Götterdämmerung von Mieziliger ================================================================================ Kapitel 12: Unrast ------------------ Abydos schien unendlich. Mit offenem Mund starrte Mana auf die Silhouette der ausladenden Nekropole, in der sich überbordende Totentempel, reich verzierte Schreine und erdrückende Monumente wie Mosaiksteine aneinanderreihten. Mana hatte in Theben oft Geschichten darüber gehört, wie eindrucksvoll Abydos sei, doch der Anblick der sich ihr bot, überragte die Erzählungen bei weitem. „Das ist … mal ein nettes Dörfchen…“ Die Ehrfurcht in Joeys Stimme strafte seiner Lässigkeit Lügen. Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander, bis ein lautes Magenknurren die magische Faszination unterbrach. Mit hochrotem Kopf presste Mana eine Hand auf ihren Bauch und streckte Joey die Zunge raus, der sie albern angrinste. „Ich habe Hunger.“ Murmelte Mana überflüssigerweise. „Komm, wir müssen etwas Essbares und einen Unterschlupf finden, bevor es Nacht wird.“ Sie seufzte leise. Bisher waren sie trotz des Verlustes ihres Bootes gut durchgekommen. Sie hatten zwar ihr komplettes Proviant verloren, aber die üppige Vegetation am Nilufer hatte die Reise unbeschwerlicher gemacht, als zunächst befürchtet. Schwerer wog, dass sie auch all die wertvollen Papyrusrollen verloren hatten, die Mana eingepackt hatte, um sie gegen Essen, Unterkunft und neue Transportmittel eintauschen zu können. Zögernd blieb das Magiermädchen vor dem riesigen Stadttor stehen und starrte zu den weißen Bannern auf, die im Abendwind wehten. Sollten sie Abydos umgehen? Am Nil schliefen sie ungeschützt, aber wenigstens hatten sie etwas zu essen. Eine Hand, die sich auf ihre Schulter legte, riss Mana aus ihren Gedanken. Als sie erschrocken herumfuhr, sah sie in Joeys braune Augen, die sie nachdenklich, aber sanft musterten. „Mach dir keinen Kopf. Wir kommen schon zurecht.“, raunte er leise und schob das Mädchen ein Stück nach vorne. „Such‘ du eine Unterkunft, ich kümmere mich später um was zu futtern.“ Mana seufzte, nickte dann aber und versuchte sich in der fremden Stadt zu orientieren. Sie ließen die sakralen Prachtbauten links liegen und bewegten sich in die deutlich ärmeren Viertel, eilten von Lehmhaus zu Lehmhaus, bis sie tatsächlich eine heruntergekommene Ruine fanden, in der sie die Nacht verbringen konnten. Erleichtert ließ sich Mana auf den staubigen Boden nieder und zog das bisschen Schuh von den Füßen, das von dem langen Marsch noch übrig war. Joey unterdessen war verschwunden. Mit jeder Minute wurde Mana unruhiger. Was, wenn man ihn geschnappt hatte? Wurde überhaupt schon nach ihnen gesucht? Und wenn ja, wie schnell waren solche Suchtrupps? Mana nagte an ihrer Unterlippe herum, bis es schmerzte. Plötzlich hörte sie Schritte und noch bevor sie aufspringen konnte, wurde sie von einer Dattel an der Stirn getroffen. „Reflexe: 0 Punkte“, grinste Joey, als er sich in die Hütte schob. Mana schnaubte. „Eine Horde Affen ist weniger anstrengend als du“, maulte sie vorwurfsvoll. „Wo warst du so lange? Ich hab mir schon alles Mögliche ausgemalt.“ Statt zu antworten, trat Joey näher und ließ Datteln, Mandeln und Perseafrüchte in Manas Schoß fallen. Mana blieb der Mund offen stehen. „Woher... hast du das alles?“ Wieder gab Joey keine Antwort. Stattdessen zog er das Tuch von seinem Kopf, mit dem er seine auffällig blonden Haare verbarg und nutzte es als Unterlage für die Brotstücke und Granatäpfel, die er aus einer Tasche in seiner Tunika zog. Während Mana noch mit großen Augen auf die ansehnliche Auswahl an Lebensmittel starrte, angelte Joey nach einem Brotkanten und aß. Das Schweigen zwischen ihnen dauerte unangenehm lang. Irgendwann spukte Joey einen Dattelkern aus und seufzte. „Ich hab viel Scheiße gebaut, früher“, erzählte er leise und strich einige Brotkrümel von seiner Tunika. „Prügeleien, kleinere Diebstähle, jüngere Schüler abgezogen – hab ich alles durch.“ Mana öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber der Ausdruck in Joeys Gesicht ließ sie verstummen. „Tja. War keine glorreiche Zeit. Ich war echt ein Arsch, aber kam mir so großartig dabei vor.“ Joey zuckte mit den Schultern und angelte nach einer weiteren Dattel. „Und dann hab ich Yugi getroffen. Er war ganz anders als meine Kumpels und irgendwie hat er es geschafft, meinen wirren Schädel wieder geradezubiegen. Ich hab die Gang zurückgelassen. Bin wieder regelmäßig in die Schule. All sowas, eben.“ Er starrte die Dattel an und warf sie dann Mana entgegen, die sie geistesgegenwärtig auffing. „Aber Stehlen kann ich immer noch recht gut. Traurig, was?“ Er grinste schief. Mana schluckte. Hier in Ägypten waren Diebe der Abschaum der Gesellschaft und sie tat sich schwer damit, Joey mit diesem Gesindel in Zusammenhang zu bringen. Vielleicht gab es ja einen Grund für sein Tun? Joey schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er schüttelte mit dem Kopf. „Nee, ich hab nicht aus guten Gründen gestohlen, um es armen Waisen zu überlassen, oder so. Ich war einfach ein Vollidiot.“ Mana zögerte, doch dann lächelte sie. „Früher ist früher. Heute ist heute und heute hatten wir nunmal Hunger. War ja meine Schuld, dass unser Tauschmittel abgesoffen ist.“ „Und das Boot.“ „Ja. Und das Boot.“ „Und die Karten.“ „Jaaaa... und die Karten.“ „Und wir.“ „Ist ja gut jetzt!“ Joey lachte über ihr Gemaule und nach ein paar Augenblicken stimmte Mana mit ein. Es war seltsam. Sie waren auf einer lebensgefährlichen Reise und dennoch hatte Mana schon lange nicht mehr so häufig und herzlich gelacht, wie seit ihrem Aufbruch. Als sie aufsah, merkte sie, dass Joey sie seltsam musterte. „Du bist echt’n cooles Mädchen.“ sagte er plötzlich mit einer ungewöhnlichen Ernsthaftigkeit. Mana spürte, wie sie rot anlief. Hastig wandte sie sich ab und rutschte näher an eine halb zerfallene Wand heran. „Wir ... wir sollten schlafen“, murmelte sie. „Wir müssen morgen sehr früh aufbrechen.“ Joey schien etwas sagen zu wollen, doch dann lächelte er leicht und nickte wortlos. Wenig später schlief er bereits. Nur Mana lag noch lange wach und versuchte ihr klopfendes Herz zu beruhigen, das wie ein Sturm in ihrer Brust tobte. ~oOo~ Nachdenklich fuhr Yugi über das weiche Fell Schesemtets, die wie ein überdimensionierter Bettvorleger neben ihm im Gras lag und schnurrte. Seit dem späten Nachmittag summte der Palast vor Aufregung wie ein Bienenstock. Yugi hatte bisher noch nicht herausfinden können, was geschehen war. Weder Mentu, noch Ishizu waren ihm über den Weg gelaufen und der Pharao – nun, Yugi hielt sich nicht mit dem Wunschdenken auf, dass er noch einmal mit Pharao Atemu sprechen konnte, geschweige denn, dass er sich sicher war mit ihm überhaupt noch ein Wort wechseln zu wollen. Yugi kaute abwesend auf seiner Unterlippe und entschied sich dann dafür, doch noch einmal nach Mentu zu suchen. Irgendetwas ging vor sich und er musste einfach wissen, was es war. Mit einer entschlossenen Bewegung stand Yugi auf und ließ seinen Blick über die Schreibutensilien schweifen, die er in den letzten Stunden in einem großzügigen Radius um sich verteilt hatte. Zum Glück war alles noch da, auch wenn der Wind den Papyrus schon ein ganzes Stück weit weg geweht hatte. Mit einem Seufzen lief Yugi los, um die Schriftrolle einzufangen und bückte sich auf dem Weg dorthin kurz nach einer Schreibbinse. Als er sich wieder aufrichtete, fand er die Papyrusrolle in den Händen des Pharao wieder, der sie scheinbar aufmerksam studierte. Yugi schrak vor Überraschung so heftig zusammen, dass ihm die Binse wieder aus den Händen fiel. „Hast du das geschrieben?“, fragte der Pharao knapp. Yugi nickte fast unmerklich und widerstand dem Drang, vor Atemu zurückzuweichen. „Das sind nur ... Übungen. Eine Eurer Hohepriesterinnen war so nett, mir das Schreiben ein wenig beizubringen.“ Atemus Augen verengten sich fragend. „Ishizu?“ Er schwieg kurz und sah wieder auf die hieratischen Schriftzeichen hinab. „Es ist überraschend gut geschrieben“, bemerkte er nach einer Weile ruhig, streckte Yugi den Papyrus entgegen und deutete auf ein Wort. „Achte nur hier besser auf die Querstriche. Hier ist unklar, ob es sich um zwei Wörter handelt, oder nur um eines, was eine ganz andere Bedeutung ergeben würde.“ Yugi schwieg irritiert. Nach all dem, was geschehen war, empfand er Atemus belanglose Reden äußerst fehl am Platz. Stumm nahm er die Papyrusrolle entgegen und beschäftigte sich eine unangenehm lange Zeit damit, seine Schreibutensilien zusammenzusammeln. „Es ist seltsam“, bemerkte Atemu plötzlich und sah zu der Löwin hinüber, die sich träge erhoben und zu Yugi aufgeschlossen hatte. „Schesemtet ist Fremden gegenüber für gewöhnlich eher zurückhaltend.“ „Ah“, machte Yugi und verstummte wieder. Das Schweigen wurde länger und unangenehmer. Trotz Atemus Selbstbeherrschung konnte Yugi erkennen, dass der Pharao unruhig wurde. Doch diesmal hatte Yugi nicht die Kraft, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Er war zu müde von dem ständigen Auf und Ab. „Es wird dich interessieren, dass Djedefre heute Morgen aus Theben verwiesen wurde.“ Yugi sah auf, als der Pharao das Schweigen endlich brach. Atemu hatte den Blick abgewandt, es schien fast, als wollte er einen Blickkontakt mit Yugi vermeiden. „Verwiesen?“, fragte Yugi emotionslos und sah zu, wie sich die feinen Lippen des Pharao kurz zusammenpressten. „Er wird nicht hingerichtet?“ „Nein.“ Langsam wandte Atemu sich wieder um, doch sein Blick schien durch Yugi hindurch zu gehen. „Das Exil ist Strafe genug.“ Yugi legte den Kopf schief. „Für ihn? Oder für Euch?“ Atemu fuhr zusammen, doch bevor er antworten konnte, sprach Yugi schon weiter. „Was war die Grundlage dieses Urteils? Euer Mitgefühl? Oder Fluchtinstinkt?“ Die Selbstsicherheit des Pharaos bröckelte. Zum ersten Mal bekam Yugi das Gefühl, die Oberhand zu gewinnen. Es überraschte ihn, wie sehr er diesen Umstand genoss. „Es gibt ein Sprichwort in meinem Land.“, fügte Yugi langsam hinzu und verlagerte die Schriftrolle von der rechten in die linke Hand. „Wenn es Götter gibt, die uns wegwerfen, gibt es auch Götter, die uns retten.“ Er verschränkte die Arme und fixierte Atemu mit einem offenen, kühlen Blick. „Erstere habe ich hier zur Genüge gesehen. Aber gibt es auch die anderen?“ Die Wangen des Pharao wurden blass, doch er hielt verbissen die Farce der Selbstbeherrschung aufrecht. Er antwortete nicht und Yugi unterdrückte ein resigniertes Schnauben. „Ich werde Euch nun besser in Ruhe lassen, Pharao“, schloss er müde. „Das kommt Euch sehr entgegen, schätze ich.“ Damit verneigte er sich so höflich, wie er es bei den Dienern gesehen hatte, wandte sich um und trat auf den Palast zu. „In wenigen Tagen werde ich mein Heer in die entscheidende Schlacht führen.“ Atemu sprach, als Yugi gerade durch die Tür ins Innere treten wollte. Yugi erstarrte mitten im Schritt. Es dauerte eine Weile, bis er sich umwenden konnte, seine Muskeln gehorchten ihm nur schwer. „W-Was…?“, fragte er heiser. Atemu wandte den Kopf und sah Yugi direkt in die Augen. „Ich habe heute Befehl gegeben, die letzten verbliebenen Soldaten einzuberufen. Ich breche nach Memphis auf, sobald das Heer ausgerüstet ist.“ Er setzte sich in Bewegung und lief an Yugi vorbei, nur um einen Schritt später inne zu halten. Er wandte sich nicht um, als er sprach. „Ich habe auch die Anweisung erteilt, dich frei zu lassen, falls ich falle. Ein Medjay wird dich aus dem Palast bringen und es steht dir dann frei zu gehen, wohin du möchtest. Du wirst nicht behelligt werden.“ Nach diesen Worten verschwand er im Palast. Yugi blieb fassungslos zurück, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Er hatte verstanden, was Atemu gesagt hatte, aber er weigerte sich, es zu begreifen. Die vergangenen Minuten zogen wie ein Film an seinen Augen vorbei und er begriff plötzlich. Der banale Gesprächsbeginn, das lange Zögern, das Vermeiden von Blickkontakt – Atemu hatte all die Zeit versucht, sich zu verabschieden. Yugi lief es so kalt den Rücken hinab, dass er schauderte. Was hatte er getan? Er war so damit beschäftigt gewesen, seinen Frust rauszulassen, dass er den Pharao darüber hinaus völlig übersehen hatte. Abschied. Das Wort klang so bitter in seinen Gedanken. Wie es für Atemu sein musste, zu wissen, dass er vielleicht nie wieder zurückkehren würde? Yugi fluchte gepresst und drückte die Schriftrolle so fest an sich, dass sie knisterte. Er musste den Aufbruch irgendwie verhindern. Oder wenigstens verzögern. Joey und Mana waren noch immer nicht zurück, und er selbst hatte bisher nichts erreicht, außer einer vollständigen Eskalation der Situation. Nur, wie sollte er das anstellen? Wie sollte er allein ein ganzes Heer aufhalten? Das war Wahnsinn! Aus den Augenwinkeln sah er, dass Schesemtet sich aufgerichtet hatte. Die Löwin saß hoch aufgerichtet da und starrte ihn durchdringend an. Ihr Blick war so warm und tröstend, dass der wirre Gedankenstrom hinter Yugis Stirn verebbte. Er atmete tief ein und nickte dem Tier schließlich in stummem Verständnis zu, ehe er sich umwandte und gefasst in den Palast lief. Er musste auf Zeit spielen, bis Mana und Joey zurückkehrten. Atemu zuliebe, selbst wenn dieser nichts davon wissen durfte.       ~oOo~ „Hopp Hopp, aufgestanden und ab dafür!“ Mana stöhnte leise. Sie fand Joey sympathisch, keine Frage. Aber wenn er weiterhin morgens so gute Laune hatte, würde sie ihn auf dem Weg einfach mal irgendwo verlieren. Sie hatte in dieser Nacht sehr unruhig geschlafen und wollte sich einfach nur umdrehen und noch ein Stündchen dösen. Aber Joey war unerbittlich. „Na los! Wer morgens zerknittert aufsteht, hat am Tag die besten Entfaltungsmöglichkeiten!“ „Am frühen Morgen bist du so lustig wie eine Brennnessel“, murrte Mana und angelte mürrisch nach ein paar Stücken harten Brotes. Als sie sich mürrisch aufgerappelt hatte und ihre Schuhe überstreifen wollte, stockte sie. „Wir müssen uns irgendwie neue Schuhe besorgen“, murmelte sie, ohne Joey dabei anzusehen. „Unsere fallen schon auseinander und wir haben noch einen weiten Weg von uns.“ Joey schwieg, doch dann nickte er und versteckte seine blonden Strähnen unter dem dichten Leinentuch. „Na dann“, sagte er ruhig und trat in die Morgensonne hinaus. Abydos erwachte zum Leben. Nicht langsam und gemütlich, so wie Mana es aus dem Königshaus in Theben kannte. Abdydos explodierte regelrecht. Innerhalb kurzer Zeit waren die Straßen gefüllt mit hunderten von Pilgern, die sich auf die vielen Tempel der Nekropole zuschoben. Mana wühlte sich ächzend durch den Strom, während sie gleichzeitig versuchte, Joey in Richtung eines Marktplatzes zu leiten. „Alter...“, hörte sie Joey hinter sich schnaufen. „Gibt’s hier eine Segnung gratis, oder was geht ab?“ Mana öffnete schon den Mund um etwas zu sagen, entschied sich dann aber dafür ihren Atem zu sparen. Stattdessen quetschte sie sich an einem dicklichen Ägypter vorbei und seufzte erleichtert auf, als sich die enge Gasse endlich zu einem großen Platz erweiterte. „Wir sind da“, bemerkte sie und deutete unauffällig auf die vielen Karren und Stände, die den Platz säumten. „Bleib hier, ich werde sehen, ob ich Schuhe finde. Das ... das musst du nicht machen. Wir treffen uns dann in der Gasse dort drüben.“ Sie errötete leicht und wandte sich hastig um. Sie wollte nicht, dass die Diebstähle allein an Joey hingen. Er tat so viel für Yugi, Atemu ... und auch für sie. Vorsichtig sah sie über ihre Schulter zurück und musterte den hochgewachsenen jungen Mann, der mit verschränkten Armen im Schatten eines Lehmhauses lehnte. Wie es wohl wäre, wenn er für immer in Ägypten bliebe? Hier, an ihrer Seite? Ein leises Lächeln flog über ihre Lippen und sie schüttelte hastig den Kopf, als sie es bemerkte. Schnell schob sie die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Händler. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie auf einen Karren zulief, auf dem verschiedenste Leinenstoffe, einfache Tuniken und  Sandalen aus Rietgras bunt gewürfelt durcheinander lagen. Der Händler selbst war im Gespräch mit mehreren Kundinnen vertieft und schien Mana nicht zu bemerken. Das Magiermädchen versuchte eine kleine Feuerkugel zwischen ihren Fingerspitzen zu erschaffen. Sie benötigte drei Anläufe dafür, aber schließlich war das Feuer stark genug, dass sie es in einen leeren Korb schnippen konnte, der verlassen an der Straße stand. Der Brand war nicht gefährlich, aber er schuf genug Ablenkung, dass Mana mit bebenden Fingern in den Schuhen wühlen und zwei Paar davon unter ihrer Tunika verschwinden lassen konnte. Als sie sich auf den Rückweg machte, hätte sie schwören können, dass die Augen aller Anwesenden an ihr klebten. Nach wenigen Schritten war sie schweißgebadet, doch sie kam aller Angst zum Trotz unbehelligt in der kleinen Gasse an, die sie als Treffpunkt mit Joey bestimmt hatte. Erleichtert lehnte sie sich an die Wand und stieß die Luft aus, die sie krampfhaft angehalten hatte. Als sie Schritte hörte, lächelte sie und sah auf. Doch es war nicht Joey, der ihr gefolgt war. Mana sackte das Blut so schnell aus den Wangen, dass ihr schwindelig wurde. Vor ihr stand ein massiger, etwas älterer Nubier, über dessen Kinn sich eine gezackte Narbe zog. Mana öffnete den Mund, aber schaffte es nur einen entsetzten Laut von sich zu geben. „Ich frage mich…“, bemerkte der Nubier gedehnt. „Wie die Hohepriester in Theben reagieren würden, wenn sie wüssten, dass eine ihrer Schülerinnen stiehlt.“ Wie unter unsichtbaren Schlägen taumelte Mana zurück, während der Söldner einen weiteren Schritt auf sie zutrat. Auf seinem breiten Gesicht schien ein fast trauriger Ausdruck zu liegen. „Kommt, Jungpriesterin“, sagte er ruhig, während er nach Manas Handgelenk griff. „Der kleine Ausflug ist vorbei. Hohepriester Seto erwartet Eure Rückkehr.“ Einen kurzen Moment flammte in Mana der unerschütterliche Wille zu kämpfen auf, doch der Ausbruch war so schnell vergangen, wie er gekommen war. Geschlagen senkte sie den Kopf und schloss die Augen. „Ey, Opa!“ Manas Herz setzte eine Sekunde aus, als Joeys trockene Stimme durch die Gasse zischte. Gelangweilt wirkend schlenderte er näher, mit einem Fuß kickte er kleine Steinchen vor sich her. Der Nubier an ihrer Seite musterte sein Gegenüber eindringlich und seufzte. „Du bist also der andere Flüchtige. Mir wurde schon gesagt, dass man dich am losen Mundwerk erkennt.“ „Schön. Dann haben wir die Vorstellungsrunde auch schon hinter uns.“ Joey blieb vor dem Söldner stehen und schnalzte mit der Zunge. „Und jetzt gebe ich dir einen Rat, alter Knacker. Nimm deine Flossen von Mana und zwar Pronto.“ Der Ausdruck auf dem Gesicht des Nubiers schwankte zwischen Ärger und Belustigung. „Jetzt verstehe ich auch, warum Hohepriester Seto keine Beschreibung von dir mitgegeben hat, sondern nur sagte, man würde dich erkennen, sobald du den Mund aufmachst.“ Er lachte rau und schüttelte dann den Kopf. „Dein Mut in allen Ehren, Junge, aber sei nun vernünftig. Was willst du jetzt noch ausrichten können?“ Joey schien tatsächlich zu überlegen. Mit einem entrückten Blick neigte er sich vor, strich sich durch das blonde Haar und rammte dem Nubier mit einem beiläufigen „Das.“ seine Faust mit aller Wucht ins Gesicht. Das Geräusch der brechenden Nase trieb Mana eine Gänsehaut über den Nacken. Der Nubier wankte. Seine Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiß der Augäpfel zurückblieb und plötzlich sackte der massige Leib des Söldners zu Boden. Jemand schrie. Eine Hand legte sich auf Manas Schulter. Ihr Blick zuckte nach oben, traf auf Joeys und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie es war, die schrie. Sie sah, wie sich Joeys Lippen bewegten, aber sie verstand kein Wort. Die Hand löste sich von ihrer Schulter, umschloss ihr Handgelenk und riss sie mit sich. Mana stolperte mehr als dass sie lief. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung war und entkam den zupackenden Händen der Stadtwache nur im letzten Moment. Sie machte sich von Joey los, schlug einen Haken und schrie erneut, als eine weitere Wache nach ihr griff. Manas Lunge brannte. Mit einem verzweifelten Hechtsprung rettete sie sich über einen Marktkarren und schlug mit der Schulter in eine nahe Hauswand ein. Sie keuchte, presste eine Hand gegen die schmerzende Stelle und rannte weiter. Ihr Blickfeld schrumpfte. Panisch stürzte sie um eine Ecke – und sah plötzlich drei schwerbewaffnete Wachen auf sich zu eilen. Ein schriller Laut brach aus ihrer Kehle, heiser und rau. Plötzlich fühlte sie sich gepackt und mitgerissen. Sie versuchte sich loszumachen, erkannte aber im letzten Moment, dass es Joey war. Mit einem erstickten Laut biss sie sich auf die Lippen, versuchte das Pochen hinter ihrer Stirn zu ignorieren und rannte. Sie rannten, bis Abydos weit hinter ihnen lag. Manas Beine knickten ein. Sie schlug schwer auf dem Boden auf und rang krampfhaft nach Luft. Neben ihr brach Joey in die Knie, sein rasselnder Atem ging hektisch. „Was … war das … für ein … Lappen?“, presste er hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Sin..uhe“, antwortete Mana keuchend. „Du … du hast einen von Setos … berüchtigtsten Söldnern… geschlagen…“ Joey zuckte mit den Schultern. „Von wegen… berüchtigt. Ist auch nur … umgefallen wie ein … Sack Reis.“ „Joey, du-“ Mana unterbrach sich, als ein irres Kichern ihre Kehle hinaufkroch. Ihre Gesichtszüge verzerrten sich, als das schrille Lachen über ihre bebenden Lippen brach. Sie wollte aufhören, kämpfte verzweifelt dagegen an, lachte doch immer lauter und schriller, bis sie irgendwann verzweifelt um Atem kämpfend zusammenbrach. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder klar denken konnte. Nach und nach lichtete sich der Schleier über ihrem Bewusstsein und sie nahm ihre Umgebung wieder wahr. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Joey sie fest in den Armen hielt. Wie lang tat er das schon? Hatte er sie während ihrer gesamten Panikattacke gehalten? Mana klammerte sich zittrig an seiner Tunika fest, ehe sie langsam den Kopf hob. In Joeys braunen Augen lag ein Ausdruck den sie nicht deuten konnte, der ihr jedoch eine Gänsehaut über den Nacken jagte. „Joey“, begann Mana leise, „es tut mir so leid. Ich… war fast mein ganzes Leben nur im Palast, ich … kenne das Leben da draußen nicht mehr wirklich. Ich wollte dich bei dieser Reise begleiten und dir helfen, aber... aber alles was ich mache, bringt uns nur in Schwierigkeiten.“ „Ach quatsch nicht, Mädchen.“ „Ich meine es ernst! Ich bin so nutzlos! Ich bin…“ Die Worte erstickten, als Joey sich plötzlich vorlehnte und Manas Lippen mit den seinen verschloss. Trotz seiner forschen Art küsste er sie vorsichtig, fast schüchtern, als wäre er von seiner eigenen Courage überrascht worden. Seine Zungenspitze traf die ihre nur leicht und doch sandte diese Berührung warme Blitze durch Manas Körper. Sie schauderte und klammerte sich auf der Suche nach Halt an seiner Tunika fest. „Ich hab gesagt, du sollst nicht quatschen“, murmelte Joey verlegen, als er sich nach einem Moment von ihr löste. „Wir packen das, okay? Nicht ich. Wir.“ Mana verharrte wie erstarrt, unfähig zu greifen, was eben geschehen war. Plötzlich aber schlang sie die Arme um Joeys Nacken und vergrub ihr Gesicht an seiner Halsbeuge. Sie wusste nicht, wie lang sie so saßen. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, hingt nur in diesem einen Moment der Vertrautheit fest. Irgendwann aber bewegte Joey sich und schob sie sanft von sich. „Also ich weiß nicht wie’s dir geht“, bemerkte er, „aber ich habe jetzt richtig Lust dieser Seth-Pappnase in den Hintern zu treten.“ Er grinste breit, erhob sich und streckte seine Hand auffordernd nach Mana aus. „Na komm, weiter geht’s.“ Mana lächelte und ergriff seine Hand dankbar. Als er sie vom Boden hochzog, fiel ihr Blick auf die gestohlenen Sandalen, die neben ihr lagen und sie grinste verlegen. „Tja, wenn uns diese Reise schon den Kopf kostet, dann sind wenigstens unsere Füße ausgerüstet.“ Joey lachte, schlüpfte in das Schuhwerk und wandte sich um. „Los gehts! Immer der Nase nach!“ Während er mit weit ausgreifenden Schritten vorauslief, sah Mana noch einmal über ihre Schulter nach Abydos zurück. Selbst wenn sie heil nach Theben zurückkommen würden, so würde sie sich für den Diebstahl und den Angriff auf Sinuhe vor Seto verantworten müssen. Seltsamerweise machte ihr der Gedanke keine Angst mehr. Sie gehörte genau hier hin. Auf diese Reise, zusammen mit Joey. ~ oOo ~ Für einige Augenblicke versuchte Mahad einfach zu ignorieren, dass der neue Tag bereits begonnen hatte. Doch die Sonne schien so penetrant durch sein Fenster, dass er trotz seiner Müdigkeit aufgab und sich erhob. Er wusste nicht mehr, wieviel Schlaf er heute Nacht bekommen hatte, aber so wie er sich fühlte, durften es nicht mehr als drei oder vier Stunden gewesen sein. Vor einigen Jahren hätte ihm dieser Schlafmangel wohl weniger ausgemacht. Er wurde alt. Mahad seufzte und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Ein hartes Klopfen an seiner Tür ließ ihn aufhorchen und er runzelte die Stirn. So forsch klopfte für gewöhnlich nur Seto – falls er sich überhaupt mit so einer Nichtigkeit wie dem Anklopfen aufhielt. Irritiert trat Mahad auf die Tür zu und öffnete sie schwungvoll. „Was ist, Seto? Wolltest du nicht zu den Waffenschmieden und-“, er unterbrach sich, als ihm bewusst wurde, dass es nicht Seto war, der hier vor ihm stand. „Ishizu?“ Die Hohepriesterin zog die Luft ein. „Es ist also wahr…“, raunte sie leise und trat ein, indem sie Mahad einen Schritt zurückdrängte. Sie ließ die Tür hinter sich zufallen und musterte Mahad mit verschränkten Armen. Sie war blasser als sonst und schien aufgebracht zu sein, auch wenn sie offenkundig versuchte, sich zu beherrschen. „Wann wäre ich davon unterrichtet worden?“, fragte sie mit blitzenden Augen, nachdem Mahad keine Anstalten machte, einen Ton von sich zu geben. Der Hohepriester war völlig irritiert von ihrem forschen Eintreten. „Ich verstehe nicht…“ Ishizu schnaubte. „Der Krieg, Mahad. Wäre ich überhaupt davon informiert worden, dass unser Pharao Befehl zum Aufbruch gegeben hat, oder hätte ich es dann selbst gemerkt, wenn eines Morgens plötzlich alle verschwunden gewesen wären?“ Mahad fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Ich wollte es dir heute sagen.“ „Natürlich.“ „Ishizu, ich habe es selbst erst gestern zur Mittagszeit erfahren. Und wenn ich seitdem nicht mit Seto und Karim in Besprechungen festhing, war ich dazu verpflichtet Aufträge für den Pharao zu erledigen. Ich hatte einfach keine Zeit.“ Ishizu presste ihre feinen Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und schwieg. Mahad seufzte leise. „Ich weiß auch nicht, was in den Pharao gefahren ist. Er hat diese Entscheidung völlig allein getroffen, ohne Rücksprache mit mir oder den Senatoren zu halten. Er hat uns alle vor vollendete Tatsachen gestellt, was hätte ich denn tun sollen? Ihn mit kaltem Wasser übergießen, in der Hoffnung, dass er wieder zu sich kommt?“ Der angespannte Ausdruck auf Ishizus Zügen wurde feiner. Nach einer Weile des Schweigens seufzte sie und trat etwas näher. „Wer…“, fragte sie zögernd, „Wer soll … ihn begleiten? Den Pharao?“ Mahad wandte den Blick ab. „Karim wurde als Offizier der Infanterietruppen eingeteilt und Seto ist das Streitwagenkorps unterstellt worden.“ „Und … der Gardetrupp?“, fragte Ishizu so leise, dass es kaum zu hören war. „Wer … führt den Gardetrupp an?“ Es fiel Mahad schwer, den Blick zu heben. Ishizus Wangen waren unnatürlich bleich, selbst ihre Lippen hatten ihre Farbe verloren. Am meisten traf ihn jedoch das Blau ihrer Augen. Es war so hell, so durchsichtig, wie er es noch nie gesehen hatte. „Ich“, antwortete der Hohepriester ruhig. „Ich bin der Offizier der Garde.“ Ishizu zuckte zusammen, ihr Brustkorb hob und senkte sich unter schweren Atemzügen. „Nein“, warf sie Mahad entgegen. „Diese Entscheidung akzeptiere ich nicht.“ Mahad schüttelte den Kopf. „Sei vernünftig, Ishizu. Es ist eine große Ehre für mich, die Schutztruppe des Pharao in der Schlacht anzuführen. Wir sind Hohepriester. Es ist unsere Aufgabe unseren König zu schützen. Du, an meiner Stelle, würdest genauso handeln.“ „Ich weiß, aber … aber…“, Ishizu brach mitten im Satz ab und schlug eine Hand auf ihren Mund. Plötzlich stürzte sie nach vorne und schlang ihre Arme um Mahad, während sie ihr Gesicht an seiner Brust vergrub. „Erst Mana… jetzt du…“, flüsterte sie brüchig und Mahad konnte nicht anders, als sie fest in seine Arme zu schließen. „Es wird nichts geschehen“, raunte er. „Wir werden alle wohlbehalten zurückkehren.“ Dann schob er die Hohepriesterin sanft von sich und lächelte. „Ich muss zu den Medjay, Ishizu. Ich habe viel vorzubereiten.“ Nach einem kurzen Moment des Zögerns hob er eine Hand und strich ihr zart über die Wange. „Es wird alles gut werden“, sprach er leise. „Das verspreche ich dir.“ Schließlich wandte er sich um und verließ seine Unterkunft. Er hatte geschworen seinem Pharao zu folgen, wo immer dieser auch hingehen würde. Doch heute musste Mahad sich eingestehen, dass ihm dieser Weg unendlich schwer fiel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)