Nachtregen von Verath ================================================================================ Kapitel 1: Nachtregen --------------------- "Das Wichtige ist, innerlich offen für alles Neue zu sein und sich in seinem Leben die Zeit zu nehmen, einfach am Straßenrand stehen zu bleiben und zu sehen." Ein Donnergrollen übertönte die Leserstimme und Luisa umfasste ihren MP3-Player in der Jackentasche, um die Lautstärke zu erhöhen. Der Wind zerrte an ihrem knallroten Regenschirm und ihre Jacke war an einigen Stellen nass. Die Straße war vom heftigen Regen überflutet, sodass bei jedem Schritt das Wasser auf ihre Hose spritzte. Sie schnalzte entnervt mit der Zunge und zog die Oberlippe nach oben, als sie spürte, wie die Nässe auf ihrer Haut ankam. Trotz des grausigen Wetters versuchte sie ihre innere Ruhe nicht zu verlieren und konzentrierte sich auf die angenehme Stimme ihres Hörbuches. Lange musste sie bis zu ihrer Wohnung nicht mehr gehen, denn sie betrat in diesem Augenblick die letzte Straßeneinmündung. Innerlich jubelte sie, als sie die Haustüre endlich erreicht hatte und ihren Schirm zusammenklappen konnte, bevor ein weiterer Windstoß versuchte, ihn ihr zu entreißen. Gerade als sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel kramte, donnerte es erneut gewaltig am Himmel, wobei dieser kurz darauf von einem grellen Lichtblitz erhellt wurde. Nicht genug, dass sie von der Arbeit erschöpft war, sogar das Wetter war zum Verkriechen. Luisa hätte am Morgen gar nicht aufstehen sollen. Dann säße sie nun bei einer großen Tasse heißer Schokolade und in eine kuschelige Wolldecke gewickelt vor dem Fernseher. Vielleicht würde sie dem Wetter vor der Fensterscheibe einen kurzen Blick zuwerfen, aber sie stünde nicht halb durchnässt auf der Suche nach ihrem Haustürschlüssel unter dem kleinen Vordach, welches den sturmartigen Regen nur schwach abhielt. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich ihren Schlüssel in der viel zu überfüllten Tasche fand. Luisa müsste sich bald überwinden und eine neue kaufen gehen. Wäre das nicht mit so einer großen Auswahl verbunden, in der sie trotzdem nie das fand, was ihr wirklich gefiel. Bei einem erneuten Donnergrollen war sie endlich fündig geworden und drehte den Schlüssel schnell im Schloss. Das Hörbuch pausierend stapfte sie die letzten Schritte zu ihrer Wohnungstür und zog ihre Kopfhörer aus dem Ohr. Sie wohnte Parterre. Seufzend fuhr Luisa sich durch ihre langen Fransen, die ihr aus dem schlampigen Zopf gefallen waren, den sie sich am Ende ihrer Schicht gemacht hatte. Was hatte Alex gesagt, um sie aufzuheitern? Bei dem Wetter würde man höchstens auf ihren Regenschirm starren und nicht auf ihre Frisur. Da dürfe sie sich das nach einem harten Arbeitstag schon erlauben. Gerade als Luisa im Flur ihre Schuhe ausziehen wollte, hielt sie inne. Im Wohnzimmer brannte Licht. Sie wohnte alleine, also dürfte außer ihr niemand hier sein. Ihren großen Regenschirm fester umgreifend trat sie langsam und leise näher. Sie lugte ins Zimmer. »Mama!« Verwundert weitete sie ihre Augen. Ihre Mutter stand mitten im Zimmer und starrte sie an. Der Griff um den Regenschirm lockerte sich. Über den unangekündigten Besuch war Luisa überrascht. Doch vor allem wunderte sie eines: »Wie bist du in die Wohnung gekommen?« Ihre Mutter blieb einen längeren Moment stumm und Luisa war versucht, mit Nachdruck ihre Frage zu wiederholen. Dann endlich die knappe Antwort. »Die Tür stand offen.« Entsetzen breitete sich auf dem Gesicht der jungen Frau aus. Ihr Herzschlag setzte für einen kleinen Moment aus. »War jemand in meiner Wohnung?!« Nervös sah sie sich um. Die Vorstellung alleine war schon schrecklich! Wie konnte ihre Wohnungstür aufgestanden haben? Sie hatte am Morgen abgeschlossen! Oder doch nicht? Auf einmal war sie sich nicht mehr so sicher. Sie war in Eile gewesen, aber sie sperrte immer ab. »Nein.« Für einen langen Augenblick sahen die beiden sich stumm an. Dann atmete Luisa erleichtert aus. »Na Gott sei Dank.« Sie machte sich daran, die Knöpfe ihrer Jacke zu öffnen, um sie sich von den Schultern zu ziehen. Achtlos fand sie ihren Platz auf dem Klavierhocker, als Luisa das geöffnete Fenster wahrnahm. »Hast du geraucht? Ich dachte du hast aufgehört. Draußen regnet es in Strömen; sieh doch, es regnet sogar schon herein.« Sie schloss das Fenster und wischte die Tropfen auf dem Fenstersims fahrig mit der Hand weg. »Du bist ja ganz nass, hast du keinen Regenschirm dabei?«, fragte Luisa besorgt, als sie die feuchten Haare bemerkte. »Nein. Vergessen.« »Warte schnell, ich hole dir ein Handtuch.« Geschwind ging sie ins Badezimmer um Besagtes zu holen und sich selbst gleich eines mitzubringen. Dabei lugte sie im Vorbeigehen in jedes Zimmer, denn der Gedanke, dass ihre Tür offen gestanden hatte, ließ sie sich noch immer unwohl fühlen. Sie reichte ihrer Mutter das Handtuch, doch diese sah es für den Moment nur untätig an. »Na los, trockne deine Haare ein wenig, sonst wirst du noch krank.« Luisa lächelte. »Irgendwie kommt es mir gerade fast so vor, als hätten wir Rollen getauscht: Du bist die Tochter und ich mache mir Sorgen um deine Gesundheit.« Sie lachte. Es dauerte, bis ihre Mutter kurz mit in das Lachen einfiel. »Setz dich doch erst mal und dann könnte ich uns eine Tasse Tee machen, hm? Das wär's doch jetzt!« Sie deutete auf ihr Sofa, stoppte jedoch in ihrem freudigen Enthusiasmus. Schnell huschte sie hinüber und sammelte alle Kleidungsstücke mit einem behänden Griff auf, die ein Sitzen auf dem Sofa beinahe unmöglich machten. Verlegen grinse sie ihre Mutter an. »Sorry für die Unordnung, ich dachte nicht, dass ich heute noch Besuch bekomme.« Sie blies sich eine weitere Strähne aus dem Gesicht, die aus ihrem Zopf entflohen war. »Bin sofort zurück, fühl dich wie Zuhause.« Fix brachte Luisa die Schmutzwäsche ins Badezimmer, zog sich ihre Schuhe aus und füllte den Wasserkocher. Die Tassen klirrten, als sie zwei davon geschwind aus dem Küchenschrank holte und die Teebeutel hinein hängte. Erdbeer-Honig-Tee für sie und Apfel-Pflaume für ihre Mutter. Sie fühlte sich belebter als zuvor und ihre ankriechende schlechte Laune war verschwunden. Vielleicht hatte das damit zu tun, dass es in der Wohnung warm und trocken war - im Gegensatz zu draußen, wo immer noch das Unwetter wütete und sich hin und wieder mit einem Donnern bemerkbar machte. Oder es lag an dem Umstand, dass sie nicht in eine leere, dunkle Wohnung kam, sondern jemand da war, mit dem sie gemütlich quatschen konnte. Das hatte sie in letzter Zeit eindeutig vermisst. Sie wischte sich mit dem Handtuch über ihren nass gewordenen Arm. »Hast du mit Papa gestritten? Ich versteh euch nicht. Ihr schaukelt euch immer gegenseitig hoch, bis die Fetzen fliegen und redet zwei Tage nicht miteinander. Trotzdem ist danach alles wieder gut.« Luisa kicherte in sich hinein und lehnte sich an die Küchenzeile, bis das Wasser kochte. »Weißt du, Markus hat mir heute Morgen ein richtiges Kompliment gemacht. Ich meine, ist das zu fassen? Da sieht er mich wochenlang nicht mit dem Arsch an und dann, als ich mich schon damit abgefunden habe, dass er entweder total verpeilt ist und meine Flirtversuche nicht bemerkt oder sie bewusst ignoriert, weil er mich nicht attraktiv findet, tut er sowas! Ich hab das Grinsen stundenlang nicht mehr von meinem Gesicht bekommen.« Dabei hielt sie sich die Wangen, wurde aber aus ihrer Schwärmerei gerissen, als der Wasserkocher klickte und sie den Tee aufbereiten konnte. »Ist doch schön«, klang es gedämpft aus dem Wohnzimmer. Mit den beiden Tassen in Händen kam sie aus der Küche und setzte sich neben ihre Mutter an den kleinen, abgenutzten Couchtisch. Mit dem Löffel rührte sie nebenbei wie in Trance um, während sie weitersprach. »Du weißt doch, wen ich meine, nicht wahr? Markus aus der Produktion, den wir vor ein paar Wochen in der Stadt getroffen haben.« »Ja.« »Ich weiß trotzdem nicht, wie ich sein Verhalten deuten soll. Ich meine, was soll das? Ist ihm über das Wochenende plötzlich eingefallen, dass es mich auch noch gibt? Oder hat ihm seine Mieze den Laufpass gegeben? Nicht, dass man viel über feste Beziehungen seinerseits hören würde, aber für das Wochenende findet er immer irgendeine.« Luisa starrte miesepetrig auf ihren Tee, als könne sie ihn dazu bringen, etwas an der Situation zu ändern. »Warum muss ich auf diese Kerle stehen? Ich will doch echt nicht zu viel, wenn ich mir wünsche, dass der Mann, mit dem ich dann zusammen bin, allen voran mir schöne Augen macht und nicht nach jedem Hintern greift, der nicht bei drei auf dem Baum ist.« Sie seufzte, nahm einen Schluck von ihrem Erdbeer-Honig-Tee und sah zu ihrer Mutter. »Stimmt irgendwas mit deinem Tee nicht?« »Zu heiß.« Luisa lachte. »Dann rühr doch um.« Ihre Mutter sah auf die Tasse und griff nach dem Löffel, um dem Rat ihrer Tochter zu befolgen. Luisa schüttelte lächelnd den Kopf über die Zerstreutheit, die ihre Mutter gerade an den Tag legte. »Warum bist du eigentlich hier?«, wollte sie wissen. »Einfach nur so.« Luisa lüpfte ihre Augenbrauen. Dann hätte sie aber anrufen können, bevor sie vorbeikommt, dachte sie sich. Obwohl sie sich natürlich freute, sie zu sehen. Das taten sie sowieso viel zu selten. Seit Luisa hierher gezogen war, hatte sie wenig Freizeit und diese musste sie irgendwie auf alles Wichtige in ihrem Leben aufteilen. Freunde, Hobbys, Familie. Dass eines davon zu kurz kam, war leider vorprogrammiert. »Wie bist du denn überhaupt hergekommen?« »Zu Fuß.« Zweifelnd sah Luisa sie an. »Das ist doch viel zu weit um zu Fuß zu gehen! Du meinst wohl eher von der Bushaltestelle aus, hm?« Ihre Mutter verzog die Lippen. »Du bist also mit dem Bus gefahren?«, versuchte Luisa es noch einmal. »Nein.« »Wie dann?« »Per Auto.« »Du hast keinen Führerschein, Mama. Was erzählst du mir da für einen Mist?« Luisa fühlte sich veräppelt. Sie seufzte und nahm einen kräftigen Schluck ihres Tees. »Egal. Willst du heute hier übernachten? Dann muss ich das Sofa später noch zum Bett umfunktionieren.« Es war wohl einfacher, das Thema zu wechseln, was sie sogleich tat. »Nein.« »Du fährst also doch wieder heim? Dann müssen wir schauen, wann der letzte Bus fährt.« Ihr Blick glitt an ihrer Mutter hinab und blieb an den dunkelblauen eleganten Stöckelschuhen hängen. »Die sind noch von Tante Elfriedes zweiter Hochzeitsfeier. Ich dachte, du hast mir gesagt, dass sie dir schon lange nicht mehr passen? Sonst trägst du doch nur flache Schuhe.« »Aber sie sind schön.« »Also quetscht du deine Füße da rein, nur weil sie schön sind? Komm, zieh sie aus. Es gibt doch auch viele schöne Stöckelschuhe in deiner jetzigen Größe, die du dir kaufen könntest.« Kurz schien ihre Mutter nachzudenken, dann gab sie kleinbei und zog ihre Schuhe umständlich aus. »Sind sie so eng?«, fragte Luisa verwundert und griff zu ihrer Tasse. Die andere war noch immer randvoll. Sie erahnte ein Nicken und legte eine Hand auf den Arm ihrer Mutter. »Es ist schön, dich mal wieder zu sehen«, erklärte sie lächelnd. Ihr Lächeln wurde ungelenk erwidert. Das plötzliche Einsetzen des Songs 'Auf uns' in der entstandenen Stille ließ sie nach ihrem Handy greifen. »Sorry.« Sie sah auf das Display und starrte einen Augenblick verwundert auf den Namen, der dort eingeblendet wurde.   Mama   Ihr Blick glitt zu ihrer Mutter neben sich, die sie eingehend musterte, dann nahm sie ab. »Ja?« »Hallo, Luisa«, trällerte die aufgeweckte Stimme ihrer Mutter durchs Telefon. Aber…! Obwohl sie gerade direkt in das Gesicht ihrer Mutter starrte, telefonierte sie mit ihr! Luisa war sprachlos. Und völlig verwirrt. »Wa-Wa… Wo bist du gerade?«, stammelte sie. »Zuhause, wo sonst?«, kam prompt die Antwort, bevor sie die Stimme ihres Vaters im Hintergrund wahrnahm. »Papa sagt, dass du am Wochenende unbedingt vorbei kommen musst. Er möchte ein neues Gericht ausprobieren und da braucht er dich als Versuchskaninchen.« Sie lachte. Luisa saß auf dem Sofa wie vom Donner gerührt. Ihr Mund musste ihr aufstehen, das fühlte sie. Wie konnte das sein? Zum wiederholten Mal starrte sie in das Gesicht neben ihr, betrachtete jedes kleine Fältchen darin und den Ausdruck in den braunen Augen. »E-entschuldige mich«, brachte sie mit einer kleinen Geste heraus, bevor sie steif aufstand und in die Küche ging. »Du hörst dich nicht gut an, Schatz. Ist alles in Ordnung bei dir?«, drang die warme Stimme aus dem Handy gedämpft in Luisas Verstand. Sie lehnte sich gegen die Küchenzeile und starrte wie gebannt auf das Yin-Yang-Symbol, welches auf dem Fliesenspiegel ihr gegenüber prangte. »Luisa?« Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Ihr Kopf war für einen Augenblick gänzlich leer. Dann kamen ihr all diese Fragen in den Sinn. Was war los? Wie konnte ihre Mutter sie anrufen? Saß diese nicht gerade im Moment auf ihrem Sofa im Wohnzimmer? »Mama, ist das irgendwie versteckte Kamera, oder so? Du bist doch hier bei mir.« »Was redest du da, Luisa? Wieso soll ich bei dir sein? Es stürmt draußen wie verrückt, da würde dein Vater nicht Auto fahren und die Busse haben immer so schreckliche Fahrpläne, dass ich sie nur ungerne nehme. Noch dazu bei dem Wetter. Da käme ich ja klitschnass bei dir an.« »Aber-« Nein. Die Frau, die auf dem Sofa saß, war nicht ihre Mutter. Denn die, mit der sie gerade telefonierte, klang hundertmal mehr nach ihr, als die, die sich im Nebenraum befand. Luisas Atem begann zu zittern. Denn das warf die Frage auf: Wer war die Frau, die mit ihr Tee trank? »Mama…« Luisa biss sich auf die Unterlippe und atmete tief durch. Sie musste hart schlucken, um nicht in Panik zu verfallen. Das lässt sich bestimmt erklären. Es muss so sein, brabbelte sie innerlich vor sich hin. »Du machst mir langsam Sorgen. Was ist los?« Luisa wusste keine Antwort auf diese Frage. Nur zu gerne wüsste sie selbst, was los war. »Die blauen Schuhe von Tante Elfriedes Hochzeit trägst du nicht mehr, nicht wahr?« »Blaue Schuhe? Ach so, die. Nein, die sind mir viel zu klein. Aber wie kommst du jetzt darauf?« Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren und aufgeschreckt zur Tür sehen. Dort stand ihre Mutter- nein, irgendjemand, der so aussah wie sie. Keuchend entfloh die Luft aus Luisas Lungen und sie presste sich gegen die Küchenzeile, so weit weg von der Frau wie möglich. Doch sie bekam kein Wort heraus. Die Frau kam auf sie zu und sie suchte panisch nach einem Ausweg. Sie fand keinen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob ihre Füße sich überhaupt bewegt hätten, denn die Angst breitete sich in ihr aus und ließ ihren Körper erstarren. »Luisa? Hey, Luisa! Was ist da los?« Die Frau blieb einen Schritt vor ihr stehen und streckte ihre Hand nach ihr aus. Voller Furcht verkrampfte Luisa sich und starrte in das reglose Gesicht. Wortlos griff die Frau nach dem Handy und entzog es ihr langsam. Luisa schluchzte. Dann warf sie das Handy mit voller Wucht auf den Fliesenboden. Es zerbarst in tausend kleine Stücke. Luisa schrie auf und Tränen der Angst rannen über ihre Wangen bis zum Kinn hinab. Sie sank in sich zusammen und kauerte sich auf den Boden. »Wer bist du? Was willst du?« »Ich bin Mama.« Hilflos starrte Luisa auf die Frau und zitterte vor Angst. Ihre Stimme war eine einzige unverständliche Masse aus Schluchzern geworden. Die Frau beugte sich zu ihr hinab und erneut streckte sie die lackierten Finger nach ihr aus. Immer weiter versuchte Luisa sich gegen die Küchenzeile zu drücken, wollte die Hand wegschlagen und weglaufen. Aber ihr Körper war starr und verweigerte ihr jegliche Bewegung. Erst die Türklingel ließ die bedrohliche Bewegung anhalten. Sie sah auf die Hand, die sie an die wärmenden Berührungen ihrer Mutter erinnerte. Doch jetzt spürte sie Furcht und Panik. Die Frau stand auf und verließ die Küche. »Luisa, bist du da? Heute Nachmittag ist ein Paket für dich gekommen«, drang die dumpfe Stimme von Herrn Salvik, ihrem Nachbar, durch die Wohnung. Die Küchentür ging zu und man konnte ein Kratzen und dann ein Rütteln vernehmen, wobei die Türklinke wackelte. Nur mühevoll schaffte Luisa es auf die Beine und schlich zur Tür. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie legte die Hand auf die Klinke und atmete tief durch. Dann drückte sie sie nach unten. Oder versuchte es besser gesagt. Sie klemmte! Irgendetwas versperrte die Tür. Erneut pumpte Adrenalin durch ihre Adern. Doch dieses Mal war es nicht die Angst um sich. »Tu ihm nichts! Bitte, bitte tu ihm nichts an!«, schrie sie aufgeregt gegen die verschlossene Tür. Sie hämmerte dagegen und brüllte aus vollen Lungen. In einer Pause hörte sie Stimmengewirr. Herr Salvik hörte sich aufgeregt an, dann war da noch eine zweite, die allerdings nicht ihrer Mutter gehörte. Ihr Nachbar wurde lauter und sie verstand, dass er sich Eintritt in die Wohnung verschaffen wollte. Dann hörte sie einen Schrei, der bis ins Mark ging. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und musste blinzeln um noch durch ihre Tränen sehen zu können. Sie musste hier weg! Weg, bevor diese Frau zurück zu ihr kam! Luisa stolperte auf ihr Küchenfenster zu und öffnete es. Dabei räumte sie alle Küchenutensilien von der Arbeitsfläche, die sich im Öffnungsradius des Fensters befanden. Es schepperte und klirrte, als Teller brachen und Besteck zu Boden fiel. Es kümmerte sie nicht. Ihre starren Glieder taten sich schwer, auf die Arbeitsfläche zu klettern, doch von Sekunde zu Sekunde schoss mehr Adrenalin durch ihren Körper und die Angststarre löste sich auf. Sie sprang durch das offene Fenster hinaus und landete in schlammiger, vom Regen aufgeweichter Erde. Schnell rappelte sie sich auf und dann lief sie. Als sie sich umdrehte, um noch einmal zum offenen Fenster ihrer Küche zu sehen, erkannte sie ihr Ebenbild, blutbefleckt und suchend, dessen kalter Blick sie in der aufkommenden Dunkelheit erfasste. Luisa schluchzte und trieb ihre Beine an, noch schneller zu laufen. Plötzlich machte es ihr gar nichts mehr aus, dass der strömende Regen ihre Haut befeuchtete, der Matsch an ihrer Kleidung klebte und das Wasser der nun erreichten Straße ihr an die Hosenbeine platschte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)