Cold War von ibuzoo ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Du möchtest die wahre Geschichte erfahren? Die wahre Geschichte ist verworren und zuchtlos, ein Vakuum an schändlichen Misstaten und zweideutigen Wegen. Die wahre Geschichte ist eine Akatalepsie, eine Lüge, die in ihrer Existenz Träume verspricht, doch mit bitterer Realität wartet. Die wahre Geschichte ist ein Schlachthaus, eine Leichenhalle, gefüllt mit Brillanz und Größenwahn. Die wahre Geschichte ist die vorzüglichste Form von Selbst-Zerstörung. Frage niemals nach der wahren Geschichte, wenn du sie nicht verkraften kannst. ooo Wenn jemand ihn noch vor wenigen Wochen gefragt hätte, wie er sich seinen Tod vorstellen würde, hätte seine Antwort wahrscheinlich dem typischen Vorstadt-Cliché entsprochen: als Mitt-Achtziger in einem alten bequemen Ledersessel seinen letzten Atemzug tätigen, um sich dann mit einem Lächeln, wohlgesonnen nach einem langen, erfüllten Leben den Versprechungen des himmlischen Daseins hinzugeben - trägt nicht jeder von uns diese stille, bittersüße Hoffnung auf einen schmerzlosen Tod tief im Herzen? Die gleißende Sonne blendet ihn durch vereinzelte Strahlen, welche sich durch Dickicht und grobe Felswand bahnen, reflektieren in den schlammdurchzogenen Pfützen zu seinen Füßen. Das Blut rauscht durch seine Venen und er kann das vehemente Hämmern bis tief in seinen Kopf spüren, wo es jegliche Laute, welche zu ihm schallen, verebbt bis sie nichts Weiteres sind, als dumpfe Stimmen im Hintergrund. Die Welt um ihn herum versinkt in eine farblose Monotonie, während seine Augen manisch gebannt auf die Apparatur vor ihm blicken. Fernab, hinter ihm in den Grotten, ertönt ein Schrei. Schmerzverzerrt. Für den Bruchteil einer Sekunde zögern die Muskeln und Sehnen in seiner Hand, so als ob sie ihm nicht mehr gehorchen würden. Er atmet aus. Dann ergreift er das glänzende, goldene Artefakt und dreht es im Mechanismus um. Kapitel 1: Mission 01: Vernissage in Neuilly -------------------------------------------- er wurde geboren aus salz und schweiß mit schmerzenden muskeln und gebleckten zähnen mit dem geschmack von asche und sand auf der zunge geboren, um weltreiche zum fall zu bringen und die götter der erde blicken voller missgunst auf das licht der sonne, welches tief in seinem herzen lodert ooo Mission: - Madeleine de L’Isle wird am Abend des 18. Augustes eine Vernissage für die obere Gesellschaft und diejenigen abhalten, deren Bankkonten die nötigen Nullen vor der Kommastelle aufweisen können. Unter Ihnen werden sich sicherlich auch Templer der oberen Gehaltsklasse befinden. Wie uns bereits seit einiger Zeit bekannt ist, befindet sich ein uraltes Artefakt in den Händen von Madame L’Isle. Infiltrieren Sie das Treffen, suchen Sie das Artefakt und flüchten Sie mitsamt der Beute ungesehen aus dem Sperrgebiet. Optionales Ziel: - Keinen Alarm auslösen ooo Villa Madame L’Isle Neuilly-sur-Seine, 13 Rue Saint-James 18. August, 20:37 Uhr Das Papier, auf welches das Einladungsschreiben bedruckt war, ist von einer seltsamen groben Beschaffenheit und scheuert leicht an seinen Fingerkuppen, als er es aus dem magentafarbenen, seidenen Umschlag herausnimmt. Der Portier nimmt das Schreiben mit Argwohn entgegen und überprüft die darauf genannten Personalien auf einem tragbaren PDA. Vermutlich eine Art Datenbank, auf welcher man Passfotos aller Gäste gespeichert hatte, um so deren Gesichter vor Eintritt zu überprüfen. Der Gast steht stoisch vor den Wachmännern, Statur groß gewachsen in einem maßgeschneiderten Anzug, Arme leger an seinen Seiten. Sein Blick ist anteilnahmslos und gibt genauso wenig Enthusiasmus wieder, wie seine Miene, mit welcher er grimmig dem Portier dabei zuschaut, wie dieser sein Gesicht mustert. Nach einem routinierten Blick nickt der Portier schließlich den beiden hünenhaften Wachmännern zu, welche die Eingangstür zur Vernissage bewachen. Sie treten zur Seite und der Weg liegt frei. Warmes, gedämpftes Licht erhellt die Eingangshalle und legt sich wie ein goldener Schein über die Fliesen und Holzverkleidungen der Einrichtung. Die Extravaganz und Verzierungen erinnern an den späten Barock. Eine Frau erwartet den Gast bereits am Fuße der Treppe; sie trägt ein schlichtes schwarzes Kleid, eng anliegend, welches ihr bis zu den Knien reicht. Weder Schmuck, noch besonders auffallendes Make-up scheint ihr, ohnehin schon schlichtes, Äußerliche zu verschönern. Durch und durch Mittelmaß. “Mister Dyatlov”, begrüßt sie den Mann der gerade das Haus betrat mit einem starken französischen Akzent, und begegnet ihm auf halben Weg, “Schön, dass Sie uns beiwohnen heute Abend.” “Die Freude ist ganz meinerseits”, entgegnet der Mann kühl und sein russischer Akzent prägt die englische Sprache offenkundig. Für einen Außenstehenden als auch für die Frau selbst mochte es wohl scheinen, als würde er ihr seine vollkommene Aufmerksamkeit schenken. Doch des Mannes Augen erfassen jegliches Detail, welches ihm der Raum offenbart. Eine Tür je zu Westen und Osten. Der Hauptausgang im Süden. Im Norden zwei Türen je rechts und links der Treppe, welche wohl in den gleichen Saal münden, wie man unschwer in den Fensterelementen der opulenten Türen erkennen kann - die Vernissage schien sich wohl hinter ihnen zu verbergen. “Mein Name ist Melanie Lemay und ich bin heute Abend persönlich für das Wohl der Gäste zuständig. Wie sie bereits wissen, legt meine Hausherrin äußersten Wert auf Diskretion, die Privatsphäre unserer Besucher sowie deren Wünsche. Sollten Sie also etwas benötigen, so scheuen Sie sich nicht, mich aufzusuchen.” Melanie macht eine kurze Pause, um ihren Worten Raum zu schaffen. Der Mann nickt ihr mit knappem Interesse zu - eine Aufforderung fortzufahren. Melanie scheint seine Ungeduld sehr wohl zu verstehen, weswegen sie auch sogleich wieder ihre Stimme erhebt, “Bitte folgen Sie mir.” Sie dreht sich auf ihren Absätzen um und schreitet links an den breiten Haupttreppen vorbei, um die hintere Tür mit dem Fensterelement zu öffnen. Gellendes Licht strahlt aus dem Inneren des Raumes und der Mann verharrt einen Moment im Schatten. Melanie wartet geduldig, bis er sich entschließt, dem von leiser Mozartmusik geprägtem Prunk der oberen Gesellschaft beizuwohnen. Achtlos hören seine Ohren noch ihr “Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Sir.”, doch er macht sich nicht einmal mehr die Mühe zu antworten. Stattdessen taucht er in den Menschenmengen ab. Der Saal des Herrenhauses ist, bis auf die Bilder an den Wänden und den Skulpturen in der Mitte des Raumes, mit Menschen gefüllt, welche sich in ein Meer von Haute Couture und Abendgarderobe ausbreiten. Vereinzelt stehen Trennwände, welche dem Raum mehr tiefe verleihen und weitere Bilder als Exponenten auffassen, ansonsten findet man jedoch nur eine provisorisch errichtete Bar, an welcher eine Handvoll Kellner Sektgläser und Aperitif ausgeschenkt bekamen, nur um sie sogleich der geladenen Gesellschaft auszuteilen.   “Ich bin drin”, murmelt Altair leise, so leise, dass er fast die Lippen nicht bewegt. Seine Stimme spricht in perfektem Englisch und nicht mit dem bedeckten russischen Akzent, den er gerade noch an Melanie Lemay angewandt hatte. Ein statisches Knattern erklingt in seinem rechten Ohr und verzerrt, nimmt er die Stimme seines Gehilfen war, “Gut gemacht. Lage?” Altairs Blick schwenkt kurz unauffällig durch den Raum. Beide Seitenwände werden von großen Fenstern durchzogen. Die hintere Wand besteht aus Glastüren, welche von der Decke bis zum Boden reichten - an jeder Einteilung befindet sich ein Wächter. Auch die Fenster in unmittelbarer Nähe sind mit Wachen besetzt. Grobmotorik und Stoizismus machen sie praktisch zum Aushängeschild der stadtbekannten Bodyguards; wenn die übliche Haltung mit verschränkten Armen oder das recht offensichtliche Kabel an ihrem Ohr nicht schon genug Indiz zu ihrer Arbeit hergibt. Zwischen den Lakaien der Hausherrin sowie den nichts ahnenden Bürgern der gut betuchten oberen Gesellschaft, mischen dann auch noch vereinzelte Templer mit, welche Altair mit Namen bekannt sind. “Drei Ausgänge, acht Fenster. Zwölf Wachen. Mindestens drei Templeragenten im Raum.” Altair achtet darauf, seine Stimme betont gesenkt zu halten. Mit einer galanten Bewegung nimmt er sich eines der kristallenen Sektgläsern von den goldenen Serviertellern, welche die Kellner in Scharen verteilen, und mischt sich unters Volk. “Das sind weniger, als de L’Isle angefordert hat,” knarrt Desmonds Stimme in Altairs rechtem Ohr und wird begleitet vom Geräusch tippender Tasten. “Wahrscheinlich sind die Restlichen in den oberen Etagen stationiert.” Ein leises Knurren entweicht Altair und er trinkt einen tiefen Schluck seines prickelnden Sekts. Er schmeckt reif und teuer. Die Gäste haben sich mittlerweile in kleinen Gruppen zusammengefunden und trinken Glas um Glas, verspeisen Häppchen um Häppchen. Ein Swimmingpool voller Aasgeier. Die Wachen werden ihm keine Probleme bereiten - die meisten waren heutzutage nicht einmal im Nahkampf annähernd ausreichend ausgebildet, was ihm einen klaren Vorteil mit seinen Kampfkünsten verschaffen wird. Sollte es denn zu einer Auseinandersetzung kommen - was er bezweifelte. Die Templeragenten konnten mehr Schaden anrichten, aber Altair beachtet sie nicht weiter - der maßlose Alkohol, den die Gesellschaft an diesem Abend ausgeschenkt bekam, würde ausreichen, um die einzelnen Agenten zu beschäftigen. Die Templer halten sich, erstaunlicherweise, bedeckt. Sie stehen verteilt zwischen den einzelnen Gruppen. Bringen sich in Gespräche ein oder leiten die Diskussion mit gerade genug Autorität und Witz, um ihre Zuhörer in den Bann zu ziehen. Menschen sind dumme Tiere, die danach lechzen, einer höheren Anordnung an den Lippen zu kleben und ihnen blindlings zu folgen. Keiner möchte freiwillig Verantwortung übernehmen in seinem Leben. “Ford Junior ist hier,” murmelt Altair beiläufig während er sich nahe eines Gemäldes einreiht und das Meisterwerk mit kritischem Auge betrachtet. Das Bild zeigt eine Art abstrakte Form eines Blütenblattes, vorwiegend in den Primärfarben - nichts, was seinen Geschmack treffen könnte. “Bill oder Edsel?” “Spielt das eine Rolle?” Für einen kurzen Moment runzelte Altair die Stirn. “Nicht wirklich. Aber Bill ist höher in den Reihen angesehen. Er versteht sich gut mit Rikkin.” Ein geknurrtes “Hm” ist das Einzige, was Altair darauf antwortet, bevor er seine Runde weiter durch den Raum zieht. Neben Ford fallen ihm kurze Zeit später auch die Pazzis auf, welche lautstark den hinteren Teil der Vernissage beanspruchen. Der Alkohol hat wohl schon seine Wirkung gezeigt; Vieri hatte noch nie eine hohe Toleranz dagegen besessen. Zu Altairs Erstaunen konnte er weder die Borgias, noch Germaine ausmachen. Altair passiert eine komplizierte Spiegel-Installation inmitten des Raumes und reiht sich neben einer Handvoll Damen und Männern ein, welche gerade dabei sind, eine rege Diskussion über das Dargestellte zu führen. Installationen waren in der Kunstwelt des 21. Jahrhunderts, was zu Zeiten der Renaissance die Mona Lisa war - ein Phänomen, was so ziemlich niemand begreifen vermochte und doch sprach jeder darüber. Die einzelnen Glasscherben des Kunstwerks setzen sich zu einem Gebilde zusammen, welches am Ende nur einen riesigen Spiegel darstellt. Für einen kurzen Moment betrachtet Altair den Mann, der ihm in den einzelnen Scherben entgegen starrt: kurzes, fast schwarzes Haar, welches flach frisiert an seinem Kopf anliegt, die Haut eine Mischung aus europäischem Teint und russischer Blässe mit stahlgrauen, eisigen Augen. Selbst die Nase ist lang und spitz. Der Mann, der ihm entgegen starrt, ist ein Abbild von Dimitri Dyatlov, einem Kunstsammler aus Saratov. Nichts an dem Mann erinnert an Altair, den gebürtigen Araber. Das plastische Tarnungsteam hatte ganze Arbeit geleistet. Die einzelnen Gesprächsfetzen der Kunstkenner weisen nichts Sonderbares auf; ab und an, gibt Altair vereinzelte Anekdoten preis, welche Desmond ihm mittels Transmitter ins Ohr flüstert. Man sollte niemals die verführerische Kraft eines anständigen Fachwissens unterschätzen. Sein Blick fällt auf das Sektglas in seiner Hand; die goldgelbe Flüssigkeit neigt sich langsam dem Ende zu und vereinzelte Kohlensäurebläschen prickeln an der Oberfläche. Gerade als er sich an einem benachbarten Kellner wieder Nachschub zu eigen gemacht hat, erspäht er ein recht üppiges Weibsbild. Ihr Dekolleté ist weitestgehend bedeckt von protzigen Rubinen, welche das gelbliche Licht aus den Kronleuchtern in verschiedenen roten Abstufungen reflektieren. Ihre Augen sind interessiert auf ihn gerichtet und sie errötet unter seinem Blick. Ein schiefes Grinsen schleicht sich auf seine markanten Züge. Er zwinkert und sieht dann amüsiert dabei zu, wie sie den Rest ihres Glases hastig herunterkippt. Altair weiß um seine Ausstrahlung, die er auf Frauen hat - diese Eigenschaft änderte sich nicht, selbst wenn er eine andere Identität annahm. Gerade als er sich von dem Schauspiel vor ihm abwenden will, um ein weiteres Bild unter Beschau zu nehmen, spürt er einen stechenden Blick, der ihn zu durchbohren scheint. Das ungute Gefühl erstreckt sich schnell über seinen Körper und er sieht sich um, bis er einen jungen Mann in seinem Alter ausmachen kann, sein Blick stur und starr auf Altair gerichtet. Die Augen schienen den falschen Russen zu durchleuchten und zeichnen seinen Körper einmal abfällig nach. Es ist die Sorte Blick, die man in Grundschulen und Hochschulen des Öfteren von den beliebten Schülern zugeworfen bekommt. Die Sorte Blick, die einem sagen soll, man ist die Zeit nicht mal Wert. Verachtung. Gleichgültigkeit. Ohne eine weitere Bemerkung dreht der junge Schwarzhaarige sich wieder um und widmet sich seinem Gespräch. Missmut steigt in dem jungen Araber hoch und wäre Altair nicht damit beschäftigt gewesen, unauffällig ein Nest der Templer zu infiltrieren, hätte er womöglich die Konfrontation gesucht. So jedoch, fokussiert er sich wieder auf seine Arbeit und reiht sich diesmal nahe einer Plastik ein. Der Saal füllt sich mit immer mehr Gästen aus der Oberschicht. Gesichter, die ihm bekannt vorkommen und täglich in aller Munde sind; Abgeordnete, Richter, Juristen, die Hautevolee von Frankreich. Einige reisten aus umgebenen europäischen Ländern an, Andere aus Übersee. Trotz der Massen gibt der Raum nicht mehr als Platz für 500 Gäste her. “Es geht gleich los,” meldet sich Desmonds Stimme in seinem Ohr. Ein Blick auf seine polierte Armbanduhr bestätigt des Technikers Aussage - 21:29 Uhr. Das Sektglas in seiner Hand ist immer noch zum Rande gefüllt; er hat nicht einmal daran genippt.   Madeleine de L’Isle lässt nicht länger auf sich warten. Flankiert von zwei gewichtigen Hünen in Anzügen, betritt sie das Podium, welches am Ende des Saales aufgestellt ist. Selbst auf die Entfernung, die zwischen ihnen liegt, kann Altair deutlich die Anspannung spüren, welche die Frau auf den Saal ausübt. Männer und Frauen gleichermaßen hängen an ihren Lippen, blicken erwartungsvoll in ihre Richtung, als sie zu sprechen beginnt. Massenmanipulation. “Das ist wohl mein Stichwort,” murmelt Altair leise vor sich hin und schleicht sich unbemerkt zwischen den Reihen der Menschen hindurch. Keines der Grüppchen scheint den Anschein zu erwecken, sich an ihm zu stören. Selbst die Wächter wenden ihren Blick der Gastgeberin zu und nehmen seine Flucht nicht wahr. In den Augenwinkeln beobachtet der gebürtige Araber, wie sich die Templeragenten am linken Saalende versammeln. Inmitten von ihnen steht ein hochgewachsener, schmaler Mann mit dunklen Augen und Haaren, welche augenscheinlich mit einer Art Stylingprodukt in eine moderne Frisur zurückgelegt waren - Charles Lee. “Lee ist hier,” schnaubt Altair zwischen gepressten Zähnen, reißt jedoch seinen Blick notgedrungen von dem Mann ab und bahnt sich seinen Weg weiterhin durch die Menge. Am anderen Ende der Leitung in seinem Ohr bleibt es neben dem unmerklichen, statischen Knattern des Geräts, ruhig, bis Desmond dann doch seine Stimme wiederfindet. Er klingt ernster als zuvor. “Dann kann Kenway nicht weit sein. Halt die Augen offen. Bist du schon in der Halle?” “So gut wie,” gibt der gebürtige Araber zurück und schwingt sich durch die Tür, durch welche Melanie Lemay ihn Minuten zuvor geführt hatte. Es herrscht vollkommene Stille. Das dumpfe Licht ist eine milde Erholung für seine Augen, die bereits durch die Kontaktlinsen und das helle Licht der Vernissage gelitten hatten. Altair presst sich mit dem gesamten Oberkörper an die Wand der Treppe und schreitet vorsichtig weiter. Diskret blickt er um die Ecke, kann jedoch keinen Wachmann erspähen. “Ich kann niemanden erkennen.” “Du bist da? Okay, überlass es mir.” Wieder erklingt das Tippen von Tasten in seinem Ohr. Altair behält die Ausgänge im Auge und wartet ab. In aller Ruhe nimmt er ein paar dünne, schwarze Latexhandschuhe aus seiner Jackeninnentasche und zieht sie sich über die langen Finger. “Ich hab dir die Blaupausenpapiere des Grundstücks zugeschickt. Du solltest sie auf deinem Handy haben.” Gleichzeitig mit Desmonds Worten vernimmt Altair das Vibrieren seines Handys in der Hosentasche. Er öffnet die angefügten Dateien und zoomt sich auf dem Touchscreen durch die verschiedenen Etagen und Korridore, bis er einigermaßen den Überblick über das Gebäude hat. Normalerweise arbeiten sie mit einem besonderen Programm, welches es ihnen ermöglicht, die Blaupausen auf die Innenseite speziell-entwickelter Brillen zu projizieren um somit ein 3D-Projekt des Gebäudes immer auf Knopfdruck parat zu haben; sie nennen es Adlerauge. Aber ein Angriff auf ihre Server vor einigen Tagen hat nicht nur die Blaupausen von Lemays Haus beschädigt, sondern auch noch ihr Archiv, auf welchem ganze Städte und Untergründe voller Baupläne gelagert haben. Kurzum, er musste auf alte Mittel zurückgreifen, um diesen Job zu erledigen. “Laut den Plänen liegt der Panikraum auf der zweiten Etage. Du solltest vielleicht nicht die Treppe benutzen. Ein Haufen Wachen müssten dort stationiert sein und -” “Wir haben keine Zeit für Umwege,” unterbricht Altair Desmond barsch und steckt sein Handy wieder in die maßgeschneiderte Anzugshose. Ein letzter Blick durch die Halle genügt, bevor er sich geduckt am Geländer der Treppe beginnt hochzuschleichen. Am Rande vernimmt er noch Desmonds Fluchen, doch er blendet es vollkommen aus. Eine Wache patrouilliert durch die erste Etage. Altair passt den Moment ab, an welchem der Wachmann ihm den Rücken zudreht, dann wirft er sich blitzschnell um die Ecke und steigt die Treppen zur zweiten Etage hoch. Bereits nach mehreren Schritten nimmt er hinter der Brüstung Deckung. Die zweite Etage erstreckt sich vor ihm in einem langen, dunklen Korridor. Zwei Wachen patrouillieren durch die Gänge, abwechselnd auf und ab. Laut den Plänen befindet sich der Panikraum hinter dem Schlafzimmer von Madame L’Isle. Ein heikles Unterfangen, wenn man bedenkt, dass dieses sich genau in der Mitte des Korridors befindet. “Wie viel Zeit bleibt uns noch?” “30 Minuten - höchstens.” Altair nimmt einen tiefen Atemzug. Das Pochen seines Pulses vibriert stetig in seinen Venen, zwischen seinen Ohren rast sein Blut; er kann es nicht nur hören, sondern auch spüren. Adrenalin steigt in ihm auf, verschafft seinem ohnehin schon gehörigem Selbstbewusstsein noch eine weitere Portion Übermut. Seine Fäuste ballen und entspannen sich in einem gleichmäßigen Rhythmus. Er atmet aus. Im nächsten Moment sprintet er los, nimmt zwei der vor ihm ragenden Treppen auf einmal und nutzt den Überraschungseffekt seines plötzlichen Auftauchens, um dem ersten Wächter das Knie in die Magengrube zu rammen. Der Mann krümmt sich sofort vor Schmerz, was Altair die Chance gibt, ihm einen kräftigen Tritt gegen den Kiefer zu verpassen. Augenblicklich schickt er somit den ersten Wärter ins Land der Träume. Sein Glück scheint jedoch nur von kurzer Dauer, denn der zweite Wärter stürzt sich in dem Moment auf Altair, in welchem sein Kollege ohnmächtig gegen den mit Teppich ausgelegten Boden sinkt. Durch die Wucht des Aufpralls verlieren sie die Balance - Altairs Beine geben unter dem Gewicht der beiden Körper nach und sie fallen rücklings auf den alten Boden. Ein bulliger Arm schlingt sich um seine Kehle, presst jegliche Luft aus seinen Lungen, während sein Kopf an eine stählerne Brust gedrückt wird. Altair japst nach Atem, tritt wie wild um sich, gräbt die Fingernägel hart in den Arm um seinen Hals und beginnt zu reißen - doch keine Chance. Er spürt, wie ihm jegliche Luft versagt wird. In den Augenwinkeln sammelt sich Tränenflüssigkeit, während seine Bronchien und seine Luftröhre beißend zu brennen beginnen. In seinem letzten Ausmaß der Verzweiflung zieht Altair beide Ellbogen mit aller Kraft zurück, was sie zwischen die Rippen des Wärters befördert. Danach geht alles ganz schnell. In einem Moment der Benommenheit vernimmt Altair den Aufschrei des Anderen bevor sich der unerbittliche Griff um seine Kehle löst. Sofort nutzt er den Augenblick, um einen tiefen Atemzug zu tätigen, welcher in seiner Lunge ein beizendes Gefühl hinterlässt. Dann hakt er die Hände wieder in dem Arm des Wärters und reißt ihn mitsamt seines Körpers schnell und flink über seinen Rücken nach vorne. Der Mann rollt in einer fließenden Bewegung über Altairs gebeugtes Rückgrat und landet kopfüber auf dem alten Teppich neben seinem Kollegen. Ohne dem Mann eine weitere Chance zu geben, zieht er den Schlagstock aus des Mannes Gürtel und schlägt ihn gegen dessen Schläfe. Leblos bleibt der Wärter liegen. Der falsche Russe stützt sich kopfüber gebeugt auf seinen Knien ab und röchelt energisch nach Luft; jeder Atemzug bahnt sich seinen Weg durch die Bronchien und Luftwege. Jegliche Luft hinterlässt ein Gefühl von Brandspuren in seinen Organen, wie flüssiges Gas. Als sich sein Atem endlich seinen Weg schmerzhaft zurück in Altairs Organismus geebnet hatte, lässt der Druck des schwallenden Blutes zwischen seinen Ohren nach. Er blinzelt die aufsteigenden Tränen in den Augen weg und reibt sich unwirsch über das Gesicht. Glücklicherweise bleiben die falschen Kontaktlinsen an Ort und Stelle. Desmonds Stimme in seinem Ohr klingt hohl und verzerrt; während des Kampfes hatte sich der Knopf in seinem Ohr gelöst. Altair bringt ihn wieder richtig an. Sein Atmen gleicht immer noch dem Schnauben eines Walrosses. “Altair?! Altair?!”, dringt ihm sofort Desmonds entsetztes, besorgtes Schreien entgegen. “Bin hier,” schnauft Altair durch den Gang und beginnt die Männer in ein Nebenzimmer zu schleifen, wo er sie vorsichtig ablegt. “Verdammt Altair,” atmet der Techniker am anderen Ende aus, die Erleichterung klar hörbar über dem statischen Geknatter. Als er jedoch wieder zu sprechen beginnt, flüstert er: “Was zum Teufel ist passiert?” “Bin auf Widerstand gestoßen.” Am anderen Ende der Leitung herrscht zuerst Stille, bevor Desmond wieder losschießt, seine Stimme eine seltsame Mischung aus Zischen und Flüstern, “Widerstand? Heilige Scheiße - Du solltest abhauen, bevor man dich erwischt! Kenway ist in der Nähe. Und ein Haufen Templeragenten warten nur darauf, dich in Stücke zu reißen, wenn sie dich entdecken. Außerdem heißt dein Auftrag keine Aufmerksamkeit erregen!” Altair schnaubt abfällig. “Niemanden interessiert es, wie der Auftrag ausgeführt wird - es zählt nur, dass er am Ende des Tages erledigt ist.” Desmond entgegnet noch Einiges daraufhin, aber Altair ignoriert ihn. Seine Methoden in der Bruderschaft waren seltenst konventionell und noch weniger verstanden. Heimlich betritt er das Schlafzimmer von Madame L’Isle und sieht sich in dem Raum um. Im Gegenteil zu den restlichen Räumen des Herrenhauses, versprüht das Hauptschlafzimmer weder die übliche Spur Extravaganz, noch den Flair des Barocks, welcher sich sonst durch alle anderen Räume wie ein roter Faden zog. Das Schlafzimmer wirkt sporadisch. Kahl und ohne größeren Glanz und Zauber. Man hatte sich für eine natürliche Ader mit Naturstein an der Stelle von Vliestapete entschieden, was dem Raum einen antiken Klang verlieh. Schlichtes Rotholz nimmt den Platz für das üppige Gold an den Möbeln ein. Und auch die Ausstattung hält sich eher in Grenzen; ein Doppelbett, ein Schreibtisch und eine Kommode. Alles in allem versuchte man in diesem Raum wohl eher durch Spartanisches, anstelle von Opulentem zu glänzen. Altair soll es recht sein. Der gebürtige Araber fährt sich kurz durch das fast schwarz, getönte Haar und vergleicht die Baupläne auf seinem Handy mit den eigentlichen Grundrissmauern. Desmond ist mittlerweile verstummt und nur ein leises Klicken der Tasten kann im Hintergrund vernommen werden. Vorsichtig beginnt Altair die Mauern an der Wand hinter dem Bett mit seinen Knöcheln abzuklopfen, bevor er mit den Fingerspitzen an den Steinen entlangfährt. Mit dem bloßen Auge sind weder Einkerbungen noch Schnitte zu erkennen. Fingerkuppen ertasten schließlich eine Kerbe in einer Fliese, welche sich eindrücken lässt. Ohne weiter nachzudenken, betätigt er sie. Nichts geschieht. Für den bedauerlichen Bruchteil einer Sekunde wundert sich Altair, ob es vielleicht gar kein Mechanismus ist. Dann erklingt jedoch ein vages Poltern hinter der Ziegelmauer, gedämpft durch die Wand, die sie vom Schlafzimmer trennt und kurze Zeit später öffnet sich ein Spalt, der mit vollkommener Dunkelheit lockt. “Na also.” Mit einem letzten Blick zurück in den Raum, verschwindet Altair zwischen den alten Mauern und lässt die schwere Stahltür des Panikraums hinter sich ins Schloss fallen. Der Innenraum wird spärlich in einem bläulichen Licht erhellt, welchesaus falschen Halogenlampen gegen die weiße Decke gestrahlt wird. Altair muss die Augen zusammenkneifen, um in der Dunkelheit die einzelnen Umrisse der Inneneinrichtung ausmachen zu können. Wie es sich für einen Panikraum gehört, ist er zwar mit der neuesten Technologie und den härtesten Abwehrmaßnahmen ausgestattet, geprägt wird er jedoch eher von Spärlichkeit. Jegliches Mobiliar scheint den gebürtigen Araber kaum zu interessieren. Mit schnellen Blicken und noch flinkeren Fingern durchkämmt er den Raum bis auf das kleinste Detail. Aktien, Dokumente, Konservendosen, Schmuck - ein ganzes Sammelsurium an materiellem Wert rafft sich in den Schränken und Schubladen zusammen. “Deine Zeit wird knapp,” kratzt die Statik plötzlich in sein Ohr, durchzogen von Desmonds Technik-verzerrter Stimme. Altair tut sein Bestes, um ihn zu ignorieren und gibt das altbekannte Knurren von sich, bevor er sich an die Zwischenräume und Wände macht, um dort vielleicht einen versteckten doppelten Boden zu ertasten. In der Stille des Raumes wirkt jedes Klopfen seiner Knöchel gegen die Wände laut und fremd, ein metallischer Klang innerhalb der eisernen Mauern, fast schon störend. Kleine, feine Schweißperlen sammeln sich in seinem Nacken. Die Aufregung paralysiert ihn fast, greift mit eisigen Fingern nach seinem Atem und stoppt ihn fast gänzlich - er kommt an der hinteren Mauer an, und klopft auch das letzte Stück Wand ab. Doch kein Tresor liegt dahinter. Die Zeit rennt ihm davon. Hastig rasen seine Augen umher, um nach weiteren Indizien Ausschau zu halten und er beginnt im Raum auf und ab zu gehen, um seine Nervosität zu zerstreuen. Die Schritte hallen dunkel, dumpf an den Wänden wieder - dann plötzlich ein hohler Klang. Ruckartig bleibt Altair stehen und hockt sich augenblicklich hin. Sanft klopft er mit den Knöcheln gegen die Fliese - wieder erklingt das hohle Geräusch. Mit den Fingerspitzen ertastet er die Kanten der Steinkachel und hebt sie, unter dem auffallenden Gekratze von Stein auf Stein, aus der vorgesehenen Einkerbung empor. Staub wirbelt auf und als der gebürtige Araber ihn einatmet, setzt er sich wie ein feiner Nebelschleier an den Innenwänden seiner Nase ab. Das Kitzeln bringt ihn zum Husten. Am anderen Ende der Leitung raunt ihm Desmond etwas zu, doch Altair blendet immer noch jegliche Worte aus - sein Blick ist einzig und allein auf die sich vor ihm gebärende Dunkelheit gerichtet, die ihm aus dem Loch im Boden entgegen starrt. Bedacht und mit einer gehörigen Portion Argwohn, steckt Altair seine Hand in das Loch und tastet sich an den kühlen Wänden entlang. Zuerst erfassen seine Finger nichts, außer dem kahlen Beton und der greifbaren Unmut. Dann jedoch, stößt er auf etwas. Das Material ist weich und roh. Die Kälte der Umgebung hat sich auf der Oberfläche abgesetzt und dringt nun in Altairs Fingerkuppen ein. Vorsichtig fährt er abermals an den glatten Wänden entlang, um sicherzustellen, dass kein Mechanismus ihm plötzlich die Hand abhackt. Dann entnimmt er den Inhalt mit äußerster Präzision. Das Päckchen ist klobig und wiegt so schwer wie ein Backstein. Altairs Finger haben Mühe, sich um das wuchtige Äußere zu schließen, um es zu entnehmen. Er kann eine feinkörnige Maserung ertasten, die seinen Fingern Halt gibt und er hält daran fest, bis er das grobe Bündel vorsichtig aus seiner Ruhestelle manövriert hat. Ansonsten enthält der Hohlraum nichts. Das bläuliche Licht des Panikraums bricht sich schlussendlich auf der Oberfläche und bringt ans Tageslicht, wo Altairs Tastsinn versagt hat; das backsteinartige Paket ist nichts Weiteres als ein Buch. Umschlag geprägt von Runzeln und Falten, welche sich abwechselnd durch das weiche Leder ziehen. An einigen Stellen sind Maserungen und vereinzelte Fetzen, die den Lauf der Zeit bereits miterlebt hatten. Stramm gebunden sind die Seiten mit einem metallenen Verschluss, welcher eine Art Einprägung hat. “Ich hab es.” Altairs Grinsen sprengt förmlich sein Gesicht und ein wahnsinniges Leuchten tritt hinter die falschen Kontaktlinsen. Am anderen Ende der Leitung kann er Desmonds röchelndes, erleichtertes Ausatmen hören, welcher wohl die letzten Minuten den Atem vor Spannung angehalten hatte. “Okay. Okay, wow, jetzt musst du nur noch verschwinden. Du bist schon über der Zeit - sei vorsichtig, bevor sie dich entdecken!” Vorsichtig schiebt der falsche Russe die Bodenplatte wieder über das ausgehobene Loch und verlässt mit eiligen Schritten den Panikraum. Schlafzimmer und Gang liegen immer noch verlassen und dunkel vor ihm, doch diesmal nimmt er nicht den konventionellen Weg über die Treppen. Mit hastigen Schritten nähert er sich dem Fenster und sieht hinaus; angrenzend an die Wasserrinne bilden einige üppige Laubbäume eine überirdische Straße aus Ästen und Zweigen, die einen erfahrenen Kletteraffen bis zum Ende der Allee führen konnten. Finstere Nacht würde jede Regung überdecken. Mit einem Grinsen, öffnet Altair das Fenster, steigt geübt auf den Sims und hangelt sich an den erstbesten Baum. Die Schatten der Nacht verschlingen ihn kurz darauf gänzlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)