Götterdämmerung von Mieziliger ================================================================================ Kapitel 16: Schachmatt ---------------------- Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Bewegungen, Geräusche – Ishizu nahm alles nur durch einen Schleier war. Sie sah, wie Mahads schwarzer Magier seine Arme schützend vor der Stadt ausbreitete, sah den entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht des Hohepriesters, und doch konnte sie es nicht begreifen. Sie wollte es nicht begreifen. „Dieser verfluchte Idiot!“ Setos wütender Ausdruf Stimme brachte Ishizu ins Hier und Jetzt zurück. Die Hohepriesterin keuchte erschrocken auf. Sie tat einen hastigen Schritt vorwärts, doch Seto griff sofort nach ihrem Handgelenk und zog sie zurück. „Mach keine Dummheiten, Ishizu“, zischte er ihr zu. „Es reicht schon wenn einer von uns den Verstand verliert.“ Ungelenk versuchte Ishizu sich zu befreien. „Aber…. Mahad… er…“ „Wir haben größere Probleme als einen Hohepriester, der versucht, den Helden zu spielen. Konzentriere dich!“ Seto musterte sie durchdringend, lockerte dann aber den Griff als er spürte, dass ihre Gegenwehr erlahmte. Nach einer Weile des Schweigens wandte er seinen Blick plötzlich ab. „Spürst du es nicht?“ fügte er hart, aber leise hinzu. Ishizu verstand zunächst nicht. In ihr tobte ein solcher Sturm, dass sie nicht fähig war ihre Umwelt wahrzunehmen. Doch langsam bemerkte sie die Gänsehaut, die über ihren gesamten Körper zog, das Gefühl des Unwillens, dessen Ursprung sie nicht richtig greifen konnte. Ihr Blick schoss zu Obelisk und sie sog erschrocken die Luft ein. Die Aura der Kreatur flimmerte, die Augen flackerten. „Der Pharao…“, murmelte sie atemlos und stockte dann. Seto beendete den Satz selbst. „… hat Obelisk nicht unter Kontrolle.“ Der Hohepriester war so angespannt wie Ishizu ihn noch nie gesehen hatte. Seine Lippen öffneten sich kaum, während er sprach. „Er hat Obelisk nicht gerufen. Er hat ihn gezwungen. Selbst ein Pharao sollte nicht dazu in der Lage sein, sich über die Götter zu erheben.“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten als er fortfuhr, nur kurz, doch deutlich sichtbar. „Und Obelisk wehrt sich.“   Ishizu warf Seto einen aufgebrachten Blick zu. „Wir müssen etwas unternehmen! Wir können doch nicht hier stehen und zusehen!“ „Wir können und wir werden“, herrschte er sie an. „Wenn Pharao Atemu die Kontrolle verliert, sind wir Hohepriester die einzigen, die Obelisk auch nur ansatzweise beherrschen können!“ Er schnalzte wütend mit der Zunge und verschränkte die Arme. „Wir werden gegen eine Gottheit nicht bestehen können“, sprach er ruhiger weiter, „aber wir können sie zumindest kurzzeitig aufhalten.“ Ishizu öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder ohne zu antworten. Sie fand keine Worte für die Gedanken, die hinter ihrer Stirn tobten. Ihre Kehle schmerzte vor Trockenheit als sie ihren Blick wieder senkte. Atemu und Mahad fochten noch immer ein stummes Duell - jeder schien auf den ersten Zug des Anderen zu warten. Eine Bewegung an den Stadtmauern zog plötzlich Ishizus Aufmerksamkeit auf sich. Die roten Banner an den Fahnenmasten begannen zu schwanken, zunächst nur sanft, dann immer stärker, bis sie plötzlich in einer weichen Bewegung nach unten glitten. Es herrschte eine drückende Stille, als der rote Leinenstoff schwer auf den Boden fiel. Niemand bewegte sich, selbst Obelisk und der schwarze Magier schienen in der Luft erstarrt zu sein. Das Mondlicht glitt plötzlich über weißen Stoff, ließ ihn in der Dunkelheit der Nacht erstrahlen. Leises Wispern brandete auf, entwickelte sich zu einem Raunen und gipfelte in rauen Jubelschreien, als sich die Banner entfalteten und Atemus Name weithin sichtbar an den Stadtmauern Memphis‘ prangte. Nur wenig später erfüllte das Knarren der Stadttore die Luft, als diese sich quälend langsam öffneten. Ishizu wagte kaum zu atmen. Ihre Lippen waren so fest zusammengepresst, dass es schmerzte. Obwohl ihm Neferabus Banner zu Füßen lagen, schien Atemu nicht von seinem Entschluss abrücken zu wollen. Ishizus Blick fuhr zu Mahad. Der Hohepriester stand noch immer hoch aufgerichtet auf seinem Streitwagen, doch Ishizu erkannte, dass er zögerte. Nach einem Augenblick, der wie eine Ewigkeit schien, senkte er den Blick. Der schwarze Magier senkte seinen Stab, schloss die Augen und verschwand. Im gleichen Moment stieg Mahad von seinem Streitwagen, trat einige Schritte auf Atemu zu – und fiel vor ihm auf die Knie. Der Pharao schien wie gebannt. Selbst von ihrer Position aus konnte Ishizu erkennen, wie fahl sein Gesicht und wie kraftlos seine Bewegungen waren. Obelisk bebte. Sein Umriss flackerte, formierte sich noch einmal und zerbarst. Atemu taumelte, doch er hielt sich auf den Beinen, Mahads Hand, die sich helfend nach ihm ausstreckte, schlug er harsch beiseite. Diesmal konnte Seto Ishizu nicht aufhalten. In einer schnellen Bewegung stieß sie sich ab und hastete los. Atemus Hand glitt an den Griff seiner Chepesch glitt und Ishizu wusste, dass sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde. „Pharao!“ Der Klang in Ishizus Stimme war so schrill, dass er den Siegestaumel des Heeres übertönte. Atemu fuhr zusammen und erstarrte. In seinen Augen flackerte es. Seine Finger schlossen sich einen Moment so fest um den Griff seiner Waffe, dass die Knöchel weiß hervortraten. Gerade als Ishizu die beiden Männer erreichte, zog Atemu seine Hand zurück. Ohne Mahad eines weiteren Blickes zu würdigen wandte sich an Karim. „Nimm ihm den Millenniumsring ab“, befahl er knapp, „und bring ihn in den Kerker des Palastes. Ich werde in Theben über ihn richten.“ „Pharao Atemu…“ Ishizus Stimme brach. Doch selbst wenn Atemu sie gehört hatte, so ignorierte er sie. Mit brennenden Augen sah die Hohepriesterin dabei zu, wie Mahad den Millenniumsring ablegte und an Karim reichte, dessen Gesicht vor Bestürzung wie versteinert schien. „Mahad, was hast du getan?“, flüsterte Ishizu leise, doch Mahad antwortete nicht. Er erhob sich, ohne ihren Blick zu erwidern. Niemand sprach als Seto und Karim an seine Seite traten. Stumm geleiteten sie den ehemaligen Hohepriester nach Memphis, weniger wie Wächter, sondern wie treue Weggefährten. Ishizu sah ihnen nach, bis sie hinter den Stadttoren verschwunden waren. Alles in ihr weigerte sich, den Priestern zu folgen. Sie fühlte sich, als sei sie in einem schrecklichen Traum gefangen, der real werden würde, sobald sie die Stadt betrat. Ihre Kehle war staubtrocken. Ishizu schluckte krampfhaft. Es schmerzte. Plötzlich konnte sie den Anblick von Memphis nicht mehr ertragen. Mit einer heftigen Bewegung wandte sie sich ab und ließ ihren Blick in die Weitläufigkeit der angrenzenden Wüste schweifen. Eine Bewegung auf einer der Sanddünen zog Ishizus Aufmerksamkeit auf sich. Mehr aus Reflex als aus Interesse sah die Hohepriesterin auf und schlug sich die Hand vor den Mund, als ihr bewusst wurde, was sie dort erblickte. Sich gegenseitig stützend, quälten sich zwei Gestalten durch den weichen Sand. Sie schienen verletzt und sichtlich erschöpft, die kleinere Person taumelte. Ishizu konnte sich nicht mehr daran erinnern, losgelaufen zu sein. Doch plötzlich fand sie sich im Sand wieder, die Arme nach dem herannahenden Mädchen ausgestreckt, als dieses vor Müdigkeit auf die Knie sank.  „Mana…“, entkam es ihr fassungslos, während sie das Magiermädchen in eine Umarmung zog. „Den Göttern sei Dank! Den Göttern sei… Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“ Atemlos sah sie zu Joey auf, der ihr zittrig die Hand entgegenstreckte. Ein kleines, goldenes Artefakt blitzte in seiner Handfläche auf. „Da ist das scheiß Ding“, murmelte er kraftlos. „Nimm es. Und dann beeil dich damit, Mana wieder zusammenzuflicken.“ Er ließ sich in den Sand fallen. „Bitte.“, fügte er leise hinzu und schloss die Augen. Ishizu wollte antworten, aber sie brachte keinen Ton zustande. Sie griff nach Joeys Hand und drückte sie dankbar, das Auge des Re ignorierend. Es war ihr für diesen Augenblick gänzlich einerlei, ob Seth die Welt ins Chaos stürzte oder die Götter anderweitige Schlachten auf dem Rücken der Menschheit austrugen. Mit einem leisen Laut drückte sie Mana an sich, die unter der festen Umarmung leise wimmerte. „Mach das nie wieder“, flüsterte Ishizu leise. „Lauf nie wieder einfach weg. Du dummes, dummes … unglaublich mutiges Ding.“ Mana bewegte sich leicht und Ishizu musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass das Mädchen lächelte. ~oOo~ Die Flure in diesem Palast waren schmaler als in Theben. Oder vielleicht kam es Yugi nur so vor, als würden ihn die Steinmauern erdrücken wollen. Während er langsam und unbehelligt durch den Palast lief, strichen seine Fingerspitzen über das kleine Artefakt, das in seiner Hand lag. Es sah so unscheinbar und alt aus, doch seine Haut kribbelte dort, wo er es berührte. Yugi seufzte leise. Er war hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Ernüchterung, konnte nicht glauben, dass dieses kleine Artefakt jetzt noch etwas bewirken könnte und klammerte sich doch mit aller Kraft daran fest. Seine Schritte endeten vor einer breiten Tür. Yugi hob den Kopf und lies seinen Blick über die Inschriften gleiten, die die Göttertriade aus Ptah, Sachmet und Nefertem priesen. Seine Hand ballte sich um das Auge des Re, ehe er anklopfte und die Tür öffnete, ohne eine Reaktion abzuwarten. Er betrat ein weitläufiges Zimmer, das von einer einzelnen Fackel nur halbherzig erleuchtet wurde. Auf dem breiten Bett, das an der linken Wand stand, lag Atemu, einen Arm wie in einer Schutzhaltung über seinen Augen liegend. „Was gibt es noch, Seto? Wir haben für morgen bereits alles geklärt.“ Atemus Stimme klang kühl, aber Yugi konnte die Müdigkeit hören, die darin schwang. „Ich bin nicht Seto“, antwortete Yugi sanft und trat näher in den Schein der Kerze. Atemu schien einen Moment zu erstarren, doch dann hob er den Kopf und richtete sich auf. „Was willst du?“ Yugi zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wollte nur … nach Euch sehen. Ihr…“ Sein Blick wanderte über das fahle Gesicht des Pharao, die ungewohnt blutleeren Lippen und die matten Augen. „Du siehst unglaublich erschöpft aus.“ „Dann wäre es deutlich sinnvoller, mich in Ruhe zu lassen.“ Atemus Augenbrauen zogen sich unwillig zusammen, und Yugi verspürte den Drang zurückzuweichen. Das Auge des Re glühte sanft und wandelte die Nervosität in friedvoller Ruhe. Yugi lächelte erneut, diesmal ganz ohne Zwang. „Wäre es wohl, ja.“ Mit einem federnden Schritt trat er nach vorne und ließ sich auf die Kante des Bettes sinken. „Aber ich glaube auch, dass es besser wäre, dich nicht mit deinen Gedanken alleinzulassen.“ Atemu fuhr auf, doch bevor er etwas sagen konnte, nahm Yugi dessen Hand in die seine, in der er noch immer das Auge des Re trug. Kaum, dass das Artefakt die Haut des Pharao berührte, zuckte er zusammen wie unter einem Stromschlag. Sein Atem versank in ein schmerzerfülltes Keuchen, während sein Körper langsam nach vorne sackte, bis seine Stirn auf Yugis Schulter zum Liegen kam. Yugi erschauderte, als Atemus stockender Atem über seine Haut glitt. Einen Moment lang schloss Yugi die Augen, blendete alle Sorgen und Geschehnisse aus und genoss einfach nur die unmittelbare Nähe Atemus. Nicht des Pharaos, sondern des Mannes, der er abseits seines Titels war. Für diesen kurzen Moment war Yugi glücklich. Atemu bewegte sich plötzlich und richtete sich hastig auf. Sein Blick zuckte durch den Raum, glitt zurück zu Yugi und verharrte auf ihm. Ein Funke von Panik blitzte in dem hellen Violett auf. „Was …“, seine Stimme brach einen Moment, doch er fing sich rasch. „Was tust du hier?“ Yugi zögerte. Er hatte schon lange das Gefühl, dass der Pharao manchmal Erinnerungslücken zu haben schien. „Ich…“, begann er, stockte erneut und entschied sich dann für eine Lüge. „Du hast mich rufen lassen.“ Es tat ihm weh zu sehen, wie ein Hauch der Verunsicherung durch Atemus Augen zog und wie sich die schmalen Lippen kurz zusammenpressten. „Wie geht es dir?“ fragte er sanft. „Die Schlacht war …“, seine Stimme zitterte, egal wie sehr er versuchte es zu unterbinden. „Sie war… schrecklich grausam.“ Das Beben von Yugis Stimme, schien etwas in Atemu zu berühren. Über sein Gesicht flog ein milder Ausdruck. „Schlachten sind immer grausam“, antwortete der Pharao leise, hob seine Hand und strich eine Haarsträhne aus Yugis Stirn – genau wie damals, bei ihrer Partie Sennet, die so weit in der Vergangenheit zu liegen schien. Yugi seufzte leise und lehnte sich den Fingerspitzen entgegen. „Aber jetzt ist es vorbei, nicht wahr? Dein Gegner hat sich unterworfen, es gibt keinen Grund länger hierzubleiben.“ Er schmiegte seine Wange in Atemus Hand und sah bittend zu ihm auf. „Lass uns zurückkehren. Zurück nach Theben.“ Atemus Finger zitterten, doch er zog seine Hand nicht zurück. „Das… kann ich noch nicht.“ Er wandte den Kopf, als könne er Yugis Blick nicht standhalten. Yugi hatte den Pharao noch nie so machtlos gesehen, noch nie so verletzlich. „Aber der andere Pharao ist gefangengenommen, er kann doch nichts mehr ausrichten.“ Yugi neigte sich in Atemus Blickfeld, zwang ihn dazu, ihn wieder anzusehen. „Es ist genug Blut vergossen worden, Atemu. Bitte. Du bist kein blutrünstiger Mensch, das weiß ich. Dir steigt vielleicht manchmal dein Titel ein wenig zu Kopf“, er tippte mit seiner Fingerspitze gegen Atemus Stirn, „aber du hast ein gutes Herz.“ Über das Gesicht des Pharao wanderte ein solch perplexer Ausdruck, dass Yugi sich auf die Lippe beissen musste, um ein Lachen zu unterdrücken. Atemu fing sich jedoch schnell wieder und schnaubte, auch wenn Yugi bemerkte, dass seiner Stimme die sonst übliche, kühle Unnahbarkeit fehlte. „Es zeugt nicht von Stärke, sich in Verklärung zu retten, statt der Realität ins Auge zu sehen.“ Yugi schüttelte den Kopf. „Es hat nichts mit Verklärung zu tun, wenn man weiteres Blutvergießen verhindern will.“ „Als ob ich das könnte.“ Verbitterung lag in Atemus Stimme und Yugi schenkte ihm einen verwunderten Blick. „Aber du bist der Pharao, du…“ „Gerade deswegen kann ich es nicht!“, fuhr Atemu auf. „Glaubst du etwa, ich wollte diesen Krieg? Glaubst du, ich wollte all diese Männer in den Tod schicken? Glaubst du, ich wollte den Boden vor dieser heiligen Stadt mit Blut tränken?“ Atemus Augen blitzten wütend, doch Yugi spürte, dass die Wut nicht ihm galt. „Der Leichnam meines Vaters war noch nicht mal ganz präpariert, da kam bereits die Kunde, dass Neferabu den Stadthalter von Memphis gewaltsam verdrängt und sich zum Pharao aufgeschwungen hatte. Ich war noch nicht einmal offiziell gekrönt, da wurde mir bereits die Kriegserklärung überbracht. Was hätte ich tun sollen? Mich unterwerfen? Das ganze Land einem Mann zu Füßen legen, der als Senator meines Vaters auch mir treu zur Seite hätte stehen sollen? Ich hatte keine Wahl, ich hatte sie damals nicht und ich habe sie heute nicht. Ich, der nicht fähig war die Macht des Puzzles einzusetzen; ich, dem die eigenen Götter ihre Hilfe versagten.“ Atemu schien nicht mehr zu realisieren, dass er mit Yugi sprach. Die Worte brachen aus ihm hervor wie eine unaufhaltsame Flutwelle. „Ich habe geschworen, Neferabus Blut zu vergießen. Das Leben eines Mannes, eines Verräters, gegen das all derer, die mir wichtig sind. Es ist ein geringer Preis dafür, dass im Gegenzug niemand meiner engsten Vertrauten getötet wird. Ich habe … keine Wahl.“ Sein Atem ging schwer, als er verstummte. Mit weit aufgerissenen Augen saß Yugi da und starrte den Pharao an, der sein Gesicht in einer Hand verbarg. Yugi verstand plötzlich. Er verstand nicht nur die Grausamkeit Seths und den teuflischen Pakt, den Atemu mit ihm geschlossen hatte. Er glaubte auch zu erahnen, was Nechbet und Schesemtet von ihm verlangen. Eine Bewegung von Atemu unterbrach seinen Gedankengang und ließ ihn aufsehen. Der Pharao hatte sich wieder nach hinten fallenlassen und einen Arm über die Augen gelegt, genau wie bei Yugis Eintreten. „Geh jetzt“, murmelte er leise. „Lass mich allein.“ Yugi machte Anstalten sich zu erheben, doch mitten in der Bewegung erstarrte er. Ohne noch einmal darüber nachzudenken, neigte er sich plötzlich nach vorne und fing Atemus Lippen zu einem sanften Kuss ein. Der Pharao zuckte heftig zusammen, jede Faser seines Körpers spannte sich an. Seine Hand schnellte zu Yugis Oberarm und grub sich fast schmerzhaft in seine Haut, doch der Versuch, Yugi von sich zu schieben, war so halbherzig, dass keine Kraft nötig war, um sich dagegen zu wehren. Nach einigen Augenblicken, die für Yugi ewig zu sein schienen, öffnete Atemu seine Lippen und gewährte ihm Einlass. Der Kuss war sanft und vorsichtig; Yugi wünschte sich, er würde nie enden. Er konnte fühlen, wie Atemu sich entspannte, wie er Yugis Berührungen zuließ und sich darin verlor. Einen kurzen Moment waren sie ebenbürtig. Dann ging plötzlich ein Ruck durch Atemu und er richtete sich auf. Noch ehe Yugi wusste, wie ihm geschah, war er hintenüber auf die Matratze gedrängt worden. „Du weißt immer noch nicht, wie man sich einem Pharao gegenüber zu verhalten hat“, bemerkte Atemu rau. Das Violett seiner Augen schien heller als je zuvor. „Vielleicht weiß ich es ja“, antwortete Yugi leise und lächelte, „und es ist mir einfach nur egal.“ Atemus Augenbrauen zuckten und Yugi war sich einen kurzen Moment unsicher, ob er den Bogen jetzt nicht doch überspannt hatte, doch dann lachte der Pharao plötzlich. Nur kurz und sehr leise – aber es klang warm und ehrlich. Seine Hand glitt über Yugis Brust und blieb schließlich liegen. Yugi spürte, wie sein Herzschlag zu rasen begann und er war sich sicher, dass auch Atemu es fühlen konnte. Einige lange Momente herrschte Schweigen. „Als ich klein war, war meine Mutter einmal sehr krank“, sprach Atemu plötzlich leise, den Blick auf seine Hand gesenkt, deren Fingerspitzen sanft über Yugis Brust strichen. „Vater hat natürlich die besten Ärzte des Landes an den Hof geholt, aber wirkliche Besserung brachte es nicht.“ Er verlor sich einen Augenblick in seinen Gedanken. „Manchmal hat sie nach mir rufen lassen. Wenn ich dann bei ihr war, hat sie mich nur umarmt und ihren Kopf gegen meine Brust gelegt. Sie sagte, dass ihr das Geräusch meines schlagenden Herzes immer das Gefühl gäbe, lebendig zu sein. Sie bräuchte keine Hofärzte und Medikamente, um gesund zu werden. Sie bräuchte nur die Nähe eines besonderen Menschen.“ Plötzlich ließ er sich nach vorn sinken, bis seine Stirn in Yugis Halsbeuge zum Liegen kam. „Ich habe sie nie verstanden“, fügte er so leise hinzu, dass es kaum hörbar war, „bis jetzt.“ Yugi schloss die Augen, als sie zu brennen begannen. Er antwortete nicht. Weder fand er Worte, noch war er sich sicher, ob seine Stimme nicht einfach versagen würde. Stumm lag er da und lauschte Atemus flachen Atemzügen, die nur sehr langsam ruhiger und tiefer wurden. Als Yugi nach einer Weile die Augen öffnete, flog ein Lächeln über sein Gesicht. Der Pharao war in seinen Armen eingeschlafen. Langsam hob Yugi eine Hand und strich dem Schlafenden sanft über die Wange, bis sein Blick auf das kleine Artefakt fiel, das unscheinbar an einer Ecke der Matratze lag. Ein bitterer Geschmack legte sich auf Yugis Zunge und je mehr er versuchte, ihn zu schlucken, desto penetranter wurde er. Vorsichtig löste Yugi sich von Atemu, nahm das Auge des Re an sich und trat an das Fenster. Über der Stadt hing eine gespenstische Ruhe, die nichts Friedfertiges an sich hatte. Es fühlte sich an wie eine Atemlosigkeit, genährt von der Verunsicherung, was die Zukunft bringen würde. Yugi presste die Lippen zusammen. So viele Menschenleben lagen in seiner Hand. Er horchte in sich, versuchte Angst, oder Zweifel zu spüren, doch wann immer er glaubte, eine derartige Emotion zu berühren, konnte er fühlen, wie das Artefakt in seiner Hand sanfte, wärmende Wellen durch seinen Körper sandte. Alles begann, sich vor ihm auszubreiten, wie ein Puzzle, das er Stück um Stück zusammensetzte. Er konnte den Plan von Schesemtet nachvollziehen; er erkannte die Lücke in Atemus Schwur und er sah den Weg, den er zu gehen hatte, klar vor sich. Sein Blick senkte sich auf das Artefakt in seinen Händen. Es war nie für Atemu bestimmt gewesen. Sondern für ihn selbst. Es sollte ihn beruhigen, ihm Trost spenden und ihm die Angst nehmen. Götter waren ... grausam. Yugi lehnte den Kopf in den Nacken und lachte bitter, unterdrückte den Laut jedoch sofort, als Atemu sich im Schlaf bewegte. Der Pharao war unruhig, wälzte sich von einer Seite auf die nächste. Yugi trat wieder näher an das Bett heran, erreichte dadurch jedoch nur, dass Atemus Schlaf noch unruhiger wurde. Immer wieder glitten krampfhafte Zuckungen durch seinen Körper. Nach wenigen Augenblicken wurde Yugi bewusst, dass die Krämpfe stärker wurden, je näher er, oder das Auge des Re kamen. Yugi ballte die Hände zur Faust. Langsam, Schritt für Schritt, wich er nach hinten, bis sein Rücken an eine Mauer stieß. Er ließ sich daran entlanggleiten und schlang die Arme um seine Knie. Heute Nacht mochte Seth noch einmal die Kontrolle zurückerlangen. Doch Yugi schwor, dass es das letzte Mal sein würde. Er schlief erst ein, als das Dämmerlicht das nahende Morgengrauen ankündigte.    ~oOo~ Die Stunden schienen sich ins Unendliche zu ziehen. Mahad seufzte und lehnte sich gegen die kalte Mauer seiner Zelle. Er wusste weder, wie spät es war, noch, wie lange er sich bereits hier befand. Seine Gedanken kreisten wirr, wie Zahnräder, die sich selbst zerfetzten. Die Untätigkeit setzte ihm am meisten zu. Er sah Atemu in Gedanken vor sich, die Veränderung, die dieser plötzlich durchlaufen hatte. Das verzerrte Gesicht, die flackernden Augen, als der Pharao Obelisk herbeigerufen … nein, befohlen hatte. Mahad hob eine Hand und fuhr sich über das Gesicht. Er hätte Mana glauben müssen. Er hätte selbst losziehen und dieses göttliche Artefakt suchen müssen. Es wäre seine Aufgabe als Hohepriester gewesen. Seto hatte recht gehabt, als er ihm vorgeworfen hatte, sich hinter gedankenlosem Pflichtbewusstsein zu verstecken. Mahad stöhnte leise auf. Wann hatte er aufgehört, Berater des Pharao zu sein? Wann hatte er aufgehört, wie ein Freund und Vertrauter zu denken? Wann hatte er nur noch Befehle ausgeführt, darauf vertrauend, dass der Pharao stets allein die richtigen Entscheidungen traf? Mahad lehnte den Kopf in den Nacken. Atemu war jung gewesen, als er gekrönt worden war. Kein Kind mehr, aber noch jung. Hatte Aknamkanon ihn auf das Amt des Pharao überhaupt vorbereitet? Mahad wusste es nicht. Er erinnerte sich nur, dass Kronprinz und Pharao in den Wochen vor Aknamkanons Tod kein Wort miteinander gewechselt hatten. Die Gerüchte im Palast hatten sich überschlagen, doch den wahren Grund für diese eisige Stille hatte nie jemand erfahren. Mahad erhob sich und lief unruhig in der kleinen Zelle umher. Hätte er zu dieser Zeit mehr für Atemu da sein müssen? Mehr Freund als Bediensteter sein? Er ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte leicht den Kopf. Nein, es stand ihm nicht zu, freundschaftliche Bande zu dem Pharao zu unterhalten. Das Scharren der Zellentür riss Mahad aus den Gedanken. Er wandte sich um und stockte, als sein Blick auf Ishizu fiel. Die Hohepriesterin trat ein und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. „Was…“, begann Mahad, wurde jedoch von Ishizu mit einer leichten Handbewegung unterbrochen. „Heute bin ich für deine Bewachung eingeteilt“, antwortete die Hohepriesterin leise. „Du solltest nicht von einfachen Medjay bewacht werden, es wäre … deiner nicht würdig.“ Mahad entkam ein leises Lachen, dessen Bitterkeit selbst ihm bewusst wurde. „Meiner nicht würdig? Was redest du da, Ishizu? Ich habe als Hohepriester versagt. Ich hätte früher handeln müssen, ich hätte den Pharao schon vor langer Zeit vor sich selbst schützen müssen, ich hätte auf Mana hören sollen, ich hätte…“ „Das hätten wir alle tun sollen!“ Unterbrach Ishizu ihn hart, lächelte dann und fuhr sanfter fort. „Jeder von uns hat Fehler gemacht, Mahad.“ Sie seufzte leise und trat näher. Erst jetzt fiel Mahad auf, dass sie ihre Millenniumskette nicht trug. Ishizu schien seinen irritierten Blick zu bemerken, denn sie lächelte erneut, eine Spur trauriger als zuvor. „Die Vergangenheit ist unveränderbar, die Zukunft ungewiss“, sprach sie leise und hob beide Hände, um den Schleier zu lösen, der ihr Haar verbarg, „was uns bleibt ist nur dieser Augenblick.“ Der Schleier glitt raschelnd zu Boden. Das schummrige Licht brach sich auf Ishizus tiefschwarzem Haar, als sie näher kam. In ihren Augen lag ein zärtlicher, liebevoller Ausdruck, der Mahads Brust zusammenschnürte. „Ishizu… Wir dürfen nicht…“ Sanfte Fingerspitzen auf seinen Lippen unterbrachen ihn. „Liebe unter Hohepriesterin ist verboten“, antwortete Ishizu ernst. Ihre Fingerspitzen lösten sich von Mahads Lippen, fuhren sein Kinn entlang und hinterließen ein Kribbeln auf seiner Haut. „Aber du bist kein Hohepriester Mahad.“ Plötzlich zog sie ihre Hand zurück und begann ihre Tunika zu lösen. „Du wurdest heute deines Amtes enthoben.“ Als der Leinenstoff an ihrer dunklen Haut entlangglitt, schloss Mahad die Augen. Er konnte hören wie sie nähertrat, fühlte plötzlich ihre Lippen auf den seinen und seine Arme schlangen sich ohne sein Zutun um ihren warmen Körper. In den vergangenen Jahren hatte er sich in manchen schwachen Momenten ausgemalt, wie es sein würde, sie in seinen Armen zu halten, sie an sich zu drücken und sie zu lieben. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass es in einer so verzweifelten Situation geschehen würde, in einer kalten, dunklen Zelle, weit abseits ihrer Heimatstadt. Einen kurzen Augenblick wollte er sich weigern, doch als sich Ishizus Lippen auf die seinen legten, gab er seinen Widerstand auf. ~oOo~ Atemu erwachte, kaum dass die Sonne über Memphis aufgegangen war. Es war kein richtiges Erwachen, mehr ein langsames Dahingleiten zwischen Schlaf und Realität. Atemu wusste nicht einmal, ob er tatsächlich wach war, oder ob alles nur ein langer, viel zu realistischer Traum war. Die Welt um ihn herum war unscharf und farblos. Langsam richtete er sich auf und sah sich um. Es war ein fremder Raum, er erinnerte sich nicht, ihn betreten zu haben. Sein Blick fiel auf eine Person, die an die Wand gelehnt auf dem Boden saß und schlief. Er … kannte das Gesicht. Und doch dauerte es, bis Atemu sich an den Namen erinnern konnte. Yugi. Etwas an dem Klang dieses Namens traf ihn tief in seinem Inneren, doch das Gefühl war so schnell vorbei, wie es gekommen war. Atemu erhob sich in dem Moment, in dem es an der Tür klopfte und einige Diener eintraten. Mit geübten Handgriffen legten sie dem Pharao den Umhang um, befestigten den Lendenschurz und schmückten ihn mit Diadem und Geschmeide. In wenigen Augenblicken waren sie wieder verschwunden; zumindest glaubte, Atemu, dass es nur wenige Momente gewesen waren. Er hatte kein Zeitgefühl mehr. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr und sah auf. Yugi war durch den Aufruhr im Zimmer geweckt worden und sah ihm stumm entgegen. In seinen hellen Augen lag ein seltsamer Ausdruck. So sehr Atemu es auch versuchte, er konnte dieses Gefühl nicht greifen, das er dort sah. „Es ist soweit?“ Die Frage in Yugis Worten war nur schwer zu hören, es klang eher nach einer Feststellung. Weder anklagend, noch auffordernd, sondern seltsam gelassen. Atemu wollte antworten, doch er wusste nicht, wie. Es schien ihm, als hätte er den Bezug zu jedem Wort verloren. Stattdessen nickte er knapp und wollte sich gerade umwenden, da spürte er Yugis Fingerspitzen an den seinen. Yugi lächelte, als er Atemus Hand zu sich zog. „Ich muss es dir sagen, bevor es zu spät ist. Es ist vielleicht die letzte Gelegenheit, die ich habe“, sagte er leise. „Ich liebe dich, Atemu.“ Er lächelte erneut und presste dann seine Lippen zu einem sanften Kuss auf Atemus Handrücken. Der Pharao verharrte einen Moment schweigend. Er fühlte, wie sich seine Haut unter Yugis Lippen erwärmte, doch abgesehen davon: Nichts. Endlose Leere. Nach einigen Augenblicken zog Atemu seine Hand zurück, wandte sich ab und öffnete die Tür. Noch bevor er das Ende des Flures erreicht hatte, hatte er Yugis Worte schon wieder vergessen. Zwei Medjay verneigten sich vor ihm, öffneten ihm die Flügeltüren und geleiteten ihn in den großen Vorhof des Palastes. Unzählige Menschen waren anwesend. Atemus Blick flog über Gesichter, die er nicht kannte, aber auch über Gesichter, die in ihm Erinnerungen hervorriefen. Ishizu, Seto, Karim, Mana… er erkannte sie und wusste sie doch nicht mehr einzuordnen. Ein Priester trat plötzlich näher und geleitete Atemu mit einer auffordernden Handbewegung in die Mitte des Hofes, wo, den Kopf demütig gesenkt, ein gefesselter Mann kniete. Als Atemu ihn erblickte, begann sich etwas in ihm zu regen. Er fühlte, dass seine Fingerspitzen zitterten, und ballte die Hände zur Faust. Das Gefühl in ihm war fast unerträglich, dieser Drang seine Fingernägel …Krallen… in das Fleisch des Gefangenen zu graben, mit seinen Händen …Pranken…Haut und Muskeln zu zerfetzen und das Blut zu sehen …trinken... „…Pharao Atemu.“ Die Stimme des Priesters riss Atemu aus seiner Trance. Er hob den Blick und sah, dass der Priester ihm einen reich verzierten Ritualdolch entgegenstreckte. Die Zeremonie der Reinigung stand kurz vor dem Höhepunkt. Atemu nahm den Dolch entgegen, sein Gesicht spiegelte sich auf der blanken Oberfläche der Klinge. Sein Atem wurde flacher. Er musste es endlich zu Ende bringen. „Neferabu.“ Atemu wusste, dass er selbst es war, der sprach, aber die Stimme, die er hörte, war ihm fremd. „Du hast mich herausgefordert und warst im Kampf unterlegen.“ Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung, aber es kümmerte ihn nicht. Sein Blick lag auf dem weißhaarigen Ägypter, der mit geschlossenen Augen vor ihm kniete. „Empfange nun deine angemessene Strafe.“ Der Dolch blitzte, als er ihn hob. In der Menschenmasse breitete sich Unruhe aus. „Mögen die Götter deiner Seele gnädig sein.“ Mit diesen Worten stieß Atemu zu. Ein Aufschrei ließ ihn aufblicken und plötzlich sah er, wie sich eine Gestalt mit weit ausgebreiteten Armen auf ihn warf. Er versuchte noch, die Bewegung abzufangen, doch es war zu spät. Getragen von seinem eigenen Schwung stieß er Yugi den Dolch bis zum Heft in die Brust. Alles um Atemu versank in Chaos. Er sah wie Karim auf ihn zustürzte. Er sah, wie sich ein hochgewachsener, blonder Mann schreiend durch die Menge wühlte, bis er von Seto mit einem gezielten Schlag in den Nacken ausgeschaltet wurde. Und er sah wie Mana sich von Ishizu loszureißen versuchte, die sie an einem Arm festhielt. Doch nichts davon erreichte ihn wirklich. Auf Knien gesunken hielt er Yugi in seinen Armen. Seine Seele schrie. Sie schrie nach Freiheit, nach Leben und nach Selbstbestimmung, so laut, dass es schmerzte. Die Kälte wich, floss aus seinen Adern und riss die Fesseln mit sich, die seinen Geist gebunden hatten. Plötzlich kehrte alles zu Atemu zurück. Die Erinnerung. Die Klarheit. Die Wärme. Die Fähigkeit zu lieben. Als Priester Karim Atemu erreichte, war Seth verschwunden. Die Tunika rot besudelt, den Umhang schwer und nass, presste der junge Pharao Yugis reglosen Körper an sich und vergrub sein Gesicht in dessen blutigem Haar. Sein verzweifelter Aufschrei hallte in dem Vorhof wieder und ließ das Durcheinander für einen kurzen, atemlosen Moment verstummen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)