Mädchen mit der Gitarre von Melange (~ギターを持った少女~) ================================================================================ Kapitel 16: Sechzehn -------------------- Am Abend seines Geburtstags entführt Izumi Koi in ein schickes Restaurant auf der Ginza. "Bist du sicher, dass du mich einlädst?", fragt Koi auf dem Weg durch eine spärlich erleuchtete Seitengasse. "Ja, ich bin sicher." "Na gut. Nicht, dass du mir meine Würde als Mann nimmst, überhaupt nicht." "Urusai. Wenn du dich weiter beschwerst, lass ich dich hier stehen." Trotz der Drohung kann Izumi das Grinsen nicht unterdrücken. Kois Hand auf ihrem Arm zieht sie näher an sich. "Tust du nicht." Natürlich hat er Recht und er weiß es. Ein paar Schritte weiter betreten sie das Restaurant, ein Geheimtipp mit nur wenigen Tischen. Henri hat ihr versichert, dass sein ehemaliger Kollege, der es vor einem Jahr eröffnet hat, viel Wert auf Atmosphäre und Ruhe legt. Als sie die zwei Stufen hinunter steigen und eintreten, sieht Izumi, dass er nicht zu viel versprochen hat. Zwischen hölzernen Trennwänden sitzen Paare in gemütlichen Nischen zusammen. An den Wänden hängen westliche Malereien, monochrom oder voller impressionistischer Farbkleckse, und verhangene Lampen schaffen ein gedämpftes warmes Licht. Ein Kellner begrüßt sie mit vollendeter Höflichkeit und geleitet sie zu ihrem Tisch. "Es ist sehr schön hier", sagt Izumi und greift nach Kois Hand. Er drückt sie. "Es riecht nach Gewürzen, Zimt und ... Wachs." Izumi lächelt. Der Kellner hat die Kerze am Tisch angezündet. Sie sprechen über alltägliche Dinge, bis das Essen serviert wird. Koi bestellt Rotwein und zieht damit Izumi auf, die immer noch minderjährig ist. Als sie beginnt, ihr Fleisch zu schneiden, wirft sie Koi einen Blick zu und merkt, dass er sich nicht rührt. Ihr Herz setzt einen Schlag aus, als sie den Fehler erkennt. "Oh! Tut mir leid, ich hätte fast vergessen ..." Ein blasses Lächeln huscht über seine Züge. "Kein Problem. Es ist eine Weile her." Izumi beeilt sich, ihm mit Worten eine Landkarte seines Tellers zu malen, damit er sich zurechtfindet. Für eine Weile ist nur das metallische Klackern des Bestecks und gedämpfte Gemurmel der anderen Gäste zu hören. Schließlich beginnt Izumi, von Sawakos Abenteuer an der Uni zu erzählen, nur um irgendetwas zu sagen. Am Ende bringt sie ihn mit Geschichten zum Lachen, die angeblich auf der letzten Party ihrer AG passiert sind. Izumi hat den Kellner gebeten, vor dem Dessert ein wenig zu warten. Jetzt greift sie über den Tisch nach Kois Hand. "Koi, ich bin froh, dass wir endlich deinen Geburtstag zusammen feiern können. Alles Gute." Er neigt lächelnd den Kopf. "Danke. Ich bin auch froh, aber warum so formell?" "Ich hab etwas für dich." Vorsichtig holt sie den Umschlag aus ihrer Handtasche und schiebt ihn zwischen Kois Finger. Mit erwartungsvoller Miene reißt er das Papier auf, nimmt die zwei Karten heraus und betastet sie. Ein Schatten fällt über seine Züge, als er den Kopf senkt. "Was ist das?" Izumi strahlt. "Flugtickets nach Hawaii. Du und ich, in drei Monaten." Koi hebt abrupt den Kopf. Einen Moment lang sitzt er nur da, sprachlos, die Tickets in Händen. "Meinst du das ernst? Kein Witz?" "Das ist die Wahrheit." Die Begeisterung, die Izumi erwartet hat, bleibt aus. Stattdessen schiebt die Tickets zurück in den Umschlag und legt ihn zwischen sie auf den Tisch. "Izumi, das ist ein wunderbares Geschenk ... viel mehr als ich erwartet hätte. Aber ich weiß nicht, ob ich es annehmen kann." Izumi wirft die Hände in die Luft. "Und warum nicht?" "Du weißt, wie sehr ich tägliche Routine brauche, um unabhängig zu sein. In einer fremden Umgebung würde ich mich überhaupt nicht zurecht finden." Sie holt Luft, um zu kontern, aber er redet bereits weiter. Seine Stimme wird immer leiser. "Ich habe noch nie eine längere Reise unternommen. Nicht einmal nach Kyoto, geschweige denn ins Ausland." Izumi zwingt sich, über seine Worte nachzudenken. Koi wirkt ehrlich betrübt darüber, ihr Geschenk nicht würdigen zu können. Aber hat er nicht selbst gesagt, dass er sich in Zukunft auf sie verlassen wird? "Koi ... Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich immer an deiner Seite bleiben werde. Das Versprechen konnte ich nicht halten, aber ich will es erneuern. Wohin du auch gehst, du bist nicht mehr alleine. Ich passe auf dich auf." Er lacht hart auf. "Du hast da was verwechselt." "Ich meine es ernst." Seine Finger streichen langsam über das Papier des Umschlags. "Ich würde dich nur zurückhalten." Izumi greift nach seiner Hand. "Unsinn. Ich hab die Reise gebucht, um Zeit mit dir zu verbringen. Außerdem ist sie dein Geburtstagsgeschenk." "Bist du sicher?" "Ja, Dummkopf." Koi wirkt immer noch alles andere als begeistert, aber unter den verspiegelten Gläsern zeichnet sich ein Hoffnungsschimmer ab. "Ich denke darüber nach, ja?" Izumi lächelt. "Gut." In dem Moment wird das Dessert gebracht. Für eine Weile sind sie mit Kuchengabeln und Sahne beschäftigt. Izumi besteht darauf, Kois Kirschtorte zu kosten, und bringt ihn im Gegenzug dazu, sich von ihr mit Schokoladeglasur füttern zu lassen. Als der Kellner die leeren Teller abräumt, räuspert sich Koi in das kurze Schweigen hinein. "Danke für das leckere Essen." Izumi lächelt. "Wenn du nicht an deinen veralteten Vorstellungen festhalten würdest, könnten ich dich öfter einladen." Er grinst flüchtig. "Izumi ... Du hast mir ein wunderbares Geschenk gemacht. Es tut mir leid, dass ich nicht richtig zeigen konnte, wie sehr ich mich darüber freue." Izumi schüttelt automatisch den Kopf. "Du musst nichts erklären." "Nein, ich will, dass du das weißt. Ich würde niemandem erlauben, diese Macht über mich zu haben. Niemandem außer dir." Izumi spürt, wie ihr Hitze in die Wangen steigt, und senkt verlegen den Kopf. In dem Moment vergisst sie völlig, dass er sie nicht sieht, so sehr prickelt seine Aufmerksamkeit auf ihrer Haut. Als Stuhlbeine über den Boden kratzen, sieht sie auf. Koi kommt auf sie zu, die Fingerspitzen zur Orientierung an der Tischkante, und bleibt dicht vor ihr stehen. "Da ist noch etwas, das ich dir sagen will." "Ja?" Izumis Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. Als er die Hand unter sein Jackett schiebt, beschleunigt sich ihr Herzschlag. Tatsächlich sinkt er vor ihr auf ein Knie, holt ein kleines schwarzes Kästchen hervor und öffnet es mit einer eleganten Handbewegung. Im marineblauen Futter glitzert ein silberner Ring, zwei schmale Bänder, die ineinander verschlungen einen zarten Kreis bilden. Ihr Blick wandert hinauf zu Kois Gesicht. Sie hat ihn noch nie so ernst gesehen wie in dem Moment, als er feierlich die Stimme erhebt. "Yorioka Izumi ... willst du mich heiraten?" Einen Moment lang ist sie sprachlos und lauscht auf die Stille, die durchbrochen von kleinen Hintergrundgeräuschen in ihren Ohren dröhnt. Kois Mundwinkel senken sich bereits, als sie ihre Stimme wiederfindet und die erstbesten Worte hervorstößt. "Was fällt dir ein, mich so zu überraschen?" Unsicher neigt er den Kopf. "Ähm ... ich liebe dich?" Der Anblick gibt ihr den Rest. Lachend fällt sie ihm um den Hals. "Ja! Ja, ich will, was denkst du denn?" Als sie sich wieder halbwegs unter Kontrolle hat, schiebt sie die Brille hoch in sein Haar und findet seine Lippen. Trotzdem muss sie durch den Kuss lächeln und steckt ihn an. Danach entwirren sie vorsichtig ihre Glieder und stehen auf. Izumi setzt sich auf Kois Schoß und er steckt ihr mit unendlicher Vorsicht den Verlobungsring an. Danach hebt er ihre Hand an die Lippen. "Weißt du was?" "Was?", haucht sie ihm ins Ohr. In der eigentümlichen Geste, die ihr so vertraut ist, schmiegt er die Wange an ihre Hand und schließt die farblosen Augen. "Heute hast du mich zum glücklichsten Mann auf Erden gemacht." Izumi lehnt sich gegen seine Brust und sagt nichts. Mit wenigen Worten hat er ausgesprochen, was auch sie fühlt, und noch mehr. Zwar ist ihr unbegreiflich, dass jemand wie Koi Zweifel an ihrer Antwort haben könnte, aber seine Erleichterung ist offensichtlich. An seiner Seite schmilzt sie, bis nur mehr überwältigende Liebe bleibt. "Jetzt gehöre ich dir", murmelt sie in sein Ohr. Erst als sie die Worte ausspricht, wird ihr die Bedeutung bewusst. Von allen Mädchen, die er treffen hätte können, hat er sie ausgesucht. Wahrhaftig und endgültig. Izumi gehört ihm. "Und ich vertraue darauf, dass du mich führst. Immer." Ein besseres Geständnis seiner Liebe hätte er ihr nicht geben können. Später schlendern sie durch die bunt erleuchteten Straßen und nehmen die Bahn zurück zu Kois Wohnung, wo Sawako, Kozue, Henri und die Band sie bereits zur Überraschungsparty erwarten. Als wahre beste Freundin bemerkt Sawako nach wenigen Minuten den Ring an Izumis Finger. Koi verkündet strahlend die frohe Botschaft, die mit Applaus und Umarmungen begrüßt wird.       Koi kennt nicht genug beruhigende Worte, um Izumi die Ehrfurcht vor seinen Eltern und ihrem majestätischen Anwesen zu nehmen. Als der Chauffeur sie vor dem Haupteingang absetzt, ist sie genauso überwältigt wie vor fast einem Jahr.  "Komm schon", sagt Koi, tastet nach ihrer Hand und zieht sie in den Innenhof. Der Anblick der kahlen Büsche und dunklen Erde der Beete, die selbst im Winter auf eine meditative Art und Weise elegant wirken, beschwört alte Erinnerungen herauf. Während Koi voranschreitet, wirft sie ihm einen nachdenklichen Blick zu. Was hat Hiromi gesagt? Die Probleme mit unseren Eltern beschäftigen ihn immer noch. Diesmal hat Izumi das seltsame Gefühl, besser vorbereitet zu sein. Koi hat seine Eltern in der Zwischenzeit ebenfalls nicht gesehen. Bei diesem Besuch steht sie nicht mehr einen Schritt hinter ihm, auf seine Vorstellungen und Erklärungen angewiesen, sondern neben ihm. Diese Erkenntnis flößt ihr eine unerklärliche Ruhe ein. "Die Ruhe vor dem Sturm", hat Koi gesagt, als sie versucht hat, das Gefühl zu erklären. Izumi hat gelacht, um zu überspielen, wie nervös sie ist. Jetzt überqueren sie zum zweiten Mal die kleine Brücke und betätigen die Klingel neben dem hölzernen Türrahmen, aber im Gegensatz zum letzten Besuch öffnet Kois Bruder. Lächelnd breitet er die Arme aus und bittet sie herein. "Ihr kommt genau richtig." "Wofür?", fragt Izumi. Hiromi seufzt und lehnt sich gegen das Schuhregal. "Meine Freundin ist hier. Ihr werdet sie kennenlernen." Gegen alle Vernunft ist Izumi erleichtert, dass sie nicht alleine mit den Oriharas bleibt. Als Hiromi sich umdreht, um sie an den Esstisch zu geleiten, berührt sie sanft Kois Arm. "Hast du gewusst, dass er eine Freundin hat?" "Nein." Kumiko stellt sich als klassische Schönheit heraus, dunkle Augen, hohe Wangenknochen und Lilienteint. Trotzdem wirkt sie alles andere als eingebildet und wirft Izumi mitten im Ritual des Verbeugens einen verschmitzten Blick zu. Der Familienvater ist höflich und die Hausherrin kühl wie immer. Izumi verneigt sich noch ein Stück tiefer vor ihnen und beantwortet die obligatorische Frage nach ihrem Wohlergehen, bevor sich alle zu Tisch begeben. Koi, der neben ihr sitzt, verwickelt seinen Bruder bald in ein Gespräch über dessen Studium. Kumiko erzählt Izumi, dass sie Englisch studiert. Izumi denkt an die englischen Texte, die sie gesungen hat. "Heißt das, du wirst als Übersetzerin arbeiten?" Kumiko schüttelt den Kopf. "Nein, ich möchte unterrichten." Izumi lächelt. Ihre Gesprächspartnerin mag die prestigeträchtigste Uni des Landes besuchen, aber sie hat eine jugendliche Frische an sich, die gleichzeitig natürlich und anmutig wirkt. Mit den Essstäbchen schiebt sie sich kleine Bissen in den Mund, genügsam wie ein Eichhörnchen. Normalerweise ist Koi ein langsamer Esser aus Notwendigkeit, aber an diesem Abend beendet er seine Mahlzeit kurz nach Izumi. Seine Hand findet ihre unter dem Tisch. Izumi richtet sich auf und erwidert den Druck. Koi räuspert sich. "Otoo-san, Okaa-san, wir haben euch etwas zu sagen." Abrupt sehen beide auf und fixieren Izumi, die den Blick auf die lackierte Tischplatte senkt. Alles andere wäre unhöflich. Sie hat ihren Kleiderschrank geplündert und das schönste Kleid angelegt, das sie besitzt, schwarz mit Spitzenbesatz am Ausschnitt und an den Ärmeln. Dazu trägt sie nur die beiden Ringe, die Koi ihr geschenkt hat. Koi bewegt sich neben ihr und knöpft sein schwarzes Jackett zu als würde er in den Krieg ziehen. "Izumi und ich werden heiraten." Das Schweigen, das folgt, droht sie zu erdrücken. Und zieht sich in die Länge. Dann lehnt sich Hiromi über den Tisch, um seinen Bruder zu umarmen. Kumiko gratuliert Izumi und schenkt ihr ein aufmunterndes Lächeln. Kois Mutter unterbricht sie mit schneidender Stimme. "Was hat das zu bedeuten, Hisoka?" Er reckt das Kinn. "Du hast mich gehört. Es bedeutet genau das, was ich gesagt habe." Sprachlos dreht sie sich zu ihrem Mann, der sofort das Wort ergreift. "Es zeugt nicht gerade von Takt, uns mit dieser Nachricht zu überraschen. Hast du dir auch gut überlegt, worauf du dich einlässt? Hiromi ist zwar der Erbe, aber du trägst immer noch den Namen Orihara. Ich brauche dich nicht daran zu erinnern, dass dieser Name Verpflichtungen mit sich bringt." Izumi sieht förmlich, wie Koi mit den Zähnen knirscht. Unter den verspiegelten Gläsern kann sie seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. "Ich habe diese Verpflichtungen zusammen mit meinem Erbe aufgegeben, aus freiem Willen. Ich kann heiraten, wen ich will." Seine Mutter kontert ohne Zögern. "Sie entspricht nicht unseren Vorstellungen." Sein Vater nickt. "Ich kann dieser Heirat nicht zustimmen, Hisoka." Koi stößt ein bitteres Lachen aus. Seine Hand entschlüpft Izumis Fingern, um die Sonnenbrille herunterzureißen. Mit bebender Stimme spuckt er die Worte aus und wird dabei immer lauter. "Nicht genug? Ich dachte, ich bin der einzige an diesem Tisch, der Sehprobleme hat. Izumi ist eine erfolgreiche Sängerin. Sie steht unter Vertrag bei einem großen Label und verdient bereits mehr als ich ... Also wer ist hier nicht gut genug? Wer, Okaa-san?" Izumi starrt ihn an und traut ihren Ohren kaum. Wie tief er seine Gefühle vergraben haben muss, damit sie so schnell überkochen! Ihre Intensität erschreckt sie - gleichzeitig überwältigt sie das heftige Verlangen, ihn in den Arm zu nehmen. Aus ihm spricht der elfjährige Junge, der alles verloren hat und in seinem Elternhaus ein Fremder geworden ist. Schmerzhafte Zuneigung zu ihm. Unkontrollierte Wut auf seine Eltern, die ihn zuerst aufgegeben haben. Er hat nur ausgesprochen, was lange auf halber Flamme dahingeköchelt ist. "Beantworte meine Frage." Die beiden starren ihn an, sein Vater fassungslos, seine Mutter mit leiser Warnung in den hellen Augen. Als könnte sie ihn mit schierer Willenskraft zwingen, sie zu sehen. Empört begreift Izumi, dass ihre Beziehung immer so war. Sie nimmt seine Faust, die am Tisch liegt, zwischen ihre Hände. "Koi." "Nein. Ich hab es satt. Sie beleidigen dich jedes Mal. Wenn sie dich schlicht und einfach nicht ausstehen könnten, würde ich das noch akzeptieren, aber dieses hinterhältige Spiel übertrifft alles." In dem Moment schaltet Hiromi sich ein. "Hisoka, ich glaube, du hast deinen Standpunkt klar gemacht. Warum ziehen wir uns nicht alle zurück, um einen letzten Tee zu trinken und zur Ruhe zu kommen?" "Hiromi ..." Izumi drückt seine Hand. "Koi. Er hat Recht." Einen Moment lang spannt er sich wie um zu protestieren. Schließlich seufzt er tief, ertastet die Sonnenbrille und setzt sie langsam wieder auf. In seinen Bewegungen liegt so viel Müdigkeit wie Izumi sie noch nie gesehen hat. Als sie aufsteht, folgt er ihr langsam. Seine Faust öffnet sich und sie schiebt ihre Finger zwischen seine. Er erlaubt Izumi, ihn aus dem Esszimmer und in ihr Gästezimmer zu führen, dasselbe wie bei ihrem letzten Besuch. Sein Gang ist schleppend. Nachdem sie die Tür zugeschoben hat, drückt Izumi ihn sanft auf den Futon und setzt sich neben ihn. Einen Moment lang hängt Schweigen in der Luft, so schwer wie eine Regenwolke. Dann stößt Koi ein raues Lachen aus. "Die Ankündigung hab ich gründlich versaut. Hiromi sollte mir Unterricht in Diplomatie geben." Izumi lehnt sich wortlos vor und umarmt ihn. Zuerst versteift er sich, aber dann schmilzt er mit einem leisen Seufzer in ihre Arme. Sie hält ihn wie eine Mutter, die ihren Jungen nach einem Alptraum tröstet, ihm die Angst vor den Monstern unter dem Bett nimmt. Die Mutter, die er nie hatte. Koi umklammert sie fest und drückt sein Gesicht in ihr Haar.       Am nächsten Morgen schlüpft Izumi aus dem Futon, um Koi nicht zu wecken, und macht sich auf die Suche nach der Küche. Sie braucht zwanzig Minuten, um sie zu finden, versteckt am Ende eines schmalen Ganges in der hinteren Ecke des Anwesens, und bemerkt auf der Türschwelle, dass sie nicht alleine ist. Kumiko dreht sich um, Kaffeekanne in der Hand, und schenkt ihr ein Lächeln. Selbst am frühen Morgen sitzt ihre Bluse perfekt und ihr Haar fällt in ordentlichen Wellen über ihre Schultern. "Ohayou." Izumi nickt und macht einen zögernden Schritt auf sie zu. "Brauchst du die?" Ihr Gegenüber gibt die Kanne bereitwillig ab und lehnt sich mit ihrer Tasse gegen die Theke während Izumi nach Geschirr sucht. Das einzige Tablett, das sie findet, ist aus schwerem Silber. Sie stellt eine Tasse darauf, bevor sie eine zweite holt und dampfenden Kaffee einschenkt. "Bringst du ihm Frühstück ans Bett?" Izumi dreht sich um. "Soweit der Plan." Kumiko nickt wissend. "Ich glaube, ein bisschen Abstand würde allen gut tun. Hiromi hat mich gewarnt, dass seine Eltern schwierig sein können." Was für eine Untertreibung. Izumi lächelt säuerlich und ist dankbar für das Koffein, das langsam in ihr Blut sickert. "Gut, dass du letztes Jahr nicht hier warst." "Ihr besucht sie wirklich nur einmal im Jahr?" Sie trinkt einen Schluck und nickt. "Soweit ich weiß, hat er es immer so gehalten." Kumiko runzelt die Stirn. Nach einer Weile glättet sich ihre Miene. "Wahrscheinlich sollte ich froh sein, dass ich Hiromi erwischt habe. Den guten Sohn und Erben." Abrupt sieht Izumi auf, aber der verschmitzte Blick des älteren Mädchens klärt sie auf. "Vielleicht. Tut mir leid, aber ich würde um nichts in der Welt mit dir tauschen wollen." Da lacht Kumiko auf. "Ja, so viel ist klar." Mit verschwörerischem Gesichtsausdruck rückt sie näher. "Hiromi hat erwähnt, dass Hisoka viel durchgemacht hat. Aber jeder kann sehen, dass ihr wie füreinander geschaffen seid." Trotz ihrer Müdigkeit kann Izumi das dumme Grinsen nicht zurückhalten. "Meinst du?" Kumikos dunkle Augen blitzen. "Klar! Wenn ich euch ansehe, werde ich fast neidisch. Hiromi hat nichts gesagt, aber ich glaube, er ist ein bisschen eingeschnappt, dass sein Bruder vor ihm heiratet. Er ist zwar jünger, aber er benimmt sich eher wie der ältere, oder?" Bei der Vorstellung des jüngeren Bruders, der in einer dunklen Ecke den Beleidigten spielt, muss Izumi kichern. Offenbar hat sie in Kumiko eine Verbündete gefunden. "Sag mal, wie alt bist du überhaupt?" Über den Rand ihrer Tasse wirft sie Kumiko einen Blick zu. "Achtzehn." Diese lächelt. "So jung! Jetzt verstehe ich Hiromi besser." Aber die letzten Worte haben Izumi an die Katastrophe des gestrigen Abends erinnert. Nachdenklich betrachtet sie ihr Spiegelbild, dunkel und verzerrt in ihrem Kaffee, bis eine sanfte Hand ihre Schulter berührt. Kumiko drückt sie aufmunternd. "Kopf hoch. Alles wird gut gehen. Hiromi und ich sind auf eurer Seite." Izumi zwingt sich zu einem schwachen Lächeln. "Danke. Weißt du, meine Eltern haben sich gefreut. Sehr. Ich wünsche mir nur, dass seine uns absegnen. Mehr nicht. Vielleicht kann er dann zur Ruhe kommen." Ihr Gegenüber nickt. "Wenn du irgendwas brauchst, ich helfe gerne." "Tut mir leid, dass du da hineingeraten bist." Sie winkt ab und grinst ein wenig. "Mir ist ja nichts passiert. Noch nicht." Danach schenkt Izumi Kaffee nach und bereitet ein wenig Gebäck vor, das sie auf dem Tablett zurück zum Gästezimmer trägt. Kumikos Worte haben sie mehr gewärmt als die heiße Flüssigkeit in ihrer Tasse.       Als Izumi zurückkehrt, hat Koi sich nicht gerührt. Sie setzt sich mit dem Tablett neben ihn und schlürft geduldig ihren Kaffee. Nach einer Weile regt er sich, öffnet die Augen und gähnt. Seine tastenden Finger stoßen auf ihr Knie, dann auf Silber. "Hm?" Izumi setzt ihre Tasse ab, um ihm den Korb mit frischem Gebäck unter die Nase zu schieben. "Guten Morgen, Schlafmütze. Ich hab Frühstück gebracht." Lächelnd schnuppert er daran. "Danke." Sie frühstücken gemeinsam und Koi erklärt, dass er allein mit seinen Eltern reden muss. "Ich werde ganz offen und vernünftig sein. Wenn wir uns wie Erwachsene verhalten, müssen sie unsere Entscheidung einfach respektieren." Izumi lächelt, gerührt von seiner Entschlossenheit. "Bist du sicher, dass du das schaffst? Die Angelegenheit betrifft mich ebenso wie dich. Du musst das nicht alleine tun." Er zögert nur einen Moment. "Nein. Nichts davon ist deine Schuld. Das Problem betrifft nur sie und mich." Letztendlich kann Izumi ihn nicht aufhalten. Trotz des alles andere als guten Gefühls folgt sie ihm zum Studierzimmer. Vor der Tür wendet er sich um und haucht einen Kuss auf ihre Lippen. "Warte hier, ja? Ich gebe mein Bestes." Izumi lehnt kurz die Stirn an seine Schulter, bevor sie zurücktritt. "Ganbare." Er lächelt flüchtig, bevor er sich umdreht und an den Türrahmen klopft. Die tiefe Stimme seines Vaters bittet ihn herein. Izumi erhascht einen Blick auf den großen Mann hinter seinem Schreibtisch und die zierliche Frau neben ihm, bis Koi die Tür hinter sich zuzieht. Danach hört sie nur gedämpfte Stimmen. Sie zwingt sich, still zu stehen, und ruft sich Kumikos aufmunternde Worte in Erinnerung. Trotzdem zieht sich das Warten in die Länge wie zu oft gekauter Kaugummi. Hiromi kommt vorbei und leistet ihr eine Weile Gesellschaft, bevor er sich höflich entschuldigt. Dann werden die Stimmen hinter der Tür lauter. Izumi strafft sich und versucht vergeblich, einzelne Worte herauszuhören. Als die Tür mit einem Knall auffliegt, zuckt sie zusammen. Koi steht im Türrahmen und wendet sich gerade halb zurück zu seinen Eltern. "Du hast es nie verstanden, Okaa-san. Du willst es nicht verstehen, aber ich bin nicht so wie ihr und ich werde es nie sein." Sein Vater, der sich erhoben hat, schlägt mit der flachen Hand auf die Tischplatte. "Komm zurück, Hisoka." "Nein! Wisst ihr, ich hab es versucht. Für Izumi hab ich versucht, zu verhandeln. Aber ihr steht jenseits aller Vernunft! Macht euch keine Sorgen, den Fehler werde ich nicht nochmal machen." Seine Mutter seufzt. "Sei nicht so melodramatisch." Er schnaubt. "Ich? Fass dich selbst an der Nase, bevor du andere verurteilst, Okaa-san, obwohl ich bezweifle, dass du dazu fähig bist ... Jetzt reicht es. Früher habt ihr euch nie für mich interessiert, jetzt ist es zu spät. Entschuldigt mich." Nach diesen heftigen Worten tritt er einen Schritt in den Gang hinaus und stockt. "Izumi." "Ja." "Gehen wir." Damit stapft er den Gang hinab und um die nächste Ecke. Izumi eilt ihm hinterher. Zwei Ecken später weiß sie, wohin er sie führt. Er öffnet eine schmale Tür und tritt vor ihr auf die Veranda hinter dem Anwesen hinaus. Zu dieser Jahreszeit strecken die Kirschbäume ihre dunklen Äste wie Finger in den Himmel und das Gras wächst struppig und grau zwischen ihnen. Barfuß tappt er auf die Lichtung hinaus, legt die Hand an einen knorrigen Stamm und lehnt sich dagegen. Izumi bleibt zwei Schritte vor ihm stehen und verschränkt fröstelnd die Arme vor der Brust. Zuerst rührt er sich nicht. Dann sinkt er am Stamm hinab und vergräbt das Gesicht mit einem leisen Laut der Verzweiflung in den Händen. Hastig eilt Izumi an seine Seite, um ihn fest zu umarmen. Sie hält ihn genau wie letzten Abend und summt beruhigend vor sich hin. Nach einer Weile wagt sie ein paar sanfte Worte. "Koi. Es bedeutet mir viel, dass du das für mich getan hast ... egal ob du erfolgreich warst oder nicht. Verstehst du?" Er nickt an ihrer Schulter. Izumi streicht ihm ein paar Mal über den Rücken, bevor er mit erstickter Stimme spricht. "Es ist nur ... ich dachte, sie könnten sich wenigstens diesmal für mich freuen. Für uns." Sie sagt nichts und hält ihn weiterhin fest. "Aber sie haben sich nicht verändert. Nach all den Jahren ... sehen sie immer noch jemanden in mir, der ich nicht bin." Er holt tief Luft. "Sie sehen den Orihara Hisoka, der ich geworden wäre, wenn nicht ..." Er verstummt. Izumi summt weiterhin vor sich hin, einen Song, den sie einander oft vorgesungen haben. Damit beschwört sie die endlosen Abende herauf, die sie zusammen verbracht haben, und all die Momente, die ihn zu dem Menschen geformt haben, den sie gerade in den Armen hält. Irgendwann findet sie die richtigen Worte. "Wenn deine Eltern so denken, sind sie diejenigen mit Sehproblemen ... Dieser Hisoka, in den sie dich zwingen wollen, könnte dir nie das Wasser reichen." Da richtet er sich auf. "Meinst du?" Zur Antwort verschließt Izumi seine Lippen. Danach überredet sie ihn, wieder hineinzugehen und unter den Kotatsu im Gästezimmer zu schlüpfen. Der zufriedene Seufzer verrät ihr, dass die winterliche Kälte unter seinen nackten Füßen doch zu ihm durchgedrungen ist. In der Wärme des kleinen Ofens lehnen sie sich aneinander und reden über alles, das nicht mit den letzten Tagen zu tun hat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)