Night of Loneliness von Lunatik ((Tendershipping)) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- "Es ist ein Geisterhaus!" Ryou zog nur eine Augenbraue hoch bei dem Ausruf. Es blieb ihm ein Rätsel wie Studenten, die alle schon Mitte zwanzig waren, noch an so etwas glauben konnten. Dabei waren sie, wie er auch, schon über ihren Bachelor hinaus - die Zeit, in der man noch ausgelassen sein Leben genießen konnte. Die einzige Zeit, wo man es konnte, wie Ryou es langsam während seines Studiums klar geworden war. Und die Zeit war nun hinter ihnen. Sie waren alle im letzten Jahr ihres Masters in Wirtschaftswissenschaften. Doch im Moment saßen sie in einer Bar und diskutierten über Hokuspokus. "Es hat mal zu einem Tempel gehört, aber der wurde niedergebrannt", erzählte einer seiner Kommilitonen. Tama, einer der wenigen, der immer noch darauf bestand seine Haare blond zu bleichen. Und an Geistergeschichten zu glauben. Innerlich seufzte Ryou, doch kein Laut entwich seinen Lippen und sein Gesichtsausdruck zeigte ein höfliches Interesse. Er hatte während seiner Schulzeit schon gelernt, dass es manchmal besser war die Stimme der Vernunft nicht zu äußern und zu Menschen zu halten. Diese drei, die gerade mit ihm um einen Tisch saßen und Drinks mit einem Hauch von Alkohol drin tranken, hatten ihm sein Studium viel einfacher und angenehmer gemacht. Allein schon weil sie eine wundervolle Lerngruppe zusammen bildeten. "Und vor ein paar Jahren hat es ein reicher Ausländer gekauft. Das Dorf hatte gehofft, dass es restauriert werden würde. Aber der Ausländer ist nie aufgetaucht. Das Land und das Haus gehören ihm zwar und das Geld hat das Dorf bestimmt schon ausgegeben, aber das Haus ist so wie es immer war." Yuri, das einzige Mädchen in ihrer Gruppe, schüttelte den Kopf. "Das ist eine Verschwendung." Ryou stimmte ihr in der Privatsphäre seines Kopfes zu. Tama schüttelte jedoch heftig den Kopf und blonde Strähnen flogen ihm ins Gesicht. "Darum geht es doch gar nicht! Die Leute erzählen sich, dass er vom Haus verschluckt wurde! Da wohnt ein Geist drin! Und immer wieder verschlingt er Menschen, die ihm zu nahe kommen." Am Ende seiner Rede machte er große Augen und hob seine Arme in einer Geste, die wohl gruselig sein sollte und ließ sie in einer langsamen Bewegung auf Yuji zukommen, der schweigend das Spektakel beobachtete. In Yuji erkannte Ryou manchmal eine verwandte Seele. Der junge Mann war schweigsam und bedachte seine Umgebung immer mit wachsamen Augen. Yuri haute mit ihren langen Finger auf Tamas linken Arm und begann zu lachen. "Das ist ein Zombie und kein Geist!" Als ihr Lachen schwand, blieb immer noch ein breites Grinsen zurück. "Entscheide dich nun, ist es ein böses Haus oder lebt da nur ein böser Geist?", fragte sie amüsiert. Ryou merkte, wie er dem Gespräch nur noch halbherzig folgte. Seine Gedanken kreisten um den Begriff Geist. Es gab keine Geister, das wusste er bestimmt. Zumindest nicht wirklich. Nicht so wie sich die Menschen hier Rachegeister oder Fuchsgeister vorstellten. Er hatte lange gesucht, eher er seine Hoffnungen aufgegeben hatte. Er wusste auch, dass allein diese Hoffnung zu haben falsch war. Doch es hatte mal einen Geist in seinem Leben gegeben. Einen bitteren, kalkulierenden, emotionslosen Geist. Ryou schloss seine Augen, um sich den aufsteigenden Erinnerungen hinzugeben. Es war selten, dass er sich erlaubte das Gefühl zu genießen, wie es war seinen Körper mit einer anderen Seele zu teilen. Wie es war eine Stimme in seinem Hinterkopf flüstern zu hören, die nicht seine eigene war. Er hörte diese Stimme beizeiten immer noch, doch nun wusste er mit Sicherheit, dass sie nur seine eigenen Gedanken wiedergab. "Dann lasst uns einfach hinfahren." Der Satz riss Ryou aus seiner inneren Welt zurück in die Realität. Die Worte allein hätten dies nicht geschafft, denn Tama kam gerne auf solche Ideen. Doch diesmal war es Yujis Stimme gewesen. Verwundert richtete Ryou seinen Blick auf diesen und fokussierte seine Augen wieder, um Yuji genauer zu betrachten. Was hätte bloß in der Welt ihn dazu bewegen können solch einen Schwachsinn vorzuschlagen? Es war wohl nicht nur sein Gedanken. Eine Stille legte sich um den Tisch. Man konnte das Gelächter am Nebentisch, der nur durch eine dünne Papierwand von Ihnen getrennt war, hören. Ryou hörte auch genau die Schritte des Kellners, der näher kam. Das Klirren der Gläser, als sie auf den Tisch gestellt wurden und das Eis in ihnen bei der Bewegung an die Ränder stieß, hallte in seinen Gedanken wieder. Yuji lächelte und brach damit die Anspannung. Es war fast spürbar, wie sie von den Schultern der Anwesenden wich. "Wisst ihr", erklärte Yuji in seiner ruhigen und weichen Stimme. "In zwei Monaten sind wir fertig und unsere Anstellungen sind sicher. Wir wissen, dass wir nicht einmal in der gleichen Stadt sein werden. Das ist wohl die letzte Chance etwas zusammen zu unternehmen. Und von Tama geplante Ausflüge sind wohl irgendwie zur Tradition geworden. Meint ihr nicht?" Ryou wandte seinen Blick ab und sah zu den anderen beiden am Tisch. Yuri lächelte und nickte, während Tama zu seinem Sonnenscheingemüt zurückkehrte. Auch Ryou nickte nachdenklich. In zwei Monaten würde die Zeit des heiteren Lebens vorbei sein. Es war als ob er ein Klavier hörte, der eine einzelne traurige Note spielte. Ryou hob den Kopf und schaute sich um. Doch natürlich war es nur in seinem Kopf. Es war ein Gefühl.   *** Er rannte. Von einer Dunkelheit in die nächste. Warum war nirgends Licht? Er rannte bis er merkte, dass sich seine Beine nicht bewegten. Er schaute runter und sah nur einen Umhang im matten Hellgrün. Als er wieder hochblickte war ein Monster vor ihm. Nein, kein Monster. Yugi im Aufzug des Schwarzen Magiers.     Ryou schlug die Augen auf und richtete sich keuchend auf. Nur ein Traum. Oder eine Erinnerung? – flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Ryou schüttelte den Kopf, um sie zu verbannen. Er sah auf das leere Bett neben ihm herab und spürte wie ein Stich sich durch sein Herz bohrte. Er stand von diesem auf und griff nach der Decke, die er wohl im Schlaf auf den Boden geworfen hatte. Verwundert hielt er mitten in der Bewegung inne. In seinem Bett war noch nie ein zweiter Körper gelegen. Warum sollte er ausgerechnet das jetzt vermissen? Fast lachend darüber, wie absurd seine Gefühle und Wünsche manchmal waren, nahm Ryou die Decke und krabbelte zurück auf das Bett, sie über sich ausbreitend. Nein. Sein Bett war schon immer leer. Aber sein Kopf nicht. Einst lebte da ein zweites Bewusstsein. Einst konnte er mit sich reden und jemand anderes antwortete. Einst konnte er sich ohne Furcht in die Dunkelheit flüchten und jemand anderes regelte die Ängste und die Feinde. Ryou umklammerte den Rand der Decke mit seinen Fingern. Er sah seine Knöchel noch weißer werden als seine Haut eh schon war. Vielleicht war das alles nicht wahr. Vielleicht hatte es diesen jemand nie gegeben. Ryou zog die Luft scharf ein und versuchte beim Ausatmen seine Hände zu entspannen. Doch sie hielten weiterhin am Stoff fest, wie ein Ertrinkender am Rettungsring. Wenn nur er die Erinnerungen gehabt hätte, hätte er daran glauben können, dass er krank war. Er hätte loslassen können. Vielleicht. Nein, hättest du nicht. Die gleiche Stimme flüsterte, die er früher so oft gehört hatte. Andere hatten diese Erinnerungen auch. Oder zumindest sehr ähnliche. Er hatte alles zu Massenwahn und Hypnose gelesen. Doch es passte nicht. Sie waren nicht alle krank. Und auch wenn es Jahre zurücklag und alles wie in einem fernen Traum schien. In einem Traum, der ihm manchmal wie ein Alptraum und manchmal wie das Paradies vorkam. So war es gewesen. Es hatte alles passiert. Und nun war er allein. Tränen rannen seine Wangen hinab und ein schluchzen entwich seiner Kehle. Wütend schmiss er die Decke zur Seite. Er hatte sich versprochen stark zu sein! Er hatte sich versprochen nicht an seiner Vergangenheit zu hängen. Er hatte sich versprochen nie jemanden wieder zu brauchen! Er zog die Knie an sich und legte seine Arme darum. Er war nicht stark. Er war allein.   Ryou erwachte von dem schrillen Geräusch des Weckers, der auf seinen Kopf einhämmerte wie ein Luftpresshammer. Oder wie ein Specht, der sich ein neues Loch in einen Baum bohrte. Direkt neben seinem Kopf. Oder noch besser, der Baum war sein Kopf. Murrend griff er mit einer zittrigen Hand zur Seite und drückte den Knopf, um das Biest auszuschalten. Sofort kehrte die Stille wieder ein und Ryou kuschelte sich genüsslich an sein Kissen. Doch es half nichts. Seine Kopfschmerzen hielten ihn beharrlich davon ab, zu seinem Traum von einer weißen Wüste zurückzukehren. Außerdem musste er aufstehen. In einer Viertelstunde musste er bei der Bahn sein – immerhin stand heute ihr vorerst letzter gemeinsamer Ausflug an. Seufzend ergab sich Ryou der Stimme der Vernunft und schauderte bei der Kühle seines Zimmers. Trotz der Winterzeit hatte die letzten Tage die Sonne viel geschienen und die Temperaturen waren langsam nach oben gekrochen. Deswegen hatte er die Heizung ausgelassen. Nun bereute er es mit einem weiteren Schaudern, als er seine Hände aneinander rieb und in dem Chaos eine Hose suchte. Sein Blick glitt zur Uhr und er stellte fest, dass von der Viertelstunde nur noch zehn Minuten übrig waren. Hastig rannte er zum Bad.   Draußen schien die Sonne und Ryou hatte das irritierende Gefühl, dass sie ihn anlächelte, als er zu den Gleisen rannte. Manchmal waren seine Gedanken einfach absurd. Seine Tasche in vier Minuten zu packen und dann in drei zur Haltestelle zu kommen war ein persönlicher Rekord und der Weißhaarige sprang in letzter Sekunde in den Zug, bevor die Türen schlossen. Zufrieden erlaubte Ryou sich ein Grinsen, bevor er sich einen Platz suchte. Die anderen würden erst später einsteigen, also suchte er ein fast leeres Abteil und setzte sich. Seine Tasche legte er auf den Sitz neben sich und holte sein Handy heraus, um die Nummer des Waggons seinen Kommilitonen zu schicken. Es dauerte nicht lange, bis Tamas aufgeweckte Stimme ihn aus seinem Halbschlaf riss. Der Weißhaarige bemerkte, dass er wohl eingeschlummert war. Wieder war er in der Wüste gewesen und hatte mit dem weißen Sand gespielt, der durch seine Finger rinn. Er hatte das Gefühl, dass der Traum viel länger gewesen war, doch zurück in seiner Erinnerung blieb nur der Sand. "Morgen!", schrie Tama viel zu laut als er sich gegenüber von Ryou setzte. Plumpste wäre der bessere Ausdruck, korrigierte Ryous Kopf ihn. Der Weißhaarige ignorierte den Blonden und nur an Yuri gewandt, die sich neben Tama setzte, sagte er ebenfalls ein weit leiseres "Morgen". Sie begrüßte ihn mit einem Kichern, während der Blonde eine Schnute zog. Ryou schüttelte nur den Kopf. Wie konnte man mit 25 noch so ein Kind sein? "Yuji steigt Nächste ein", informierte ihn Yuri wieder in ihrer nüchternen Stimme, nachdem sie ihren Kicheranfall überwunden hatte. Ryou nickte nur und nahm schon mal seine Tasche vom Sitz neben ihm. Dabei viel sein Blick auf die Tüte zu Tamas Füßen. Etwas Rundes zeichnete sich ab und oben schaute ein Pinsel heraus. "Was ist das?", fragte er mit der Hand Richtung der Tüte zeigend. "Für unsere Mutprobe." Ryou erstarrte. Er merkte selbst wir seine Gesichtszüge ihm wohl entglitten. "Hast du eigentlich gar nicht zugehört neulich?" Tama zog eine weitere Schnute, die sich aber gleich wieder verzog als er anfing die ‚Mutprobe‘ zu erläutern. "Es gibt einen Brauch um das Geisterhaus. Man schreibt mit Pinsel seinen Namen an die Wand und dann sucht sich der Geist jemanden von den Namen und holt ihn dann. Daraus ist halt eine Mutprobe geworden." Tama zuckte mit den Schultern. "Auf jeden Fall machen wir das auch! So können wir zumindest irgendwo unsere Namen zusammen verewigen." - in einem Geisterhaus? Ryou fing sich wieder, auch wenn ihm die Idee weiterhin nicht gefiel. Waren sie nicht langsam wirklich zu alt für so etwas? Oh, liegt es nur daran? Oder hast du Angst. Ryou ignorierte die Stimme. Manchmal war es einfach besser nicht darauf zu hören, was die eigenen Geister einem erzählten. "Was macht der Geist mit seinen Opfern?", fragte Yuri interessiert. Die Frage schien den Blonden aus dem Konzept zu werfen. "Äh...töten?", erwiderte er nach einigen Sekunden des Überlegens. "Das glaube ich nicht." Yuri blickte aus dem Fenster und in ihre Augen mischte sich ein verträumter Schimmer. "Vielleicht ist er nur einsam. Und er sucht sich ein hübsches Opfer und verbringt mit ihr seine Zeit." Ryou folgte ihrem Blick mit seinem und sah die vorbeirauschende Stadt. Der Zug wurde langsamer und er konnte die einzelnen Gebäude erkennen und die Schilder, die aus den Fenstern hingen, lesen. Anwaltskanzleien. Mietwohnungen. Videoverleihgeschäfte. Ob sein Geist wohl auch einsam war, wo auch immer er sein mochte? Tama lachte und Ryou blickte wieder zu ihm. "So ein Schwachsinn. Nur Frauen kommen auf solche Ideen!" Yuri stieß mit ihrem Ellbogen in Tamas Seite und Ryou spürte einen Phantomschmerz. Das sah schmerzhaft aus. "Es sind keine Leichen aufgetaucht. Und die letzte, die vor paar Monaten verschwunden ist, ist ein junges Mädchen gewesen, hast du erzählt. Und in der Gegend verschwinden immer wieder Frauen und Mädchen. Es ist logisch! Und hat nichts mit Frau sein zu tun." Ryou lachte leise. Die Frauen und Mädchen verschwanden wahrscheinlich entweder weil sie ihr Leben satt hatten und in die Großstadt flüchtete, oder weil sie von der Yakuza an Bordelle verkauft wurden. Das passierte oft in ländlichen Gegenden. Das wäre logisch gewesen. Doch so zu denken stimmte einen traurig und wozu die Stimmung vermiesen, wenn man auch Geistergeschichten nachjagen konnte? Es war zum Weinen. Doch das wäre unangebracht gewesen und so lachte Ryou nur leise. "Siehst du, sogar Ryou lacht!" Yuji tauchte auf und dies rettete sowohl den Blonden als auch den Weißhaarigen vor einer weiteren Auseinandersetzung mit Yuri. Den Rest der Fahrt blickte Ryou aus dem Fenster und blendete das Gespräch aus. Er sah wie die Häuser immer weniger wurden und von Grün ersetzt wurden. Immer noch standen überall kleine Hütten. Einige Male sah er Kühe an ihnen vorbei rauschen. Danach kamen Reisfelder. Ryou mochte Landschaften. Früher hatte er in seiner Freizeit viel gezeichnet. Der Anblick von Natur hatte ihn immer beruhigt. Es war für ihn wie das Schlaflied einer umsorgenden Mutter, das er nie gehört hatte. Doch jetzt spürte er nur ein ziehendes etwas in seiner Brust. Er musste zweimal schlucken, um nicht den heißen Tränen, die sich in ihm hoch kämpften, freien Lauf zu lassen. Er sehnte sich.   Die Sonne war schon untergegangen, als sie das Haus erreichten. Sie hatten beschlossen, dass es nur dann eine Mutprobe war, wenn sie auch im Dunkeln hingingen. Tama hatte zu Anfang darauf bestanden um Mitternacht zu gehen, doch das nahm niemand ernst. Und so hatten sie einfach gewartet bis die Sonne untergegangen war, was um diese Jahreszeit früh und schnell passierte. Ryou verabschiedete stumm die letzten Lichtstrahlen mit einem Blick, als die vier jungen Menschen das Ramenlokal verließen. Sie hatten sich alle eine ausgiebige Mahlzeit gegönnt. Vor allem nachdem eine alte Dame ihnen freundlich von diesem "Geheimtipp" am Bahnhof erzählt hatte. Nun standen sie am Ende eines Weges, der eine halbe Stunde vom letzten Haus des Dorfes war. Das Haus selbst war alt und sah heruntergekommen aus. Es hatte zwei Stockwerke und die Fenster waren mit Brettern zu gehämmert. Es war komplett aus Holz gebaut und große Schiebetüren - längst eingerissen an unendlich vielen Stellen - markierten den Eingang. Dahinter konnte man nichts als Schatten erkennen. Trotz der vielen Löcher und Risse, hätte keiner der Vier sagen können, was hinter den Türen lag. An den Seiten des Hauses ragten hohe Eckpfeiler und auf jedem sah man Gravuren. Als sie näher kamen, richtete Ryou seine Taschenlampe darauf und erkannte diese als Wölfe, die den Mond anheulten. Ryous Herz sank für einen kurzen Augenblick in den Boden und fing dann an schneller zu schlagen. Ryou legte seine Hand darüber und atmete tief durch. Hatte er Angst? Wovor? Die anderen gingen direkt auf das Haus zu. Ihr Gespräch war einige Meter vor dem Eingang erstorben. Nun blickten sie alle empor und richteten ihre Taschenlampen auf das Gebäude. Wie kann es überhaupt noch stehen? kam Ryou der Gedanke. Das Holz sah morsch aus und an einigen Stellen konnte er Moos erkennen. An einer der seitlichen Wände kletterten grüne Ranken empor und umschlossen langsam das Haus. Es würde bestimmt noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, dauern bis sie das ganze Haus verschlungen haben. Ryou schüttelte seinen Kopf. Es war nur ein altes Haus. Etwas knackte rechts von ihm. Jemand schrie auf und vier Lichter richteten sich auf die Stelle. Ryou atmete noch einmal tief ein und ließ die Luft mit einem leisen Geräusch entweichen. Da war nichts. "Muss nur ein Tier gewesen sein", hörte er Tama erklären. Ryou ließ das Licht der Taschenlampe die Gegend abwandern. Da war ein Brunnen. "Hast du was entdeckt?" Tama kam zu ihm herüber und leuchtete ebenfalls in die Richtung. Neben dem Brunnen war eine Statue. Gemeißelt aus dunklem Stein. Oder scheint es nur dunkel, weil Nacht ist? Eine Kapuzengestalt mit Löchern statt Augen und einer Sense in der Hand. "Sensenmann der Karten“, flüsterte Ryou unwillkürlich. Ein Gefühl breitete sich in ihm aus. Ein Kribbeln in den Fingern, das über seine Hände und Arme weiter nach oben wanderte, eine Gänsehaut hinterlassend. "Huch. Ist das nicht eine Duel Monsters Karte? Hast du mal gespielt?" Ryou hatte Tamas Anwesenheit ganz vergessen, doch nun riss die Stimme ihn aus seinen Gedanken. Welche Gedanken? fragte die Stimme sarkastisch nach. Ryou zwang sich von der Statue Weg, um zu Tama neben ihm zu schauen. Der Blonde sah ihn erwartungsvoll an. "Das ist lange her", gestand Ryou schließlich ein. "Man! Ich kenn dich jetzt seit vier Jahren und du hast nie was davon-" Yuri trat neben dem Blonden und legte eine Hand auf dessen Schulter, was ihn aufschreien und sich umdrehen ließ. Kichernd ignorierte sie die Wut ihres Kommilitonen, als er sie entdeckte. Ryou schüttelte nur den Kopf. Er spürte weiterhin wie das Kribbeln sich ausbreitete. Nun hatte es auch seine Beine und Füße erreicht. Er hatte das dringende Bedürfnis sich die Schuhe und Socken auszuziehen, um barfuß weiter zu laufen. Doch er unterdrückte den Impuls. "Was redet ihr hier eigentlich?" Sie sah zur Seite, wo Ryous Taschenlampe immer noch die Statue beleuchtete. Ryou folgte ihrem Blick. Etwas Warmes und Vertrautes legte sich um seine Brust wie eine schnurrende Katze. "Das ist der Tod. So, wie er im Westen dargestellt wird", meinte Yuri nur und drehte sich wieder zu dem Haus, auf dessen Veranda Yuji auf sie wartete. Ryou blickte wieder zu den Säulen mit den Wölfen und dann zum echten Mond am wolkenlosen Himmel. Langsam verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. Es war eine schöne Nacht.   "Also, hier ist die Farbe. Aber ich hab nur einen Pinsel. Also gehen wir rein und jeder schreibt nacheinander seinen Namen. Dann können wir uns noch umschauen und wieder gehen. Ok?" Alle nickten auf Tamas Erklärung hin. Ryou vernahm die Worte wie durch eine Nebelwand. Sie hörten sich komisch gedämpft an. Sein Herz raste immer schneller, als ob rennen würde. Doch das störte Ryou nicht. Er kannte dieses Gefühl. Aufregung. Yuji zog die linke Schiebetür zur Seite und sie gab mit einem knarzenden Geräusch nach. Ein Wind entwich dem Haus als ob es atmen würde. Ryou merkte wie Yuri neben ihm zu zittern begann. Er nahm es gelassen hin und ohne sich dessen bewusst zu sein, zog er seine Jacke aus und hielt sie ihr hin. Sie murmelte einen Dank und ging hinein. Vier Lichter, die ihre Taschenlampen warfen, wanderten den Innenraum ab, doch sie konnten trotzdem nicht viel erkennen. Draußen war es dank dem Mondschein noch hell gewesen. Doch drinnen musste man ganz nahe hingehen, um etwas zu sehen. Die Dunkelheit verschluckte alles. Ihre Taschenlampen waren nur wie Glühwürmchen in dem tiefen Wald. Irrlichter. Es war ein Gang. Direkt hinter der Tür stand ein kleines Podest mit einem Buch darauf. Gerade aus folgte eine Stufe. Während die anderen drei weiter gingen, blieb Ryou bei dem Podest stehen. Etwas lag darauf. Seine Finger glitten zu dem Objekt und er spürte raues Papier unter seinen Fingern. Er strich behutsam über das Pergament, während er es beleuchtete. Es war voll mit Zeichen und Hieroglyphen. "Hey, wir haben es gefunden!", rief Tama von weiter hinten. Als Ryou aufblickte und seine Taschenlampe in den Gang richtete, konnte er die drei Gestalten nur wenige Meter weiter erkennen. "Hier ist eine Wand voll mit Namen. Da schreiben wir jetzt unsere dazu." Eines der Lichter tanzte wie wild in der Gegend herum, während Ryou das Rascheln einer Tüte hörte. Er gesellte sich zu seinen Kommilitonen und beobachtete wie Tama mit seiner Taschenlampe im Mund - daher das heftige hin- und her flackern - aus der Tüte eine Dose Farbe und einen großen Pinsel holte. Yuri leuchtete die Dose an. "Warum schwarz?", fragte sie und Ryou konnte das Augenrollen aus ihrer Stimme heraushören. "Warum nicht gelb oder rosa? Das wäre bestimmt lustiger. Und auffallender." "Äh...aber schwarz gehört sich", Tama klang verwirrt. Doch unbeirrt öffnete er die Dose und stellte sie neben sich ab. Er tunkte den Pinsel hinein. "Ich schreibe zuerst."   Ryou stand da und zählte die Sekunden. Er wusste nicht bis wohin er zählte. Oder auf was er wartete. Er sah wie die anderen ihre Namen schrieben. Er sah wie Tama in den Nebenraum ging, dessen Tür nur einen halben Meter weiter war. Diese Schiebetür krächzte nicht einmal. Sie glitt fast völlig geräuschlos zur Seite. Er sah die Dunkelheit aus dem Raum kriechen, während Tama einfach hineinschritt. Er beobachtete wie Yuri vor der Treppe in das Obergeschoss stehen blieb, die am Ende des Ganges war. Sie suchte mit ihrer Taschenlampe die einzelnen Stufen ab. Er hatte bis 127 gezählt, als Yuji ihm den Pinsel in die Hand drückte. Ryou bedachte die Wand mit einem nachdenklichen Blick. Es standen schon viele Namen darauf. Er wanderte mit seiner Lampe bis ganz nach oben an die Decke, wo auch Namen geschrieben waren, und dann wieder hinab. Manche Namen waren über andere geschrieben. Die meisten in schwarz, doch manche auch in rot und blau. Bei manchen war die Farbe so verblasst, dass er hätte niemals sagen können, was die ursprüngliche Farbe mal gewesen war. Es waren so viele Namen. Bestimmt Hunderte. "Weißt du" - ungläubig riss Ryou seinen Blick von der Wand und richtete ihn auf Yuji. Es kam selten genug vor, dass der junge Mann sprach. "Es gab mal in Schottland einen alten Brauch. Irgendwann im Winter traf man sich nachts. Man brachte kleine Sachen mit. Dinge von Menschen, die man vermisst. Oder kleine Sachen, die einen an traurige Geschehnisse erinnern. Wie die Mütze des verstorbenen Ehemannes, oder das Spielzeug des verschollenen Kindes. Oder Leute, die niemanden hatten, brachten etwas von sich mit. Eine Haarlocke zum Beispiel. Man legte die Sachen in Körbe und ließ sie ins Meer oder in einen Fluss hinab, wo sie fortgetrieben wurden. Man sagt, wenn jemand stark genug vermisste, dann kam die vermisste Person zurück. Oder wenn jemand sehr einsam war, dann kam jemand Neues in sein Leben." Yuji schwieg. Ryou wandte den Blick ab und starrte wieder die Wand an. "Wie heißt der Brauch?", fragte er schließlich. Erst als er die Worte ausgesprochen hatte, merkte er wie seine Stimme zitterte. "Nacht der Einsamkeit. Jeder Mensch vermisst jemanden. Im Grunde genommen sind wir alle einsam." Ryou schloss die Augen. Ja. Einsam. Er war so viele Jahre nun einsam und vermisste so viele Jahre nun schon. Er fehlte ihm so. Ryou hatte alles versucht ihn zu vergessen. Die Erinnerungen aus seinem Bewusstsein zu verbannen. Legenden nachgejagt. Seine Sehnsucht zuerst in Alkohol ertränkt und dann im Studium unter Bergen von Büchern und Informationen begraben. Doch er konnte nicht vergessen. Ryou führte den Pinsel an die Wand. "Du solltest ihn nochmal reintunken. Ist bestimmt schon vertrock-" Yujis Stimme verstummte und Ryou merkte am Rande, wie der junge Mann hinter ihn trat. Er brauchte keine neue Farbe. Er zog den ersten Strich von der Silbe "ba" und dann den zweiten. Als er den Pinsel löste, hörte er ein lautes Plopp. Als wäre etwas Großes in einen Staubsauger gezogen worden, was erst unter dem stetigen Saugen in eine Passform gebracht werden musste. Ryou merkte nicht mehr, wie Yuri laut Tamas Namen rief und in das Nebenzimmer verschwand. Er setzte zum "ku" an und zog den Strich mit dem Knick in der Mitte in einem durch. Als er den Pinsel löste ertönte ein zweites Plopp. Sein Herz hämmerte inzwischen wie wild in seiner Brust, als würde es gleich raus springen. Die Vorstellung eines Herzens, das sich aus einem Körper löste und dann auf kleinen roten Beinchen davon lief drängte sich in sein Bewusstsein. "Weißt du, ich hab dich immer gemocht", flüsterte jemand hinter ihm. Yuji. Ryou drehte sich nicht um, sondern zeichnete das "ra". Stolz machte er einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. In riesigen Zeichen leuchtete der Name. Die Farbe hatte einen leichten Rotschimmer. Distanziert nahm Ryou den Gedanken war, dass er gar keine Taschenlampe mehr zum Sehen brauchte. Sie war auch gar nicht mehr in seiner Hand. Sie lag auf dem Boden, stellte er fest. Doch das beunruhigte ihn nicht. Er drehte sich um. Hinter ihm war niemand. "Yuji?", fragte er zaghaft, doch schüttelte sogleich den Kopf. Er wusste, dass Yuji nicht mehr da war. Wie Yuri und Tama auch nicht. Er ging zu der Treppe und nahm die ersten Stufen als eine Stimme hinter ihm ertönte. "Geh da nicht rauf." Sie klang kühl und herrisch. So wie immer. Ryou schluckte und drehte sich langsam wieder um. Was, wenn es nur ein Traum ist? Doch was er sah, war echt. Mit einem Sprung war er wieder unten. Aufgefangen von starken Armen. Er blickte nach oben in das Gesicht, das seinem so ähnelte und doch so anders war. Erwachsener. Nach all diesen Jahren immer noch. "Bakura", hauchte Ryou. Angst, dass dieses Trugbild gleich vor seinen Augen schmelzen würde, durchzog seinen Körper. Seine Finger gruben sich in die Arme, die ihn hielten. So fest, dass es dem Anderen bestimmt schmerzen dürfte. "Bist du immer noch so eine Heulsuse?", fragte Bakura. Ein wölfisches Grinsen zierte seine Lippen. Ryou schüttelte den Kopf und entspannte seine Finger. Doch er löste sich nicht aus Bakuras Griff. Es fühlte sich wohl bei dem Gefühl von Körper an Körper. Und auch wenn er zum ersten Mal seinen Yami anfassen konnte, fühlte es sich vertraut an. Ich habe ihn so sehr vermisst. "Ich war noch nie eine Heulsuse", widersprach er. Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr Ryou fort. "Also, was ist der Plan?" Bakura zog eine Augenbraue hoch. "Woher willst du wissen, dass ich einen Plan habe?" "Du hast immer einen." Bakura grinste wieder. Ein Grinsen, das nichts Gutes verheißen ließ. Für niemanden. Für niemanden außer mir - es war wieder seine eigene Stimme, die die Worte in Ryous Kopf sprach. "Wir gehen zurück nach Domino City." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)