Matheas uncharmant unfairer Morgen von KankuroPuppet (Eine Kurzgeschichte) ================================================================================ Kapitel 1: Die Suche nach den kleinen Lastern --------------------------------------------- Ein uncharmant unfairer Morgen „Heute ist es soweit.“ Verschlafen schaute Mathea in ihre eigenen grauen Augen, während ihre mädchenhafte Stimme gegen den Badezimmerspiegel hallte. Der minzige Geschmack ihrer Lieblingszahnpasta legte sich auf ihre Zunge, während sie mit groben, selbstbewussten Stößen die Zahnbürste über ihre inzwischen leicht verfärbten Zähne schrubben ließ. Zuviel Tee und Kaffee: Das hält selbst das strahlendste Lächeln nicht ewig aus und Mathea wurde diesen Herbst immerhin stolze 32 Jahre alt. Nichtsdestotrotz grinste sie sich selbst entgegen in freudiger Erwartung auf den Tag, der sich ganz jung und unverbraucht vor ihr erstreckte. Aufgeregt wie eine Jugendliche in der Blühte ihrer Pubertät hopste sie mit nackten Füßen über das warme Parkett ihrer Zweizimmerwohnung am Rande der Hauptstadt, griff sich passende Unterwäsche, ihre Lieblingsjeans und ein eigens für den heutigen Anlass gekauftes, grünes Oberteil aus dem Schrank. Mit einem Gähnen kämmte sie sich durch ihre lockigen, schwarzen Haare, die noch nass waren vom Duschen und nun die Schultern und Ärmel ihres Tops tränkten. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel ihrer Kommode – das alltägliche Ende ihres Bekleidungsrituals, dann verließ sie das Schlafzimmer und tappste mit beschwingtem Schritt in die Wohnküche. Keine fünf Minuten später ratterte die Kaffeemaschine, als sie heißes Wasser durch kleines Pads presste. Mathea nahm jedes Mal zwei Pads, dachte gar nicht daran, nur einen kleinen Kaffee zu trinken. Sie hatte einiges vor, da brauchte man einen klaren Kopf und den versprach erfrischendes Koffein. Der Duft gerösteter Bohnen stieg ihr in die Nase, als sie zufrieden seufzte und sich fragte, wie manche Menschen diese furchtbaren Energydrinks mit ihrem Zucker einer klassischen, erprobten Tasse Kaffee vorziehen konnte. Banausen. Als Mathea auf die Uhr blickte, während sie einen Schuss fettarmer Milch in ihr morgendliches Getränk kippte, errechnete sie sich, dass ihr ganze neun Stunden blieben, bis Moment X erreicht war. Das waren 540 Minuten, die sorgsam genutzt werden mussten. Carpe Diem, sagte sich Mathea, und erstellte wie gewohnt einen gedanklich festgehaltenen Zeitplan, während sie eine Kiwi schälte, in kleine Würfel schnitt und zusammen mit Honigmelone und Erdbeeren in eine Schale warf. Es folgten fettreduzierter Naturjoghurt und drei Löffeln des zuckerfreien Müslis, alles wurde mit einer Prise Zimt und einer Handvoll Trockenfrüchten vermengt. Mit stolzem Blick auf ihr gesundes Frühstück machte sie sich ihre zweite Tasse Kaffee, setzte sich anschließend in ihre kleine Essecke, stellte das Radio an und genoss ihr Frühstück. Es ist ein Tag um kreativ zu sein, dachte sie sich und pickten mit den Finger ein Stück Obst aus ihrem Früchtemüsli, wie sie es immer tat, bevor sie den Rest löffelte. Mit den Fingern schmeckt es immer am Besten. Das gilt nicht nur für Pommes, sagte ihr Vater immer. Wie Recht er doch hatte! Ihr Handy vibrierte. Neugierig schnappte Mathea nach dem kleinen Gerät und spürte, wie ihr Herz einen Hüpfer machte, als sie den Absender der Nachricht erkannte. Ein aufgeregtes Glucksen entwich ihren schmalen Lippen, als sie auf den Display drückte und hastig die wenigen Worten las, die sie gerade empfangen hatte. Guten Morgen Sonnenschein :-) Muss heute noch was im Büro erledigen. Kann also erst eine Stunde später. Sorry! Matheas Laune verfinsterte sich schlagartig, als sie die Nachricht ein zweites Mal überflog. Es folgte ein dritter Durchgang mit einer kleinen Pause nach jedem Wort. Missbilligend verdunkelte sie den Bildschirm ihres Smartphones, schob es verbittert von sich weg und untermalte ihre Stimmung mit einer protestierend vorgeschobenen Unterlippe. Das war wohl die mit Abstand beleidigenste Nachricht, die sie je bekommen hatte! Nicht nur, dass er sie versetzte, nein, er nannte sie auch noch einen Sonnenschein. Zynisches Arsch. Und was sollte dieser Smiley? Waren sie etwa Teenager? Frivol… Ganz davon abgesehen, sagte sich Mathe, sollte er nicht länger im Büro bleiben müssen. Schließlich war Freitag! Hatte er etwa eine andere? War ihre Romanze vorbei, ehe sie begonnen hatte? Vielleicht bin ich ihm zu langweilig, zu hässlich, zu verklemmt!, dachte sich Mathea, stand auf und stapfte verdrossen zu ihrem Lieblingsfach in ihrer kleinen Einbauküche. Versteckt hinter einer Reihe unterschiedlichster Gewürzdöschen, die wie eine Mauer der Scham und Reue den hinteren Teil des Schrankes verdeckten, sammelte sich eine vielfältige Auswahl an Schokolade und anderen süßen Sünden. Unentschlossen stellte sich Mathea auf ihre Zehenspitzen, um den Blick über ihre geliebten Naschereien zu verbessern. Nach kurzem Zögern entscheid sie sich für die Kekse mit der Zartbitterschokoladenfüllung, denn so früh am Morgen sollte man es nun wirklich nicht mit dem Zucker übertreiben. Genüsslich ließ sie das Gebäck über ihre Zunge wandern, während sie sich gegen die Küchentheke lehnte und in Gedanken den Mann verfluchte, der ihr soeben ihre gute Laune vermiest hatte. Wie konnte er sie nur versetzen? Kaum war der Keks verschwunden, hatte die Schokolade ihre Sucht geweckt – warum war sie auch nur so lecker? Mathea griff in eine Dose neben ihrer Herdplatte, schnappte sich einen dunklen Brownie und stapfte zurück zum Frühstückstisch. Es war nun sechs Wochen her, seit sie Joshua bei einem Kochkurs kennengelernt hatte. Gleich war er ihr aufgefallen: Einen halben Kopf größer als sie, nicht schlank, aber ohne Bierbauch, kurzes dunkelblondes Haar, ein nettes Lächeln, nicht zu hübsch und nicht zu schüchtern, etwa in der Mitte seiner Dreißiger. Mathea konnte direkt einige Stichpunkte ihrer mentalen Liste über die Bedingungen eines heiratswürdigen Mannes abhaken. Sie war zufrieden, begann das Gespräch mit ihm und kaum hatte er von seiner Arbeit als Lateinlehrer auf einem Gymnasium berichtet, da war die Sache geritzt. Eine Woche später (nicht zu früh und nicht zu spät, denn Mathea wollte schließlich interessant und beschäftigt wirken) hatten sie ihr erstes Date bei ihrem Lieblingsitaliener unten an der Straßenecke nahe dem Stadtwald. Er machte schlechte Witze, sie lachte unter kokett vorgehaltener Hand: Alles war perfekt. Und nun diese Nachricht… Weiterhin beleidigt biss Mathea und die dunkelbraune Schokoladenmasse in ihrer Hand. Ihr Geheimnis waren 100g mehr Butter, denn die machten die Brownies wunderbar schlotzig und saftig, so wie es Mathea liebte. Tröstend verteilte sich der süße Teig in ihrem Mund, während sie unzufrieden mit sich und der Welt ihren Kopf auf einer Hand abstützte. Nun begann auch noch der Knopf ihrer Hose gegen ihren Bauch zu drücken – als ob sie nicht schon genug Probleme hätte! Frustriert gönnte sie sich einen weiteren Bissen. Die Hose musste eingelaufen sein… Eine andere Erklärung kam gar nicht in Frage. Außerdem liebten Männer Kurven, oder nicht? Und ihre Kurven schienen mit jedem Lebensjahr ausgefeilter zu werden. Ob Joshua Kurven mochte? Mathea seufzte und kaute auf den letzten Resten des Brownies, bevor sie sich ihrem gesunden Früchtemüsli widmete. Vielleicht reagierte sie auch über, dachte sie sich. So wie in ihrer letzten Beziehung, die endete, weil sie auf dem Internetprofil ihres Freundes eine Nachricht von einer unbekannten Frau gefunden hatte. Rebecca hatte sie geheißen und freche Zwinkersmileys verschickt. Wer hatte eigentlich diese idiotischen Smileys erfunden? Unnötig, fand Mathea. Am Ende hatte sich herausgestellt, dass die gute Frau nur eine Freundin seiner Schwester aus Kindheitstagen war, doch der Freund war genervt und wollte sich nicht länger mit den Gemütsschwankungen einer latent eifersüchtigen Frau herumschlagen. Ihr Temperament war schon immer etwas feurig gewesen, das wusste Mathea, doch wie sollte man es ändern? Nachdenklich ließ sie ein Stück Kiwi über ihre Zunge flutschen, um es vom Joghurt zu befreien und den vollen Geschmack genießen zu können. Es schnalzte, Mathea war zufrieden. Zufriedener, Mathea war zufriedener. Der Komparativ war angebrachter als der Positiv, musste sie sich eingestehen, schließlich war sie immer noch von Joshua versetzt worden. Joshua und sein niedliches Lachen. Gleich bei ihrem ersten Treffen war ihr aufgefallen, dass es etwas zu laut war, als wolle er seine Freude mit allen anwesenden Menschen teilen. Als sie ihn damals ansprach, wurde seine Stimme vor Nervosität höher. Bei ihrem ersten Date konnte Mathea nicht anders als wahrzunehmen, wie er sich jedes Mal, bevor er einen schlechten Witz erzählte, an die Nase packte. Es war ein Tick, eine seltsame Angewohnheit, schwer loszuwerden, doch eine Angewohnheit, die sie von da an immer mit Joshua Schubert verbinden würde. Sie liebte es. Zwei Wochen später fand sie heraus, dass er dazu neigte, an seinen Fingernägeln zu kauen, wenn er ein spannendes Spiel verfolgte. Es war Fußball-WM und Mathea hatte sich an jenem Tag dazu breitschlagen lassen, ein Spiel mit ihm zu gucken. Er war so hinreißend, wenn er wie ein kleiner Junge auf seinem Stuhl hin und her rutschte, ohne zu wissen, wie er seine Nervosität zügeln sollte. Sie hatte sich unmittelbar in den Anblick verguckt. Dennoch dauerte es zwei weitere Wochen, bis Mathea ihren Entschluss fällte. Sie waren das erste Mal in seiner Wohnung gewesen. Auf dem Flur hing ein Spiegel, etwa anderthalb Meter lang mit einem breiten, dunkelbrauen Rahmen, wie man ihn in einer dieser zahlreichen Möbelfabrikketten fand. Eigentlich mochte Mathea diese Massenware nicht, sie kaufte lieber in kleinen Läden mit exklusiver Auswahl, doch in Joshuas Wohnung schien der Spiegel nahezu einzigartig, mit seiner ganz eigenen Persönlichkeit: So wie sein Besitzer selbst. Keine zwei Stunden nachdem Mathea die Wohnung betreten hatte, war ihr aufgefallen, wie Joshua jedes Mal, wenn er an dem Spiegel vorbeilief, für einen kurzen Moment sein Aussehen überprüfte und sich keck mit den Fingern durch das blonde, kurze Haar fuhr. Dabei wirkte er gar nicht arrogant, nein, Mathea wusste, dass es ebenfalls eine Angewohnheit erwachsen aus seiner Nervosität war. Eine niedliche Angewohnheit. Am Ende des Abends fand sie immer mehr Vorwände, um Joshua an dem Spiegel vorbeschreiten zu lassen, nur um seinen prüfenden Blick zu verfolgen. Allein die Erinnerung reichte aus, um sie am Frühstückstisch laut seufzen zu lassen. Damals hatte sie einen Entschluss gefasst, nachdem sie verstanden hatte, was sie Liebe ausmachte. 32 Jahre Lebenserfahrung, drei gescheiterte Beziehungen, jede Menge Frust und aufgrund all dieser Widrigkeiten zwei zusätzliche Kleidergrößen hatte es gebraucht, um Mathea verstehen zu lassen, worauf es in der Liebe wirklich ankam: Es waren die Angewohnheiten. Zumeist schlechte. Schlechte Angewohnheiten, in die sich nur wenige Menschen verlieben konnten. Wenn sie es taten, dann mit Leib und Seele, sodass es kein Zurück mehr gab und die Hochzeitsglocken läuten würden. Mathea gluckste zufrieden, während sie mit ihrem Zeigefinger die letzten Joghurtreste aus ihrer Müslischale strich und genüsslich mit ihrer Zunge abschleckte. Joshuas kleine Laster, die so viel Liebe mit sich bringen konnten, hatten zu einer Erkenntnis geführt, die Mathea endlich verstehen ließ, weshalb sie ihr Glück in der Liebe immer noch nicht gefunden hatte und sie zur scheinbar ewigen Brautjungfer geworden war Es war eine Schande, schlussfolgerte Mathea und biss sich ermattet auf die Unterlippe. Wie sollte sie jemals ihren Traumprinzen finden, wenn sie doch keine schlechten Angewohnheiten hatte? Das Leben blieb uncharmant unfair, wurde ihr bewusst. Langsam erhob sie sich vom Frühstückstisch, stellte ihr Geschirr in die Spülmaschine und machte sich einen erneuten Kaffee, um ihr aufgebrachtes Gemüt zu beruhigen. Es war der Spiegel in Joshuas Wohnung, der ihr gezeigt hatte, dass es endlich an der Zeit war, eine schlechte Angewohnheit für sich selbst zu finden. Etwas Einzigartiges. Etwas, das sie auszeichnete. Nur sie. Mathea. Mathea und ihr kleines Laster. Sie fühlte sich nahezu verwegen, als sie gedankenversunken fettarme Milch in ihren Kaffee schüttete. Für was würde sie sich nur entscheiden? Die Qual der Wahl, stellte Mathea mit einem Seufzen fest, öffnete den kleinen Metallbehälter neben der Kaffeemaschine und griff nach einem zweiten Brownie – Es war Zeit für Kreativität! Schokolade hatte ihr schon immer geholfen, sich zu konzentrieren. Mit leerem Blick gegen die Küchenwand presste sie das dunkle Gebäck in ihrer Hand zusammen, bis weiche Schokoladenmasse an den Seiten hervorquoll. Routiniert schleckte Mathea diese auf, kurz bevor sie drohte auf den Boden zu fallen. Dann widmete sie sich den weniger flüssigen Teigresten. Vor einigen Wochen, erinnerte sich Mathea, hatte sie einen dieser französischen Filme geschaut. Wie so oft handelte er von einer junge Frau in Paris, die gerne alte Bücher in kleinen Cafés las, dabei an einem Kaffee nippte und kokett eine Zigarette rauchte. Frech lachte sie die Männer an, die an ihr vorbeschritten, während sie den ungesunden Glimmstängel zwischen Mittel- und Zeigefinger gepresst in die Luft hielt, sodass sich der Rauch in ihren aufreizenden, kurzen Haaren verfing. Ich könnte eine solche Frau sein, dachte sich Mathea, während sie ihre Finger abwechselnd in den Mund steckte, um sie von den Resten ihrer kleinen Sünde zu befreien. Sie hatte die kurzen Locken, mochte Kaffee, las hier und da ein Buch… Nur an die Zigaretten würde sie sich gewöhnen müssen, denn die waren ein zentrales Element im Arrangement der jungen, gebildeten Frau im Café, deren geheimnisvolles Leuchten in den Augen die Männer niederknien ließ. Mathea lachte zufrieden: Das würde ihrem Joshua sicher gefallen! Doch alsbald ein Grinsen ihre Lippen zierte, überschatte ein Problem ihren perfiden Plan. Schmerzlich erinnerte sie sich daran, wie sie im zarten Alter von vierzehn Jahren mit ihrer damals besten Freundin ihre erste Zigarette probiert hatte. Nach einem Zug hatte sie bereits schrecklich gehustet, angewidert den Rauch von ihrer Zunge zu spucken versucht und beschlossen, diese grässlichen Dinger niemals wieder anzufassen. Ihr damaliger Anblick war mit Sicherheit alles andere als kokett gewesen. Unentschlossen drehte Mathea eine ihrer schwarzen Locken um ihren rechten Zeigefinger und richtete ihren Blick zur Decke. Es würde Wochen brauchen, bis sie Zigaretten auf eine attraktive Weise rauchen konnte und einmal ganz davon angesehen: Was, wenn Joshua keine Raucher mochte? Eine andere Idee musste her und so legte Mathea ihre Handflächen auf die Oberfläche der Küchenzeile hinter sich, stemmte ihren Körper nach oben, setzte sich und ließ ihre Beine im Leeren baumeln. Es waren die kleinen Ungereimtheiten, welche die Neugierde in Menschen weckten und sie brauchte schleunigst welche, wenn sie einen passenden Mann finden wollte, bevor sie zu alt war, um ihren Traum von einer Familie, dem kleinen Haus in der Vorstadt und einem Hund zu verwirklichen. Natürlich, es war albern. Mathea wusste, dass sie ihre Phantasien zu einer kleinen Hausfrau mit limitierter Welt werden ließen und das sogar vollkommen freiwillig von ihr und ohne Zwang. Doch Mathea hatte ihre Träume seit sie ein kleines Mädchen war und im Gegensatz zu der anstrengenden, frustrierenden und zumeist zermürbenden da zum Scheitern verurteilten Philosophie des einundzwanzigsten Jahrhunderts, nach der jeder Mensch sein Leben immer und überall zum Vollkommensten ausleben musste, wenn er denn nicht unglücklich und reumütig enden wollte, genoss Mathea ihren Wunsch von der kleinen Familie wie ein Bastille gegen die Hektik der modernen Zeit. Es musste wohl die schlechte Angewohnheit ihrer Generation sein, nahezu unmöglich loszuwerden, ersann Mathea, dass die Menschen nur glücklich waren, wenn sie die Welt bereisten, wann immer sie Urlaub von ihrem Traumjob hatten, mit einem klassischen Roman in der einen und einem Baby in der anderen Hand, wobei sie einer ihrer Extremsportarten nachgingen, um sich am Abend einen Teller ihres kohlenhydratfreien Essens zu gönnen. Die Welt nahm sich nicht mehr die Zeit, um durchzuatmen und zu genießen. Aussichten wurden schon lange nur noch durch Kameraobjektive betrachtet und kein Kindergeburtstag genossen, ohne tausend Videos und Bilder zu machen, die zwar das Kinderspiel unterbrachen, doch im Anschluss stolz im Internet geteilt wurden. Denn ich bin, wenn die Welt weiß, was ich tue, dachte sich Mathea mit bitterem Beigeschmack auf der Zunge, und erinnerte sich mit einem rebellischen Grinsen daran, wie sie vor wenigen Wochen, kurz bevor sie den Kochkurs begonnen hatte, in einem seltsamen Gemisch aus einem Anflug von Wut auf die Gesellschaft und dem Wunsch zur Andersartigkeit ihren Account bei einem sozialen Netzwerk gelöscht hatte. Internetsucht und das Bedürfnis jeden ihrer Schritte mit anderen zu teilen waren ganz sicher keine schlechten Angewohnheiten für sie und dem zermürbenden Tempo der modernen Welt wollte sie auch nicht zum Opfer fallen. Mathea seufzte laut auf und sprang von der Küchenzeile: Das war schwieriger, als sie erwartet hatte! Um ihrem Kopf auf die Sprünge zu helfen, ließ Mathea abermals heißes Wasser durch ihre Kaffeemaschine rattern und stellte kurz darauf fest, dass sie nach dem letzten Mal vergessen hatte, die Milch zurück in den Kühlschrank zu stellen. Was sich an diesem Morgen als erfreuliche Erleichterung herausstellte, war anderem Essen schon oftmals zum Verhängnis geworden, denn Mathea vergaß gerne mal, Dinge zurückzubringen. Doch wer tat das nicht?, sagte sie sich jedes Mal, wenn die Reste vom Vortag auf der Küchenzeile schlecht geworden waren. Außerdem aß sie ohnehin nicht gern zweimal hintereinander das Gleiche. Skeptisch blickte sie an sich herab und musterte das Outfit, das sie schon Tage zuvor zusammengestellt hatte. Joshua würde sich niemals in sie verlieben, wenn sie nicht wenigsten eine kleine, charmante wenn auch lasterhafte Eigenschaft in sich kreierte… Zweifel stiegen in ihr auf und mit einem Mal war sich Mathea nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt zu dem Treffen gehen sollte. Vielleicht sollte sie einfach zu Hause bleiben und ein heißes Bad nehmen, wie beim letzten Mal, nachdem ihr damaliges Date, Philipp, gestanden hatte, dass er etwas für sie empfand. Mathea war panisch geworden, hatte sich mit einer flüchtigen Ausrede entschuldigt, war zu ihrer Wohnung gefahren, wo sie sich mit einem Glas Rotwein, einer Tafel Schokolade und jeder Menge Kerzen begleitet von schnulziger Musik in ihr Badezimmer zurückgezogen hatte, um in einer Zeremonie der Angst vor dem Verpassen Phillips Nummer zu löschen. Wenn sie sich festlegte, dann musste es zu hundertprozentiger Sicherheit der Mann ihres Lebens sein, hatte sie sich damals gedacht, und bei ihm war sie sich nicht sicher genug gewesen. Dennoch: Bis heute vermisste sie komischer Weise immer mal wieder den Anblick von Philipp, wenn er sich nachdenklich den Kinnbart zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte. Aber das war nun alles Geschichte, passiert war passiert, Zeit nach vorn zu blicken. Auf Mathea wartete ein zum Großteil gutaussehender Sekundarstufenlehrer und dieser musste überzeugt werden, dass er sich momentan mit der Frau traf, die in überschaubarer Zeit seine Kinder zur Welt bringen würde – und die er aus selbigen Grund ganz sicher nicht noch einmal versetzen durfte! Entschlossen zog Mathea ihren Bauch ein, schnappte sich einen letzten Schokoriegel aus ihrem Geheimfach hinter den Gewürzdöschen und Schritt nachdenklich durch ihre Wohnung, die sie so liebevoll mit vielen kleinen Details dekoriert hatte. Ob sie an diesem Abend Joshua mit zu sich einladen würde? Sie könnten Tee trinken und über Bücher reden, die sie einst gelesen hatten. Mathea würde ihre schwarzen Locken zum Tanzen bringen und vielleicht würde Joshua sie daraufhin auch ohne Zigarette kokett finden. Sie würde einen Spiegel unauffällig platzieren, sodass er sich ab und an darin betrachten konnte und dann würde sie einige ihrer geliebten Kerzen aufstellen, sie so wunderbar nach Vanille rochen. Nach dem Tee folgte ein Rotwein und irgendwann, in zwei oder drei Jahren, würden sie sich an diesen Abend erinnern, während sie das Netz nach einem gemeinsamen Haus durchsuchen würden. Mathea gluckste vergnügt. Wie sehr sie es doch liebte Pläne zu schmieden! Wenn Joshua das nur wüsste… Das Vibrieren eines Handys riss Mathea aus ihren Gedanken. Nachdenklich legte sie den Kopf schief, stellte ihre Kaffeetasse in einem der zahlreichen kleinen Regale an den Wänden ihrer Wohnküche ab, wo sie sie sicherlich wie so oft vergessen würde, und schritt zum Küchentisch. Als sie den Namen des Absenders las, machte ihr Herz einen Sprung und für einen Moment quiekte sie wie ein kleines Schulmädchen auf dem Weg zum Abschlussball. Aufgeregt drückte sie auf den Display und wartete ungeduldig, bis das kleine Gerät die Nachricht geladen hatte. Bitte vergiss was ich geschrieben habe. Ich werde den Termin verschieben, damit wir beide heute Abend mehr Zeit haben. Ich freue mich schon :-) „Und ich mich!“, rief Mathea in die Stille ihrer kleinen Wohnung hinein und hopste vergnügt, bevor sie nervös von Raum zu Raum schritt, ohne zu wissen, wie sie die letzten Stunden überbrücken sollte. Alle Wut war vergessen, alle Unsicherheit nach hinten geschoben, alle Angst… Keine zehn Minuten nachdem Mathea die Nachricht gelesen hatte, hielt sie abrupt inne, fand sich vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer wieder und betrachtete unsicher ihr Spiegelbild. Eigentlich sah sie wirklich niedlich aus, dachte sich Mathea und drehte sich nachdenklich von links nach rechts. Ob Joshua wirklich der Mann ihrer Träume war? Und warum kam ihr gerade jetzt dieser Gedanke? Hitze stieg in ihre Wangen, bis es unerträglich wurde und sie verunsichert zurück in die Küche stapfte. War genügend Wein im Haus? Als sie das nächste Mal auf die Uhr schaute, war eine Stunde vergangen, ohne, dass sie es bemerkt hatte. Schweigend hatte sie an ihrem Küchentisch gesessen, ihre Locken um den Zeigefinger gedreht und war dabei immer wieder in Gedanken Joshuas Vorzüge und Makel durchgegangen. Reichten Mathea seine kleinen Ungereimtheiten, um sich in ihn zu verlieben? Sie befürchtete immer mehr, dass er sich vielleicht nie in sie verlieben konnte, schließlich hatte sie einfach keine dieser kleinen lasterhaften Einzigartigkeiten und am Ende würde er sie sitzen lassen und sie hätte ein weiteres Mal Wochen ihres kostbaren Lebens vergeudet. Zum zehnten Mal las Mathea die beiden Nachrichten, die sie an diesem Morgen erhalten hatte und versuchte die Zweifel in ihrer Brust herunterzuschlucken. Es wollte ihr nicht gelingen. Nach einer weiteren Stunde sammelte sich eine kleine Träne am Rande ihres Auges, als Mathea aufstand und mit zermürbender Gewissheit zur Kaffeemaschine schritt. Vielleicht gab es da doch eine Angewohnheit, wurde ihr mit einem Mal bewusst: Die gemeine Gepflogenheit ihrerseits mit Sicherheit ihr Ideal finden zu wollen und dabei das Gegebene schlechtzureden. Mathea seufzte, als sie das Rütteln der Maschine hörte und den herben Geruch der Kaffeebohnen einatmete. Joshua verschwand immer weiter aus ihren Gedanken und wich der Idee einer warmen Badewanne, Wein und Duftkerzen. Was, wenn da draußen noch ein anderer Mann auf sie wartete? Jemand, der noch besser zu ihr passte? Sie durfte ihre Zeit nicht vergeuden und eigentlich wollte sie doch ohnehin keinen Kerl, der sich immer nur selbst im Spiegelbild betrachtete, nicht wahr? Oder? Mathea sah sich unsicher um, doch gab es in ihrer Wohnung nichts, das ihr die Bestätigung zusichern konnte, die sie gerade brauchte. Sie hatte wohl doch eine schlechte Angewohnheit, stellte Mathea mit einem müden Lächeln fest und auch dieses Mal wollte sie sich nicht von ihr trennen. Doch Joshua würde, wie es die unabwendbare Konsequenz sein musste, niemals die Gelegenheit bekommen, sich in ihr kleines Laster zu verlieben… ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)