Blue Birds von Flordelis ================================================================================ Der Vogel --------- Der Käfig ruhte auf der Veranda. Für eine ganze Weile stand Murphy auf der Stufe, die zur Veranda dieses heruntergekommenen Hauses hinaufführte und blickte nur auf den Käfig. Es gab nichts Außergewöhnliches daran, nur dünne Metallstäbe, die zu einem runden Gitterhaus geformt waren, wie man sie zu Tausenden in entsprechenden Läden kaufen konnte. Das, was Murphy daran so faszinierte, war auch eher, was sich im Inneren befand. Mit schwarzen Augen blickte der Vogel, den Kopf zur Seite geneigt, ihn neugierig an. Das blaue Gefieder wirkte gepflegt, was dafür sprach, dass er noch nicht lange den Elementen ausgesetzt war. Aber in seinem viel zu kleinen Käfig gab es weder Wasser noch Futter. Murphy blinzelte. Der Vogel ahmte ihm nach. Das Zwitschern hatte ihn zu diesem Käfig geführt, ein vollkommen normaler Ton, der in dieser Stadt fehlplatziert wirkte. Deswegen hatte er instinktiv erst sicherstellen wollen, dass es wirklich nur ein normaler Vogel war. Inzwischen schwieg dieser, als könne er selbst nicht glauben, einen Menschen in dieser Stadt zu sehen. So verlassen und heruntergekommen wie alles aussah, konnte Murphy die Verwunderung des Vogels verstehen. Kaum hatte er sichergestellt, dass es sich hierbei nicht um ein Monster handelte, das versuchen würde, ihm die Augen auszukratzen oder ihm den Schädel einzuschlagen, ging er näher. Das brachte den Vogel dazu, aufgeregt auf seiner einzigen Stange zu hüpfen. Dabei ließ er Murphy kein einziges Mal aus den Augen, scheinbar jederzeit bereit, erneut loszuzwitschern, sollte dieser sich wieder entfernen. „Armer kleiner Kerl ...“, murmelte Murphy. Mit geschickten Fingern machte er sich daran, den Käfig zu öffnen. Früher hatte er kein Problem darin gesehen, Vögel in Käfige zu sperren. Im Inneren waren sie immerhin sicher, vor allem, was sie zu bedrohen versuchte. Ihr Besitzer kümmerte sich um sie, gab ihnen Wasser und Nahrung, und im Austausch erhielt dieser nur ein Lied. Der Vogel gab aus Dank das einzige, was er besaß, das hatte Murphy früher geglaubt. Inzwischen wusste er es besser. Vögel sangen nicht aus Dankbarkeit, sie beklagten ihre fehlende Freiheit, weil ein Mensch es sich herausnahm, ihnen den Himmel zu stehlen. Ein Mensch, der sich, zu allem Übel, auch noch an ihrem Wehklagen ergötzte. Vielleicht war das Gefieder dieses Vogels deswegen blau, vielleicht hatte er versucht, seiner Trauer auf diesem Weg Ausdruck zu verleihen. Oder er hatte keine andere Möglichkeit gesehen, um seinem Besitzer zu zeigen, dass er den Himmel vermisste. Als die Käfigtür offen war, blickte der Vogel erst einmal misstrauisch auf das von den Gitterstäben befreite Quadrat. Fast sah es aus, als erwarte er jeden Moment, dass Murphy den Käfig wieder verschloss, doch er trat sogar noch einen Schritt zurück. Zaghaft hüpfte der Vogel dann auf die dünnen Stäbe des Konstrukts und verließ erstmals seit, wer weiß wie lange, die einzige Stange im Inneren. Es schien Murphy, dass der Vogel tief einatmete, die ungesiebte Luft regelrecht genoss. Dann erinnerte er sich wohl, dass er fliegen konnte. Er flatterte mit den Flügeln, wagte einen Sprung ins Nichts – und im nächsten Moment flog er auch schon zwitschernd davon. Murphy sah ihm hinterher, ein blauer Klecks vor einem grauen Himmel, der immer mehr verschwamm, bis er nicht mehr zu sehen war. Er wollte glauben, dass der Vogel sich bei ihm bedankt, dass er einen Jubelschrei ausgestoßen hatte, da er nun endlich zu seinem lang vermissten Himmel zurückkehren konnte, dass er die Gitterstäbe nie wieder sehen musste. Murphy sah wieder auf den leeren, nun nutzlos gewordenen Käfig. Durch diesen Umstand wirkte er nicht mehr so unpassend in dieser Stadt, in der alles einer inneren Logik zu folgen schien, die sich Murphy noch nicht erschloss, und die er eigentlich auch gar nicht durchschauen wollte. Viel wichtiger war ihm, dass er es dem Vogel gleichtat und zu entkommen versuchte. Aber dabei beschäftigte ihn eine Frage in seinem Inneren, die ihn gepackt hatte und nicht mehr loslassen wollte, trotz seines Fluchtwunsches: Gibt es hier noch andere Vögel? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)