REM-SLEEP Disorder von Nagakami (So lange bis er aufhört zu existieren) ================================================================================ Kapitel 4: Evidence ------------------- Das grelle Licht des Bildschirms brannte stechend in seinen müden Augen. Nur langsam lösten sich seine Finger von der Tastatur, um den unerträglichen Drang nachzugeben sich die Lider zu reiben. Eren hatte das Gefühl in der letzten Nacht keine ruhige Minute geschlafen zu haben. Selbst im Traum waren die Bilder des Tatortes und die vielen Gespräche, in die er geraten war, seine ständigen Begleiter gewesen. Seitdem bäumte sich in seinem Bauch die Vorahnung auf, dass er in der alten Lagerhalle irgendetwas übersehen hatte. In der Verbildlichung seines Unterbewusstseins war er nicht in seinem eigenen Körper gewesen. Wie ein Schatten, der sich zwischen den rostigen und halb gefüllten Regalen hin und her bewegte, hatte er die Situation noch einmal von außen betrachten können. Und egal wo er während des Traumes hingeschaut hatte, war dieser in blutgeschriebene Schriftzug nicht von seiner Seite gewichen. Warum verdunkelt er sich nicht? Verdunkeln. Irgendetwas hatte er übersehen. Nur was? Ein unangenehmes Pochen durchzog seine Schläfen. Seufzend legte er seinen Kopf in beide Hände, um seine Augen in der Dunkelheit etwas zu entspannen, eh er zurück auf den Monitor starrte. Kaum da er das Büro vor einigen Stunden betreten hatte, um seinen zweiten Tag anzutreten, war er vom Senior Inspector wieder darauf Aufmerksam gemacht worden, seinen Bericht zu schreiben. Vorsichtig wagte er es einen Blick über die Schulter zu werfen. Der Schreibtisch seines Vorgesetzten befand sich in seinem Rücken. Ohne vorher hingeschaut zu haben, konnte Eren sagen, dass Marco in den letzten Stunden nicht ein einziges Mal seine Körperhaltung gewechselt hatte; den Kopf stützte er in die linke Hand und nur ab und an löste sich die rechte Hand von der Computermaus, um nach Kaffeetasse zu greifen. Der Inspector wirkte noch ausgezehrter als gestern. Eren fragte sich, ob dieser überhaupt seinen Arbeitsplatz verlassen hatte. Marcos Lidschlag war langsam. Nur unter großem Kraftaufwand konnte der Inspector anscheinend seine Augen offen halten und doch studierten sie aufmerksam die Zeilen der unendlich vielen Akten, welche er zu kontrollieren hatte. Wieder einmal konnte sich Eren nicht erklären, durch welche Energie der Ältere vorangetrieben wurde. Alles in Marcos Körperhaltung schrie danach sich endlich eine Pause zu gönnen, doch in den Augen des Schwarzhaarigen stach der Ausdruck eines Besessenen hervor, der manisch seiner Arbeit nachging. Seufzend lauschte Eren dem Brummen der Lüftungsanlage, die ihr Büro mit frischer Luft versorgte und das Dröhnen seiner Gedanken wenigstens etwas überlagerte. Das unfertige Dokument seines Berichts schaute ihn vom Bildschirm heraus mit einem höhnischen Grinsen an. Eren fuhr sich durch die Haare, eh er seine Hände wieder auf die Tastatur legte und quälend langsam weiterschrieb. Seine Frustration stieg mit jedem Wort, das er aus sich würgte. Oftmals löschte er einen gesamten Absatz, nur um diesen wieder vom Neuen zu beginnen – Seit seiner Ankunft hatte sich dieses Spiel permanent widerholt. Ihm war klar, dass es nicht leicht sein würde den Senior Inspector mit seinen Worten zu überzeugen. Mehrere Male schaute er zu Jean herüber, der einige Meter von ihm entfernt an seinem Arbeitsplatz saß. Petra und Mike hatten heute einen freien Tag, weswegen Jean der Einzige war, der ein wachsames Auge auf die Straßenscanner werfen konnte. Ab und an konnte man ihn seufzen hören, bevor dieser sich eine neue Zigarette anzündete. Als könnte der Enforcer seine Blicke wahrnehmen, drehte dieser seinen Kopf. Lange schaute Jean ihm in die Augen, bevor er fast ermutigend nickte und sich seinem Bildschirm wieder zuwandte. Eren tat es ihm gleich. Bisher hatte er das Dokument nur bis zur Hälfte füllen können. Ihm fehlten einfach die passenden Worte, mit denen er ihre perfekte Lüge abrunden und vergolden könnte. Leise und vor Frust murrend schlug sich Eren beide Hände gegen die Wangen, auf denen sich durch den Schlag sofort eine gewisse Wärme ausbreitete. Für wenigstens einen kleinen Moment trat etwas Klarheit in seinem Kopf ein. „Müde?“ Eren wandte sich ruckartig zu dem Senior Inspector herum, als er aus dem Nichts heraus angesprochen wurde. Marco verweilte noch immer in gleicher Haltung, doch nun hatte er sich mit seinem Drehstuhl leicht zu ihm gewandt. Ein warmes Lächeln breitete sich auf den vernarbten Lippen aus, als Eren ihn irritiert anschaute. Mit einem peinlich berührten Räuspern nahm er wieder die Hände von den Wangen. „Ein wenig“, antwortete der jüngere Inspector kleinlaut, da ihm nichts Besseres auf die Frage einfiel. „Geht mir genauso.“ Marcos Worte wurde von einem herzhaften Gähnen unterstrichen. Die Erinnerung an Armins Warnung durchglitt Erens Brust mit einem gleißenden Schlag. „Möchtest du dich nicht lieber ein wenig ausruhen?“, fragte der Braunhaarige vorsichtig, doch Marco winkte ab. „Nicht nötig.“ „Dieser Typ schläft nie“, mischte sich Jean mit einmal in den Smalltalk mit ein, der nur schleppend voran ging. Marco bedachte den Enforcer mit einem Blick, den Eren nicht deuten konnte. Langsam, wie ein Raubtier, das kurz davor stand auf seine Beute zu zuspringen, richtete sich der Inspector auf. Das zuvor noch warme Lächeln in seinem Gesicht gefror und erlosch so schlagartig, wie die Flamme einer Kerze, die man mit seinen Fingern ausdrückte. „Das will ich nicht noch einmal von dir hören.“ Der Zorn, der sich in Marcos Stimme legte, war beinahe mit den Händen greifbar. Eren stockte für einen Moment der Atem, als er diesen schweren Hauch der Bedrohung unweigerlich in sich aufnahm. Jean seufzte, machte dann mit seiner Hand eine unwirsche Geste. „Beruhig dich… Du weißt, wie ich das meine.“ Ein Muskel zuckte herrisch unter Marcos Auge. „Gerade deswegen“, zischte der Schwarzhaarige, ehe er sich zu Eren wandte und einen vollkommen anderen Gesichtsausdruck trug, der das völlige Gegenteil zu vorher war. Der Grad der Faszination, mit der Eren seinen Vorgesetzten anstarrte, erreichte eine ungeahnte Höhe unbekannter Perversionen. Zögernd stotterte er ein paar Worte, weil er nicht sagen konnte, was der auffordernde Blick des Älteren zu bedeuten hatte. „Wie kommst du mit deinem Bericht voran?“, fragte Marco aus dem Nichts heraus, als hätte der Wortwechsel zuvor gar nicht stattgefunden. Hörbar stieß der Junior Inspector die Luft aus den Lungen, als eine Welle der Erleichterung ihn überkam. Kurz hatte er die Befürchtung gehabt, dass er erneut Zeuge eines Gespräches wurde, dem er eigentlich nicht beiwohnen durfte. Sein Blick glitt einmal zwischen dem Bildschirm und seinem Vorgesetzten hin und her, bevor sich seine Schultern vor Ratlosigkeit sachte anhoben. „Nicht sehr gut, um ehrlich zu sein.“ Was musste man auch für ein Mensch sein, dem eine derartig gewaltige Lüge so locker von der Hand ging wie der Trumpf bei einem Kartenspiel? „Hmm…“ Marco rieb sich das Kinn, während er nachdachte. Eren versuchte angestrengt den Kloß herunter zu schlucken, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Diese Besorgnis, welche in den Augen des Älteren lag, schürte die Nervosität, die sich schmerzhaft in den Adern des Braunhaarigen ausbreitete. Nach Halt suchend verkrampfte sich seine Hand um die Computermaus, nach der er hilflos getastet hatte. Am liebsten hätte Eren hier und jetzt die Wahrheit ausgesprochen, doch im Hintergrund konnte er Jean sehen, der stumm mit seinen Lippen noch einmal die Warnung vom Vortag formte. „Lass mich mal sehen.“ Die Worte des Senior Inspectors rissen ihn mit harscher Gewalt aus seinen Gedanken. Und ebenso gewaltsam musste Eren den Drang unterdrücken, sich nicht gewaltsam vor seinem Arbeitsplatz aufzubauen, als Marco von seinem Drehstuhl aufstand und sich neben ihn mit beiden Händen auf den Tisch stützte. Aus Höflichkeit rollte der Jüngere mit seinem Stuhl ein wenig zur Seite. Marcos Lippen bewegten sich stumm in dem Takt, in welchem er die Worte auf dem Bildschirm las. Mit jeder Minute, die verstrich, spürte Eren wie sich seine Nackenhaare vor Nervosität sträubten. Bisher hatte er gerade einmal das Stück bewältigt, wo er mit seinen zugeteilten Enforcern die Lagerhalle entdeckt gehabt hatte. Seitdem waren ihm die Worte wie aus dem Kopf gefegt. „Ihr wart in dieser Lagerhalle, oder?“ Mit einmal saß Eren kerzengerade in seinem Stuhl, als der Ältere ihm diese Frage stellte. „Ja“, gab er leise von sich und senkte den Blick auf seine Hände, die in seinem Schoß ruhten, als wäre er ein kleiner Junge, der gerade von seinem Vater für ein namenloses Vergehen getadelt wurde. Marco gab einen Laut des Verständnisses von sich und wandte seinen Blick zurück zum Dokument. „Gut, ich verstehe. Du musst nicht jedes kleinste Detail beschreiben, das Material der Untersuchungsdrohnen werde ich dann im Labor einsehen. Ich möchte nur eine ausgiebige Erklärung zu deinem Verhalten.“ Eren blinzelte erschrocken und schnappte nach Luft, als seien die Worte seines Vorgesetzten nur aus seiner Fantasie entsprungen. Mit einem heftigen Nicken versuchte er sich aus seinem Zögern zu retten. Marco schenkte ihm ein flaches Lächeln, ehe er ihm ermutigend auf die Schulter klopfte. Schweres Metall traf in diesem Augenblick seinen Knochen und Eren zuckte merklich zusammen. Ohne, dass der Senior Inspector etwas davon bemerkte, starrte der Junge auf den Handschuh des Mannes, der sich wieder an seinen Arbeitsplatz zurückzog. Mit einmal traf die Erinnerung an den Händedruck des Vortages in seinem Kopf ein mit der Wucht eines Hammers, der gegen seinen Schädel geschmettert wurde. Er erinnerte sich daran, dass sich die Hand des Älteren nicht menschlich angefühlt hatte – oder längst nicht mehr menschlich war. Dieser Gedanke verweilte allerdings nicht lange. Vielmehr wuchs eine Freude in seiner Brust, die sich nicht beschreiben ließ und nur wenig später sich mit grenzenloser Sorge vermischte. Zum einen würde Marco die Wahrheit nicht durch ihn erfahren und es beruhigte ihn, doch zum anderen gab es nun keine andere Möglichkeit mehr den Senior Inspector aufzuhalten. Früher oder später würde er Einsicht in die Ergebnisse erhalten und Eren verlor jegliche Hoffnung, dass sie Marco noch länger hinhalten könnten. Noch immer hatte ihm niemand in dieses Geheimnis eingeweiht, über welches augenscheinlich keiner reden durfte – trotzdem spürte er allzu deutlich die Bedrohung, die davon ausging. Irgendwie mussten sie einen Weg finden, damit Marco den Tatort nicht sehen würde. Was sich allerdings vorher so leicht angehört hatte, wurde nun zu einer unüberwindbaren Mauer. „Marco?“ Das holografische Bild des internen Kommunikationsmoduls auf Marcos Schreibtisch öffnete sich mit einmal und verzerrte die Helligkeit des Raumes mit bläulichem Neonlicht. Eine Braue des Senior Inspectors wanderte nach oben, als dieser sich herum drehte. Noch bevor Marco auf den eingehenden Anruf reagierte, wurde Eren anders. „Ah, Hanji! Wir haben gerade von dir gesprochen.“ Hanji. Eren hörte diesen Namen nicht zum ersten Mal. Er entsann sich, dass er während des Streites der beiden Devisionleiter gefallen war und Marco aus einer unangenehmen Situation gerettet hatte, aber nicht nur das. Armin hatte etwas davon erzählt, dass Hanji die Ergebnisse fertiggestellt gehabt habe… Das Labor? Mit einmal saßen Jean und er kerzengerade im Stuhl. Seine Beine begannen unter der nervösen Anspannung zu zittern, die sich allmählich mit der Angst in seiner Brust vermischte. Die Luft im Büro wirkte mit einmal staubig und abgestanden. Jeder Atemzug brannte in Erens Lunge und er hatte Mühe diese überhaupt mit Sauerstoff zu versorgen, während er zusehen musste, wie sich der schaurige Ausdruck der Zufriedenheit auf Marcos Gesicht ausbreitete. „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Ich weiß, du hörst es nicht gerne, aber Erwin war leider in der Warteschlange über dir.“ Ein bleiernes Knacken durchdrang die angespannte Stille des Büros, als Marco knurrend seine Kiefer gegeneinander malmte. Das Geräusch der scharrenden Zähne jagte dem Junior Inspector einen Schauer die Wirbelsäule hinab und verweilte einige Momente lang unter seiner Haut. Eren konnte sehen wie sich die Hand des Schwarzhaarigen zu einer Faust zusammen gezogen hatte und wenn nicht der Handschuh gewesen wäre, so war er sich sicher, wären die Knöchel unter der Haut weißlich hervor getreten. „Ich komme sofort zu dir“, antwortete Marco gepresst hervor und schien sich nur kaum beherrschen zu können. Jean, der sich in seinem Drehstuhl zu den beiden Inspectoren gedreht hatte, räusperte sich und machte eine unbestimmte Geste mit seiner Hand, als könne er allein damit seinen Vorgesetzten vom Gehen abhalten. „Kannst du nicht“, meldete er sich knapp zu Wort. Ohne ein Wort zu sagen, richtete sich Marco schweigend hinter seinem Schreibtisch auf. Nur seine Hände ruhten an der schwarzen Tischkante; von seinem Standpunkt aus konnte Eren sehen, wie die Nägel der linken Hand langsam über das Furnier kratzten. Noch immer konnte er die Reaktionen des Älteren in so vielen Momenten nicht verstehen. Marco hatte tausende unterschiedliche Facetten und jede wirkte bedrohlicher als die Andere. „Und warum?“, hakte der Ältere nach, nachdem er einen tiefen Atemzug der Beruhigung genommen hatte. „Du musst in ein paar Minuten los zur Besprechung mit Zackly. Schon vergessen?“ Marcos Körperhaltung lockerte sich, eh er eine Hand hob und sich seufzend damit die Stirn rieb. „Ach, stimmt…“, stieß der Senior Inspector frustriert und sichtlich lustlos aus – dennoch schien die Wut, die dieser vor wenigen Sekunden ausgestrahlt hatte, spurlos verschwunden zu sein. „Eren?“ „Ja, Sir?“ Vor lauter Schreck, dass man ihn so urplötzlich aus seinen Gedanken gerissen hatte, sprang Eren aus seinem Stuhl auf. Der Schwarzhaarige bedachte ihn doch nur mit einer kurzen Geste, um endlich von seiner Förmlichkeit abzulassen, während er sein Jackett von der Stuhllehne nahm und es langsam überzog, um dann ein paar wichtige Akten auf seinem Tisch zusammen zu suchen. „Normalerweise lasse ich Hanji nicht auf Frischlinge los, aber in diesem Fall…“, der Inspector seufzte, „würdest du die Besprechung im Labor übernehmen? Jean muss leider hier bleiben und die Scanner im Auge behalten.“ Mit wenigen Schritten ging der Schwarzhaarige auf den Jüngeren zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du wirst das schon schaffen. Hanji wird dir schon alles erklären.“ Marco schenkte seinem Gegenüber eines dieses Lächelns, die unsagbar falsch und boshaft aussahen, aber in seinem Gesicht trotzdem eine Art von Ruhe und Gelassenheit ausstrahlten. Eren schluckte, eh er dem Inspector nachsah, der das Büro verließ. Verzweifelt fuhr sich der Junior Inspector mit seinen Händen durch die Haare. Erst dann bemerkte er Jean, der ihn mit strengem Blick taxierte. „Eren, dir ist klar was das zu bedeuten hat, oder?“ Die Worte des Enforcers trafen ihn mit schmerzhafter Gewalt. Eren rang sich ein Nicken ab. Es machte ihm mit einmal keine Angst mehr einem neuen Menschen in dieser Einrichtung zu begegnen oder sich einem Aufgabenbereich zu stellen, den er zuvor noch nie betreten hatte. Vielmehr war es die wachsende Angst vor der Zeit, die ihnen davon lief und sie nicht fähig waren sie aufzuhalten. „Wir können es ihm nicht ewig verschweigen, Jean“, drängte der Braunhaarige und umrundete seinen Schreibtisch. Mit einigen wenigen Schritten ging er zu dem Blonden, der sich in seinem Stuhl zurück gelehnt hatte, und setzte sich auf einen freien Platz ihm gegenüber. „Ich weiß.“ „Du hast selbst gesagt, Marco dürfe davon nichts erfahren. Aber wie stellst du dir das vor? Ich habe bisher noch nicht einmal verstanden, worum es überhaupt geht.“ Eren konnte die wachsende Verzweiflung in seiner Stimme nicht verbergen. __________________________________________________ Obwohl der erste Eindruck von dem Enforcer nicht der Beste gewesen war, musste Eren seine Meinung allmählich ändern. Jean hatte sich mehrfach bei ihm entschuldigt, ihn nicht zum Analysis Department begleiten zu können, bevor Eren das Büro verlassen hatte. Nun funkelten ihm zwei Brillengläser entgegen. Für Eren sahen sie so aus, wie das leuchtende Augenpaar eines Raubtieres bei Nacht. Die Frau ihm gegenüber hatte sich weit herunter gebeugt, um ihn von unten ins Gesicht zu blicken. Die Luft im Raum war schwer vom Qualm unzähliger Zigaretten. Doch gerade im Moment war der Geruch der Nudelsuppe, dessen Becher die Frau in ihren Händen hielt, unbeschreiblich intensiver. „Dein Name ist also Eren, richtig?“ „Ja“, antwortete er zögernd. „Mhm…“ Schweigend nahm die Frau, welche sich ihm zuvor mit einem gewaltigen, herzhaften Lachen als „Hanji“ vorgestellt hatte, ein paar weitere Nudeln mit ihren Stäbchen auf und schob sie sich in den Mund. Nachdenklich kaute sie eine Weile darauf herum. „Sag mal, wie groß bist du, Kleiner…“ Fragend zogen sich Erens Brauen zusammen, während er zögernd nach einer Antwort suchte. Es war nicht zu übersehen, dass sie beide die gleiche Größe hatten. „1,70… schätze ich…“, antwortete er dennoch. Wieder brummte die Frau interessiert und schob sich eine neue Portion in den Mund. „Und wie schwer bist du?“ „Etwa Dreiundsechzig Kilo… schätze ich…“ Wieder ein Brummen und eine neue Portion fand ihren Weg zwischen die Lippen der Frau, welche sich daraufhin wieder aufrichtete und Eren aus dem peinlichen Schweigen befreite. „Sag mal, Eren… Dürfte ich dich mal-“ Doch weiter kam Hanji nicht, als die Tür zum Analysis Department sich auf einmal öffnete. „Du bist also der Neuling, der die Devision 1 endlich wieder einsatzfähig macht?“ Bevor er überhaupt wahrnahm, dass man ihn angesprochen hatte, legten sich von hinten zwei Hände auf seine Schultern und ließen Eren zusammen zucken. Unweigerlich und mehr aus Reflex drehte er sich sofort aus dem Griff heraus und schaute zu dem hochgewachsenen Mann auf, der regelrecht sanftmütig auf ihn herab lächelte. Im ersten Augenblick erkannte er den Senior Inspector nicht, dem er am Vortag bereits schon einmal begegnet war. „Sie sind Mr. Smith, richtig?“, stammelte der Jüngere peinlich berührt, weil er mit einmal nicht wusste, wie er sich dem Anderen gegenüber zu verhalten hatte. Das Lächeln wurde ein wenig breiter, eh der Angesprochene ihm die Hand reichte und Eren diese etwas verhalten schüttelte. „Senior Inspector der Devision 2, aber du brauchst nicht so höflich zu sein“, entgegnete ihm der Ältere. Auf Eren machte er einen vollkommen normalen Eindruck. Die düstere Aura, die Erwin bei ihrer ersten Begegnung umgeben hatte, war vollkommen verschwunden. „Wie ist dein Name?“ „Eren Jäger!“, antwortete er prompt. Wieder wurden seine Worte von einem weichen Lächeln bedacht, ehe der Größere seine Hand der Geste entzog. „Wie meinst du das? Die Devision wieder einsatzfähig machen?“, forschte Eren nach. Der Blondhaarige lachte amüsiert und auch Hanji, welche er für einen Augenblick vergessen hatte, stimmte mit ein – jedoch sichtlich aus einem anderen Grund als der Inspector. „Der gute Marco ist seit gut zwei Jahren an seinen Schreibtisch gefesselt. Zwar leitet er die wohl wichtigste Devision des Safety Bureaus, doch ohne einen zweiten Inspector besitzt man nicht die Vollmacht mit der kompletten Einheit auszurücken. Hin und wieder bekommt er ein paar kleinere Fälle. Meistens jedoch nur Delikte, wo er einen Enforcer mitnehmen darf. So lauten die Regeln…“, erklärte ihm der Ältere, ohne lange über seine Worte nachdenken zu müssen. All das waren Dinge, über die man Eren zuvor nicht aufgeklärt hatte. „Und warum gab es vor mir keinen Anwärter für den Junior Inspector?“, fragte Eren und räusperte sich etwas nervös. Noch vor seinem ersten Arbeitstag hatte er sich gefragt, warum er eine so hohe Position bekommen hatte. Es konnte unmöglich ausschließlich an seiner Abschlussbenotung der Akademie gelegen haben! Doch scheinbar waren an anderen Stellen kein weiteres Personal von Nöten gewesen. „Zum einen liegt es in Zacklys Obligation das Personal zu verteilen und zum anderen… nun ja… mein Junior Inspector hatte eben diese Position letztes Jahr abgeschlagen.“ Das passte zu Armin… Lieber trat er einen Schritt zurück, anstatt sich seines vollen Potentials bewusst zu werden. „Aber um zum Grund meines Besuchs zurück zu kommen“, fuhr Erwin fort und ging souverän an Eren vorbei, um auch Hanji zum Gruß die Hand zu reichen, „Weshalb genau hattest du mich gerufen, Hanji?“ Die Brillengläser der Frau blitzten schelmisch im Licht der Neonröhren auf, als diese sich das Gestell zurück auf den Nasenrücken schob. Ihr weites Grinsen, das ihre Lippen benetzte, wirkte furios und wild. Hanji klatschte in ihre Hände und deutete mit ihren Händen quer durch den Raum auf eine Tür, die nur halb zugeschoben war. Als sich der Rauch in der Luft langsam legte, konnte Eren den stechenden Duft von Akohol und Desinfektionsmitteln wahrnehmen, der allen Anscheins nach von dem Raum hinter der Schiebetür ausging. „Wenn die Herren mir bitte folgen würden“, flötete Hanji mit aufgeregter Stimme, als wäre sie kurz davor ihnen ihren größten Schatz zu präsentieren. Eren schaute den Inspector etwas unsicher an, der ihm jedoch andeutete ihr ruhig zu folgen. „Herzlich willkommen!“, grinste Hanji strahlend, als sie dir Tür vollends aufschob und den Blick in den Obduktionsraum eröffnete. Noch konnte Eren keine genauen Gegenstände erkennen, außer den Stahltisch, auf dem ein Körper lag, welcher vollends mit einer Decke verhüllt war. Allerdings reichte der Geruch im Innern vollkommen aus, dass er den Handrücken gegen seine Nase hob, um sich etwas davon abzuschirmen. Die Schritte, mit denen er Erwin folgte, waren eher langsam. „Es wundert mich, dass du unseren Neuling noch nicht sezieren wolltest“, sagte Erwin belustigt. Protestierend stemmte Hanji die Hände in ihre Taille und öffnete den Mund mehrere Male um sich zu verteidigen, doch scheinbar fiel ihr nichts ein, sodass sie mehrere Momente in dieser Haltung verharrte. „Sezieren?“, murmelte Eren ratlos hinter seiner Hand hervor, doch seine Befürchtungen verflogen in dem Augenblick, in welchem Erwin ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte. „Hanji ist nur hier, weil wir sie aufgegriffen haben… Ich frage mich noch immer, wie sie es geschafft hat, aber sie hat über Jahre hinweg unerkannt Menschenkörper gesammelt… Für Anschauungszwecke, wie sie immer so schön sagt“, erklärte ihm der Ältere salopp, als stünde die Frau gar nicht in unmittelbarer Hörweite. „Natürlich! Wie soll man aus Büchern auch all das lernen! Am menschlichen Körper direkt kann man um einiges besser studieren“, begann die Brillenträgerin sich sofort zu rechtfertigen. In ihren Augen glitzerte dabei etwas Irres auf, das Eren die Gänsehaut auf die Arme trieb. „Aber nicht an lebenden!“, erwiderte Erwin barsch und Hanji verstummte tatsächlich einen Moment lang, „Wie dem auch sei… Hanji ist und bleibt unsere beste Forensikerin und Leiterin des Analysis Departmens… Du solltest ihr nur nicht zu nahe kommen.“ Den letzten Satz sprach Erwin mit einem Zwinkern aus und Eren wurde klar, dass er es nicht allzu ernst nehmen sollte. „Also, Hanji… Weshalb sind wir hier?“ Als wäre es das Natürlichste der Welt trat Erwin an den Obduktionstisch heran, während sich Eren lieber im höflichen Abstand sicher wägte. Noch bevor er überhaupt den toten Körper gesehen hatte, schmeckte er die bittere Galle, die sich langsam unter seiner Zunge ansammelte. „Die Frau gehört zu der Geiselnahme, die Marco gestern bearbeitet hat“, erklärte Hanji dem Senior Inspector und legte dabei auf einmal einen völlig sachlichen Tonfall an den Tag. Während sie sprach verteilte sie auch an die beiden Männer jeweils ein Paar Latexhandschuhe, bevor sie in einer gekonnten Bewegung ihre eigenen über die Finger zog. „Und?“, hakte Erwin nach. „Nun ja… Erinnerst du dich an die Frau, welche ihren Ehemann brutal ermordet hat, weil ihr Crime Coefficient plötzlich außer Kontrolle geriet?“ Erwin nickte. „Ja, seit einer Woche suchen wir bereits nach ihr… Sag mir nicht…“ Der Inspector stockte, als Hanji lediglich das Tuch zur Seite zog um ihm zu antworten. Eren vergaß die Übelkeit, die sich beißend in seinem Magen festsetzte und trat aus lauter Neugierde näher an den Tisch heran. Bilder des Vortages durchzogen seinen Kopf, als er das Gesicht der Frau erkannte. Ihre Haut war reingewaschen worden und die schrecklich vielen Blutrückstände verschwunden. Für den Braunhaarigen wurde es somit umso leichter mit dem Anblick fertig zu werden. Doch mit einmal machte das Herz in seiner Brust einen schmerzhaften Sprung. In dem schäbigen Licht der Lagerhalle war es ihm nicht aufgefallen… Sein Verdacht wurde plötzlich bestätigt – er hatte etwas am Tatort übersehen. Und diese Erkenntnis raubte ihm regelrecht den Boden unter seinen Füßen. Er vergaß jegliches Schamgefühl, als er der ermordeten Frau auf das Brustbein starrte. In der fahlen, weiß-blauen Haut, unter welcher sich deutlich ein paar blutleere Äderchen abbildeten, waren ungeschickt mit einem Messer vier Buchstaben eingeritzt worden. „Mako…“, flüsterte Eren leise, als er die Buchstaben entzifferte, „Was soll das heißen?“ Hanji drehte unwissend ihre Handflächen nach außen. „Deshalb hab ich euch hier hergeholt… Das ist euer Job… Ich bin nebenan, falls ihr mich sucht“, sagte sie mit schnellen Worten und verschwand aus dem Raum. Eren, der ihr nachgeblickt hatte, konnte nur langsam wieder seinen Kopf zur dem Stahltisch drehen. Mehrere Male schluckte er, doch der bittere Geschmack nach Galle verharrte in seinem Mund. „Ich hätte da eine Frage, Eren.“ Verwirrt blickte der Jüngere mit einem leicht zur Seite geneigtem Kopf auf. In seinem Magen brannte eine Ansammlung unterschiedlichster Fragen, die er niemandem stellen konnte – Deutlich erinnerte er sich an Armins Worte, der ihn gewarnt hatte, in dieser Einrichtung nicht allzu neugierig zu sein. Es überraschte ihn, dass er nun derjenige war, dem man eine Frage stellte. Mit einem Nicken gab er dem Hochgewachsenen zu verstehen, dass er sich nicht zurückhalten sollte. „Wie kommst du mit Marco zurecht?“ Für einen Moment war Erens Kopf frei von jeglichen Gedanken, lediglich diese eine Frage schwebte in der Schwärze, die sich hinter seiner Stirn ausbreitete. Er wusste es selbst nicht – Das war das Einzige, was ihm in den Sinn kam. Vorsichtig blickte er sich zu allen Seiten um – Eren wollte sicherstellen, dass Erwin der Einzige war, der ihn hören konnte. „Ich weiß es nicht…“, antwortete er ehrlich und stieß dabei schwermütig die Luft aus seiner Lunge. Obwohl sein Senior Inspector in irgendeinen weit zurückliegenden Streit mit Erwin verwickelt war, so verspürte Eren keine Abneigung gegenüber diesem. Vielmehr kam es dem Braunhaarigen vor, als sei der Inspector aus der Devision 2 hier der Erste, der ihm ein offenes Ohr lieh und ihn, trotz seiner Unerfahrenheit in dem Beruf, behandelte als stünden sie einander auf einer Ebene. Eren fuhr innerlich zusammen, als der Hochgewachsene mit einmal in einer väterlichen Geste ihm eine Hand auf die Schulter legte. Selbst durch seine Kleidung konnte er die Wärme spüren, die von ihr ausging. Nur unter großer Kraftanstrengung konnte er den Blick von der Leiche abwenden, an der er die klaffende Wunde am Hals unentwegt angestarrt hatte, als könne er in dem fauligen, fahlen Fleisch eine Antwort auf all seine Fragen finden. „Irgendetwas bedrückt dich doch… Habe ich recht?“ Ohne es wirklich zu wollen, musste Eren bei diesen Worten auflachen. Es war unbegreiflich wie jeder hier ihm einen Schritt voraus war. „Es hat mit deinem Vorgesetzten zu tun, oder?“ Die heisere Stimme, die sich in Erens Kehle zu einem verzweifelten Lachen geformt hatte, versiegte. Die Worte führten dazu, dass er sich an seinem eigenen Speichel verschluckte, der sich in seinem Rachen angesammelt hatte. Ungläubig schaute er zu Erwin auf. „Woher-?“ „Armin hat es mir erzählt“, unterbrach der Blondhaarige ihn, noch bevor Eren in der Lage gewesen war zu Ende zu reden. Der Junior Inspector stützte sich mit beiden Händen auf dem Stahltisch auf. Er fühlte sich verraten. Von seinem eigenen Freund hintergangen. Dass Armin, dem er schon so vieles aus seinem Leben anvertraut hatte, direkt zu seinem Vorgesetzten laufen und ihm alles erzählen würde, hätte er sich niemals erträumt. „Hat er dir alles von dem Fall erzählt?“ Erst jetzt fiel Eren auf, dass es ihm bei dem Mann um einiges leichter fiel jegliche Art der Höflichkeitsfloskeln fallen zu lassen. Wenn er Marco gegenüber stand, so verspürte er nach wie vor den Drang ihm den nötigen Respekt zu zollen. Wider seiner Erwartung schüttelte Erwin jedoch mit dem Kopf und beugte sich noch einmal über den Leichnam der Frau. Eren konnte nicht anders, als das Tuch, mit welchem der Körper nur halb bedeckt war, wieder ein Stück höher zu ziehen. „Keine Details. Zugegeben, es war meine persönliche Neugierde gewesen, etwas mehr über dich zu erfahren. Armin hatte mir lediglich gesagt, dass ihr Zwei euch schon lange kennt“, erklärte sich Erwin und schaute Eren dabei über die Schulter. Dem Braunhaarigen war es unangenehm das Wort Neugierde zu hören, doch der Ältere ging nicht weiter darauf ein, sondern streckte seinen Arm aus und griff an Eren vorbei. Seine langen Finger umschlossen fast zärtlich den Saum des Tuches, welches er noch einmal ein Stück tiefer zog und in die Haut geschnittene Inschrift studierte. Erwin schnalzte leise mit der Zunge, während er das Brustbein der Frau wieder verhüllte. Nachdenklich zog er die sterilen Handschuhe aus und warf sie in einen dafür vorgesehen Mülleimer neben dem Obduktionstisch. „Findest du es nicht auch merkwürdig, wie die beide Fälle anscheinend mit einander verknüpft sind?“, fragte Erwin, der seine Arme nun vor der Brust verschränkte. Es war eine berechtigte Frage, die sich Eren vorher noch nicht gestellt hatte. „Warum wird eine von Sibyl als kriminell eingestufte Person als Geisel genommen und dann umgebracht?“, sprach der Jüngere leise vor sich hin und schien Erwins Gedankengänge zu teilen. „War der Mörder noch vor Ort?“, erkundigte sich Erwin, der sich von der Ablage Hanjis Unterlagen genommen hatte und sie eher beiläufig durchblätterte. „Nein“, antwortete Eren langsam. Seine Augen starrten in die Leere, die sich vor ihm offenbarte. Der Senior Inspector eröffnete ihm eine Richtung, in die er zuvor nicht nachgedacht hatte. „Marco hat ihn wo anders gefunden zusammen mit Mike.“ Eren konnte nicht sehen, wie der Andere zusammen zuckte, als er den Namen aussprach. „Und ist Marco später zu euch gekommen, um sich ein Bild zu verschaffen?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ Eren seufzte leise, bevor er einen kurzen Augenblick lang abwog, was er dem Älteren alles verraten konnte und was nicht. Ohnehin musste er ständig darüber nachdenken, wie sein Vorgesetzter reagieren würde, wenn er von diesem Gespräch Wind bekäme. „Jean war der Meinung, es könnte ihn an etwas erinnern, an das er sich aber nicht erinnern soll. Also haben wir ihn nicht hinzugezogen.“ „So?“ Erwin lächelte geheimnisvoll, eh er sich mit gemächlichen Schritten wieder zum Stahltisch gesellte. Er fasste Eren leicht am Ärmel und zog den Jüngeren ein Stück zur Seite. „Sagt dir der Name Levi etwas?“ Mit großen, runden Augen starrte er den älteren Inspector an, wie ein Kind, das von einem Moment auf den Anderen jegliche Hoffnung in seinem Leben verloren hatte. Er hatte diesen Namen tatsächlich noch nie gehört und doch breitete sich in seiner Brust eine unbarmherzige Kälte aus, die mit düsterer Gemächlichkeit von seinem ganzen Körper Besitz ergriff. Eren spürte ein leichtes Zittern in den Knien, als sich sein Mund öffnete um etwas zu sagen, doch die Worte wollten nicht ihren Weg über seine Lippen finden. Allein von diesem Namen ging eine Präsenz aus, die sich nicht unter normalen Maßstäben messen ließ. Vielleicht war es aber auch lediglich die Art gewesen, mit welcher Erwin ihn ausgesprochen hatte. Ohne zu wissen, was er sagen sollte, schüttelte Eren mit dem Kopf und verneinte die Frage. Erwins Mundwinkel verzogen sich vor Enttäuschung. „Sollte ich ihn kennen?“, fragte Eren vorsichtig und machte sich innerlich bereits darauf gefasst, keine vernünftige Antwort zu erhalten. Der Ausdruck im Gesicht des Senior Inspectors wandelte sich schlagartig. „Nein, das ist nicht nötig. Es war ohnehin dumm von mir das Thema anzusprechen, wenn du nichts davon weißt.“ „Hat es etwas mit Marco zu tun?“, hakte Eren nach, doch der Ältere hob nur unwissentlich seine Schultern. „Ich kann es dir nicht sagen, Eren. Ich war damals selbst nicht dabei“, erwiderte Erwin mit knappen Worten. Der Braunhaarige witterte die Lüge, die sich dahinter verbarg, doch er schluckte sie ohne etwas dagegen machen zu können. Er konnte nichts anderes tun, als die Informationen in sich aufzusammeln und zu verwahren, denn sie reichten nicht aus um sich ein genaues Bild zu schaffen. Lediglich das stark pochende Herz, das schmerzhaft gegen sein Brustbein schlug, sagte ihm, dass hier etwas nicht stimmte. Eren wandte sich ab, um das Labor zu verlassen. Frische Luft war im Augenblick das, was er am meisten benötigte. „Ich möchte dir keine Angst machen, aber…“, begann Erwin, zwang den Jüngeren somit noch einmal stehen zu bleiben und sich herum zu drehen. Der sonst so warmherzige Ausdruck, der die Augenwinkel des Mannes sonst umspielten, erlosch, kaum dass sich ihre Blicke trafen, „Marco ist nicht der Mensch, der er zu sein scheint. Pass bitte auf dich auf.“ __________________________________________________ Sein Gesicht war noch immer kühl von dem Wind, dem er sich eine halbe Ewigkeit lang ausgesetzt hatte. Eren konnte nicht einmal sagen, ob es letzten Endes Minuten oder Stunden gewesen waren, die er auf einem der freibegehbaren Balkone verbracht hatte. Während er krampfhaft darauf gewartet hatte, dass die Übelkeit in seinem Magen endlich nachließ, war sein Blick über die Stadt geglitten, die sich unter ihm wie ein grauer hohler Zahn erstreckt hatte. Noch nie hatte er daran gezweifelt, dass es richtig war was er tat. Wenn er ehrlich zu sich war, dann hatte er in seinem bisherigen Leben nie einen Gedanken daran verschwendet. Mittlerweile breitete sich in ihm jedoch die Vorahnung aus, dass dies nicht der Weg war, den er für sich ursprünglich gewählt hatte. Allein auf dem Weg zum Balkon waren ihm mehrere Inspektoren und Enforcer entgegen gekommen, die sich bemühten einen neuen Fall aufzuklären oder einem neuen Einsatz hinterher jagten – Ganz im Gegensatz zu seiner Devision. Seufzend ging er zurück zu ihrem kleinen und nur mit dem Nötigsten eingerichteten Büro. Verwundert blieb er jedoch inmitten des Türrahmens der Glasschiebetür stehen und stockte ein wenig. „Wo ist Jean?“, fragte er den Senior Inspector, der durch den Monitor vor sich halb verborgen wurde. Marco blickte auf und bewegte kurz seinen Kopf, als fiele es ihm nicht leicht sich von seiner Arbeit zu trennen und seine Gedanken auf die Frage zu richten. Tiefe, schwarze Schatten prangerten unter den Augen, die Eren eine Weile völlig desillusioniert anstarrten. Marco wirkte als wäre er fernab seiner selbst. „Er… Ich glaube, er wollte nur einen Kaffee trinken oder dergleichen“, antwortete der Schwarzhaarige schleppend, rieb daraufhin mit beiden Händen über seine brennenden Augen. Erst als er die Finger wieder auf seine Tastatur legte, konnte Eren sehen wie rotunterlaufen sie waren. Nur mit langsamen Schritten durchquerte Eren das Büro und bewegte sich auf seinen Arbeitsplatz zu. Als er Marcos Schreibtisch passierte, fiel sein Blick auf das Schreiben, welches neben dem Älteren lag. Und obwohl Marco mit einer fast hektischen Bewegung seine Hand auf das Papier legte, um seine Privatsphäre zu bewahren, konnte er einen Blick auf einen Teil der Kopfzeile erhaschen. Das Schreiben war adressiert an das Therapiezentrum. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)