ein und nickte dem Tier schließlich in stummem Verständnis zu, ehe er sich umwandte und gefasst in den Palast lief. Er musste auf Zeit spielen, bis Mana und Joey zurückkehrten. Atemu zuliebe, selbst wenn dieser nichts davon wissen durfte.       ~oOo~ „Hopp Hopp, aufgestanden und ab dafür!“ Mana stöhnte leise. Sie fand Joey sympathisch, keine Frage. Aber wenn er weiterhin morgens so gute Laune hatte, würde sie ihn auf dem Weg einfach mal irgendwo verlieren. Sie hatte in dieser Nacht sehr unruhig geschlafen und wollte sich einfach nur umdrehen und noch ein Stündchen dösen. Aber Joey war unerbittlich. „Na los! Wer morgens zerknittert aufsteht, hat am Tag die besten Entfaltungsmöglichkeiten!“ „Am frühen Morgen bist du so lustig wie eine Brennnessel“, murrte Mana und angelte mürrisch nach ein paar Stücken harten Brotes. Als sie sich mürrisch aufgerappelt hatte und ihre Schuhe überstreifen wollte, stockte sie. „Wir müssen uns irgendwie neue Schuhe besorgen“, murmelte sie, ohne Joey dabei anzusehen. „Unsere fallen schon auseinander und wir haben noch einen weiten Weg von uns.“ Joey schwieg, doch dann nickte er und versteckte seine blonden Strähnen unter dem dichten Leinentuch. „Na dann“, sagte er ruhig und trat in die Morgensonne hinaus. Abydos erwachte zum Leben. Nicht langsam und gemütlich, so wie Mana es aus dem Königshaus in Theben kannte. Abdydos explodierte regelrecht. Innerhalb kurzer Zeit waren die Straßen gefüllt mit hunderten von Pilgern, die sich auf die vielen Tempel der Nekropole zuschoben. Mana wühlte sich ächzend durch den Strom, während sie gleichzeitig versuchte, Joey in Richtung eines Marktplatzes zu leiten. „Alter...“, hörte sie Joey hinter sich schnaufen. „Gibt’s hier eine Segnung gratis, oder was geht ab?“ Mana öffnete schon den Mund um etwas zu sagen, entschied sich dann aber dafür ihren Atem zu sparen. Stattdessen quetschte sie sich an einem dicklichen Ägypter vorbei und seufzte erleichtert auf, als sich die enge Gasse endlich zu einem großen Platz erweiterte. „Wir sind da“, bemerkte sie und deutete unauffällig auf die vielen Karren und Stände, die den Platz säumten. „Bleib hier, ich werde sehen, ob ich Schuhe finde. Das ... das musst du nicht machen. Wir treffen uns dann in der Gasse dort drüben.“ Sie errötete leicht und wandte sich hastig um. Sie wollte nicht, dass die Diebstähle allein an Joey hingen. Er tat so viel für Yugi, Atemu ... und auch für sie. Vorsichtig sah sie über ihre Schulter zurück und musterte den hochgewachsenen jungen Mann, der mit verschränkten Armen im Schatten eines Lehmhauses lehnte. Wie es wohl wäre, wenn er für immer in Ägypten bliebe? Hier, an ihrer Seite? Ein leises Lächeln flog über ihre Lippen und sie schüttelte hastig den Kopf, als sie es bemerkte. Schnell schob sie die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Händler. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie auf einen Karren zulief, auf dem verschiedenste Leinenstoffe, einfache Tuniken und  Sandalen aus Rietgras bunt gewürfelt durcheinander lagen. Der Händler selbst war im Gespräch mit mehreren Kundinnen vertieft und schien Mana nicht zu bemerken. Das Magiermädchen versuchte eine kleine Feuerkugel zwischen ihren Fingerspitzen zu erschaffen. Sie benötigte drei Anläufe dafür, aber schließlich war das Feuer stark genug, dass sie es in einen leeren Korb schnippen konnte, der verlassen an der Straße stand. Der Brand war nicht gefährlich, aber er schuf genug Ablenkung, dass Mana mit bebenden Fingern in den Schuhen wühlen und zwei Paar davon unter ihrer Tunika verschwinden lassen konnte. Als sie sich auf den Rückweg machte, hätte sie schwören können, dass die Augen aller Anwesenden an ihr klebten. Nach wenigen Schritten war sie schweißgebadet, doch sie kam aller Angst zum Trotz unbehelligt in der kleinen Gasse an, die sie als Treffpunkt mit Joey bestimmt hatte. Erleichtert lehnte sie sich an die Wand und stieß die Luft aus, die sie krampfhaft angehalten hatte. Als sie Schritte hörte, lächelte sie und sah auf. Doch es war nicht Joey, der ihr gefolgt war. Mana sackte das Blut so schnell aus den Wangen, dass ihr schwindelig wurde. Vor ihr stand ein massiger, etwas älterer Nubier, über dessen Kinn sich eine gezackte Narbe zog. Mana öffnete den Mund, aber schaffte es nur einen entsetzten Laut von sich zu geben. „Ich frage mich…“, bemerkte der Nubier gedehnt. „Wie die Hohepriester in Theben reagieren würden, wenn sie wüssten, dass eine ihrer Schülerinnen stiehlt.“ Wie unter unsichtbaren Schlägen taumelte Mana zurück, während der Söldner einen weiteren Schritt auf sie zutrat. Auf seinem breiten Gesicht schien ein fast trauriger Ausdruck zu liegen. „Kommt, Jungpriesterin“, sagte er ruhig, während er nach Manas Handgelenk griff. „Der kleine Ausflug ist vorbei. Hohepriester Seto erwartet Eure Rückkehr.“ Einen kurzen Moment flammte in Mana der unerschütterliche Wille zu kämpfen auf, doch der Ausbruch war so schnell vergangen, wie er gekommen war. Geschlagen senkte sie den Kopf und schloss die Augen. „Ey, Opa!“ Manas Herz setzte eine Sekunde aus, als Joeys trockene Stimme durch die Gasse zischte. Gelangweilt wirkend schlenderte er näher, mit einem Fuß kickte er kleine Steinchen vor sich her. Der Nubier an ihrer Seite musterte sein Gegenüber eindringlich und seufzte. „Du bist also der andere Flüchtige. Mir wurde schon gesagt, dass man dich am losen Mundwerk erkennt.“ „Schön. Dann haben wir die Vorstellungsrunde auch schon hinter uns.“ Joey blieb vor dem Söldner stehen und schnalzte mit der Zunge. „Und jetzt gebe ich dir einen Rat, alter Knacker. Nimm deine Flossen von Mana und zwar Pronto.“ Der Ausdruck auf dem Gesicht des Nubiers schwankte zwischen Ärger und Belustigung. „Jetzt verstehe ich auch, warum Hohepriester Seto keine Beschreibung von dir mitgegeben hat, sondern nur sagte, man würde dich erkennen, sobald du den Mund aufmachst.“ Er lachte rau und schüttelte dann den Kopf. „Dein Mut in allen Ehren, Junge, aber sei nun vernünftig. Was willst du jetzt noch ausrichten können?“ Joey schien tatsächlich zu überlegen. Mit einem entrückten Blick neigte er sich vor, strich sich durch das blonde Haar und rammte dem Nubier mit einem beiläufigen „Das.“ seine Faust mit aller Wucht ins Gesicht. Das Geräusch der brechenden Nase trieb Mana eine Gänsehaut über den Nacken. Der Nubier wankte. Seine Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiß der Augäpfel zurückblieb und plötzlich sackte der massige Leib des Söldners zu Boden. Jemand schrie. Eine Hand legte sich auf Manas Schulter. Ihr Blick zuckte nach oben, traf auf Joeys und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie es war, die schrie. Sie sah, wie sich Joeys Lippen bewegten, aber sie verstand kein Wort. Die Hand löste sich von ihrer Schulter, umschloss ihr Handgelenk und riss sie mit sich. Mana stolperte mehr als dass sie lief. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung war und entkam den zupackenden Händen der Stadtwache nur im letzten Moment. Sie machte sich von Joey los, schlug einen Haken und schrie erneut, als eine weitere Wache nach ihr griff. Manas Lunge brannte. Mit einem verzweifelten Hechtsprung rettete sie sich über einen Marktkarren und schlug mit der Schulter in eine nahe Hauswand ein. Sie keuchte, presste eine Hand gegen die schmerzende Stelle und rannte weiter. Ihr Blickfeld schrumpfte. Panisch stürzte sie um eine Ecke – und sah plötzlich drei schwerbewaffnete Wachen auf sich zu eilen. Ein schriller Laut brach aus ihrer Kehle, heiser und rau. Plötzlich fühlte sie sich gepackt und mitgerissen. Sie versuchte sich loszumachen, erkannte aber im letzten Moment, dass es Joey war. Mit einem erstickten Laut biss sie sich auf die Lippen, versuchte das Pochen hinter ihrer Stirn zu ignorieren und rannte. Sie rannten, bis Abydos weit hinter ihnen lag. Manas Beine knickten ein. Sie schlug schwer auf dem Boden auf und rang krampfhaft nach Luft. Neben ihr brach Joey in die Knie, sein rasselnder Atem ging hektisch. „Was … war das … für ein … Lappen?“, presste er hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Sin..uhe“, antwortete Mana keuchend. „Du … du hast einen von Setos … berüchtigtsten Söldnern… geschlagen…“ Joey zuckte mit den Schultern. „Von wegen… berüchtigt. Ist auch nur … umgefallen wie ein … Sack Reis.“ „Joey, du-“ Mana unterbrach sich, als ein irres Kichern ihre Kehle hinaufkroch. Ihre Gesichtszüge verzerrten sich, als das schrille Lachen über ihre bebenden Lippen brach. Sie wollte aufhören, kämpfte verzweifelt dagegen an, lachte doch immer lauter und schriller, bis sie irgendwann verzweifelt um Atem kämpfend zusammenbrach. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder klar denken konnte. Nach und nach lichtete sich der Schleier über ihrem Bewusstsein und sie nahm ihre Umgebung wieder wahr. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Joey sie fest in den Armen hielt. Wie lang tat er das schon? Hatte er sie während ihrer gesamten Panikattacke gehalten? Mana klammerte sich zittrig an seiner Tunika fest, ehe sie langsam den Kopf hob. In Joeys braunen Augen lag ein Ausdruck den sie nicht deuten konnte, der ihr jedoch eine Gänsehaut über den Nacken jagte. „Joey“, begann Mana leise, „es tut mir so leid. Ich… war fast mein ganzes Leben nur im Palast, ich … kenne das Leben da draußen nicht mehr wirklich. Ich wollte dich bei dieser Reise begleiten und dir helfen, aber... aber alles was ich mache, bringt uns nur in Schwierigkeiten.“ „Ach quatsch nicht, Mädchen.“ „Ich meine es ernst! Ich bin so nutzlos! Ich bin…“ Die Worte erstickten, als Joey sich plötzlich vorlehnte und Manas Lippen mit den seinen verschloss. Trotz seiner forschen Art küsste er sie vorsichtig, fast schüchtern, als wäre er von seiner eigenen Courage überrascht worden. Seine Zungenspitze traf die ihre nur leicht und doch sandte diese Berührung warme Blitze durch Manas Körper. Sie schauderte und klammerte sich auf der Suche nach Halt an seiner Tunika fest. „Ich hab gesagt, du sollst nicht quatschen“, murmelte Joey verlegen, als er sich nach einem Moment von ihr löste. „Wir packen das, okay? Nicht ich. Wir.“ Mana verharrte wie erstarrt, unfähig zu greifen, was eben geschehen war. Plötzlich aber schlang sie die Arme um Joeys Nacken und vergrub ihr Gesicht an seiner Halsbeuge. Sie wusste nicht, wie lang sie so saßen. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, hingt nur in diesem einen Moment der Vertrautheit fest. Irgendwann aber bewegte Joey sich und schob sie sanft von sich. „Also ich weiß nicht wie’s dir geht“, bemerkte er, „aber ich habe jetzt richtig Lust dieser Seth-Pappnase in den Hintern zu treten.“ Er grinste breit, erhob sich und streckte seine Hand auffordernd nach Mana aus. „Na komm, weiter geht’s.“ Mana lächelte und ergriff seine Hand dankbar. Als er sie vom Boden hochzog, fiel ihr Blick auf die gestohlenen Sandalen, die neben ihr lagen und sie grinste verlegen. „Tja, wenn uns diese Reise schon den Kopf kostet, dann sind wenigstens unsere Füße ausgerüstet.“ Joey lachte, schlüpfte in das Schuhwerk und wandte sich um. „Los gehts! Immer der Nase nach!“ Während er mit weit ausgreifenden Schritten vorauslief, sah Mana noch einmal über ihre Schulter nach Abydos zurück. Selbst wenn sie heil nach Theben zurückkommen würden, so würde sie sich für den Diebstahl und den Angriff auf Sinuhe vor Seto verantworten müssen. Seltsamerweise machte ihr der Gedanke keine Angst mehr. Sie gehörte genau hier hin. Auf diese Reise, zusammen mit Joey. ~ oOo ~ Für einige Augenblicke versuchte Mahad einfach zu ignorieren, dass der neue Tag bereits begonnen hatte. Doch die Sonne schien so penetrant durch sein Fenster, dass er trotz seiner Müdigkeit aufgab und sich erhob. Er wusste nicht mehr, wieviel Schlaf er heute Nacht bekommen hatte, aber so wie er sich fühlte, durften es nicht mehr als drei oder vier Stunden gewesen sein. Vor einigen Jahren hätte ihm dieser Schlafmangel wohl weniger ausgemacht. Er wurde alt. Mahad seufzte und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Ein hartes Klopfen an seiner Tür ließ ihn aufhorchen und er runzelte die Stirn. So forsch klopfte für gewöhnlich nur Seto – falls er sich überhaupt mit so einer Nichtigkeit wie dem Anklopfen aufhielt. Irritiert trat Mahad auf die Tür zu und öffnete sie schwungvoll. „Was ist, Seto? Wolltest du nicht zu den Waffenschmieden und-“, er unterbrach sich, als ihm bewusst wurde, dass es nicht Seto war, der hier vor ihm stand. „Ishizu?“ Die Hohepriesterin zog die Luft ein. „Es ist also wahr…“, raunte sie leise und trat ein, indem sie Mahad einen Schritt zurückdrängte. Sie ließ die Tür hinter sich zufallen und musterte Mahad mit verschränkten Armen. Sie war blasser als sonst und schien aufgebracht zu sein, auch wenn sie offenkundig versuchte, sich zu beherrschen. „Wann wäre ich davon unterrichtet worden?“, fragte sie mit blitzenden Augen, nachdem Mahad keine Anstalten machte, einen Ton von sich zu geben. Der Hohepriester war völlig irritiert von ihrem forschen Eintreten. „Ich verstehe nicht…“ Ishizu schnaubte. „Der Krieg, Mahad. Wäre ich überhaupt davon informiert worden, dass unser Pharao Befehl zum Aufbruch gegeben hat, oder hätte ich es dann selbst gemerkt, wenn eines Morgens plötzlich alle verschwunden gewesen wären?“ Mahad fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Ich wollte es dir heute sagen.“ „Natürlich.“ „Ishizu, ich habe es selbst erst gestern zur Mittagszeit erfahren. Und wenn ich seitdem nicht mit Seto und Karim in Besprechungen festhing, war ich dazu verpflichtet Aufträge für den Pharao zu erledigen. Ich hatte einfach keine Zeit.“ Ishizu presste ihre feinen Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und schwieg. Mahad seufzte leise. „Ich weiß auch nicht, was in den Pharao gefahren ist. Er hat diese Entscheidung völlig allein getroffen, ohne Rücksprache mit mir oder den Senatoren zu halten. Er hat uns alle vor vollendete Tatsachen gestellt, was hätte ich denn tun sollen? Ihn mit kaltem Wasser übergießen, in der Hoffnung, dass er wieder zu sich kommt?“ Der angespannte Ausdruck auf Ishizus Zügen wurde feiner. Nach einer Weile des Schweigens seufzte sie und trat etwas näher. „Wer…“, fragte sie zögernd, „Wer soll … ihn begleiten? Den Pharao?“ Mahad wandte den Blick ab. „Karim wurde als Offizier der Infanterietruppen eingeteilt und Seto ist das Streitwagenkorps unterstellt worden.“ „Und … der Gardetrupp?“, fragte Ishizu so leise, dass es kaum zu hören war. „Wer … führt den Gardetrupp an?“ Es fiel Mahad schwer, den Blick zu heben. Ishizus Wangen waren unnatürlich bleich, selbst ihre Lippen hatten ihre Farbe verloren. Am meisten traf ihn jedoch das Blau ihrer Augen. Es war so hell, so durchsichtig, wie er es noch nie gesehen hatte. „Ich“, antwortete der Hohepriester ruhig. „Ich bin der Offizier der Garde.“ Ishizu zuckte zusammen, ihr Brustkorb hob und senkte sich unter schweren Atemzügen. „Nein“, warf sie Mahad entgegen. „Diese Entscheidung akzeptiere ich nicht.“ Mahad schüttelte den Kopf. „Sei vernünftig, Ishizu. Es ist eine große Ehre für mich, die Schutztruppe des Pharao in der Schlacht anzuführen. Wir sind Hohepriester. Es ist unsere Aufgabe unseren König zu schützen. Du, an meiner Stelle, würdest genauso handeln.“ „Ich weiß, aber … aber…“, Ishizu brach mitten im Satz ab und schlug eine Hand auf ihren Mund. Plötzlich stürzte sie nach vorne und schlang ihre Arme um Mahad, während sie ihr Gesicht an seiner Brust vergrub. „Erst Mana… jetzt du…“, flüsterte sie brüchig und Mahad konnte nicht anders, als sie fest in seine Arme zu schließen. „Es wird nichts geschehen“, raunte er. „Wir werden alle wohlbehalten zurückkehren.“ Dann schob er die Hohepriesterin sanft von sich und lächelte. „Ich muss zu den Medjay, Ishizu. Ich habe viel vorzubereiten.“ Nach einem kurzen Moment des Zögerns hob er eine Hand und strich ihr zart über die Wange. „Es wird alles gut werden“, sprach er leise. „Das verspreche ich dir.“ Schließlich wandte er sich um und verließ seine Unterkunft. Er hatte geschworen seinem Pharao zu folgen, wo immer dieser auch hingehen würde. Doch heute musste Mahad sich eingestehen, dass ihm dieser Weg unendlich schwer fiel. Kapitel 13: Nachtstille ----------------------- Yugis Finger zitterten, während er die Schreibbinse über den Papyrus zog. Ihm gegenüber saß Ishizu, die scheinbar aufmerksam auf seine Schreibübungen hinab sah und doch nicht bemerkte, dass er statt der Silbe tsch schon wieder nur ein einfaches d geschrieben hatte. Es herrschte gedrücktes Schweigen im Raum. Nur die Schritte des Dieners waren zu hören, der auf Geheiß des Pharao eine bestimmte Schriftrolle suchte. Yugi biss sich auf die Lippe, malte statt einem m ein u  und ignorierte den Fehler. Ishizu reagierte nicht. Sie sah ungewohnt blass aus. Schließlich umrundete der Diener den Tisch, verneigte sich vor der Hohepriesterin und verließ das Zimmer. „Was soll ich…“ „Wir müssen…“ Ishizu und Yugi sprachen gleichzeitig, kaum dass die Tür mit einem leisen Laut ins Schloss gefallen war. „Der Pharao ist…“ „Hast du…“ Wieder überlagerten sich ihre Sätze. Ishizu räusperte sich schließlich und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen, das die Müdigkeit in ihren Zügen zumindest ein wenig überdeckte. „Du zuerst, Yugi.“, forderte sie ihn auf und faltete die Hände in ihrem Schoß. „Was soll ich tun, Ishizu?“, platzte es verzweifelt aus Yugi heraus. „Ich weiß nicht mehr weiter! Ich habe auf Zeit gespielt und jetzt … jetzt merke ich, dass die Zeit gewinnt. Sie zerrinnt mir zwischen den Fingern wie Sand, ein Tag vergeht schneller als der andere und ich habe nichts erreicht. Warum hat Schesemtet mich…?“ Er unterbrach sich mit einem erstickten Laut und barg das Gesicht in seinen Händen. Er hörte, dass Ishizu sich bewegte, zuckte aber dennoch zusammen, als er ihre Fingerspitzen auf seiner Schulter fühlte. „Beruhige dich“, sagte sie sanft. „Ich verstehe, wie du dich fühlst, aber Panik bringt uns nicht weiter.“ Yugi seufzte leise und ließ die Hände auf die Tischplatte sinken. „Wann … Wann ist die Abreise?“ „Morgen. Sobald die Sonne aufgeht.“ Ishizus Stimme klang seltsam rau. Yugi erhob sich mit einem halb wütenden, halb gequälten Laut. „Und jetzt? Was soll ich jetzt tun? Morgen bricht Ate-… der Pharao in die Schlacht auf, an deren Ende es genau zwei Möglichkeiten gibt. Entweder er stirbt auf dem Schlachtfeld oder er unterwirft sich einem Gott, der sein ganzes Wesen vereinnahmen wird. Und ich? Ich kann nur hier sitzen und in die Luft starren.“ Er wandte sich dem Fenster zu und warf die Hände hilflos in die Luft. „Was soll ich denn bitte tun? Ihn an einer Säule festbinden und hoffen, dass ihn niemand sucht? Ihn im Keller verstecken? Oder…“ „Lass den Unsinn, Yugi“, fiel Ishizu ihm scharf ins Wort. „Noch ist die Schlacht nicht geschlagen. Du kannst noch immer etwas bewegen, wenn du es nur versuchst.“ „Etwas bewegen?“ Yugi lachte humorlos. „Ich kann hier gar nichts bewegen. Ich bekomme ja nicht mal die Türen zu Atemus Privaträumen dazu, sich zu bewegen. Er lässt niemanden mehr an sich heran. Ich habe ihn seit Tagen nicht gesprochen, geschweige denn gesehen.“ „Atemu?“ Yugi sah auf, als er den seltsamen Unterton in Ishizus Stimme bemerkte. Die Hohepriesterin musterte ihn aufmerksam. „Du nennst ihn Atemu?“ Yugi zuckte so heftig zusammen, dass er sich den Ellenbogen an der Fensterbank stieß. Seine Wangen brannten augenblicklich und er wandte sich hastig um, damit Ishizu das Rot nicht sah, welches über sein Gesicht floss. Er hörte das Rascheln der Tunika, als sich die Hohepriesterin bewegte. „Hat er dir das gestattet?“ Yugi biss sich auf die Lippen und schwieg. „Hat er dir das gestattet, Yugi?“ Es dauerte einige Augenblicke, bis Yugi schließlich zaghaft mit dem Kopf nickte. Im gleichen Moment hatte er das Gefühl, als könnte er das Lächeln spüren, das sich auf Ishizus Lippen legte. „Komm.“ Yugi zuckte zusammen, als Ishizu plötzlich sprach und wandte sich überrascht zu ihr um. Die Hohepriesterin stand neben der halb geöffneten Tür und sah ihm auffordernd entgegen. Yugi zögerte kurz, folgte ihr dann aber irritiert in den Flur. „Wohin gehen wir?“ Ishizu antwortete nicht. Es war auch nicht nötig. Yugi wusste die Antwort bereits – und spürte, wie ihm sein Herz bis zum Hals schlug. Nach wenigen Metern waren sie am Ziel. Die große Sonnenscheibe auf der goldenen Flügeltür erschien Yugi heute größer als zuvor. Genauso wie der Medjay, der sich plötzlich in ihren Weg schob. „Verzeiht, Hohepriesterin“, murmelte die Wache unruhig. „Ich habe Anweisung, niemanden durchzulassen.“ Ishizu straffte sich und zum ersten Mal wurde Yugi bewusst, wie einschüchternd die junge Frau sein konnte, wenn sie es darauf anlegte. „Tritt zur Seite, Medjay.“ Die Stimme der Hohepriesterin war unaufgeregt und ruhig. Dennoch zuckte der Medjay unter der Autorität zusammen, die darin mitschwang. „Es… es tut mir leid… ich..“ „Ich bin die Hohepriesterin des Pharao, Medjay. Wenn ich unseren Herrscher sprechen möchte, ist es nicht an dir, mir den Zutritt zu verweigern.“ Yugi fühlte ein tiefes Mitleid mit dem Mann, dem die innere Zerrissenheit auf dem Gesicht geschrieben stand. Aufgerieben zwischen den Befehlen des Pharao und des Respektes vor der Hohepriesterin, schien der Medjay in sich zusammenzusacken wie ein geplatzter Reifen. Schließlich trat er einen Schritt zurück und nickte. Ishizu klopfte an die Tür, öffnete sie, ohne auf eine Reaktion zu warten, und trat ein. Der Pharao fuhr von dem Kissen hoch auf dem er, umgeben von mehreren Landkarten, gesessen hatte. Seine Augen blitzen wütend. „Ishizu! Was, bei allen Göttern…“ Er unterbrach sich, als sein Blick auf Yugi fiel und Yugi kam nicht umhin, ein kurzes Zucken in Ishizus Mundwinkel zu entdecken. „Ich hoffe Ihr verzeiht mein Eintreten, Pharao, doch ich habe eine Bitte an Euch, die von großer Wichtigkeit ist und keinen Aufschub duldet.“ Atemu presste die Lippen zusammen, doch dann seufzte er resigniert. Mit einer auffordernden, aber müde wirkenden Handbewegung ließ er sich wieder auf das Kissen sinken und presste zwei Finger gegen seine Nasenwurzel. Ishizu trat einen halben Schritt näher. „Gewährt mir, Euch in die Schlacht nach Memphis zu begleiten.“ Der Pharao wirkte tatsächlich überrascht. „Ich habe Seto, Mahad und Karim eingeteilt. Es sind allesamt fähige Männer.“ Die Betonung des letzten Wortes brachte Ishizu dazu, die Hände zu Fäusten zu ballen. Bevor sie jedoch antworten konnte, fuhr Atemu fort. „Ich brauche auch zuverlässige Priester im Palast, die Theben verteidigen, falls unsere Frontlinie bricht. Ich kann die Stadt nicht schutzlos zurücklassen.“ Yugi fröstelte. Krieg, Tod, Gewalt – Atemu sprach all diese Dinge in einer stoischen Ruhe aus. Und doch glaubte Yugi, dass der Pharao es vermied, ihm dabei in die Augen zu sehen. „Solltet Ihr fallen, ist Theben ohnehin dem Untergang geweiht, mein Pharao.“ Ishizu sprach leise, ihr Blick lag auf dem Millenniumspuzzle, auf dem sich der Schein der Kerzen spiegelte. „Ohne Euch und das Millenniumspuzzle sind wir Hohepriester machtlos. Wir können der Stadt Stunden kaufen. Vielleicht Tage. Aber sie wird fallen.“ Der Pharao schwieg lange. Seine Fingerspitzen fuhren über eine Landkarte, ohne dass Yugi in dem Muster einen Sinn erkennen konnte. „Nun gut.“ Ishizu zuckte leicht zusammen, als Atemu endlich sprach. „Wenn es dir so wichtig ist, dann kannst du den Trupp begleiten. Melde dich bei den Feldärzten – es wird deine Aufgabe sein, ihnen die Nachricht zu überbringen, dass du ab jetzt die Leitung übernimmst.“ Yugi stieß leise die Luft aus, die er bis dahin angehalten hatte. Eine Mischung aus Erleichterung und Trauer macht sich in ihm breit. Erleichterung, weil er nun wusste, dass Ishizu in Atemus Nähe war und vielleicht noch etwas bewirken konnte. Trauer, weil er nun gänzlich allein zurück blieb, unfähig auch nur irgendetwas zu tun. Eine schmale Hand legte sich plötzlich auf seine Schulter und schob ihn ein paar Schritte nach vorne. Irritiert sah er zu Ishizu auf, doch sie erwiderte seinen Blick nicht. „Ich werde einen Schreiber benötigen, mein Pharao. Yugi hier hat sich bereit erklärt, mir zu Diensten zu sein und ich bitte darum, ihn mitnehmen zu dürfen.“ Yugi spürte, wie ihm der Mund aufklappte. Sein Blick brannte sich in die Hohepriesterin, versuchte sie wortlos zu fragen, ob sie gänzlich den Verstand verloren habe, aber Ishizu ignorierte ihn geflissentlich. In Yugis Ohren rauschte das Blut. Er hörte, wie der Pharao sprach, sah, dass Ishizu antwortete, aber die Worte drangen nicht bis zu ihm durch. Die Hand auf seiner Schulter zog ihn wieder zurück, geleitete ihn durch den Raum und schob ihn in den Flur hinaus. Das Geräusch der zufallenden Tür riss Yugi aus der entsetzten Starre, die ihn nur langsam aus ihrem würgenden Griff entließ. „Es gibt immer Wege.“ Ishizus Stimme klang noch immer dumpf über seinen eigenen Herzschlag hinweg. Als er aufblickte, sah er, dass ihre Lippen lächelten. Ihre Augen jedoch blieben ernst. „Bereite dich vor. Wir brechen morgen bei Sonnenaufgang auf.“ Mit diesen Worten wandte sich die Hohepriesterin um und ließ ihn im Flur zurück. Yugi ließ sich mit dem Rücken gegen eine nahe Säule fallen, als seine Knie nachzugeben drohten. Erst nach und nach wurde ihm bewusst, was Ishizu getan hatte. Morgen würde er mit dem oberägyptischen Heer nach Memphis aufbrechen. In den Krieg - und vielleicht in den Tod.  Zum ersten Mal seit Wochen spürte Yugi den bitteren Geschmack der Panik wieder, der seine Kehle hinauf kroch. ~oOo~ Der Mosaikboden des Palastes war überraschend kühl. Atemu versuchte sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal barfuß durch die Flure gelaufen war, aber wie so vieles andere waren auch diese Erinnerungen im Laufe der Zeit verloren gegangen. Lautlos bog er um eine Ecke und betrat den kleinen Audienzsaal, der für gewöhnlich ein eher einsames Dasein fristete. Auf dem Tisch, der mittig im Raum stand, lag eine riesige Landkarte, auf der mehrere weiße und rote Kieselsteine verteilt lagen. Die Staubschicht darauf erinnerte Atemu daran, dass es eine Weile her war, seit er sich das letzte Mal hier aufgehalten hatte. Nachdenklich trat er näher und ließ seinen Blick über die Steine gleiten. Jeder Stein stand für eine Militäreinheit. Weiß, die Farbe Oberägyptens. Rot, die Farbe des Feindes. Atemu seufzte leise. Die Position seines Heeres hatte sich seit Monaten nicht verändert, sie war ihm ins Gedächtnis eingebrannt. Dennoch gab ihm die Karte das Gefühl, als wäre er beschäftigt. Er hatte nicht geglaubt, dass ihm die letzten Stunden vor dem Aufbruch so ewig erscheinen würden. Ein starker Luftzug ließ ihn aufblicken. In der halb geöffneten Tür stand, barfuß und mit zerknitterter Tunika, Yugi. Atemu versuchte sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. „Was willst du?“ Er sprach harscher als er es beabsichtigt hatte, aber Yugi schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Er schloss die Tür hinter sich und trat näher. „Ich konnte nicht schlafen“, sprach er leise. „Und dann habe ich bemerkt wie jemand im Flur umherschlich und wollte nachsehen, wer es ist.“ Er lächelte fast unmerklich. „Ihr könnt auch nicht schlafen?“ Atemu begann sich unter Yugis Blick unwohl zu fühlen. Er trug nur seine weiße Tunika und das Millenniumspuzzle. Ohne sein Diadem, seinen Schmuck und die Schwere des Umhangs auf seinen Schultern fühlte er sich plötzlich nackt. Er wandte sich ab und trat ans Fenster, um zu dem Sichelmond aufzusehen, dessen fahles Licht Theben in mattes Silber tauchte.  Ich habe noch viel vorzubereiten, ich habe keine Zeit zu schlafen“, log er und wechselte das Thema, ehe Yugi weitere, unangenehme Fragen stellen konnte. „Ich hatte nicht das Gefühl, als ob Ishizu mir heute die Wahrheit gesagt hätte. War es tatsächlich deine freie Entscheidung mein Heer zu unterstützen?“ Ein kurzes Zögern. „Ja.“ Atemu wusste, dass Yugi log. Er konnte es mit jeder Faser spüren. Nachdenklich sah er über seine Schulter zurück. „Hast du Angst?“ Die Frage brachte das Lächeln zurück auf Yugis Züge. „Nicht weniger als Ihr.“ Atemus Finger zuckten. Er öffnete den Mund, schwieg jedoch, als er bemerkte, dass er im Begriff war, sich vor Yugi rechtfertigen zu wollen. Stattdessen verschränkte er die Arme und schüttelte leicht den Kopf. „Geh jetzt. In wenigen Stunden geht die Sonne auf.“ Ich habe zu arbeiten, wollte er anfügen. Er tat es nicht. Er wusste einfach, dass Yugi diese Lüge durchschauen würde. Yugi zögerte, wich dann zur Tür zurück, streckte seine Hand nach dem Türknauf aus und verharrte erneut. Plötzlich wandte er sich mit einer entschlossenen Geste um und trat wieder einige Schritte auf den Pharao zu. „Ich muss…“ begann er, unterbrach sich und versuchte es erneut. „Ich möchte mich entschuldigen.“ Er seufzte leise und begann den Stoff seiner Tunika in seinen Fingern zu kneten. „Ich war vor einigen Tagen nicht sehr … freundlich zu Euch. Es geht mich nichts an, weshalb Ihr Djedefre ins Exil geschickt habt. Es steht mir nicht zu über Eure Handlungen zu richten. Es ist …“, er zögerte kurz. „Ich verstehe noch immer viele Dinge in diesem Land nicht. Aber das gibt mir nicht das Recht, so mit Euch zu sprechen.“ Seine Hände hielten in der Bewegung inne und legten sich auf seine Knie, als Yugi den Kopf senkte und sich tief vor dem Pharao verneigte. „Es tut mir leid.“ Nach einem Moment des Schweigens fügte er leise hinzu: „Und ich danke Euch dafür, dass Djedefre nicht hingerichtet wurde.“ Atemu konnte fühlen, wie sich seine Fingernägel vor Anspannung ins eigene Fleisch gruben. Hastig wandte er den Blick, starrte wieder hinaus in den Nachthimmel und tat einen kontrollierten Atemzug, um das beklemmende Gefühl in seiner Brust zu vertreiben. „Djedefre wird es im Exil schwer haben“, bemerkte er und konnte hören, wie rau seine Stimme klang. „Auch wenn er ein Straßenkind war, so hat er viele Jahre unter der Gunst des Königshofes gelebt. Manchmal ist das Leben in Einsamkeit die größere Strafe, als eine Hinrichtung.“ Es blieb still nach seinen Worten. Plötzlich hörte Atemu das leise Rascheln des Leinenstoffes, als sich Yugis Arme ohne Vorwarnung behutsam um seine Taille schlossen. Atemu erstarrte. Noch nie hatte es jemand außer Mana gewagt, ihn einfach anzufassen. Yugis Umarmung wurde inniger, sein schmaler Körper drängte sich so fest an seinen Rücken, dass Atemu durch die Tuniken hindurch jede Einzelheit wahrnehmen konnte. Seine Stirn pochte. Er musste das unterbinden. Sofort. „Das hier ist ein Grund, dich hinrichten zu lassen, Yugi.“ Bei aller Kälte, die er in seine Stimme legte, konnte Atemu nicht verhindern, dass sie brach. Verwirrung, Wut und überfordernde Panik begannen, in ihm aufzusteigen. Er griff nach Yugis Händen, um die Umarmung zu lösen, doch stattdessen verschränkten sich Yugis Finger plötzlich mit den seinen. „Du verstehst es noch immer nicht, nicht wahr Atemu?“ Yugis Stimme war so leise, so warm. „Ich habe keine Angst mehr vor dir. Ich habe Angst um dich.“ Noch bevor Atemu reagieren konnte, spürte er, wie sich Yugis Lippen sanft in seinen Nacken legten. Es war mehr eine zarte Berührung als ein Kuss, aber Atemu zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Mit einer hektischen Bewegung riss er sich von Yugi los, fuhr herum und durchquerte den Raum in schnellen Schritten. Er hielt erst inne, als die goldene Tür seines Privatgemachs hinter ihm ins Schloss gefallen war. Sein Nacken brannte. Er glaubte noch immer Yugis Körper zu spüren, der sich an den seinen schmiegte, den Atem, der an seinem Nacken entlang glitt. Mit einem aufgewühlten Laut schlug Atemu gegen eine der Kommoden und sah zu, wie sich Ringe, Kämme und Schmuckreifen die darauf gelegen hatten, auf dem Boden verteilten. Der Sturm in seinem Inneren ließ nicht nach. Etwas in ihm schrie verzweifelt, doch er wollte es nicht hören. Mit einem leisen Keuchen vergrub Atemu sein Gesicht in seinen Händen. Er zog morgen in den Krieg. Er konnte es sich nicht erlauben, sich von einem dahergelaufenen Fremden aus der Fassung bringen zu lassen. Mit aller Selbstbeherrschung, die er aufbringen konnte, schob er die Gedanken beiseite und ließ sich auf sein Bett fallen. Bald wäre alles überstanden und dann... Er musste schlafen. Er versuchte sich auf seine Atmung zu konzentrieren, doch seine stockenden Atemzüge irritierten ihn. Er versuchte, seine Gedanken freizuräumen, doch immer wieder blitzte das warme Lächeln Yugis vor ihm auf, das seinen Nacken erneut zum Brennen brachte. Als nach einigen Stunden die Sonne aufging, war Atemu fast erleichtert. Er hatte keinen Augenblick geschlafen, war erschöpft und ausgelaugt, aber er hatte die Nacht überstanden. Wortlos ließ er sich von seinen Dienern ankleiden und bestieg schließlich den Streitwagen, der im Palasthof auf ihn wartete. Er verharrte einen Moment, so kurz, dass Außenstehende es nicht bemerkten, aber doch lang genug, um noch einmal die ruhige Atmosphäre des Palastes aufzusaugen. Dann gab er dem persischen Hengst die Zügel und preschte in den Morgen hinaus. Er musste sich eingestehen, dass es selbst für ihn ein ehrfurchtgebietender Anblick war, der sich da bot. Hinter ihm türmten sich die gewaltigen Stadttore Thebens, deren Hieroglyphen in der aufgehenden Sonne leuchteten, und schienen die menschliche Nichtigkeit zu belächeln. Vor ihm erstreckte sich das verbliebene Heer Oberägyptens, das seinem Ruf gefolgt war und die breite Ebene vor der Stadt verdunkelte. Das Licht brach sich in den Speichen der Streitwagen und erstickte im Staub, der durch unzählige Pferdehufen aufgewirbelt wurde. Das Gewirr von Menschen, Waffen und Tieren war so dicht, dass Einzelheiten kaum noch zu erkennen waren. Mit einem harten Ruck an den Zügeln lenkte er seinen Streitwagen zu der kleinen Gruppe Hohepriester, die seine Ankunft erwartet hatten. Mahad, der heute seltsam aufgebracht schien, trat auf ihn zu und verneigte sich. „Wie viele, Mahad?“, fragte er seinen Hohepriester, während sein Blick über die Anwesenden glitt. Einen Moment verharrte er bei Yugi, der neben Ishizu stand. Der junge Mann wirkte blass. Als sich ihre Blicke kreuzten, erschien es Atemu, als würde Yugi vor ihm zurückweichen. Es irritierte ihn, dass ihm dieser Anblick einen Stich versetzte. „Zwei Regimente aus dem Osten, eine Brigade aus dem Süden.“ Mahads Stimme zog Atemus Aufmerksamkeit auf den Hohepriester zurück. „Zusätzlich dazu kamen noch drei Schwadronen Streitwagen an. Die Flotte ist, wie von Euch angewiesen, klein und nur auf Transport ausgelegt, dafür vollständig mit Schardana-Söldnern besetzt. Die nubischen Söldner von Priester Seto sind der leichten Infanterie zugeteilt und unterstützen die einberufenen Regimente der Kuschiter und Retjenus.“ Atemu überschlug die Zahlen im Kopf und versuchte seine Gedanken in konzentrierte Bahnen zu lenken. Er war müde; sein Kopf schmerzte unter der Enge des Diadems. Er spürte die Blicke all dieser Menschen auf sich, brennend, durchdringend. „Gut“, antwortete er und bemerkte, dass er seine eigene Stimme durch den Nebel der Gedanken nicht wiedererkannte. „Wir brechen auf.“ Drei Worte. Drei Worte, die den Tod so vieler Männer bedeuteten. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, übergab Atemu die Zügel des Streitwagens an Seto und trat auf den Nil zu, an dessen Ufer mehrere Boote unter königlichem Banner warteten.  Atemus Herz schlug heftig, als er über die Planke schritt. Er spürte etwas in seiner Brust, das ihn zu zerreißen drohte, das nach draußen wollte, ihn verschlingen würde. Seine Hände krallten sich in die Seile der Reling, bis sich die Hanffasern in seine Haut gruben. Der Schmerz zog ihn zurück in die Realität. Die Schlieren verschwanden, der eiserne Ring um seinen Brustkorb begann sich zu lösen. Atemu schloss einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er Yugi. Der junge Mann stand da, beide Hände locker auf der Reling liegend und blickte ihm ernst und stumm entgegen. In seinem Gesicht lagen so viele Emotionen, dass Atemu Stunden damit hätte verbringen können, sie zu lesen und doch das Gefühl haben würde, etwas zu übersehen. Auf dem Schiff herrschte aufgeregte Betriebsamkeit, während die Segel gesetzt und der Anker eingeholt wurde, doch zwischen ihm und Yugi lag eine vollkommene Ruhe. Atemu wandte den Kopf ruckartig ab. „Angst haben wir alle“, sprach Atemu leise, den Blick weit in die Ferne des Nils gerichtet – dorthin, wo Memphis lag. „Der Unterschied, Yugi, ist nur: wovor.“ Aus den Augenwinkeln sah er, wie Yugi den Mund öffnete, um zu antworten. Mit einer schnellen Geste fuhr der Pharao herum und trat in den Kreis seiner Hohepriester, die sich am Heck des Schiffes versammelt hatten. Das Boot nahm Fahrt auf und glitt aus dem Hafen Thebens. Die Streitwagen und ein kleiner Teil der Infanterie, die den Weg über Land nahmen, um noch ein paar letzte Soldaten einzuberufen, verschwanden schnell in der Entfernung. Dennoch glaubte Atemu immer wieder, das Blitzen der Sonnenstrahlen zu sehen, die sich auf den blanken Klingen der Waffen brachen. Doch schwerer als dieses Empfinden wog Yugis Blick, der durchdringend auf ihm lag und ihn regelrecht zu durchbohren schien. Voll ehrlicher Sorge. Und etwas anderem, das Atemu nicht greifen konnte, aber das eine unerträgliche Unruhe in ihm auslöste. ~oOo~ Die Nächte in der Wüste waren pechschwarz. Und eisig kalt. Mana zog frierend die Schultern hoch und beeilte sich, zu Joey aufzuschließen, der unbeirrt durch den weichen Sand stapfte. Seit sie über Umwege die unbefestigte Grenze Unterägyptens überschritten hatten, verbargen sie sich tagsüber und reisten nur noch nachts. Das Schweigen lastete schwer auf ihnen, genauso wie die Isolation und die ständige Dunkelheit. „Willst du … noch etwas essen?“, fragte Mana zögerlich und hielt ein paar Fetzen des zähen Fleisches hoch, das seit Tagen ihr kärgliches Mahl darstellte. Joey schien wenig begeistert, nahm es aber dennoch entgegen. „Was genau essen wir hier eigentlich?“ murmelte er, während er angestrengt kaute. „Schlange“, entgegnete Mana. „Sandboa, um genau zu sein.“ Joey erstarrte mitten im Kauvorgang, schluckte den Brocken dann aber letztendlich doch. Er schwieg wieder. Mana biss sich auf die Unterlippe. Vorsichtig streckte sie die Hand aus, tastete in der Dunkelheit nach Joey und überkreuzte ihre Fingerspitzen mit den seinen. Joeys Finger zuckten. Einen kurzen Moment schlossen sie sich um Manas Hand und drückten sie sanft, doch plötzlich löste er sich mit einer unwilligen Geste und verbarg seine Hände in seiner Tunika. Manas ohnehin nur noch dünner Geduldsfaden riss. „Was soll das?“, fauchte sie und hielt Joey am Ärmel fest. „Was soll was?“ „Das! Dein ganzes Verhalten! Du ignorierst mich, behandelst mich wie Luft, und das schon seit Tagen.“ Sie spürte Joeys Schulterzucken mehr, als dass sie es sah. „Quatsch. Das bildest du dir nur ein.“ „Ach ja?“ warf Mana ihm entgegen. „Ich soll mir das einbilden? Du kannst mir ja nicht mal jetzt in die Augen schauen!“ Joey schien einen Moment zu erstarrten. Nach einigen Augenblicken wandte er sich langsam zu ihr um, doch sie spürte, dass sein Blick durch sie hindurch ging, irgendwohin in die weite Ewigkeit der Wüste. Er antwortete wieder nicht. Mana begann vor Wut zu zittern. „Du… du… Blöder Esel!“,  platzte es aus ihr heraus. „Findest du das irgendwie witzig? Du kommst hierher, stellst mein Leben auf den Kopf, bringst mich dazu alles aufs Spiel zu setzen, was mir wichtig ist, küsst mich und dann … und dann…“, sie unterbrach sich mit einem undefinierbaren Laut und fuhr auf dem Absatz herum. Blind vor Aufruhr stapfte sie durch die Wüste, sich nicht weiter darum kümmernd, in welche Richtung sie überhaupt lief. „W-Warte!“ Sie ignorierte Joeys Rufen. „Scheiße, Mann...“ Joeys Schritte wurden schneller. Innerhalb weniger Meter hatte er sie eingeholt, packte sie am Handgelenk und zwang sie, sich zu ihm umzudrehen. „Lass mich los!“, zischte sie. „Ich will…“ „Du kapierst auch gar nix, oder?“ Joey unterbrach sie harsch. Als er weitersprach, klang seine Stimme jedoch plötzlich weich und belegt. „Es… tut mir leid. Ich… ich denke oft nicht nach, bevor ich was tue.“ Mana schnaubte. „Ja. Das macht alles echt viel besser.“ „So hab ich das doch nicht gemeint“, ächzte Joey. „Ich wollte nur… Also, das war alles so nicht geplant. Du hast geweint und… und ich..“ „Oooh, natürlich. In der Welt, aus der du kommst, küsst man weinende Frauen, oder was?“ „Ja. Nein! Ich meine…. Ach scheiße!“ Mit einer heftigen Bewegung zog Joey Mana näher zu sich heran. „Ich … mag dich, Mana. Wirklich. Ich … mag dich echt. Aber das mit dem Kuss das war … ein Fehler. Sobald wir dieses komische Auge haben und der Pharao wieder normal im Kopf ist, kehren Yugi und ich wieder nach Hause zurück.“ Er presste kurz die Lippen zusammen und ließ Manas Handgelenk plötzlich los. „Was soll ich denn dann machen? Ich kann dich nicht mitnehmen und ich kann nicht hierbleiben. Glaubst du, ich kann dann einfach so verschwinden? Einfach so tun, als wäre nie was gewesen?“ Es war das erste Mal, dass Mana der Wüste für ihre Dunkelheit dankbar war. Ihre Wangen brannten so sehr, dass es beinahe schmerzte. „Aber … aber jetzt bist du doch noch da. Und … und ich bin auch da“, murmelte sie leise. Joey seufzte. „Nein, Mädchen. Machen wir das alles nicht schwerer, als es eh schon ist. Lass uns Freunde sein, ja? Nur Freunde.“ Mana ballte die Hände zu Fäusten und schluckte einige Male schwer. Dann nickte sie stockend. Sie brachte keine Antwort heraus, aber Joey verstand sie. Er lächelte aufgesetzt fröhlich, hob eine Hand und wuschelte ihr kumpelhaft durch das Haar. „Siehste, alles nur halb so wild. Und passend dazu geht die Sonne auf. Praktisch, was?“ Betäubt wandte Mana den Kopf und blinzelte in die wärmenden Strahlen der Sonnenscheibe. Sie wollte antworten, doch als die Helligkeit über die Ebene floss, die sich vor ihnen auftat, entglitt der Jungpriesterin jedes Wort. Ihr Blick flog über steinerne Pranken, schob sich über einen massigen Leib nach oben und hielt inne, als er auf Augen traf, die trotz ihrer Leblosigkeit das Wissen der Jahrhunderte in sich zu tragen schienen. Sie hatten es geschafft. Sie hatten Gizeh erreicht. „Joey…“ Der Name floss nur brüchig über ihre Lippen, während sie mit zitternder Hand nach seinem Ärmel tastete. „Joey. Die Sphinx. Das ist … die Sphinx. Bei Horus, wir sind da, wir sind endlich da!“ Euphorie strömte durch ihren Körper. Ohne weiter darüber nachzudenken fuhr sie herum, schlang ihre Arme um Joey und umarmte ihn überglücklich. Nur langsam drang es durch die Hochstimmung zu ihr durch, dass sich Joeys Körper merklich anspannte. Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen, als sie zu ihm aufsah. Sein Blick war fest auf die Sphinx gerichtet, seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Mana löste sich augenblicklich von ihm. Nach einem Moment des Schweigens, zwang Mana sich, den schalen Geschmack in ihrer Kehle zu ignorieren und setzte ein Lächeln auf, von dem sie hoffte, dass es echt wirkte. „Komm, lass uns gehen. Wir sollten die Ebene durchqueren, ehe die Pilger ankommen.“ Der Ausdruck auf Joeys Gesicht wurde weicher, als er nickte. Sie stolperten mehr, als sie liefen. Ihre Muskeln waren steif von der Kälte, ihre Füße wund von der langen Reise, aber das Wissen, endlich am Ziel zu sein, ließ sie all das vergessen. Als sie den Fuß der Sphinx erreichten, wäre Mana am liebsten auf die Knie gesunken und hätte das steinerne Monument geküsst. „So. Und nun?“, durchbrach Joey Manas Taumel. „Sollen wir der Sphinx ‚gib Pfötchen‘ beibringen? Oder wie kommen wir jetzt unter die Tatzen?“ Von weitem war das Geräusch von Pferdehufen auf Gestein zu hören. Oberägypten erwachte. „Wir sollten nach einem Eingang suchen. Eine Treppe, ein Spalt – irgendwas, das uns nach unten führt“, murmelte Mana. „Wir müssen uns beeilen.“ Sie suchten in fieberhafter Eile. Meter um Meter schoben sie sich vorwärts. Ihre Finger fuhren über die steinerne Haut der Sphinx, suchten nach losem Gestein und offenen Fugen. Die Sonne stieg. Die Ebene begann sich zu füllen. „Man findet uns bald, Joey!“ In Manas Stimme schwang Panik. „Was machen wir, wenn sie uns finden? Joey? Warum antwortest du nicht? Was ist-“ „Ich hab hier was, komm her und schau dir das an!“ Mana stob um die Ecke, noch bevor er den Satz ganz zu Ende gesprochen hatte.  Joey kniete auf allen Vieren und legte angestrengt einen Fundamentsstein frei, der in der unteren Hälfte auffällig unnatürlich gesplittert war. Unsicher starrte Mana auf in die Schwärze. Der Durchlass war gerade so groß, dass sie sich hindurchschieben könnten, wenn sie sich flach auf den Boden legten. „Da…. rein?“, fragte sie zweifelnd und versuchte in der Dunkelheit irgendeinen Anhaltspunkt zu erkennen, der ihr bestätigte, dass es dort unten weiterging. Joey zuckte mit den Schultern und schob noch etwas Sand beiseite. „Kein Plan. Aber was anderes habe ich bisher nicht-“ Er erstarrte, als Stimmen lauter wurden. Sie waren so nah, dass sie den Inhalt des Gespräches verstehen konnten. Noch während Mana wirklich wusste, was ihr geschah, hatte Joey sie gepackt und auf den Boden gezogen. „Rein jetzt. Kein Gemaule, kein Genöhle, sieh zu, dass du da drin verschwindest“, raunte er ihr zu. Mana gehorchte. Sie zog sich so schnell sie konnte in den Spalt und ignorierte den Schmerz, als ihr Rücken an dem Stein entlang schlidderte. Ihre Finger fuhren durch weichen Sand, zogen sie vorwärts – und griffen plötzlich ins Leere. Mit einem entsetzten Blick sah sie zu Joey zurück, der ihr dicht aufgeschlossen folgte. Sie sah noch, wie er die Hand nach ihr ausstreckte, doch bevor sie danach greifen konnte, verlor sie endgültig das Gleichgewicht. Bodenlose Schwärze umfing sie, als sie fiel. Kapitel 14: Eclipse ------------------- Der Aufprall presste die Luft aus Manas Lungenflügeln. Ein scharfer Schmerz zog durch ihre linke Schulter und trieb einen hissenden Laut über ihre Lippen. Sie benötigte einige Momente um wieder klar zu sehen. „Mana! Ist alles okay? Mädchen… erschreck mich doch nicht so!“ Verwirrt blinzelte Mana in das helle Gegenlicht des Einstieges, von dem Joeys Stimme zu ihr herunter drang. „Sag schon, ist alles okay?“ In Joeys Stimme schwang besorgte Alarmbereitschaft und Mana beeilte sich zu antworten: „Alles gut… glaube ich.“ Vorsichtig rappelte sie sich auf die Knie und zuckte zusammen, als ihre Schulter gegen die Bewegung rebellierte. Langsam sah sie sich um und versuchte ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie befand sich auf einer unebenen Treppenstufe, deren Ende in der Schwärze verloren ging. Der Einstieg, durch den sie gefallen war, schwebte einen halben Meter über ihr – der Sturz war zum Glück nicht so tief gewesen, wie es ihr während des Fallens erschienen war. Joey überwand die kurze Distanz ohne Schwierigkeiten und kam mit einem gedämpften Laut neben Mana zum Stehen. „Da fehlt’n Stück“, murmelte er und musterte die Treppe, die bis zu Manas Landeplatz reichte, wo sie in einem Berg aus Trümmern endete. Mana hustete leise. „Die Stufen haben früher scheinbar bis zum Fundamentsstein gereicht. Sie müssen im Laufe der Jahre zusammengebrochen sein.“ „Den Architekten würde ich feuern“, Joey grinste schief, wurde dann aber sofort ernst und deutete auf Manas Schulter. „Ist echt alles okay? Der Sturz sah ziemlich wüst aus.“ Mana presste die Lippen zusammen und stemmte sich vom Boden hoch. „Nur eine Schürfwunde“, log sie. „Komm, lass uns weiter. Wir sind so kurz vor dem Ziel.“ Sie unterdrückte das leise Keuchen, das ihr auf den Lippen lag. Ihre Schulter pochte heftig und Mana glaubte zu spüren, dass ihre Tunika von warmem Blut getränkt wurde. Stufe um Stufe stieg sie hinab, dicht gefolgt von Joey, dessen Atem sie in der Dunkelheit in ungekannter Schärfe wahrnehmen konnte. Ihre Schritte hinterließen kaum ein Geräusch auf dem Stein, als sögen die steinernen Mauern jeden Hall in sich auf. Mana fröstelte. Die abgestandene Luft änderte sich je weiter sie hinabstiegen, bis sie so schwer von Moder und Altertum gesättigt war, dass das Atmen schwer fiel. Die Zeit bröckelte und verschwand in der Bedeutungslosigkeit. Wie lange stiegen sie diese Treppe bereits hinab? Waren es Minuten? Oder Tage? Mana wusste es nicht. Monoton setzte sie einen Fuß vor den anderen. Der Schmerz in ihrer Schulter war abgeklungen, hatte einer tiefen Dumpfheit platz gemacht. Der durchnässte Fleck ihrer Tunika klebte kalt und unangenehm an ihrer Haut. Sofern sie den Arm nicht bewegte, schien zumindest kein neues Blut aus der Wunde zu laufen. Eine Unregelmäßigkeit in Joeys Schritten ließ sie aufblicken. Trotz der Dunkelheit konnte sie sehen, wie fahl und angespannt sein Gesicht wirkte. Sie öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch sie konnte die Worte nicht greifen, die durch ihre Gedanken stoben. Stattdessen tat sie einen weiteren Schritt. Und noch einen. Und trat plötzlich in knöcheltiefes Wasser. Es war eisig kalt. Und doch war es gerade diese Kälte, die Mana aus ihrem Schweigen holte. „Da… da ist das Ende der Treppe.“ Joeys Tunika raschelte, als er sich an ihr vorbei schob. Er sagte nichts, sondern tastete sich nur an der Wand entlang. Der Weg führte nur noch wenige Schritte geradeaus, ehe er in einer scharfen Linkskurve endete. Joey zögerte einen Moment und spähte schließlich entschlossen um die Ecke. Er erstarrte und Mana beeilte sich zu ihm aufzuschließen. Vor ihnen erstreckte sich ein weiter Raum, nur spärlich erhellt durch ein diffuses, grünliches Licht, das keinen Ursprung zu haben schien. Die aufstrebenden Säulen verschwanden in der Dunkelheit, als wäre die Schwärze die einzige Decke, die es zu tragen galt. Das Wasser, das den Boden vollständig überflutete, lag so glatt vor ihnen wie ein blank polierter Spiegel. Manas Herz hämmerte schmerzhaft gegen ihre Rippen. Sie spürte, dass ihre Knie nachzugeben drohten und zwang sich dazu, einen Schritt nach vorne zu tun. Das Wasser wurde tiefer, es reichte ihr nun knapp bis an die Knie. Dunkle Schatten umringten ihre Beine und Mana zuckte erschrocken zurück, bis sie erkannte, dass es sich um Fische handelte. „Nilwelse“, murmelte sie überrascht. „Das hier … das ist der Nil, Joey.“ Statt einer Antwort fühlte sie, wie sich Joeys Finger auf ihre Schulter legten und sie dazu zwangen, sich einen halben Schritt nach links zu wenden. Sie hob irritiert den Blick und spürte, wie ihr der Mund aufklappte. Weit in der Mitte des Raumes ragte ein quadratisches Plateau aus dem Wasser. Dort oben, umrahmt von vier schlichten Torbögen, ruhte ein steinerner Sarkophag. Mana zitterte am ganzen Leib. Sie konnte die übermenschliche Aura mit jeder Faser ihres Körpers spüren, bis sie im Begriff war, wahnsinnig zu werden. Einen kurzen Moment schoss die Frage durch ihren Kopf, ob Atemu tagtäglich eine ähnliche Präsenz ertragen musste, doch der Gedanke war verschwunden, noch ehe sie ihn wirklich begreifen konnte. Sie näherte sich langsam.  Die Nilwelse flohen unter den zögerlichen Schritten, die das Wasser aufwühlten. Der Sarkophag ragte vor ihnen auf wie eine Trutzburg, die in Stille und Düsternis die Jahrhunderte überdauerte. „Da drin?“ Joeys Stimme klang abgehakt. „Ich … ich weiß es  … nicht.“ Alles in Mana schrie danach umzukehren, den Sarg und das darin eingeschlossene Etwas in Frieden zu lassen. Mit energischen Schritten trat Joey neben den Sarkophag. Er konnte nicht verbergen, dass seine Hände zitterten, als er sie an den schweren Deckel legte und sich mit aller Kraft dagegenstemmte. „Na dann, los.“ Nach wenigen Minuten war er schweißgebadet. Seine Muskeln traten angespannt unter seiner Haut hervor, doch der schwere Stein bewegte sich nur um Millimeter. Mana versuchte ihm zu helfen, doch ihre linke Schulter versagte ihr nun endgültig den Dienst. Mit zusammengebissenen Zähnen lehnte sie ihr ganzes Körpergewicht gegen den Sarg. Der Widerstand begann zu bröckeln, bis sich der Deckel plötzlich mit einem Schaben löste und donnernd zu Boden fiel. Das Innere des Sarkophags erstrahlte. Eine Säule aus gleißendem Licht schoss in den Himmel, waberte an den steinernen Mauern entlang, als suche es einen Ausweg. Mana schlug sich hastig die Hände vors Gesicht. Ihre Augen tränten. Jedes Haar an ihrem Körper vibrierte, jede Faser schien zum Bersten angespannt. Ein schriller Schrei, krächzend wie der eines Geiers, erfüllte den Raum, immer und immer wieder, bis Mana gequält aufstöhnte. Plötzlich war es vorbei. Das Licht wich der raumgreifenden Dunkelheit. Die Stille kehrte zurück. Würgend; Bedrückend. Nur langsam wagte Mana, zwischen ihren Fingerspitzen hindurch zu sehen. Es dauerte lange, bis sie sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Nechbets Grabstätte lag ruhig da, die erdrückende Präsenz war verschwunden. Bebend richtete Mana sich auf, trat entschlossen näher und beugte sich über den offenen Sarg. Das Erste, was sie erblickte, war Staub. Das Innere des Steinsarges wirkte alt und verwittert, schuf einen krassen Gegensatz zu der zeitlos perfekten Außenhaut. Er war leer. In Mana stieg eisige Kälte auf. „Das kann doch nicht…“, begann sie erstickt und unterbrach sich wieder. Es durfte nicht sein. War alles umsonst gewesen? Sie spürte die Schwäche, die durch ihre Glieder floss, die Erschöpfung nach dieser langen, erfolglosen Reise. Mit einem unterdrückten Schluchzen verbarg sie ihr Gesicht in ihren bebenden Armen. Sie war ausgelaugt. Und leer. „Mana…“, Joeys Stimme war so nah an ihrem Ohr, dass sie zusammenzuckte. „Was ist das da?“ Unwillig sah Mana auf und folgte Joeys Fingerzeig zum Kopfende des Sarkophags. Ihr Atem stockte, als sie das schwache, goldene Blitzen sah, dass Joeys Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Dort, unscheinbar und verborgen unter einer Schicht grauen Schmutzes, lag ein kleines, schmales Artefakt. Schwarze Linien auf goldenem Grund formten ein ägyptisches Auge, die smaragdbesetzte Iris war blind vom Staub vieler Jahre. Mit bebender Hand griff Mana danach und keuchte leise, als sie die sanfte Wärme spürte, die von dem kleinen Artefakt ausging. „Das ist es, Joey,“ presste sie atemlos hervor. „Das ist es!“ Das Schmuckstück begann vor ihr zu verschwimmen, als sich Tränen der Erleichterung in ihren Augen sammelten. Endlich. Jetzt würde alles gut werden. „Lass uns abhauen, Mana.“ Joeys Stimme war belegt. „Ich will raus aus diesem muffigen Loch. Wir haben’s geschafft, wir-“ Er unterbrach sich. Sie hörten die Schritte nicht. Sie spürten sie. Als Mana zaghaft über ihre Schulter nach hinten blickte, sah sie das Wesen sofort. Groß und stumm stand es am anderen Ende des Raumes. Die lebende Sphinx – Wächter des heiligen Bezirkes. „Lauf, Joey…“ Der Löwenkörper der Sphinx spannte sich. Manas Stimme überschlug. „Bei Osiris: LAUF!“ ~oOo~ Er würde das Geräusch nie vergessen können. Seit seiner Kindheit war er in Kampf und Militärwesen ausgebildet worden. Er wusste, wie er die Chepesch richtig einsetzte, er verstand es, einen Streitwagen zu führen und er hatte die Bildung, um auf gegnerische Taktiken sofort antworten zu können. Doch auf den Laut, der entstand, wenn eine scharfe Klinge durch die Kehle eines Menschen glitt, hatte ihn niemand vorbereitet. Genauso wenig wie auf den Würgereiz, der aufstieg, wenn die Speichen seines Streitwagens Knochen zermalmten, ohne zwischen Toten und Verletzten zu unterscheiden. Atemu presste die Lippen aufeinander. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte. Die Schlacht war in ihrer vollen Härte entbrannt, kaum, dass er mit seinem Heer vor Memphis angekommen war. Sein Erscheinen hatte seinem Heer einen Euphorieschub gegeben, sie kämpften so verbissen, wie nie zuvor. Und starben in Massen. Atemu wischte sich Schweiß und Blut aus dem Gesicht, versuchte den Gedanken beseite zu schieben, dass es sich bei dem Blut nicht um das seinige handelte. Mit einem harschen Zug an den Zügeln brachte er seine nervösen Pferde vor dem hastig aufgebauten Baldachin zum Stehen, unter dem die nächste Strategiebesprechung stattfinden würde. Der Pharao fluchte leise. Die Situation begann, ihm zu entgleiten. Er wusste nicht, wo Seto mit dem Streitwagenkorps blieb und den Kontakt zu den Feldärzten hatte er vor einigen Stunden verloren. Wo waren Mahad und Karim? Wo war Ishizu? Und … Yugi? Er spürte, dass seine Hände zitterten und ballte sie so fest zur Faust, dass seine Haut vom Leder der Zügel aufgerieben wurde. Das Millenniumspuzzle lag schwer um seinen Nacken, als wolle es ihn daran erinnern, dass er noch immer eine Möglichkeit hatte, die Geschicke dieses Krieges zu seinen Gunsten zu wenden. Sein Herz schlug so heftig, dass jeder Schlag die Luft aus seinen Lungen drängte. Er wusste, was in seiner Macht stand. Aber er wusste auch, dass er es nicht tun konnte. Eine Hand löste sich von den Zügeln und legte sich um das Millenniumspuzzle. Es schien unter seinen Fingerspitzen lebendig zu werden, Atemu glaubte zu hören, wie es ihn rief. Sein Atem stockte. Etwas in ihm rebellierte, bäumte sich gegen unsichtbare Ketten und zerriss sie Glied um Glied. Das Milleniumspuzzle glühte, brannte sich in seine Fingerspitzen. Atemus Blick glitt zu den mächtigen Stadtmauern Memphis‘, die vor ihm lagen; so nah, dass er glaubte, sie greifen zu können, und doch noch so weit entfernt. Die erste Angriffswelle war niedergeschlagen worden. Hinter den vorderen Reihen der Infanterie, die sich neu formierten, beeilten sich Atemus Soldaten, ihre verwundeten Kameraden vom Schlachtfeld zu schleppen. Atemu wusste, dass er nicht zögern durfte. Er musste erneut angreifen. Doch er rührte sich nicht. Er klammerte sich an das Puzzle, an die Dunkelheit, die in ihm aufstieg. Atemu bebte. Er konnte fühlen, wie sich sein Ka ballte; wie es aus dem engen Gefängnis des sterblichen Körpers ausbrechen wollte. Sein Geist begann nach den drei Göttern zu rufen, angestachelt durch die Kraft, die Seth ihm gab. Und endlich… endlich konnte er fühlen, dass Obelisk seinen Ruf erwiderte. Memphis würde brennen. Und mit ihm Senator Neferabu, der Usurpator, der den Tod Aknamkanons genutzt hatte, um sich selbst zum Pharao aufzuschwingen. Er würde in der Stadt sein Verderben finden, in der er den Putsch angezettelt hatte. Blutdurst begann ihn zu quälen, während sich sein Ka verdichtete. Es fiel ihm schwer den Streitwagen zu halten. Die persischen Hengste tänzelten panisch. Atemu biss sich auf die Lippen, um ein Keuchen zu unterbinden. „Pharao?“ Der Streitwagen tat einen Satz nach vorne, als sich die Pferde wiehernd aufbäumten. Atemu riss fluchend an den Zügeln und fuhr herum, als der den Wagen wieder unter seiner Kontrolle wusste. Er stockte, als sein Blick auf die Gestalt fiel, die hier, im Herzen des Krieges, unendlich klein und verloren wirkte. Yugi hatte die Hand auf den Mund geschlagen, offenkundig erschrocken darüber, wie sehr sein plötzlicher Ruf die Pferde aufgescheucht hatte. Die Dunkelheit in Atemu schwand. Der grausame Griff der Rachgier lockerte sich, gab seine Gedanken langsam wieder frei.   „Was hast du hier zu suchen?“ Atemu sprang vom Streitwagen, noch ehe Yugi die Möglichkeit hatte zu antworten, und trat unter den Baldachin. Erst als er sich dort auf den einfachen Thron niedergelassen hatte, nahm der Pharao sich die Zeit, sein Gegenüber eingehend zu mustern. Yugis Tunika war dunkel vor Schmutz und Staub. Seine Hände bebten deutlich sichtbar, als er dem Pharao einen Papyrus entgegen streckte. „Ishizu sagte, ich soll Di-Euch dies übergeben. Es ist ein knapper Lagebericht.“ Yugis Stimme war leise und bedrückend monoton. Atemu nahm das Schriftstück nach einem kurzen Zögern entgegen. Während er den Bericht überflog, glitt sein Blick immer wieder über den Rand des Papyrus hinweg zu Yugi. Der junge Mann schien keine äußerlichen Verletzungen zu haben. Doch der leere Ausdruck in seinen Augen trieb Atemu eine Gänsehaut über den Nacken. „Wo ist Ishizu?“ Yugi deutete vage in eine Richtung. „Da hinten. Sie sagte, sie würde gleich nachkommen. Sie wollte noch einem Mann helfen, der unter einen Streitwagen geraten ist und...“ Sein Blick flackerte. Atemu beeilte sich, sein Gegenüber mit einer Handbewegung zu unterbrechen. „Das genügt mir.“ Er zögerte unmerklich, ehe er sich um einen ruhigeren, fast sanften Ton bemühte. „Danke, Yugi.“ Es wirkte. Yugis leerer Blick zuckte nach oben, bohrte sich in das Gesicht des Pharao. In die aschfahlen Wangen kehrte ein Hauch von Farbe zurück. Es schien, als sei ein Teil von Yugi in die vorher so leer wirkende Hülle zurückgekehrt. Atemu wandte den Kopf als er spürte, dass ihm dieser Anblick näherging, als er es zulassen wollte. „Verzeiht, Pharao, ich wurde aufgehalten!“ Mahads Stimme durchschnitt das Schweigen. „Ich bringe jedoch gute Neuigkeiten. Seto ist mit dem Streitwagenkorps endlich eingetroffen und bringt zudem die Verstärkung der Infanterie mit.“ Atemu unterdrückte nur schwer ein erleichtertes Aufatmen. Er erhob sich und sah dem Hohepriester entgegen, der, flankiert von Karim und Ishizu, näher eilte. „Gut.“ Entgegnete der Pharao gelassener als er sich fühlte. „Wir werden sofort in den Angriff übergehen.“ Mahad und Karim tauschten kurze Blicke. „Eure Männer sind sehr erschöpft, Pharao“, begann Karim vorsichtig, doch Atemu schnitt ihm das Wort mit einer harschen Bewegung ab. „Besetzt die Streitwagen mit allen übriggebliebenen Bogenschützen, die ihr auftreiben könnt, sie werden in erster Welle ausrücken. Danach die Infanterie. Bringt mir jeden Soldaten, der noch in der Lage ist, eine Chepesch zu halten.“ Die Hohepriester schwiegen. Atemu konnte ihre Missbilligung körperlich spüren, doch schließlich nickte Mahad hölzern und wandte sich ab. Atemu versuchte den schalen Geschmack auf seiner Zunge auszublenden, als ihm bewusst wurde, dass sich der Hohepriester zum ersten Mal nicht vor ihm verneigt hatte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Ishizu auf ihn zu trat, doch erst als seine Augen Mahad in dem Gewühl der Soldaten verloren hatten, wandte der Pharao seine Aufmerksamkeit seiner Hohepriesterin zu. Ihr feines Gesicht wirkte vor Erschöpfung hager und eingefallen. „Seid Ihr verletzt, Pharao?“ Sie versuchte zu lächeln, doch die Müdigkeit überdeckte die ihr sonst eigene Wärme. Atemu fror plötzlich. „Nein. Kümmere dich um die anderen.“ Seine Stimme klang in seinen Ohren so dumpf, so weit entfernt. Ishizu zögerte, nickte dann aber und wandte sich Yugi zu, der die ganze Zeit schweigend und reglos wie ein Schatten an ihrer Seite gestanden hatte. Als sie ihre Hand sanft auf seine Schulter legte, zuckte er leicht zusammen, folgte ihr dann jedoch mechanisch. Atemu schloss einen Moment die Augen und atmete tief ein, ehe er Ishizu noch einmal zu sich zurückrief. „Bring ihn von der Schlacht weg.“ „Aber Pharao-“                Atemu packte die Hohepriesterin so fest am Oberarm, dass ihr ein schmerzerfüllter Laut entkam. „Ich sagte: Bring ihn weg.“ Ishizu musterte ihn mit weit aufgerissenen Augen, schien etwas sagen zu wollen und schwieg doch. Schließlich nickte sie, wand sich aus seinem Griff und eilte davon. Atemu widerstand dem Drang, ihr nachzusehen. Stattdessen bestieg er seinen Streitwagen und griff nach den Zügeln. Das raue Leder schmiegte sich in die Schwielen seiner Hände. Das königliche Diadem schien wieder enger zu werden; statt ihn zu zieren, erdrückte es ihn. Mit versteinertem Gesicht sah der Pharao dem hochgewachsenen Hohepriester entgegen, der an der Spitze der Streitwagen zu ihm heranpreschte. Es war das letzte Aufbäumen in diesem Krieg. Die letzte Angriffswelle, die er in der Lage war zu starten. Atemu strich noch einmal mit den Fingerspitzen über das Millenniumspuzzle, fühlte das Vibrieren dieses mächtigen Gegenstandes. Dann gab er seinen verbliebenen Männern den Befehl zum Angriff. ~oOo~ Er hatte sie verloren. Es traf Joey wie einen Schlag in die Magengrube. Bis vor wenigen Augenblicken war Mana doch noch direkt hinter ihm gewesen! Joey hielt keuchend inne und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Ihre Flucht hatte sie tief unter die steinerne Sphinx getrieben, in ein weit verzweigtes, scheinbar endloses Labyrinth. Joey unterdrückte einen Fluch, während er sich an der Wand entlang zurücktastete. Über sein hämmerndes Herz hinweg konnte er keinen Laut vernehmen, weder von Mana, noch von diesem Wesen, das sie jagte. In der beklemmenden Düsternis glaubte er eine Silhouette zu erkennen, die sich näherte, aber es war, als weigere sich sein Gehirn, die Schemen vor seinen Augen richtig zusammenzusetzen. Je näher der Schatten kam, desto eher glaubte Joey, Mana zu erkennen und lief ihr mit einem erleichterten Seufzten entgegen. Er erkannte seinen Fehler erst, als es zu spät war. In seinen Gedanken hörte er Manas Stimme, die ihm zurief, den Wächter nicht direkt anzusehen, aber Joey war wie erstarrt. Sein Blick bohrte sich in das ausdruckslose Gesicht der Sphinx, wurde verschluckt von blinden Augen und verlor sich in bodenlosem Nichts.   Er sah die Bewegung im letzten Moment und wich hastig aus. Die Faust seines Vaters traf die Wand und hinterließ ein klaffendes Loch in dem billigen Putz. Joey rappelte sich schnell auf. Sein Magen schmerzte – der vorherige Schlag schien das Ziel getroffen zu haben, auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte. Hastig ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen, doch um den einzigen Ausweg zu erreichen, der sich ihm bot, musste er irgendwie an seinem Vater vorbeikommen. Putz bröselte auf ihn herab, brannte in seinen Augen, als er sich an der Wand entlangschob. Sein Vater folgte jeder Bewegung. Joey schluckte. Er kannte die Saufeskapaden seines Vaters, sie waren nichts Neues für ihn. Aber heute war es anders. Die Bewegungen seines Vaters waren koordiniert und schnell, die Augen klar und voller Wut. Joey wurde bewusst, dass Gegenwehr heute gefährlich werden würde. „Wegen dir ist deine Mutter abgehauen, Joey. Nur wegen dir.“ Joey presste die Lippen zusammen und ignorierte die Worte. Er hatte sie schon zu oft gehört. Er tat einen weiteren, langsamen Schritt zur Seite und stieß sich mit einem Mal von der Wand ab. Sein Vater schnellte nach vorne, doch Joey schaffte es, sich unter den zupackenden Händen wegzuducken und warf sich im vollen Lauf gegen die Tür. Während hinter ihm das Gebrüll seines Vaters anschwoll, stürmte Joey das Treppenhaus hinunter, bei jedem Schritt zwei Stufen auf einmal nehmend. Er hielt erst inne, als er den Asphalt der Straße unter seinen Füßen wiederfand. Schwer keuchend lehnte er sich an die Hausmauer und versuchte seinen Atem zu beruhigen, der wie Feuer in seiner Lunge brannte. Motorengeräusch ließ ihn aufsehen. Mehr beiläufig als wirklich interessiert musterte Joey den roten Kleinwagen, der an ihm vorbei fuhr, bis sein Blick auf die Insassen fiel. Einen kurzen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf das junge, braunhaarige Mädchen auf dem Rücksitz und die Frau hinterm Steuer. „Serenity…“, Joeys Stimme brach. „Mama…“ Das Auto war mittlerweile fast gänzlich verschwunden. Obwohl er wusste, dass es aussichtslos war, stieß er sich ab und rannte. „Wartet... Wartet!“ Der Wagen wurde immer kleiner. „Serenity!“ Joey wurde langsamer. „Mama!“ Sein Körper verweigerte den Dienst. Nach Atem ringend fiel Joey auf die Knie. Schweißtropfen rannen über seine Stirn, brannten in seinen Augen. Verzweifelt versuchte er, die Tränen zu unterdrücken, und war sich doch bewusst, dass er den Kampf verlor. „Joey?“ Er fuhr heftig zusammen, als er plötzlich Manas Stimme hinter sich hörte. Hastig fuhr er sich über die Augen und sah über seine Schulter hinweg zu dem Mädchen auf, dass in ihrer altertümlichen Tunika und dem schweren Goldschmuck gänzlich fehl am Platz wirkte. Schwerfällig stemmte Joey sich vom Boden hoch, zögerte einen Moment und zog Mana plötzlich in seine Arme. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und schloss die Augen. Der schwere Geruch der Hibiskusblüten, den Manas Haar verströmte, beruhigte ihn. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er dieses Mädchen an seiner Seite brauchte. Mana bewegte sich und löste die klammernde Umarmung. „Warum heulst du?“ Joey erstarrte. „Was…?“ „Na, ist doch wahr“, bemerkte Mana mit einem Schulterzucken, „sie ist doch wegen dir gegangen, oder? Warum aalst du dich jetzt in Selbstmitleid?“ „Spinnst du?“ Joeys Stimme war nur noch ein zittriges Keuchen. Mana schüttelte den Kopf. „Es geht dir immer nur um dich selbst, nicht wahr? Was kann denn dein Vater für seine Arbeitslosigkeit? Nicht nur deine Mutter, auch du hättest dafür ein wenig Verständnis zeigen können. Kein Wunder, dass er sich schließlich in den Alkohol geflüchtet hat. Du bist-“ Etwas in Joeys Kopf setzte aus. Er wusste nicht mehr, was geschah. Wie in Trance sah er sich dabei zu, wie sich seine Hand in Manas langem Haar vergrub und der das Mädchen heftig gegen die Hauswand schleuderte. Seine Ohrfeige traf sie, noch ehe sie sich von dem Aufprall erholt hatte. Ihr Aufschrei hallte in seinen Ohren wieder. Sie sollte aufhören. Sie sollte still sein! Ein scharfer Schmerz schoss durch seine rechte Hand, durchbrach den Wall aus Zorn und Hilflosigkeit, die seine Sinne betäubten. Joey hielt keuchend inne. Sein Blick wurde klarer und fiel auf das junge Mädchen zu seinen Füßen. In einer Schutzhaltung zusammengekauert, hatte Mana ihren Kopf in ihren Armen vergraben, ihre weit aufgerissenen Augen blitzten panisch unter ihren zerzausten Haaren hervor. Joey glaubte zu ersticken. Er streckte seine Hand aus, hielt jedoch sofort inne, als er sah, dass Mana ängstlich zusammenzuckte. Sein Magen zog sich so schmerzhaft zusammen, als würde er implodieren. „Mana…“, Joeys Stimme war fast unhörbar. „Es … es tut mir so leid… Ich … ich wollte das nicht…“ Er spürte plötzlich, dass jemand hinter ihm stand. Er wusste wer es war, noch ehe er sich umwandte. Die starren Augen der Sphinx schienen ihn zu durchdringen. „Doch, Joey. Das wolltest du.“ Joey ächzte. „Nein… Nein! Ich wollte nicht… Sie hätte nur…“ „Sie hätte dich verstehen müssen. Sie hätte dir zuhören sollen.“ In der Stimme der Sphinx lag keine Regung. „Es war nicht deine Schuld, nicht wahr, Joey?“ Jedes Wort traf Joey wie ein Schlag. Er wich zurück. Die Sphinx folgte ihm. „Es war ihre Schuld.“ Die Züge auf ihrem Gesicht begannen zu schmelzen. „Du bist der Mann. Sie die Frau. Sie hätte es besser wissen müssen.“ Joey schrie auf, als er plötzlich seinem Vater gegenüberstand. Dass es dessen Gesicht war, das diese Worte von sich gab. „Halt’s Maul! Halt sofort das Maul!“ Er ballte die Hände zu Fäusten. „Ich bin nicht wie du, alter Sack! Ich bin kein gewalttätiger, fauler-“ „Sieh hin, Joey.“ Das Gesicht kam näher. Sein Vater war daraus verschwunden. Joeys Knie gaben nach, als ihm bewusst wurde, dass er sich selbst gegenüber stand. „Du kannst deinem Vater nicht entkommen, Joey. Er ist ein Teil von dir.“ Die Sphinx erhob sich und entfaltete ihre Flügel. „Du warst es, der zugeschlagen hat.“ Joey öffnete den Mund, versuchte, etwas zu sagen, und gab doch kraftlos auf. Er horchte in sich hinein. Die hässliche, dunkle Seite in ihm bäumte sich auf, streckte ihm ihre klammen Fänge entgegen. Die Sphinx hatte Recht. Er würde seinem Vater niemals entkommen. Er konnte sich selbst nicht entkommen. Er schloss die Augen, als die Flügel der Sphinx ihn umschlangen. Dunkelheit. Überall war Dunkelheit. Kapitel 15: Blutmond -------------------- Wie hatte Joey innerhalb von nur einem Wimpernschlag verschwinden können? Er war doch dicht vor ihr gewesen, bis sie einen Moment ins Straucheln geraten war. Mana presste sich flach gegen die Wand des engen Flures und sah sich um. Panik pulsierte in ihren Adern. „Joey...?“ Ihre Stimme war so brüchig, dass sie trotz der Stille kaum zu hören war. Mana zögerte, doch dann holte sie tief Luft und tastete sich zaghaft durch die diffuse Schummrigkeit. Nach wenigen Schritten hörte sie es. Ein lautes, regelmäßiges Pochen; ähnlich dem eines riesigen, schlagenden Herzens. Mana fröstelte, kratzte aber dennoch allen Mut zusammen und schob sich um eine Ecke. Mit dem Rücken zu Mana gewandt, die Schwingen weit ausgebreitet, stand die Sphinx. Mana glaubte zu ersticken. Ein panischer Laut brach über ihre Lippen und sie schlug sich die Hand vor den Mund. Die Flügel der Sphinx zuckten. Mana wich zurück, in der Hoffnung, lautlos in der Dunkelheit verschwinden zu können, doch als sich die Sphinx zu ihr umwandte, entfuhr ihr ein entsetzter Schrei. Aus dem Brustkorb des Wesens ragte ein menschlicher Körper hervor. Es war Joey, das Gesicht grau, die Augen starr und leblos, den unteren Teil seines Körpers schon gänzlich mit der Wächterin verschmolzen. Mit jedem Pulsieren ihres Körpers, verschlang die Sphinx ihn weiter. Mana vergaß ihre Angst. Sie stürzte nach vorne, wich ungelenk der Schwinge aus, die nach ihr schlug und griff nach Joeys Händen. „Joey! Joey! Gib nicht auf, bitte! Das sind nur Visionen! Du musst…“ Ihre Stimme brach in einen dumpfen Schmerzenslaut, als sich eine Pranke in ihre Seite bohrte und sie gegen die nächste Mauer schleuderte. Über das markerschütternde Brüllen der Sphinx hinweg konnte Mana dennoch hören, wie ihre Knochen brachen. Lodernder Schmerz explodierte in ihrem Arm; in ihrem Sichtfeld tanzten schwarze Punkte. Sie hörte, wie sich die Sphinx näherte, das schleifende Geräusch von Joeys Armen auf dem staubigen Boden ließ Mana würgen. „Joey…“ Ihre Stimme klang so schwach, dass sie selbst erschauderte. „Joey, du musst dich wehren… wenn du … wenn du nicht kämpfst wirst du verschwinden. Du wirst … auf ewig in diesem Alptraum gefangen sein. Wehr dich! Bitte!“ Die Sphinx stand vor ihr. Mana wusste, dass sie nicht aufsehen durfte. Sie wusste, dass die Sphinx auch sie verschlingen würde. Und doch hob sie wie ferngesteuert den Kopf und sah der Wächterin in die seelenlosen Augen. Blut. Überall war Blut. Sie glaubte es auf ihrer Zunge schmecken zu können; kalt, metallisch. Als Mana den Kopf wandte, sah sie Atemu. Seine weiße Tunika war blutbesudelt, sein Umhang schwer und nass. Seine violetten Augen starrten in die Ewigkeit, beachteten weder Mana, noch die vielen Toten, die ihn umringten. Mana keuchte. „Atemu…“, ihre Stimme bebte. „Was hast du getan… bei allen Göttern, was hast du … getan?“ Die rechte Hand des Pharao öffnete sich und unter metallischem Klappern fiel ein reich verzierter Dolch zu Boden, die Klinge rot von getrocknetem Blut. Mana spürte die Tränen in ihren Augen aufsteigen. Ein wunderbarer Anblick. Als plötzlich jemand hinter ihr sprach, fuhr Mana erschrocken aus ihrer Starre. Das Erste was sie erblickte, als sie sich umwandte, waren rote, glühende Augen, so alt wie die Welt und durchdringend wie Gift. Mana öffnete den Mund, doch sie brachte nicht einmal einen Schrei zustande, als ihr bewusst wurde, wer ihr gegenüberstand. Seth’s Schakalsohren zuckten leicht, als er nähertrat, er schien diese Situation mit jeder Faser seines Körpers zu genießen. Sieh ihn dir an, Menschenkind. Der große Pharao, Sohn der Götter, Bewahrer der Ordnung, hier, auf den Knien, umgeben von all jenen, deren Leben er mit eigener Hand ausgelöscht hat. Mana bebte am ganzen Leib. Sie schlug sich die Hände vor die Ohren, doch Seths grausame Stimme drang dennoch zu ihr vor. Er, dessen Seele in der Duat verschlungen werden wird, er, dessen Herz die Prüfung der Reinheit nicht bestehen wird. Nicht einmal Isis wird ihn schützen können, wenn er vor dem Totengericht beurteilt wird. Mana wimmerte. Was hast du, Menschenkind? Der Wüstengott trat einen Schritt nach vorne und Mana stöhnte gequält. Seine Anwesenheit bereitete ihr Schmerzen. Hast du etwa Mitleid? In der Stimme des Gottes lag pure Verachtung, aber auch eine entwürdigende Belustigung. Er ging an Mana vorbei, trat neben Atemu und vergrub seine krallenbesetzte Hand in dessen Haar. Mana entkam ein ersticktes Keuchen, als Seth Atemus Kopf in einer brutalen Geste hochriss, so dass der Pharao gezwungen war, Mana direkt ins Gesicht zu blicken. „Hör … hör auf…“, Manas Stimme war nur ein leises Flüstern, ihr Blick lag gebannt auf den starren Augen ihres besten Freundes, in denen kein Hauch von Menschlichkeit mehr zu finden war. Seth lachte grollend. Weichherziges Menschenkind, er spie ihr die Worte entgegen, lockerte aber tatsächlich den Griff. In seinen roten Augen blitzte es. Was bist du bereit zu tun, um diese Seele zu retten? Zeig mir, wie groß menschliche Schwäche ist. Er hob eine Hand und plötzlich erschien neben Atemu eine weitere Person. Mana taumelte wie unter einem Schlag. „Joey!“ Ein Reisender, der hier nicht hingehört. Einer, der sich über die Ordnung der Maat setzt und die Zeit aus dem Gleichgewicht bringt. Seths Stimme schien aus allen Richtungen zu hallen, kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht, während er sprach. Plötzlich trat er einen Schritt nach vorne und trat mit einem Fuß gegen den blutbefleckten Dolch, sodass er über den steinernen Boden schlitterte und vor Mana zum Liegen kam. Wähle, Menschenkind. Manas Kehle schmerzte „W-was?“ Seths Gestalt schien zu wachsen und mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Wen willst du retten? Den Reisenden? Den gefallenen König? Die roten Augen loderten. Manas ganzer Körper zitterte vor Anspannung. Ihr Herz schlug so hart in ihrer Brust, dass sie glaubte, wahnsinnig zu werden. Wähle! Sie öffnete den Mund und brachte doch keinen Ton heraus. Wähle, Menschenkind! Ihre Gedanken setzten aus. Alles was zurückblieb, waren Angst und Verzweiflung. Ihr Blick senkte sich auf den Dolch in ihrer Hand. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn aufgehoben zu haben. Wie in Zeitlupe trat auf die beiden Männer zu, die reglos vor ihr knieten. Die Klinge blitzte, als sie den Dolch langsam hob, bereit zum tödlichen Stoß. Sie konnte Seths heißen Atem in ihrem Nacken fühlen, seine erwartungsvolle Begierde nach frischem Blut – und plötzlich zerriss etwas in ihr. Sie konnte ihr Herz schlagen spüren, so bewusst wie nie zuvor. Ihre freie Hand glitt in die kleine Tasche ihrer Tunika und umschloss das Artefakt, das dort drin ruhte. Das Auge des Re glühte. Sanfte Wärme stieg durch Manas Fingerspitzen und durchfloss ihren gesamten Körper, beruhigte ihre panischen Gedanken. „Nein.“ Der Dolch fiel laut zu Boden, als sie ihre klammen Finger öffnete. Bebend und doch entschlossen hob sie den Kopf und sah direkt in die hasserfüllten Augen des Wüstengottes. „Du bist nicht real. Das alles ist nicht real. Du bist nur die Ausgeburt meiner Ängste.“ Langsam trat sie einen Schritt zurück, die Arme vor der Brust überkreuzt, während ihre Seele nach ihrem Ka rief. „Ich werde nicht wählen. Niemals.“ Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie fühlen, wie ihr Ruf beantwortet wurde. Ihr Ka pulsierte, durchflutete ihren Geist mit einer endlosen Ruhe. „Verschwinde.“ Das Ka brach heraus. Gleißendes Licht fraß sich durch die Dunkelheit, zerschmetterte Seths Antlitz und ließ die Vision zerbersten. Das nächste, was Mana sah, war das ausdruckslose Gesicht der zur Stein zurückgewandelten Sphinx, die reglos auf der Seite lag. Über ihrem zerbrochenen Körper schwebte ein Magiermädchen, den Stab noch immer angriffsbereit ausgestreckt und lächelte Mana aufmunternd zu. Und direkt zu ihren Füßen lag, benommen, aber lebendig, Joey. Sein Blick flackerte, als er aufsah. Mana streckte zögerlich eine Hand nach ihm aus und biss sich verzweifelt auf die Unterlippe, als sie sah, dass er erschrocken zurückzuckte. „Joey…“, murmelte sie mit belegter Stimme. „Es ist vorbei. Es war nur ein Traum. Es war…“ Sie unterbrach sich, als Joeys Hand plötzlich nach vorne zuckte, ihr Handgelenk umklammerte und sie an sich heran zog. Sie öffnete ihren Mund, doch ihr halbherziger Protest verklang an Joeys Lippen, die sich auf die ihren legten. Sein Kuss war hungrig; hungrig nach ihr, hungrig nach Leben. Seine Hände drängten sie nach hinten, bis sie die Kälte des Steinbodens an ihrem Rücken fühlte. Mit einem leisen Keuchen löste Joey sich plötzlich von ihr, jedoch nur soweit, dass sie seinen Atem noch fühlen konnte. „Es tut mir leid… es tut mir so leid…“ Immer wieder fing er ihre Lippen ein, bis Mana sich schwindelig fühlte. Sie versuchte zu antworten, aber Joey ließ ihr keine Möglichkeit. „Bleib bei mir“, raunte er heiser. „Bleib an meiner Seite.“ Seine freie Hand fuhr beständig durch ihre langen Haare; strich über ihre Wange und hinterließ eine Gänsehaut auf ihrem Weg. Sein Körper drängte sich so warm gegen den ihren, dass Mana die Kälte ihrer Umgebung nicht mehr wahrnahm. Sie schloss die Augen, schlang die Arme um ihn – und stöhnte erstickt auf, als der Schmerz in ihrem Arm explodierte. Erschrocken fuhr Joey zurück und musterte sie; erst jetzt schien er ihren Zustand wahrzunehmen. „Wir müssen hier raus“, murmelte er plötzlich entschlossen und zog Mana vorsichtig vom Boden hoch. „Nur eine kleine Pause“, bat Mana erschöpft, doch Joey schüttelte den Kopf. „Nein. Wir sind schon zu lange hier. Wir werden jetzt diesen Ausgang finden.“ Plötzlich zog er sie an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. „Wenn du nicht mehr weiter kannst, werde ich dich tragen.“ Das Licht flackerte und erlosch, als Manas Ka seine Gestalt aufgab und zu ihr zurückfloss. Die Dunkelheit kehrte zurück. Doch die Angst hatte endlich keine Macht mehr.   ~ oOo~ Er hatte den Pfeil nicht kommen sehen. Gerade, als Atemu sich ein kleines Stück vorneigte, um die Zügel besser fassen zu können, konnte er einen Luftzug in seinem Nacken spüren. Er wandte den Kopf und sah, wie der Bogenschütze im Streitwagen neben ihm taumelte. In seinem Hals steckte der gefiederte Schaft des Pfeiles, der Atemu um wenige Millimeter verfehlt hatte. Wie in Zeitlupe kippte der junge Ägypter nach hinten, fiel zu Boden und verschwand unter den Hufen der nachpreschenden Pferde. In Atemu regte sich weder Entsetzen, noch Angst. Die Stadttore Memphis‘ waren greifbar nah und schlossen sich gerade hinter den verbliebenen Soldaten, die noch am Leben waren und flüchten konnten. Die wenigen, die jetzt auf beiden Seiten noch starben, bezeugten das letzte Aufbäumen einer vernichteten Armee. Atemus Lippen verzogen sich zu einem triumphalen Lächeln. Er hatte gesiegt. Es war ein teuer erkaufter Sieg. Doch es war ein Sieg. Die Stadttore fielen donnernd zusammen, versperrten Atemu den Einzug in die unterworfene Stadt. Mit einem scharfen Ruck an den Zügeln brachte der Pharao seinen Streitwagen zum Halt. Die wenigen gegnerischen Soldaten, die zu erschöpft oder verletzt waren, um es hinter die sicheren Stadtmauern zu schaffen, fielen unter den Chepesch von Setos nachrückenden Söldnern. Atemu hielt sie nicht auf. „Mein Pharao, der Feind ist geschlagen.“ Aus dem Gewühl des Heeres, trat plötzlich Mahad neben ihn, die weiße Tunika blutig und voll Schlamm, doch augenscheinlich unverletzt. „Stoppt dieses Massaker. Es ist nicht mehr nötig.“ Atemus Fingerspitzen zuckten. Er wusste es selbst. Aber etwas in ihm schrie vor Blutdurst, etwas, das ihn gleichsam berauschte und ängstigte. „Es ist bald vorbei.“ Er hörte sich sprechen, kühl und beherrscht und wusste nicht, wo die Stärke herkam, die in seiner Stimme lag. Alles war so fern. So fremd. Als erkenne er seinen eigenen Körper nicht mehr. „Es wird Neferabu dazu zwingen, zu handeln. Sein Volk wird es ihm nie verzeihen, dass er ihre Söhne, Männer und Brüder vor den verschlossenen Toren der Stadt sterben ließ, weil er nicht Manns genug war, sich seiner Niederlage zu stellen.“ Mahads Blick traf ihn tief. In den Augen des Hohepriesters lag etwas, das Atemu nicht greifen konnte, als wäre er nicht mehr in der Lage, Emotionen zu verstehen. Doch er spürte, wie eine Gänsehaut über seine Arme kroch. Sein Atem beschleunigte sich und wurde flacher, sein Geist begann sich in das einzige Gefühl zu retten, das er noch in der Lage war zu empfinden: Wut. Doch im letzten Moment, bevor der Zorn ihn überrannte, zog eine Bewegung am Stadttor die Aufmerksamkeit aller auf sich. Ein unbewaffneter Bote trat heraus, überquerte das Schlachtfeld unbehelligt und verneigte sich tief, als er Atemu erreichte. Der Pharao nahm einen tiefen Atemzug – Neferabu handelte endlich. „Pharao Neferabu sendet mich, um Euch eine Nachricht zu überbringen.“ Der Ägypter war jung, aber selbstsicher und stolz. Atemu verfluchte einen kurzen Moment den Ehrenkodex, der Boten Sicherheit gewährte. „Pharao Neferabu lässt Euch daran erinnern, dass die Mauern Memphis‘ schon viele Schlachten überstanden haben. Ihr könnt weiterhin unter seinen Soldaten wüten wie ein Berserker, doch die Mauern werdet Ihr nicht zum Einsturz bringen.“ Atemus Hand zuckte ohne sein Zutun an den Griff seiner Chepesch. Langsam und bedächtig stieg er von seinem Streitwagen, genauso langsam und bedächtig, wie er die Waffe zog. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Mahad zuckte, doch der Hohepriester wagte nicht sich tatsächlich einzumischen. Die Klinge der Chepesch beschrieb einen sirrenden Halbkreis, als Atemu auf den Boten zutrat und ihm die Waffe plötzlich gegen den ungeschützten Hals presste. Zum ersten Mal blitzte in den dunklen Augen des Ägypters Angst auf, eine Todesangst, die das Dunkle in Atemus Seele mit Befriedigung nährte. „Überbringe Neferabu folgende Nachricht“, sprach Atemu leise. „Ich gewähre ihm Zeit bis Sonnenuntergang. Sobald der Mond am Himmel steht, erwarte ich, dass die Stadttore geöffnet werden. Und ich erwarte, dass er vor mir auf die Knie geht und seine Hinrichtung akzeptiert. Seine Zeit als Pharao ist abgelaufen.“ In einer plötzlichen Bewegung zog er die Waffe zurück und beobachtete den einzelnen Blutstropfen, der aus dem oberflächlichen Schnitt quoll. Auf einen Wink hin traten zwei Sklaven heran, die unter dem Gewicht weißer Leinenbanner ächzten. „Als Zeichen seiner Niederlage, wird Neferabu seine roten Banner einholen und die meinen hissen lassen.“ Sein Blick hob sich, bohrte sich in die geweiteten Augen des Boten. „Sollte er sich weigern, wird Memphis brennen. Und mit ihr jede Ratte, die sich dort drin verbirgt.“ Er sah dem Boten nicht nach, als dieser, gefolgt von den schwer bepackten Sklaven, in die belagerte Stadt zurückkehrte. Er achtete auch nicht darauf, ob seine Sklaven die Stadt wieder lebend verließen. Es war ihm gleichgültig. Sein Herz schlug heftig in seiner Brust, jeder Schlag sprengte die Ketten, die einen Teil seiner Seele festzuhalten schienen. Die Sonne versank langsam und unaufhaltsam, beugte sich der Dunkelheit, wie Atemu es tat. Das Millenniumspuzzle begann zu vibrieren, brannte sich glühend in seine Brust. Aus dem tiefen Nebel seiner Gedanken, bemerkte Atemu, dass Mahad nähergetreten war. „Es ist bald soweit, Pharao“, sagte der Hohepriester mit einer seltsamen Härte in der Stimme. „Was werdet Ihr tun, wenn Neferabu nicht reagiert?“ Atemus Antwort bestand daraus, dass er seine Hände um das Millenniumspuzzle schloss. Er glaubte, ein Lächeln auf seinen Lippen zu spüren. Mahad fuhr deutlich sichtbar zusammen, in seinen blauen Augen stieg Entsetzen auf. „Das … ist nicht Euer Ernst. Ihr könnt Euer Ka nicht gegen Zivilisten einsetzen! In dieser Stadt sind nur noch wenige Soldaten, der Rest sind Frauen, Kinder und Alte. Ich bitte Euch, tut das ni-“ Eine harsche Handbewegung von Atemu brachte ihn zum Schweigen. Nach einem langen Moment des Zögerns, fuhr der Hohepriester auf der Ferse herum und verschwand in der hereinbrechenden Dunkelheit. Der Mond, der langsam über den Nachthimmel zog, erschien Atemu heute blass und farblos. Nach einem tiefen Atemzug wandte der Pharao sich um. Memphis leuchtete im Schein hunderter Fackeln. Der sanft aufbrandende Wind verfing sich in den roten Bannern Neferabus, die stolz und unbeugsam von den Stadttoren wehten. Die Ketten in Atemu rissen. Seine Finger krallten sich so tief in das Millenniumspuzzle, dass seine Adern hervortraten. Wut loderte in ihm auf, wurde verzehrt von tiefem Hass und der unstillbaren Gier nach Rache. Sein Geist bäumte sich auf und schrie, bis das Ka in ihm bebend antwortete. Hitze wallte durch Atemus Körper, zwang ein ersticktes Stöhnen auf seine Lippen, als sein Ka in ungezähmter Heftigkeit aus ihm hervorschoss und sich über ihm ballte. Er konnte entsetzte Schreie hören und die Panik fühlen, die sich verbreitete. Es war das Letzte was er wahrnahm, bevor seine Gedanken im Nichts versanken. ~oOo~   Mana wusste nicht mehr, wie sie aus dem Labyrinth entkommen waren. Sie wusste nur noch, dass Joey sein Versprechen wahrgemacht und sie getragen hatte, als ihr Körper vor Erschöpfung aufgab. Sie spürte, wie kraftlos und ausgelaugt seine Bewegungen waren, aber er hatte nicht ein einziges Mal innegehalten. Und endlich … endlich konnten sie den Wind wieder spüren, der sanft und kühl um sie strich und auch die letzten Überreste des modrigen Altertums verscheuchte, der sie so lange umfangen hatte. Mana sah über ihre Schulter zurück zu der Felsspalte, aus der sie hervorgetreten waren. Sie glaubte, noch einmal dieses diffuse, grüne Leuchten zu sehen, doch als sie blinzelte, war es verschwunden. Die Felsspalte lag unberührt da, die Mauern so dicht und massiv, dass nicht einmal eine Schlange Durchlass finden würde. Mana schluckte. Sie waren wieder zurück. Nicht zurück an der Oberfläche. Sondern zurück in dieser Welt. Das Felsplateau und die Sphinx waren verschwunden. Sie waren umgeben von Sand. Scheinbar endlosen, weißem Wüstensand. „Lass mich runter, Joey“, murmelte Mana heiser, als sie das Zittern spürte, das durch seinen Körper zog. Im ersten Moment, schien er protestieren zu wollen, doch auch dafür fehlte ihm mittlerweile die Kraft. Mana rutschte vorsichtig von seinem Rücken und verbiss sich einen Schmerzlaut, als sie dabei ihren gebrochenen Arm bewegte. „Bleib hier und ruhe dich etwas aus“, sprach sie hastig und deutete auf die Sanddüne, die vor ihnen aufragte. „Ich werde nur noch diese paar Meter weitergehen, von dort oben kann ich mich umsehen und vielleicht herausfinden, wo wir sind.“ Joey antwortete nicht. Er war bereits rücklings in den weichen Sand gefallen und hatte die Augen geschlossen. Ein müdes Lächeln flog über Manas Züge, doch dann straffte sie sich und erkämpfte sich ihren Weg auf die Sanddüne. Sie sah erst auf, als sie die Spitze erreicht hatte – und erstarrte. Einen Augenblick lang weigerte sie sich zu akzeptieren, was sie sah. Vor ihr lag Memphis. Schön, majestätisch und vom Krieg scheinbar unberührt. Doch das einzige, was Mana wirklich sah, war die weißgekleidete Gestalt Atemus, der im silbernen Licht des Mondes zu strahlen schien und über ihm schwebend, groß und grausam schön, Obelisk der Peiniger. Einen Moment lang lag eine vollkommene Stille über allem. Einen Moment lang hatte Mana die Hoffnung, dass sich alles noch zum Guten wenden würde. Dann hob Atemu die Hand. Mana taumelte. Sie waren zu spät. Sie hatten alles riskiert, ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Und waren um wenige Augenblicke zu spät. Ihr verzweifeltes Schluchzen ging in Obelisks ohrenbetäubendem Brüllen unter, als er sich zum Angriff spannte. Doch kurz bevor er in die Höhe stieg um Memphis niederzubrennen, preschte ein Streitwagen heran. Manas Tränen versiegten in purem Schock, als sie dabei zusah, wie Hohepriester Mahad seinen Wagen zwischen Atemu und die Stadt führte, die Arme überkreuzte und sein Ka rief. Obelisks rote Augen glühten, als ihm bewusst wurde, dass zwischen ihm und der totgeweihten Stadt ein schwarzer Magier schwebte, bereit, das größtmögliche Opfer zu erbringen. Mana sank auf die Knie. Sie schrie, bis ihre Stimme vor Heiserkeit schwand. Kapitel 16: Schachmatt ---------------------- Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Bewegungen, Geräusche – Ishizu nahm alles nur durch einen Schleier war. Sie sah, wie Mahads schwarzer Magier seine Arme schützend vor der Stadt ausbreitete, sah den entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht des Hohepriesters, und doch konnte sie es nicht begreifen. Sie wollte es nicht begreifen. „Dieser verfluchte Idiot!“ Setos wütender Ausdruf Stimme brachte Ishizu ins Hier und Jetzt zurück. Die Hohepriesterin keuchte erschrocken auf. Sie tat einen hastigen Schritt vorwärts, doch Seto griff sofort nach ihrem Handgelenk und zog sie zurück. „Mach keine Dummheiten, Ishizu“, zischte er ihr zu. „Es reicht schon wenn einer von uns den Verstand verliert.“ Ungelenk versuchte Ishizu sich zu befreien. „Aber…. Mahad… er…“ „Wir haben größere Probleme als einen Hohepriester, der versucht, den Helden zu spielen. Konzentriere dich!“ Seto musterte sie durchdringend, lockerte dann aber den Griff als er spürte, dass ihre Gegenwehr erlahmte. Nach einer Weile des Schweigens wandte er seinen Blick plötzlich ab. „Spürst du es nicht?“ fügte er hart, aber leise hinzu. Ishizu verstand zunächst nicht. In ihr tobte ein solcher Sturm, dass sie nicht fähig war ihre Umwelt wahrzunehmen. Doch langsam bemerkte sie die Gänsehaut, die über ihren gesamten Körper zog, das Gefühl des Unwillens, dessen Ursprung sie nicht richtig greifen konnte. Ihr Blick schoss zu Obelisk und sie sog erschrocken die Luft ein. Die Aura der Kreatur flimmerte, die Augen flackerten. „Der Pharao…“, murmelte sie atemlos und stockte dann. Seto beendete den Satz selbst. „… hat Obelisk nicht unter Kontrolle.“ Der Hohepriester war so angespannt wie Ishizu ihn noch nie gesehen hatte. Seine Lippen öffneten sich kaum, während er sprach. „Er hat Obelisk nicht gerufen. Er hat ihn gezwungen. Selbst ein Pharao sollte nicht dazu in der Lage sein, sich über die Götter zu erheben.“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten als er fortfuhr, nur kurz, doch deutlich sichtbar. „Und Obelisk wehrt sich.“   Ishizu warf Seto einen aufgebrachten Blick zu. „Wir müssen etwas unternehmen! Wir können doch nicht hier stehen und zusehen!“ „Wir können und wir werden“, herrschte er sie an. „Wenn Pharao Atemu die Kontrolle verliert, sind wir Hohepriester die einzigen, die Obelisk auch nur ansatzweise beherrschen können!“ Er schnalzte wütend mit der Zunge und verschränkte die Arme. „Wir werden gegen eine Gottheit nicht bestehen können“, sprach er ruhiger weiter, „aber wir können sie zumindest kurzzeitig aufhalten.“ Ishizu öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder ohne zu antworten. Sie fand keine Worte für die Gedanken, die hinter ihrer Stirn tobten. Ihre Kehle schmerzte vor Trockenheit als sie ihren Blick wieder senkte. Atemu und Mahad fochten noch immer ein stummes Duell - jeder schien auf den ersten Zug des Anderen zu warten. Eine Bewegung an den Stadtmauern zog plötzlich Ishizus Aufmerksamkeit auf sich. Die roten Banner an den Fahnenmasten begannen zu schwanken, zunächst nur sanft, dann immer stärker, bis sie plötzlich in einer weichen Bewegung nach unten glitten. Es herrschte eine drückende Stille, als der rote Leinenstoff schwer auf den Boden fiel. Niemand bewegte sich, selbst Obelisk und der schwarze Magier schienen in der Luft erstarrt zu sein. Das Mondlicht glitt plötzlich über weißen Stoff, ließ ihn in der Dunkelheit der Nacht erstrahlen. Leises Wispern brandete auf, entwickelte sich zu einem Raunen und gipfelte in rauen Jubelschreien, als sich die Banner entfalteten und Atemus Name weithin sichtbar an den Stadtmauern Memphis‘ prangte. Nur wenig später erfüllte das Knarren der Stadttore die Luft, als diese sich quälend langsam öffneten. Ishizu wagte kaum zu atmen. Ihre Lippen waren so fest zusammengepresst, dass es schmerzte. Obwohl ihm Neferabus Banner zu Füßen lagen, schien Atemu nicht von seinem Entschluss abrücken zu wollen. Ishizus Blick fuhr zu Mahad. Der Hohepriester stand noch immer hoch aufgerichtet auf seinem Streitwagen, doch Ishizu erkannte, dass er zögerte. Nach einem Augenblick, der wie eine Ewigkeit schien, senkte er den Blick. Der schwarze Magier senkte seinen Stab, schloss die Augen und verschwand. Im gleichen Moment stieg Mahad von seinem Streitwagen, trat einige Schritte auf Atemu zu – und fiel vor ihm auf die Knie. Der Pharao schien wie gebannt. Selbst von ihrer Position aus konnte Ishizu erkennen, wie fahl sein Gesicht und wie kraftlos seine Bewegungen waren. Obelisk bebte. Sein Umriss flackerte, formierte sich noch einmal und zerbarst. Atemu taumelte, doch er hielt sich auf den Beinen, Mahads Hand, die sich helfend nach ihm ausstreckte, schlug er harsch beiseite. Diesmal konnte Seto Ishizu nicht aufhalten. In einer schnellen Bewegung stieß sie sich ab und hastete los. Atemus Hand glitt an den Griff seiner Chepesch glitt und Ishizu wusste, dass sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde. „Pharao!“ Der Klang in Ishizus Stimme war so schrill, dass er den Siegestaumel des Heeres übertönte. Atemu fuhr zusammen und erstarrte. In seinen Augen flackerte es. Seine Finger schlossen sich einen Moment so fest um den Griff seiner Waffe, dass die Knöchel weiß hervortraten. Gerade als Ishizu die beiden Männer erreichte, zog Atemu seine Hand zurück. Ohne Mahad eines weiteren Blickes zu würdigen wandte sich an Karim. „Nimm ihm den Millenniumsring ab“, befahl er knapp, „und bring ihn in den Kerker des Palastes. Ich werde in Theben über ihn richten.“ „Pharao Atemu…“ Ishizus Stimme brach. Doch selbst wenn Atemu sie gehört hatte, so ignorierte er sie. Mit brennenden Augen sah die Hohepriesterin dabei zu, wie Mahad den Millenniumsring ablegte und an Karim reichte, dessen Gesicht vor Bestürzung wie versteinert schien. „Mahad, was hast du getan?“, flüsterte Ishizu leise, doch Mahad antwortete nicht. Er erhob sich, ohne ihren Blick zu erwidern. Niemand sprach als Seto und Karim an seine Seite traten. Stumm geleiteten sie den ehemaligen Hohepriester nach Memphis, weniger wie Wächter, sondern wie treue Weggefährten. Ishizu sah ihnen nach, bis sie hinter den Stadttoren verschwunden waren. Alles in ihr weigerte sich, den Priestern zu folgen. Sie fühlte sich, als sei sie in einem schrecklichen Traum gefangen, der real werden würde, sobald sie die Stadt betrat. Ihre Kehle war staubtrocken. Ishizu schluckte krampfhaft. Es schmerzte. Plötzlich konnte sie den Anblick von Memphis nicht mehr ertragen. Mit einer heftigen Bewegung wandte sie sich ab und ließ ihren Blick in die Weitläufigkeit der angrenzenden Wüste schweifen. Eine Bewegung auf einer der Sanddünen zog Ishizus Aufmerksamkeit auf sich. Mehr aus Reflex als aus Interesse sah die Hohepriesterin auf und schlug sich die Hand vor den Mund, als ihr bewusst wurde, was sie dort erblickte. Sich gegenseitig stützend, quälten sich zwei Gestalten durch den weichen Sand. Sie schienen verletzt und sichtlich erschöpft, die kleinere Person taumelte. Ishizu konnte sich nicht mehr daran erinnern, losgelaufen zu sein. Doch plötzlich fand sie sich im Sand wieder, die Arme nach dem herannahenden Mädchen ausgestreckt, als dieses vor Müdigkeit auf die Knie sank.  „Mana…“, entkam es ihr fassungslos, während sie das Magiermädchen in eine Umarmung zog. „Den Göttern sei Dank! Den Göttern sei… Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“ Atemlos sah sie zu Joey auf, der ihr zittrig die Hand entgegenstreckte. Ein kleines, goldenes Artefakt blitzte in seiner Handfläche auf. „Da ist das scheiß Ding“, murmelte er kraftlos. „Nimm es. Und dann beeil dich damit, Mana wieder zusammenzuflicken.“ Er ließ sich in den Sand fallen. „Bitte.“, fügte er leise hinzu und schloss die Augen. Ishizu wollte antworten, aber sie brachte keinen Ton zustande. Sie griff nach Joeys Hand und drückte sie dankbar, das Auge des Re ignorierend. Es war ihr für diesen Augenblick gänzlich einerlei, ob Seth die Welt ins Chaos stürzte oder die Götter anderweitige Schlachten auf dem Rücken der Menschheit austrugen. Mit einem leisen Laut drückte sie Mana an sich, die unter der festen Umarmung leise wimmerte. „Mach das nie wieder“, flüsterte Ishizu leise. „Lauf nie wieder einfach weg. Du dummes, dummes … unglaublich mutiges Ding.“ Mana bewegte sich leicht und Ishizu musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass das Mädchen lächelte. ~oOo~ Die Flure in diesem Palast waren schmaler als in Theben. Oder vielleicht kam es Yugi nur so vor, als würden ihn die Steinmauern erdrücken wollen. Während er langsam und unbehelligt durch den Palast lief, strichen seine Fingerspitzen über das kleine Artefakt, das in seiner Hand lag. Es sah so unscheinbar und alt aus, doch seine Haut kribbelte dort, wo er es berührte. Yugi seufzte leise. Er war hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Ernüchterung, konnte nicht glauben, dass dieses kleine Artefakt jetzt noch etwas bewirken könnte und klammerte sich doch mit aller Kraft daran fest. Seine Schritte endeten vor einer breiten Tür. Yugi hob den Kopf und lies seinen Blick über die Inschriften gleiten, die die Göttertriade aus Ptah, Sachmet und Nefertem priesen. Seine Hand ballte sich um das Auge des Re, ehe er anklopfte und die Tür öffnete, ohne eine Reaktion abzuwarten. Er betrat ein weitläufiges Zimmer, das von einer einzelnen Fackel nur halbherzig erleuchtet wurde. Auf dem breiten Bett, das an der linken Wand stand, lag Atemu, einen Arm wie in einer Schutzhaltung über seinen Augen liegend. „Was gibt es noch, Seto? Wir haben für morgen bereits alles geklärt.“ Atemus Stimme klang kühl, aber Yugi konnte die Müdigkeit hören, die darin schwang. „Ich bin nicht Seto“, antwortete Yugi sanft und trat näher in den Schein der Kerze. Atemu schien einen Moment zu erstarren, doch dann hob er den Kopf und richtete sich auf. „Was willst du?“ Yugi zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wollte nur … nach Euch sehen. Ihr…“ Sein Blick wanderte über das fahle Gesicht des Pharao, die ungewohnt blutleeren Lippen und die matten Augen. „Du siehst unglaublich erschöpft aus.“ „Dann wäre es deutlich sinnvoller, mich in Ruhe zu lassen.“ Atemus Augenbrauen zogen sich unwillig zusammen, und Yugi verspürte den Drang zurückzuweichen. Das Auge des Re glühte sanft und wandelte die Nervosität in friedvoller Ruhe. Yugi lächelte erneut, diesmal ganz ohne Zwang. „Wäre es wohl, ja.“ Mit einem federnden Schritt trat er nach vorne und ließ sich auf die Kante des Bettes sinken. „Aber ich glaube auch, dass es besser wäre, dich nicht mit deinen Gedanken alleinzulassen.“ Atemu fuhr auf, doch bevor er etwas sagen konnte, nahm Yugi dessen Hand in die seine, in der er noch immer das Auge des Re trug. Kaum, dass das Artefakt die Haut des Pharao berührte, zuckte er zusammen wie unter einem Stromschlag. Sein Atem versank in ein schmerzerfülltes Keuchen, während sein Körper langsam nach vorne sackte, bis seine Stirn auf Yugis Schulter zum Liegen kam. Yugi erschauderte, als Atemus stockender Atem über seine Haut glitt. Einen Moment lang schloss Yugi die Augen, blendete alle Sorgen und Geschehnisse aus und genoss einfach nur die unmittelbare Nähe Atemus. Nicht des Pharaos, sondern des Mannes, der er abseits seines Titels war. Für diesen kurzen Moment war Yugi glücklich. Atemu bewegte sich plötzlich und richtete sich hastig auf. Sein Blick zuckte durch den Raum, glitt zurück zu Yugi und verharrte auf ihm. Ein Funke von Panik blitzte in dem hellen Violett auf. „Was …“, seine Stimme brach einen Moment, doch er fing sich rasch. „Was tust du hier?“ Yugi zögerte. Er hatte schon lange das Gefühl, dass der Pharao manchmal Erinnerungslücken zu haben schien. „Ich…“, begann er, stockte erneut und entschied sich dann für eine Lüge. „Du hast mich rufen lassen.“ Es tat ihm weh zu sehen, wie ein Hauch der Verunsicherung durch Atemus Augen zog und wie sich die schmalen Lippen kurz zusammenpressten. „Wie geht es dir?“ fragte er sanft. „Die Schlacht war …“, seine Stimme zitterte, egal wie sehr er versuchte es zu unterbinden. „Sie war… schrecklich grausam.“ Das Beben von Yugis Stimme, schien etwas in Atemu zu berühren. Über sein Gesicht flog ein milder Ausdruck. „Schlachten sind immer grausam“, antwortete der Pharao leise, hob seine Hand und strich eine Haarsträhne aus Yugis Stirn – genau wie damals, bei ihrer Partie Sennet, die so weit in der Vergangenheit zu liegen schien. Yugi seufzte leise und lehnte sich den Fingerspitzen entgegen. „Aber jetzt ist es vorbei, nicht wahr? Dein Gegner hat sich unterworfen, es gibt keinen Grund länger hierzubleiben.“ Er schmiegte seine Wange in Atemus Hand und sah bittend zu ihm auf. „Lass uns zurückkehren. Zurück nach Theben.“ Atemus Finger zitterten, doch er zog seine Hand nicht zurück. „Das… kann ich noch nicht.“ Er wandte den Kopf, als könne er Yugis Blick nicht standhalten. Yugi hatte den Pharao noch nie so machtlos gesehen, noch nie so verletzlich. „Aber der andere Pharao ist gefangengenommen, er kann doch nichts mehr ausrichten.“ Yugi neigte sich in Atemus Blickfeld, zwang ihn dazu, ihn wieder anzusehen. „Es ist genug Blut vergossen worden, Atemu. Bitte. Du bist kein blutrünstiger Mensch, das weiß ich. Dir steigt vielleicht manchmal dein Titel ein wenig zu Kopf“, er tippte mit seiner Fingerspitze gegen Atemus Stirn, „aber du hast ein gutes Herz.“ Über das Gesicht des Pharao wanderte ein solch perplexer Ausdruck, dass Yugi sich auf die Lippe beissen musste, um ein Lachen zu unterdrücken. Atemu fing sich jedoch schnell wieder und schnaubte, auch wenn Yugi bemerkte, dass seiner Stimme die sonst übliche, kühle Unnahbarkeit fehlte. „Es zeugt nicht von Stärke, sich in Verklärung zu retten, statt der Realität ins Auge zu sehen.“ Yugi schüttelte den Kopf. „Es hat nichts mit Verklärung zu tun, wenn man weiteres Blutvergießen verhindern will.“ „Als ob ich das könnte.“ Verbitterung lag in Atemus Stimme und Yugi schenkte ihm einen verwunderten Blick. „Aber du bist der Pharao, du…“ „Gerade deswegen kann ich es nicht!“, fuhr Atemu auf. „Glaubst du etwa, ich wollte diesen Krieg? Glaubst du, ich wollte all diese Männer in den Tod schicken? Glaubst du, ich wollte den Boden vor dieser heiligen Stadt mit Blut tränken?“ Atemus Augen blitzten wütend, doch Yugi spürte, dass die Wut nicht ihm galt. „Der Leichnam meines Vaters war noch nicht mal ganz präpariert, da kam bereits die Kunde, dass Neferabu den Stadthalter von Memphis gewaltsam verdrängt und sich zum Pharao aufgeschwungen hatte. Ich war noch nicht einmal offiziell gekrönt, da wurde mir bereits die Kriegserklärung überbracht. Was hätte ich tun sollen? Mich unterwerfen? Das ganze Land einem Mann zu Füßen legen, der als Senator meines Vaters auch mir treu zur Seite hätte stehen sollen? Ich hatte keine Wahl, ich hatte sie damals nicht und ich habe sie heute nicht. Ich, der nicht fähig war die Macht des Puzzles einzusetzen; ich, dem die eigenen Götter ihre Hilfe versagten.“ Atemu schien nicht mehr zu realisieren, dass er mit Yugi sprach. Die Worte brachen aus ihm hervor wie eine unaufhaltsame Flutwelle. „Ich habe geschworen, Neferabus Blut zu vergießen. Das Leben eines Mannes, eines Verräters, gegen das all derer, die mir wichtig sind. Es ist ein geringer Preis dafür, dass im Gegenzug niemand meiner engsten Vertrauten getötet wird. Ich habe … keine Wahl.“ Sein Atem ging schwer, als er verstummte. Mit weit aufgerissenen Augen saß Yugi da und starrte den Pharao an, der sein Gesicht in einer Hand verbarg. Yugi verstand plötzlich. Er verstand nicht nur die Grausamkeit Seths und den teuflischen Pakt, den Atemu mit ihm geschlossen hatte. Er glaubte auch zu erahnen, was Nechbet und Schesemtet von ihm verlangen. Eine Bewegung von Atemu unterbrach seinen Gedankengang und ließ ihn aufsehen. Der Pharao hatte sich wieder nach hinten fallenlassen und einen Arm über die Augen gelegt, genau wie bei Yugis Eintreten. „Geh jetzt“, murmelte er leise. „Lass mich allein.“ Yugi machte Anstalten sich zu erheben, doch mitten in der Bewegung erstarrte er. Ohne noch einmal darüber nachzudenken, neigte er sich plötzlich nach vorne und fing Atemus Lippen zu einem sanften Kuss ein. Der Pharao zuckte heftig zusammen, jede Faser seines Körpers spannte sich an. Seine Hand schnellte zu Yugis Oberarm und grub sich fast schmerzhaft in seine Haut, doch der Versuch, Yugi von sich zu schieben, war so halbherzig, dass keine Kraft nötig war, um sich dagegen zu wehren. Nach einigen Augenblicken, die für Yugi ewig zu sein schienen, öffnete Atemu seine Lippen und gewährte ihm Einlass. Der Kuss war sanft und vorsichtig; Yugi wünschte sich, er würde nie enden. Er konnte fühlen, wie Atemu sich entspannte, wie er Yugis Berührungen zuließ und sich darin verlor. Einen kurzen Moment waren sie ebenbürtig. Dann ging plötzlich ein Ruck durch Atemu und er richtete sich auf. Noch ehe Yugi wusste, wie ihm geschah, war er hintenüber auf die Matratze gedrängt worden. „Du weißt immer noch nicht, wie man sich einem Pharao gegenüber zu verhalten hat“, bemerkte Atemu rau. Das Violett seiner Augen schien heller als je zuvor. „Vielleicht weiß ich es ja“, antwortete Yugi leise und lächelte, „und es ist mir einfach nur egal.“ Atemus Augenbrauen zuckten und Yugi war sich einen kurzen Moment unsicher, ob er den Bogen jetzt nicht doch überspannt hatte, doch dann lachte der Pharao plötzlich. Nur kurz und sehr leise – aber es klang warm und ehrlich. Seine Hand glitt über Yugis Brust und blieb schließlich liegen. Yugi spürte, wie sein Herzschlag zu rasen begann und er war sich sicher, dass auch Atemu es fühlen konnte. Einige lange Momente herrschte Schweigen. „Als ich klein war, war meine Mutter einmal sehr krank“, sprach Atemu plötzlich leise, den Blick auf seine Hand gesenkt, deren Fingerspitzen sanft über Yugis Brust strichen. „Vater hat natürlich die besten Ärzte des Landes an den Hof geholt, aber wirkliche Besserung brachte es nicht.“ Er verlor sich einen Augenblick in seinen Gedanken. „Manchmal hat sie nach mir rufen lassen. Wenn ich dann bei ihr war, hat sie mich nur umarmt und ihren Kopf gegen meine Brust gelegt. Sie sagte, dass ihr das Geräusch meines schlagenden Herzes immer das Gefühl gäbe, lebendig zu sein. Sie bräuchte keine Hofärzte und Medikamente, um gesund zu werden. Sie bräuchte nur die Nähe eines besonderen Menschen.“ Plötzlich ließ er sich nach vorn sinken, bis seine Stirn in Yugis Halsbeuge zum Liegen kam. „Ich habe sie nie verstanden“, fügte er so leise hinzu, dass es kaum hörbar war, „bis jetzt.“ Yugi schloss die Augen, als sie zu brennen begannen. Er antwortete nicht. Weder fand er Worte, noch war er sich sicher, ob seine Stimme nicht einfach versagen würde. Stumm lag er da und lauschte Atemus flachen Atemzügen, die nur sehr langsam ruhiger und tiefer wurden. Als Yugi nach einer Weile die Augen öffnete, flog ein Lächeln über sein Gesicht. Der Pharao war in seinen Armen eingeschlafen. Langsam hob Yugi eine Hand und strich dem Schlafenden sanft über die Wange, bis sein Blick auf das kleine Artefakt fiel, das unscheinbar an einer Ecke der Matratze lag. Ein bitterer Geschmack legte sich auf Yugis Zunge und je mehr er versuchte, ihn zu schlucken, desto penetranter wurde er. Vorsichtig löste Yugi sich von Atemu, nahm das Auge des Re an sich und trat an das Fenster. Über der Stadt hing eine gespenstische Ruhe, die nichts Friedfertiges an sich hatte. Es fühlte sich an wie eine Atemlosigkeit, genährt von der Verunsicherung, was die Zukunft bringen würde. Yugi presste die Lippen zusammen. So viele Menschenleben lagen in seiner Hand. Er horchte in sich, versuchte Angst, oder Zweifel zu spüren, doch wann immer er glaubte, eine derartige Emotion zu berühren, konnte er fühlen, wie das Artefakt in seiner Hand sanfte, wärmende Wellen durch seinen Körper sandte. Alles begann, sich vor ihm auszubreiten, wie ein Puzzle, das er Stück um Stück zusammensetzte. Er konnte den Plan von Schesemtet nachvollziehen; er erkannte die Lücke in Atemus Schwur und er sah den Weg, den er zu gehen hatte, klar vor sich. Sein Blick senkte sich auf das Artefakt in seinen Händen. Es war nie für Atemu bestimmt gewesen. Sondern für ihn selbst. Es sollte ihn beruhigen, ihm Trost spenden und ihm die Angst nehmen. Götter waren ... grausam. Yugi lehnte den Kopf in den Nacken und lachte bitter, unterdrückte den Laut jedoch sofort, als Atemu sich im Schlaf bewegte. Der Pharao war unruhig, wälzte sich von einer Seite auf die nächste. Yugi trat wieder näher an das Bett heran, erreichte dadurch jedoch nur, dass Atemus Schlaf noch unruhiger wurde. Immer wieder glitten krampfhafte Zuckungen durch seinen Körper. Nach wenigen Augenblicken wurde Yugi bewusst, dass die Krämpfe stärker wurden, je näher er, oder das Auge des Re kamen. Yugi ballte die Hände zur Faust. Langsam, Schritt für Schritt, wich er nach hinten, bis sein Rücken an eine Mauer stieß. Er ließ sich daran entlanggleiten und schlang die Arme um seine Knie. Heute Nacht mochte Seth noch einmal die Kontrolle zurückerlangen. Doch Yugi schwor, dass es das letzte Mal sein würde. Er schlief erst ein, als das Dämmerlicht das nahende Morgengrauen ankündigte.    ~oOo~ Die Stunden schienen sich ins Unendliche zu ziehen. Mahad seufzte und lehnte sich gegen die kalte Mauer seiner Zelle. Er wusste weder, wie spät es war, noch, wie lange er sich bereits hier befand. Seine Gedanken kreisten wirr, wie Zahnräder, die sich selbst zerfetzten. Die Untätigkeit setzte ihm am meisten zu. Er sah Atemu in Gedanken vor sich, die Veränderung, die dieser plötzlich durchlaufen hatte. Das verzerrte Gesicht, die flackernden Augen, als der Pharao Obelisk herbeigerufen … nein, befohlen hatte. Mahad hob eine Hand und fuhr sich über das Gesicht. Er hätte Mana glauben müssen. Er hätte selbst losziehen und dieses göttliche Artefakt suchen müssen. Es wäre seine Aufgabe als Hohepriester gewesen. Seto hatte recht gehabt, als er ihm vorgeworfen hatte, sich hinter gedankenlosem Pflichtbewusstsein zu verstecken. Mahad stöhnte leise auf. Wann hatte er aufgehört, Berater des Pharao zu sein? Wann hatte er aufgehört, wie ein Freund und Vertrauter zu denken? Wann hatte er nur noch Befehle ausgeführt, darauf vertrauend, dass der Pharao stets allein die richtigen Entscheidungen traf? Mahad lehnte den Kopf in den Nacken. Atemu war jung gewesen, als er gekrönt worden war. Kein Kind mehr, aber noch jung. Hatte Aknamkanon ihn auf das Amt des Pharao überhaupt vorbereitet? Mahad wusste es nicht. Er erinnerte sich nur, dass Kronprinz und Pharao in den Wochen vor Aknamkanons Tod kein Wort miteinander gewechselt hatten. Die Gerüchte im Palast hatten sich überschlagen, doch den wahren Grund für diese eisige Stille hatte nie jemand erfahren. Mahad erhob sich und lief unruhig in der kleinen Zelle umher. Hätte er zu dieser Zeit mehr für Atemu da sein müssen? Mehr Freund als Bediensteter sein? Er ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte leicht den Kopf. Nein, es stand ihm nicht zu, freundschaftliche Bande zu dem Pharao zu unterhalten. Das Scharren der Zellentür riss Mahad aus den Gedanken. Er wandte sich um und stockte, als sein Blick auf Ishizu fiel. Die Hohepriesterin trat ein und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. „Was…“, begann Mahad, wurde jedoch von Ishizu mit einer leichten Handbewegung unterbrochen. „Heute bin ich für deine Bewachung eingeteilt“, antwortete die Hohepriesterin leise. „Du solltest nicht von einfachen Medjay bewacht werden, es wäre … deiner nicht würdig.“ Mahad entkam ein leises Lachen, dessen Bitterkeit selbst ihm bewusst wurde. „Meiner nicht würdig? Was redest du da, Ishizu? Ich habe als Hohepriester versagt. Ich hätte früher handeln müssen, ich hätte den Pharao schon vor langer Zeit vor sich selbst schützen müssen, ich hätte auf Mana hören sollen, ich hätte…“ „Das hätten wir alle tun sollen!“ Unterbrach Ishizu ihn hart, lächelte dann und fuhr sanfter fort. „Jeder von uns hat Fehler gemacht, Mahad.“ Sie seufzte leise und trat näher. Erst jetzt fiel Mahad auf, dass sie ihre Millenniumskette nicht trug. Ishizu schien seinen irritierten Blick zu bemerken, denn sie lächelte erneut, eine Spur trauriger als zuvor. „Die Vergangenheit ist unveränderbar, die Zukunft ungewiss“, sprach sie leise und hob beide Hände, um den Schleier zu lösen, der ihr Haar verbarg, „was uns bleibt ist nur dieser Augenblick.“ Der Schleier glitt raschelnd zu Boden. Das schummrige Licht brach sich auf Ishizus tiefschwarzem Haar, als sie näher kam. In ihren Augen lag ein zärtlicher, liebevoller Ausdruck, der Mahads Brust zusammenschnürte. „Ishizu… Wir dürfen nicht…“ Sanfte Fingerspitzen auf seinen Lippen unterbrachen ihn. „Liebe unter Hohepriesterin ist verboten“, antwortete Ishizu ernst. Ihre Fingerspitzen lösten sich von Mahads Lippen, fuhren sein Kinn entlang und hinterließen ein Kribbeln auf seiner Haut. „Aber du bist kein Hohepriester Mahad.“ Plötzlich zog sie ihre Hand zurück und begann ihre Tunika zu lösen. „Du wurdest heute deines Amtes enthoben.“ Als der Leinenstoff an ihrer dunklen Haut entlangglitt, schloss Mahad die Augen. Er konnte hören wie sie nähertrat, fühlte plötzlich ihre Lippen auf den seinen und seine Arme schlangen sich ohne sein Zutun um ihren warmen Körper. In den vergangenen Jahren hatte er sich in manchen schwachen Momenten ausgemalt, wie es sein würde, sie in seinen Armen zu halten, sie an sich zu drücken und sie zu lieben. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass es in einer so verzweifelten Situation geschehen würde, in einer kalten, dunklen Zelle, weit abseits ihrer Heimatstadt. Einen kurzen Augenblick wollte er sich weigern, doch als sich Ishizus Lippen auf die seinen legten, gab er seinen Widerstand auf. ~oOo~ Atemu erwachte, kaum dass die Sonne über Memphis aufgegangen war. Es war kein richtiges Erwachen, mehr ein langsames Dahingleiten zwischen Schlaf und Realität. Atemu wusste nicht einmal, ob er tatsächlich wach war, oder ob alles nur ein langer, viel zu realistischer Traum war. Die Welt um ihn herum war unscharf und farblos. Langsam richtete er sich auf und sah sich um. Es war ein fremder Raum, er erinnerte sich nicht, ihn betreten zu haben. Sein Blick fiel auf eine Person, die an die Wand gelehnt auf dem Boden saß und schlief. Er … kannte das Gesicht. Und doch dauerte es, bis Atemu sich an den Namen erinnern konnte. Yugi. Etwas an dem Klang dieses Namens traf ihn tief in seinem Inneren, doch das Gefühl war so schnell vorbei, wie es gekommen war. Atemu erhob sich in dem Moment, in dem es an der Tür klopfte und einige Diener eintraten. Mit geübten Handgriffen legten sie dem Pharao den Umhang um, befestigten den Lendenschurz und schmückten ihn mit Diadem und Geschmeide. In wenigen Augenblicken waren sie wieder verschwunden; zumindest glaubte, Atemu, dass es nur wenige Momente gewesen waren. Er hatte kein Zeitgefühl mehr. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr und sah auf. Yugi war durch den Aufruhr im Zimmer geweckt worden und sah ihm stumm entgegen. In seinen hellen Augen lag ein seltsamer Ausdruck. So sehr Atemu es auch versuchte, er konnte dieses Gefühl nicht greifen, das er dort sah. „Es ist soweit?“ Die Frage in Yugis Worten war nur schwer zu hören, es klang eher nach einer Feststellung. Weder anklagend, noch auffordernd, sondern seltsam gelassen. Atemu wollte antworten, doch er wusste nicht, wie. Es schien ihm, als hätte er den Bezug zu jedem Wort verloren. Stattdessen nickte er knapp und wollte sich gerade umwenden, da spürte er Yugis Fingerspitzen an den seinen. Yugi lächelte, als er Atemus Hand zu sich zog. „Ich muss es dir sagen, bevor es zu spät ist. Es ist vielleicht die letzte Gelegenheit, die ich habe“, sagte er leise. „Ich liebe dich, Atemu.“ Er lächelte erneut und presste dann seine Lippen zu einem sanften Kuss auf Atemus Handrücken. Der Pharao verharrte einen Moment schweigend. Er fühlte, wie sich seine Haut unter Yugis Lippen erwärmte, doch abgesehen davon: Nichts. Endlose Leere. Nach einigen Augenblicken zog Atemu seine Hand zurück, wandte sich ab und öffnete die Tür. Noch bevor er das Ende des Flures erreicht hatte, hatte er Yugis Worte schon wieder vergessen. Zwei Medjay verneigten sich vor ihm, öffneten ihm die Flügeltüren und geleiteten ihn in den großen Vorhof des Palastes. Unzählige Menschen waren anwesend. Atemus Blick flog über Gesichter, die er nicht kannte, aber auch über Gesichter, die in ihm Erinnerungen hervorriefen. Ishizu, Seto, Karim, Mana… er erkannte sie und wusste sie doch nicht mehr einzuordnen. Ein Priester trat plötzlich näher und geleitete Atemu mit einer auffordernden Handbewegung in die Mitte des Hofes, wo, den Kopf demütig gesenkt, ein gefesselter Mann kniete. Als Atemu ihn erblickte, begann sich etwas in ihm zu regen. Er fühlte, dass seine Fingerspitzen zitterten, und ballte die Hände zur Faust. Das Gefühl in ihm war fast unerträglich, dieser Drang seine Fingernägel …Krallen… in das Fleisch des Gefangenen zu graben, mit seinen Händen …Pranken…Haut und Muskeln zu zerfetzen und das Blut zu sehen …trinken... „…Pharao Atemu.“ Die Stimme des Priesters riss Atemu aus seiner Trance. Er hob den Blick und sah, dass der Priester ihm einen reich verzierten Ritualdolch entgegenstreckte. Die Zeremonie der Reinigung stand kurz vor dem Höhepunkt. Atemu nahm den Dolch entgegen, sein Gesicht spiegelte sich auf der blanken Oberfläche der Klinge. Sein Atem wurde flacher. Er musste es endlich zu Ende bringen. „Neferabu.“ Atemu wusste, dass er selbst es war, der sprach, aber die Stimme, die er hörte, war ihm fremd. „Du hast mich herausgefordert und warst im Kampf unterlegen.“ Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung, aber es kümmerte ihn nicht. Sein Blick lag auf dem weißhaarigen Ägypter, der mit geschlossenen Augen vor ihm kniete. „Empfange nun deine angemessene Strafe.“ Der Dolch blitzte, als er ihn hob. In der Menschenmasse breitete sich Unruhe aus. „Mögen die Götter deiner Seele gnädig sein.“ Mit diesen Worten stieß Atemu zu. Ein Aufschrei ließ ihn aufblicken und plötzlich sah er, wie sich eine Gestalt mit weit ausgebreiteten Armen auf ihn warf. Er versuchte noch, die Bewegung abzufangen, doch es war zu spät. Getragen von seinem eigenen Schwung stieß er Yugi den Dolch bis zum Heft in die Brust. Alles um Atemu versank in Chaos. Er sah wie Karim auf ihn zustürzte. Er sah, wie sich ein hochgewachsener, blonder Mann schreiend durch die Menge wühlte, bis er von Seto mit einem gezielten Schlag in den Nacken ausgeschaltet wurde. Und er sah wie Mana sich von Ishizu loszureißen versuchte, die sie an einem Arm festhielt. Doch nichts davon erreichte ihn wirklich. Auf Knien gesunken hielt er Yugi in seinen Armen. Seine Seele schrie. Sie schrie nach Freiheit, nach Leben und nach Selbstbestimmung, so laut, dass es schmerzte. Die Kälte wich, floss aus seinen Adern und riss die Fesseln mit sich, die seinen Geist gebunden hatten. Plötzlich kehrte alles zu Atemu zurück. Die Erinnerung. Die Klarheit. Die Wärme. Die Fähigkeit zu lieben. Als Priester Karim Atemu erreichte, war Seth verschwunden. Die Tunika rot besudelt, den Umhang schwer und nass, presste der junge Pharao Yugis reglosen Körper an sich und vergrub sein Gesicht in dessen blutigem Haar. Sein verzweifelter Aufschrei hallte in dem Vorhof wieder und ließ das Durcheinander für einen kurzen, atemlosen Moment verstummen. Kapitel 17: Totenwache ---------------------- Er hatte nicht gewusst, wie laut Stille sein konnte. Zu Beginn war sie ihm wie eine tröstende Umarmung erschienen, hatte ihm Raum gegeben für Selbstvorwürfe und Trauer. Doch mit jeder Stunde, die verstrich, wurde die Stille dichter. Sie verschlang ihn, nahm ihm den Atem, gab ihm das Gefühl zu ersticken. Und doch ertrug Atemu niemanden in seiner Nähe. Er hatte jeden des Raumes verwiesen. Die Balsamierer, die Priester, die Wachen. Er wollte allein sein. Allein mit der Stille, der Schuld und Yugis Leichnam, der sorgsam aufgebahrt vor ihm lag. Man hatte ihn umgezogen und das Blut fortgewaschen. Wäre Yugis Gesicht nicht so fahl, beinahe blau gewesen, könnte man glauben, er schliefe. Atemu strich vorsichtig eine Haarsträhne aus Yugis Stirn und versuchte zu ignorieren, wie stark seine Fingerspitzen zitterten. Er wusste nicht mehr, wie viel Zeit er bereits hier verbracht hatte. Die vergangenen Stunden ballten sich in seiner Erinnerung zu einem großen, wirren Knäuel. Er erinnerte sich nur schemenhaft daran, wie Priester versuchten, ihm den Toten aus den Armen zu nehmen, wie Seto auf ihn einredete und wie er Yugi an sich presste, als könne er dadurch verhindern, dass das Leben aus dessen Körper floss. Das Einzige, was Atemu in absoluter Klarheit immer und immer wieder vor sich sah, war Yugis Gesichtsausdruck, als sich der Dolch in seinen Brustkorb bohrte. Er glaubte, noch immer das Geräusch der Klinge hören zu können, die an Yugis Rippen entlang schabte. Atemu schluckte krampfhaft. Seine Kehle war so trocken, dass sie schmerzte, und doch nahm er es kaum wahr. Die Stille würgte ihn, langsam und qualvoll und er hatte keine Kraft mehr, sich dagegen zu wehren. „Pharao Atemu, Ihr könnt nicht länger hier bleiben.“ Setos Stimme ließ ihn erschrocken herumfahren. Er hatte nicht gehört, dass der Hohepriester den Raum betreten hatte, geschweige denn, wie lange Seto schon mit verschränkten Armen dastand und ihn beobachtete. Der Hohepriester trat einen Schritt nach vorn. „Wir müssen den Leichnam ins Haus des Lebens bringen lassen, Pharao. Die Einbalsamierer warten darauf, mit ihrer Arbeit beginnen zu können.“ „Ich habe die Einbalsamierer nicht angewiesen”, antwortete Atemu. Seine Stimme klang rau, das Sprechen bereitete ihm Mühe. „Ich habe auch nicht gestattet, dass Yugi abgeholt wird. Ich will nicht ...“ „Seht doch hin!“ Seto unterbrach ihn harscher, als es angemessen war.  „Ihr könnt nicht weiterhin vor der Realität fliehen. Yugi ist tot! Dort liegt nur noch ein sterblicher Überrest, die Seele dieses Menschen ist schon lange verschwunden. Mit jeder Stunde wird der Körper weiter zerfallen.“ Die Härte in seiner Stimme schwand etwas, als er weitersprach. „Ihr müsst die Mumifizierung zulassen, Pharao. Das ist das Einzige, was Ihr für ihn noch tun könnt.“ Atemu schwieg. Er sollte wütend sein; er sollte Seto für sein Verhalten zurechtweisen - doch er fand in sich weder Zorn noch Stolz. Die beißende Wut, die er so lang gefühlt hatte, die Gier nach Macht und der schiere Wille zu siegen, waren verschwunden. Alles in ihm schien leer. Sein Blick glitt an Seto entlang zu Boden, folgte den Mustern der Mosaiken ohne sie wahrzunehmen und blieb an seiner eigenen Tunika hängen. Das reine, strahlende Weiß des Stoffes war voll rostfarbener Flecken. Es war so viel Blut gewesen. Überall. Auf dem Boden, auf seiner Kleidung, auf seinen Händen. Er wusste, dass Seto recht hatte. Er hatte es all die Stunden gewusst. Atemu tat einen tiefen Atemzug und schloss einen Moment die Augen, die vor Trockenheit brannten. Dann straffte er sich. „Informiere die Balsamierer, Seto. Der Leichnam kann nun ins Haus des Lebens gebracht werden.” „Du gibst ihn einfach auf?” Erneut schrak Atemu zusammen als eine zweite Stimme ertönte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch Seto herumfuhr, als aus den Schatten einer Säule Mana hervortrat. Sie wirkte müde, aber gefasst. Ihr linker Arm steckte in einer Schlinge und war so sorgsam verbunden, wie nur Ishizu Wunden zu verbinden pflegte. Sie schien Schmerzen zu haben und hielt sich doch aufrecht, in einer Würde und Stärke, wie Atemu sie an ihr noch nie gesehen hatte. Was war hinter seinem Rücken nur alles geschehen? „Mana”, Setos Stimme peitschte scharf durch den Raum. „Man hat dir keinen Zutritt gewährt. Sieh zu, dass du verschwindest!” Das Magiermädchen hielt Setos Blick einige Augenblicke stand, dann trat sie unverfroren an ihm vorbei und wandte sich Atemu zu. Seto wurde weiß vor Zorn. „Ich habe dich etwas gefragt, Atemu”, sprach Mana den Pharao erneut an. „Gibst du ihn einfach auf?” Seto schien auffahren zu wollen und Atemu hob in einer etwas kraftlos wirkenden Geste die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er war die Streitereien leid und es brachte ihm ein paar Sekunden Aufschub, bevor er antworten musste. „Ich...”, begann er, zögerte kurz und fuhr sich dann mit der Hand über die Stirn. „Seto hat Recht, Mana. Alles, was ich für ihn noch tun kann, ist ihn auf den Weg in die Duat zu senden.” Seine Stimme wurde leiser. „Er wird das prunkvollste Begräbnis erhalten, das ich ihm geben kann.” „Aha.” Mana klang kühl. „Und das ist alles?” Atemu presste die Lippen zusammen. Mana überspannte den Bogen deutlich, doch selbst wenn sie seine wachsende Anspannung bemerkte, schien sie es zu ignorieren. „Was bringt ihm das prunkvollste Begräbnis, wenn er die Duat dennoch nie unbeschadet durchqueren wird? Was bringen ihm Amulette und Zauberformeln, wenn er sie nicht anwenden kann?” Atemu fühlte, wie seine Anspannung der Hilflosigkeit wich. „Er ist weder aus dieser Welt, noch aus dieser Zeit, Atemu”, sprach Mana unbarmherzig weiter. „Er weiß nicht, wie er vor dem Totengericht bestehen kann. Seine Seele ist nicht vorbereitet, um…” „Das ist mir bewusst Mana!” In Atemus Stimme lag alle Schärfe, die er noch aufbringen konnte, und doch brach sie am Ende des Satzes. Mana schwieg lange. Atemu konnte fühlen, wie sich ihr Blick in seinen Rücken brannte. Als sie wieder sprach, war die Kühle ein wenig aus ihrer Stimme gewichen. „Er hat das alles für dich getan, Atemu. Er hat sein Leben geopfert um deine Seele zu retten. Jetzt ist er ganz allein dort in der Unterwelt, stellt sich ohne Hilfe dem Totengericht. Wenn du ihn jetzt aufgibst, wird er…” „Es ist genug, Mana.” „Aber Atemu...” „Lasst mich jetzt allein.” Atemu tat einen tiefen Atemzug. „Bitte.” Die Müdigkeit in seiner Stimme war wohl der einzige Grund, weshalb Mana seiner Bitte zögernd nachkam. Auch Seto schien zu hadern, doch schließlich fuhr er auf dem Absatz herum. Die Stille ballte sich wieder um Atemu. Seine Gedanken flossen zäh, drehten sich immer nur im Kreis und brachten doch keine Klarheit. Mit einem verzweifelten Laut sank Atemu neben Yugis aufgebahrtem Leichnam auf die Knie. „Ich weiß es doch…”, murmelte er rau. „Ich weiß es besser, als Mana glaubt. Aber was soll ich tun?” Seine zitternden Finger suchten Yugis kalte Hände und umfassten sie zärtlich. „Sag mir, was ich tun soll, Yugi. Ich kann dir nicht helfen, dort wo du nun bist. Ich mag Pharao sein, aber ich bin doch nur ein Mensch. Ich kann dir nicht in die Duat folgen und ...” Atemu erstarrte. In seinen Gedanken blitzte plötzlich eine Erinnerung auf. Eine Inschrift, ein alter Mythos, den sein Vater ihm einmal gelehrt hatte. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dann fuhr Atemu hoch und eilte mit weitausgreifenden Schritten aus dem Raum. Seto und Mana hatten im Flur auf ihn gewartet. Nach dem Ausdruck auf ihren Gesichtern, schienen sie miteinander gestritten zu haben. Doch kaum, dass Mana zu Atemu aufsah, verschwand der Trotz aus ihrer Mimik und ihre Augen blitzten. „Wie ist der Plan, Atemu?” Sie fragte nicht, ob er einen Plan hatte. Sie schien nie daran gezweifelt zu haben. Atemu fühlte plötzlich eine leises Schuldgefühl in sich aufsteigen. Wann hatte er damit begonnen, Manas Hilfsbereitschaft und Loyalität zu vergessen? Wann hatte er ihre Freundschaft ignoriert? Ein fragender Blick traf ihn und Atemu zwang sich dazu, diese Gedanken zunächst beiseite zu schieben. „Vielleicht ist die Duat nicht so unerreichbar, wie ich es zunächst gedacht hatte”, begann er langsam. „Es gibt einen Text, eine alte Wandinschrift, um genau zu sein, von der mir mein … Vater einmal erzählt hat. Nicht weit entfernt von Memphis liegt Sechet-Iaru, eine Oase, die das Bindeglied zwischen dem Totenreich und der Welt der Lebenden darstellt.” Ein leises Schnauben von Seto ließ ihn aufsehen. „Es ist nur ein Sinnbild, Pharao. Eine blühende Oase in der tödlichen Wüste als Inbegriff des Elysiums - das einfache Volk glaubt gern an solchen Unfug.” Atemu schüttelte den Kopf. „Nein, Seto. Es ist mehr als ein Sinnbild. Laut der Wandinschrift, verbindet sich die Duat zwischen der fünften und der sechsten Nachtstunde mit Sechet-Iaru und öffnet einen Pfad, auf dem ein Lebender den himmlischen Nil erreichen kann.” Setos Augenbraue zuckte. „Verzeiht, Pharao, aber das erscheint mir doch wie … kompletter Unsinn. Ein Text auf einer Wandinschrift, dessen Wahrheitsgehalt wir nicht validieren können. Es ist eine Legende, nichts weiter.” „Ach”, mischte Mana sich spitz ein. „In etwa so, wie das Auge des Re?” Setos Augen schienen Gift zu sprühen, doch zum ersten Mal erlebte Atemu ihn tatsächlich sprachlos. „Es ist zumindest eine Möglichkeit”, fuhr Mana schließlich an Atemu gewandt fort. „Wen willst du aussenden? Ich gebe die Anweisung sofort weiter.” Ein leichtes Lächeln flog über Atemus Gesicht. „Es kann nur derjenige den Pfad betreten, der den Göttern am nächsten steht. Der, über dem Isis wachende Flügel schweben, so heißt es im Text.” Mana musterte ihn verwirrt. „Das Kind der Götter”, fügte Atemu sanft hinzu. „Der Pharao.” Einen kurzen Moment herrschte tiefes Schweigen. Dann verlor Seto die Beherrschung. „Das ist inakzeptabel! Das Land liegt brach, nach einem langen, verlustreichen Krieg auf beiden Seiten. Manche Dörfer sind nur noch Ruinen, Memphis hatte noch keine Zeit sich von der langen Belagerung zu erholen. Die Hinrichtung Neferabus wurde unterbrochen, das ganze Volk ist verunsichert und in Aufruhr. Wir brauchen jetzt einen starken Pharao, der die Ordnung wieder einsetzt und dem Land Ruhe bringt! Ich werde nicht zulassen, dass Ihr einer Sage hinterherrennt! Ägypten ist so instabil, dass es zerfällt, wenn Euch jetzt etwas zustößt! Die Reise ist zu gefährlich, der Ausgang zu ungewiss, ich erlaube nicht, dass Ihr…” „Du … erlaubst es mir nicht?” Trotz der ganzen Umstände fühlte Atemu eine leise Belustigung in sich aufsteigen. Es war lange her, dass Seto es gewagt hatte, eine so offene Kritik zu äußern. Es erinnerte Atemu an vergangene Zeiten. An Zeiten, in der er das Amt des Pharao getragen und nicht erzwungen hatte. Atemus Lächeln nahm einen schmerzlichen Zug an. „Ich verstehe deine Bedenken, Seto”, wandte er sich erneut an den Hohepriester, der mit zusammengepressten Lippen vor ihm stand. „Und ich bin dir dankbar für deine Besorgnis. Dennoch werde ich aufbrechen. Es mag nur eine vage Hoffnung sein, aber es ist eine Hoffnung und ich bin bereit, alles darauf zu setzen.” Er sah über seine Schulter zurück zu der Tür, hinter der Yugis Leichnam lag. „Ohne Yugi hätte Ägypten Schlimmeres gedroht als der Zerfall. Er ist dieses Opfer wert, Seto. Mehr als das.” Der Hohepriester schien etwas sagen zu wollen, verstummte jedoch, als Atemu sich wieder zu ihm umwandte. Mit einer ruhigen Bewegung hob der Pharao die Hände zu seinem Diadem und setzte es ab. Dann trat er auf Seto zu, dessen Augen sich überrascht weiteten. „Bis ich zurückkehre wirst du an meiner Stelle regieren”, sprach Atemu sanft, während er sich streckte, um Seto das Diadem aufsetzen zu können. Es war leichter als erwartet, da der Hohepriester zu einer Statue erstarrt zu sein schien. Selbst seine Gesichtsfarbe hatte eine steinerne Blässe angenommen. „Ich weiß, dass du das Amt gut ausfüllen wirst.” Wahrscheinlich besser, als ich es in den letzten Jahren getan habe. Einen kurzen Moment zögerte er, dann hob Atemu erneut die Hände und streifte das Millenniumspuzzle ab. „Und sollte ich nicht mehr zurückkehren, soll dir dies als Legitimation dienen.” Er lächelte, als er dem Hohepriester den Millenniumsgegenstand in die Hand drückte, der offenkundig immer noch nicht begriff, was gerade geschah. Dann wandte er sich ruckartig um und nickte Mana zu. „Lass mein Pferd satteln. Ich breche sofort auf.” Erst als er den Flur durchquert hatte und die Tür sich bereits hinter ihm schloss, konnte er sehen, wie Seto aus seiner Erstarrung erwachte. Der Gesichtsausdruck des Hohepriesters wechselte von überraschter Bestürzung zu wütender Entschlossenheit. „Pharao Atemu, bleibt stehen! Wagt es nicht durch diese Tür zu gehen! Ihr könnt nicht….!” Der Rest des Satzes wurde von den zufallenden Türen abgeschnitten. Atemu lächelte kurz. Dann trat er in den Hof hinaus und warf einen prüfenden Blick auf die untergehende Sonne. Die Zeit arbeitete gegen ihn. Er musste sich beeilen. ~oOo~ Der Hengst wiehert erschöpft, kaum dass seine Hufen das saftige Gras der weitläufigen Oase berührten. Mehr als einmal war das Tier bereits gestrauchelt und Atemu brachte es mit einem sanften Zug an den Zügeln sofort zum Stehen. Er fühlte sich etwas schuldig, dass er sein Pferd so unbarmherzig angetrieben hatte, doch die Erleichterung, rechtzeitig angekommen zu sein, überwog. Langsam rutschte er aus dem Sattel und sah sich um. Die Oase war beeindruckend groß. Dattelpalmen streckten sich in den nächtlichen Himmel und säumten den breiten Wasserlauf, der für das üppige Grün verantwortlich war. Hinter ihm ertönte plötzlich Hufgetrappel und als Atemu sich umwandte, sah er sich Mana gegenüber, die endlich zu ihm aufgeholt hatte. Sie hatte sich geweigert, ihn allein reisen zu lassen, hatte sich seinen Bitten, Anweisungen, selbst seinen Drohungen widersetzt, bis er entschieden hatte, dass es für seinen Zeitplan einfacher war, nachzugeben. Atemu musterte sie durchdringend. Sie war blasser als sonst und schien noch immer große Schmerzen zu haben. Er wusste nicht einmal wirklich, woher die Verletzung an ihrem Arm stammte, sie war Fragen danach bisher stets ausgewichen. Mana schien seinen Blick zu bemerken, denn sie sah auf und zwang ein Lächeln auf ihre Züge. „Wir sind endlich da”, rief sie aufgesetzt fröhlich und rutschte ungelenk aus dem Sattel. „Wie geht es jetzt weiter?” Nach einem kurzen Zögern wandte Atemu den Blick ab und deutete auf die Wasseroberfläche. „Wir folgen dem Fluss zu seiner Quelle”, erklärte er. „Sie soll in einer Höhle liegen und dort ist angeblich der Übergang.” Er zuckte leicht mit den Schultern. „Sofern man der Inschrift glauben kann.” Seinen Worten zum Trotz lag in seiner Stimme kein Zweifel. Er wollte nicht zweifeln. Mana streckte den Rücken durch und nickte dann. „Gut. Dann los”, entgegnete sie und setzte sich in Bewegung. Sie liefen schweigend. Der Weg war nicht weit, aber uneben, und sie achteten aufmerksam darauf, nicht aus Versehen auf Vipern oder Skorpione zu treten, die unangenehm häufig ihren Weg kreuzten. Als sie dem Fluss um eine Biegung gefolgt waren, blieb Atemu plötzlich stehen. Vor ihnen, halb versteckt hinter Palmen, ragte ein pyramidischer Steinhügel hervor. Trotz der unnatürlich wirkenden Form waren die Kanten zu uneben, um von menschlicher Hand behauen zu sein. Eine Ecke der schiefen Pyramide wirkte wie abgebrochen und aus der Dunkelheit dieser natürlichen Kuhle plätscherte klares Wasser und speiste den kleinen Fluss, der die Oase wie ein blauer Faden durchzog. Die Höhle selbst war nicht sehr groß. Sie war gerade hoch genug, um aufrecht stehen zu können, und so schmal, dass man sich mit Mühe an dem Flussbett vorbeidrücken musste. Atemu zögerte. „Geh. Dieser Ort ist der Richtige.” In Manas Stimme lag ein so seltsamer Unterton, dass Atemu sich zu ihr umwandte. Ihr Anblick irritierte ihn. Jede Faser ihres Körpers schien angespannt, und auf ihrem Gesicht lag ein halb furchtsamer, halb entschlossener Ausdruck. Atemu zog die Augenbrauen zusammen, doch gerade, als er etwas sagen wollte, spürte er einen kühlen Luftzug, der aus den Tiefen der Höhle kam. Ein Hauch, geschwängert von Moder und Altertum, staubtrocken und erdrückend. Sie waren am richtigen Ort. Das Gefühl war so deutlich, dass es greifbar schien. Manas Blick zuckte plötzlich nach oben und bohrte sich in Atemus. Ein besorgtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Sei vorsichtig”, murmelte sie leise. „Sei bitte, bitte vorsichtig. Ich … würde dich so gern begleiten, Atemu. Ich würde dich so gern beschützen. Ich…” Mit einem schnellen Schritt trat Atemu nach vorn und zog Mana in eine vorsichtige Umarmung. Einerseits, weil er Angst hatte, ihr Schmerzen zuzufügen und andererseits, weil er sich so ungelenk fühlte, als wenn er Umarmungen erst wieder erlernen müsse. „Hab keine Angst, Mana”, antwortete er ruhiger als er in Wirklichkeit war. „Mir wird nichts geschehen.” Er zögerte einen Moment, dann fügte er leise hinzu: „Danke, dass du mich hierher begleitet hast und immer bei mir warst.” Mana schniefte. Als sie aufsah bemerkte er Tränen in ihren Augen. „Natürlich begleite ich dich”, erwiderte sie zittrig. „Du bist nie alleine gewesen. Ishizu, Seto, Mahad… wir waren immer für dich da und werden es auch immer sein. Du bist mein bester Freund und daran wird sich nichts ändern.” Sie schniefte erneut und grinste dann. „Merk dir das, Pharao Atemu, höchster königlicher Dummkopf des Reiches.” Ein vertrautes Gefühl der Wärme stieg in Atemu auf und trieb ein Lächeln auf seine Lippen. Einen Moment drückte er Mana noch an sich, dann ließ er sie abrupt los und wandte sich um. Seine Schritte verklangen in der steinernen Enge der Höhle. Das Wasser, das träge neben ihm floss, wurde undurchsichtiger, bis er irgendwann den Grund nicht mehr erkennen konnte. Das Mondlicht, das die Höhle bisher nur spärlich erleuchtet hatte, war einem diffusen, grünlichen Glühen gewichen. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus blieb Atemu stehen und sah sich noch einmal um. Weit entfernt konnte er Manas schmale Silhouette ausmachen, die sich nur leicht vom nächtlichen Hintergrund abhob. Es war ein beruhigender Gedanke, zu wissen, dass es dort draußen noch jemanden gab, der auf ihn wartete. Atemu ballte eine Hand zur Faust und wandte sich wieder um. Dann verschwand er in der düsteren Unwirklichkeit. ~oOo~ Er wusste nicht, wann sich die Unruhe eingenistet hatte oder was der Auslöser war, doch Atemu wurde bewusst, dass er immer häufiger über seine Schulter sah, je länger der Weg dauerte. Das Gefühl verfolgt, oder gar gejagt zu werden, lastete mittlerweile so stark auf ihm, dass ihm jeder Schritt schwerfiel. Sein Blick zuckte hektisch durch die Schummrigkeit und flog doch nur über Stein und Geröll. Atemu blieb stehen, schloss einen Moment die Augen und zwang sich dazu, ruhig zu atmen. Er durfte der Angst nicht nachgeben. Er musste einen klaren Kopf bewahren und sich nicht von Trugbildern jagen lassen. Ein tiefer Atemzug folgte dem nächsten und langsam begann er zu spüren, dass das unablässige Zittern seiner Fingerspitzen aufhörte. Atemu ballte die Hände zu Fäusten und öffnete die Augen. Seine Gedanken waren wieder ruhiger. Die Oberfläche des Flusses lag glatt und dunkel vor ihm wie flüssiges Blei. Erst jetzt bemerkte Atemu, was ihn im Unterbewusstsein die ganze Zeit so beunruhigt hatte: Die Stille. Nicht nur, dass seine eigenen Schritte kein Geräusch hinterließen – auch das Wasser floß lautlos. Atemu keuchte leise und erschauderte, als die Dunkelheit auch diesen Laut schluckte. Angestrengt zwang er sich dazu weiterzugehen. Es fiel ihm plötzlich schwer einen Fuß vor den anderen zu setzen, jeder Schritt war eine erneute Überwindung. Immer öfter glitten seine Gedanken in die Vergangenheit, egal wie sehr er versuchte sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Wie viele tote Seelen waren vor ihm hier gewesen? Wie viele davon waren für ihn und sein Land gestorben? Atemu presste die Lippen zusammen, als er bemerkte, dass er stehengeblieben war. Er musste weiter. Irgendwann würde er sich seiner Schuld stellen, aber nicht jetzt und nicht hier. Yugi brauchte ihn. Mit den Fingerspitzen fuhr er an den Wänden entlang. Das Gefühl des rauen Untergrundes beruhigte ihn, es war etwas Reales an das er sich klammern konnte. Ob Djedefre im Exil überhaupt überleben konnte? Der plötzlich auftauchende Gedanke ließ Atemu mitten im Schritt erstarren. Er sah Djedefres entsetzten Gesichtsausdruck vor sich. Und er sah sich selbst, wie er immer und immer wieder auf den am Boden liegenden einschlug. Er konnte die Raserei nicht mehr begreifen, aber er konnte sie noch immer fühlen. Was hatte er nur getan? Atemu presste sich gegen die kalten Steinmauern. Sein Atem ging flach. Hätte er Djedefre tatsächlich umgebracht? Er spürte die Antwort auf diese Frage mit jeder Faser seines Körpers. Ein bitterer Geschmack legte sich auf seine Zunge. Er hätte Djedefre eigenhändig getötet, wenn nicht Yugi… „Yugi…“ Seine eigene, raue Stimme riss Atemu aus der Starre. Weiter. Er musste weiter. Schritt um Schritt zog er sich vorwärts. Sein Brustkorb war wie zugeschnürt, das Atmen wurde ihm zur Qual. Wie viele Menschen waren unter seiner Regentschaft gestorben? Wie viele Existenzen hatte er mit einem einzigen Befehl ruiniert? Mit verkrampften Fingern zerrte er an seinem Umhang, bis er von seinen Schultern glitt. Dennoch bekam Atemu kaum Luft. Ein Strom an Erinnerungen zog durch seine Gedanken, ohne dass er sie kontrollieren konnte. Tote Soldaten, über die er mit seinem Streitwagen hinwegfuhr, die ihm den Weg säumten und die ihn aus offenen, leblosen Augen anstarrten. Manche Gesichter kannte er. Alte Kämpfer, die bereits Pharao Aknamkanon zur Seite gestanden und die nun für Atemu ihr Leben gelassen hatten. Aber auch junge Männer, keine Kinder mehr und doch nicht alt genug um je wirklich gelebt zu haben. Wann hatte er aufgehört an einen anderen Weg zu glauben? Wann hatte er sich selbst eingeredet, dass der Krieg sein müsse? Wann hatte er damit begonnen, diesen Krieg zu wollen? Atemu bemerkte nur beiläufig, dass er auf die Knie fiel. Verzweifelt rang er nach Luft und versuchte, sich vorwärts zu ziehen, doch seine kraftlosen Hände fanden auf dem staubigen Grund keinen Halt mehr. Er hatte versagt. Nicht nur als Pharao, sondern als Mensch. Er würde Yugi nicht mehr helfen können. Die Götter würden einer schuldbelasteten Seele wie der seinen keine Zugeständnisse machen. Sie würden weder ihm, noch Yugi, gestatten, die Duat je wieder zu verlassen. Über Atemus Lippen zog ein bitteres Lächeln. Seto hatte recht gehabt. Wie immer. Das Land würde zu Grunde gehen und er würde – Steh auf, Atemu. Atemu zuckte zusammen. Der Ring um seinen Brustkorb schien sich etwas zu lockern und erlaubte ihm, in einer kraftlosen Geste den Kopf zu heben. Sein Blick irrte durch die Düsternis, doch er erkannte nichts, außer Geröll und Schatten. Steh auf und sieh an dir hinab, Atemu. Lass sie nicht siegen. Er konnte die Stimme nicht zuordnen, nichtsdestotrotz reagierte er darauf. Langsam stemmte er sich hoch; seine Beine trugen sein Gewicht nur schwer. Er sah an sich hinab, doch außer einer staubbedeckten Tunika sah er nichts. Sieh genauer hin. Atemu tat einen zittrigen Atemzug und schloss einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, begann das Bild klarer zu werden. Er sah Schemen, gerade so sichtbar, dass er sie mit jedem Wimpernschlag wieder verlor. Sie nahmen mehr und mehr Gestalt an, formten sich zu langen, gestreckten Leibern, deren fratzenhafte Gesichter zu ihm aufstarrten. Atemu entfuhr ein entsetzter Laut, als ihm bewusst wurde, dass sich die Dämonen der Verstorben, die diese Etappe der Reise nicht überstanden hatten, um seinen Körper wickelten. Als wäre diese Erkenntnis der Auslöser, zog sich die wabernden Masse wie ein eiserner Kokon um ihn zusammen und presste ihm die wenige, noch verbliebene Luft aus den Lungenflügeln. Atemu taumelte. Erneut brach er auf die Knie, versuchte mit den Händen die lebenden Fesseln zu zerreißen und griff doch nur ins Leere. Er öffnete den Mund, versuchte zu schreien, aber ihm entkam kein Laut mehr. Sein Kopf pochte. Sein Sichtfeld wurde schmaler, vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte. Denke daran weshalb du hier bist, Atemu. Denke daran, was du suchst. Was … er suchte? Atemu schloss die Augen, während er kraftlos nach vorne kippte. Staub legte sich auf seine Lippen, als er zum Liegen kam. Alles in ihm schrie danach der Ohnmacht nachzugeben und sich fallenzulassen. Und doch gab es einen kleinen Teil in ihm, eine leise und doch eindringliche Stimme, die ihm immer wieder einen Namen zurief. Yugi. Er war hier, um Yugi zu finden. Er war hier, um Yugi aus der Unterwelt zu holen. Er war hier, um ihn um Vergebung zu bitten. Atemus Fingernägel brachen, als er sie plötzlich in den steinernen Untergrund grub und sich vorwärts zog. Er konnte hier nicht scheitern, er durfte es nicht. Nicht hier. Er würde Yugis Seele einholen, selbst wenn es ihn seine eigene kostete. Und er würde nicht hier scheitern. Niemals. Der Druck um seinen Körper zerbarst. Seine Lungenflügel füllten sich so gierig mit Luft, dass es ihn zum Husten brachte. Noch immer versuchte die Ohnmacht nach ihm zu greifen, doch Atemu kämpfte sie in verzweifelter Entschlossenheit nieder. Nur langsam lichteten sich die Schlieren vor seinen Augen. Die schemenhaften Dämonen waren verschwunden. Nur der Staub auf seiner Tunika war geblieben. Atemu sah sich um, während er einige, zögernde Schritte vorwärts ging. Woher war diese Stimme gekommen? Sie war ihm so bekannt vorgekommen. Er hatte sie früher oft gehört. Ein leises Kribbeln zog über seinen Nacken. War sein Vater … ? Ein scharrender Laut ließ Atemu herumfahren. Er hatte nicht gemerkt, dass sich die Umgebung verändert hatte. Der Fluss hatte sich zu einem breiten Gewässer gewandelt und spannte sich bis zum Horizont. Und an dessen Ufer, direkt vor Atemu, lag eine einfache Barke vor Anker. Atemu zuckte zusammen, als sein Blick auf den Fährmann fiel, der mit dem Rücken zu ihm am Heck stand, das Ruder in der ausgestreckten Hand. Nur die Toten haben das Recht hier zu verweilen. Atemu erstarrte, als Anubis sich zu ihm umwandte. Kehre um, Pharao Atemu. Deine Reise endet hier. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)