Die Dinge, die wir immer wollten... von Sakuran (Taichi & Mimi) ================================================================================ Kapitel 12: Neues Leben (Anfang) -------------------------------- 15. August 2015, Tateyama, Präfektur Chiba „Ach und Taichi, woher willst du überhaupt wissen, dass du der Vater bist?“ Seine Knie bohrten sich schmerzhaft in die harten Holzdielen. Mit aller Kraft presste er seine schweißnassen Hände gegen den Fußboden. Jede Muskelfaser in seinen Armen zog sich qualvoll zusammen und Taichi konnte das Adrenalin, welches ihm unaufhörlich durch die Adern floss, förmlich in seinem trockenen Mund schmecken. Jegliche Farbe schien aus seinem Gesicht gewichen zu sein. Ein manifester Kopfschmerz pulsierte durch seine Schläfen und zwang ihn dazu, den Blick von ihr abzuwenden und seine dunkelbraunen Augen zu schließen. Diese Worte. Ihre wenigen Worten zerrissen ihm das Herz in der Brust. Noch nie bereitete es ihm Probleme, seine Wut gegenüber einer Frau zu kontrollieren, aber dieses Mal fiel es ihm tatsächlich schwer, ihr keine Ohrfeige zu verpassen. Vielleicht war es der Gedanke daran, dass Mimi im Moment so unendlich zerbrechlich war, vielleicht war es der Gedanke daran, dass sie wohl möglich ein Kind unter ihrem Herzen trug. Aber vielleicht war es auch schlichtweg der Gedanke, dass sie das, was sie sagte, unmöglich ernst meinen konnte. Tai flutete seine Lungen mit Sauerstoff und spürte, wie sich sein Brustkorb zusammenzog, um sich danach gleich wieder zu entspannen. Ein eindeutiges Indiz dafür, dass er noch immer am Leben war und sein Herz unerschüttert weiter schlug. Schweigend richtete er sich auf und lief die wenigen Schritte in den Flur. Mimi folgte ihm mit ihrem Blick, als Taichi sich schweigend die Schuhe anzog. Langsam erhob sie sich ebenfalls vom Fußboden und legte sich einige Haarsträhnen hinters Ohr. „Zieh dich an, ich fahre dich ins Krankenhaus. Dann hast du Gewissheit und kannst für dich ganz alleine entscheiden, wie es weiter gehen soll.“ Verständnislos musterte sie ihn von hinten und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Nein, du musst mich nirgendwohin fahren...“ murmelte sie kleinlaut. Taichi griff nach ihren Sandaletten und warf sie unsanft vor ihre Füße. Seine Gereiztheit sprang ihm förmlich aus den Augen. „Zieh dir jetzt deine beschissenen Schuhe an und steig in das Auto, bevor ich mich vergesse!“ sein Tonfall war ruhig aber bedrohlich scharf. Er war bereits nach draußen gegangen, als Mimi zitternd ihre Schuhe aufhob. Sie konnte in seinem Gesicht, seiner Körperhaltung und seiner Stimmfarbe deutlich ablesen, wie sehr sie ihn gedemütigt haben musste. Wie tief der Dolch saß, dem sie ihm unvermittelt von hinten durch die Brust gerammt hatte. Warum tat sie das? Warum war sie so grausam zu ihm? Er war so ein guter Mensch und sie trat ihn mit Füßen. Vor wenigen Minuten hatte sie ihm sein Herz herausgeschnitten und in ihren Händen langsam zerquetscht. Obwohl er ihr alles von sich gab und sich mit allem was er ihr anbieten konnte offenbarte. Doch es war zu spät. Gesagtes war gesagt und im Leben gab es nunmal keine „rückwärts“ Taste. Sie wollte keinen weiteren Streit vom Zaun brechen und riskieren, dass er vielleicht seine Selbstbeherrschung verlor und alles furchtbar eskalieren könnte. Also stieg Mimi folgsam in das Auto. Die Fahrt war unerträglich, denn man konnte die Anspannung zwischen beiden förmlich mit den Fingern durchschneiden. Der heutige Tag war bereits der Dunkelheit der aufkeimenden Nacht gewichen. Hinter dichten Wolkenfeldern versteckte sich der abnehmende Mond. Als beide den Parkplatz der kleinen Klinik erreichten, war dieser völlig menschenleer. Taichi zog den Schlüssel ab und starrte seufzend nach vorne. „Ich bringe dich noch rein. Sicherlich wirst du jemanden brauchen, der die Untersuchung bezahlt, schließlich bist du nicht krankenversichert. Außerdem sollte in der Nacht keine Frau alleine über einen dunklen Parkplatz laufen...“ Sie biss sich angespannt auf ihre Unterlippe und nickte angestrengt. Warum musste er das jetzt auch noch ansprechen? Aber er hatte verdammt nochmal recht. Sie könnte nicht einmal ein Taschentuch bezahlen. Wie sehr sie es hasste so abhängig zu sein. An der Anmeldung sagte Mimi relativ unbeeindruckt worum es ging und was sie geklärt haben wollte. Die Schwester blickte nervös zwischen der jungen Frau und dem großgewachsenen jungen Mann, der neben ihr stand, hin und her. Beide schienen sich nicht sonderlich darüber zu freuen, dass möglicherweise ein kleiner Mensch unterwegs war. Die Notaufnahme war komplett leer und somit dauerte es nicht lange, bis eine ältere Ärztin auf sie zukam. „Folgen Sie mir doch bitte in den Untersuchungsraum. Möchte der werdende Vater mit dabei sein?“ fragte sie höflich und öffnete die Tür. „Nein, ich bin nur der Fahrer. Ich warte draußen...“ sagte Taichi ungewöhnlich entspannt. Als sie seine Stimme vernahm zuckte Mimi zusammen und blieb kurz im Türrahmen stehen. Sie drehte sich nicht um, sondern rang lediglich nach Atem. Ihre zitternden Finger fuhren über ihre Lippen. Angespannt hielt sie ihre Tränen zurück und betrat den Untersuchungsraum ohne ihn. Trotz der offensichtlichen Verwunderung der Ärztin, blieb Taichi standhaft und setzte sich draußen auf den Krankenhausflur. Sein fahles Gesicht verzog sich zu einer angespannten Fratze. Verzweifelt fuhren seine zittrigen Finger durch sein zerzaustes Haar. Ihm war zum Heulen zumute. Aber diese Blöße würde er sich jetzt nicht geben. Wütend wippte er mit beiden Beinen auf und ab. Noch immer spürte er, wie sein Puls raste. Er wollte nicht, dass sie diese Entscheidung alleine traf und sich gegen dieses Kind entscheiden würde. Auch wenn er vielleicht nicht der Vater war, wollte er es einfach nicht. Warum waren Frauen so? Letztlich konnten Männer diese Entscheidungen nicht beeinflussen. Am Ende waren es die Frauen, die einzig und allein über ein neues Leben entschieden und die Männer mussten sich fügen, ob sie damit einverstanden waren oder nicht. In seinem ganzen Leben hatte sich Tai noch nie so hilflos gefühlt. „Hey Fahrer, auf ein Wort...“ Die Stimme der älteren Ärztin riss Tai aus seinen Gedanken. Er wusste nicht mehr, wie lange er jetzt hier draußen saß und wie spät es überhaupt war. Aber offenbar sollte er plötzlich mit in das Behandlungszimmer. „...Fräulein Tachikawa möchte mit Ihnen sprechen.“ Fast schon unfreiwillig schob sie ihn in das Zimmer und machte hinter ihm die Tür zu. Mimi lag mit dem Rücken auf einer gewöhnlichen Untersuchungsliege. Ihre Bluse war bis zur Brust aufgeknöpft und entblößte ihren nackten Bauch. Die ältere Ärztin träufelte erneut etwas Gel über den Bauch, sodass sie die Ultraschallsonde darüber bewegen konnte. Mimi tippte mit ihren Fingern auf den kleinen Hocker neben sich und zeigte ihm, dass er sich setzen sollte. Taichi schnaufte merklich genervt und setzte sich schließlich hin. Ungewollt blickte er in ihre wundervollen haselnussbraunen Augen und dann auf den kleinen Monitor des Ultraschallgerätes. Angestrengt versuchte der junge Mann irgendetwas auf diesem Bild zu erkennen. Er legte seinen Kopf leicht nach links, dann wieder nach rechts, doch wirklich erkennen konnte er nichts. „Was soll das sein? Eine dicke Bohne?“ Die Ärztin schüttelte lachend den Kopf und stellte den Monitor auf Standbild. Sie legte ein trockenes Papiertuch auf den Bauch der werdenden Mutter und wischte die letzten Reste des Gels ab. Mimi konnte sich ihr Lächeln ebenfalls nicht verkneifen und sah zu Tai. „Tai, du bist wirklich unmöglich. Was soll das Kleine von dir denken, wenn ich ihm oder ihr irgendwann erzähle: das erste was dein Vater zu dir sagte war, dass du aussiehst wie eine dicke Bohne!“ Dass die Ärztin das Zimmer bereits verlassen hatte, war Tai überhaupt nicht aufgefallen. Wie zur Salzsäule erstarrte blickte er zwischen den wunderschönen Augen von Mimi und dem Standbild des Monitors hin und her. Angespannt legte er seine Hand gegen die Stirn und drückte Daumen und Zeigefinger gegen seine Schläfen. Was hatte das zu bedeuten? Vor wenigen Minuten knallte sie ihm gegen den Kopf, dass er überhaupt nicht der Vater wäre und jetzt sagte sie so etwas? „Du bist also schwanger und möchtest dieses Kind behalten?“ das war alles, was ihm jetzt dazu einfiel. Zärtlich legte Mimi ihre Hand auf seine und suchte den Blick zu ihm. „Ich bin abscheulich. Alles was ich zu dir gesagt habe war einfach grausam. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was richtig oder falsch ist. Aber als ich dieses kleine Ding auf dem Bildschirm sah, da konnte ich diesen Gedanken nicht länger vor mir weg schieben.“ „Welchen Gedanken? Das du Appetit auf Bohnensalat hast?“ er grinste frech und drückte seine Hand zärtlich auf ihren Bauch. Völlig verwirrt starrte sie in sein Gesicht und konnte überhaupt nicht verstehen, warum er jetzt darüber Witze machen konnte. Tai atmete tief ein und schloss seine Augen. „Weißt du was, auch ich habe darüber nachgedacht. Über deine Worte, über deine Reaktion und habe mich gefragt, warum hast du für dich alleine diese Entscheidung getroffen? Warum hast du es billigend in Kauf genommen mich zu verletzen, auf Abstand zu halten und letztlich zu verjagen?“ Er beugte sich etwas über sie und schenkte ihr ein sanftmütiges Lächeln. „Die Antwort war ganz einfach. Dieses Leben, dein Leben in den letzten Monaten hat dich so verdammt hart gemacht. Dieses kleine verheulte, jammernde und wehleidige Prinzesschen ist vollkommen verschwunden. Alles was ich vorfand war eine in sich zurückgezogene, traurige und furchtbar einsame junge Frau auf der Suche nach Schutz und Halt. Mein Fehler war es zu glauben, dass du diesen Schutz und Halt bei mir finden wolltest. Das wolltest du nämlich überhaupt nicht. Du wolltest auf eigenen Füßen stehen und im Schutze deiner Familie neue Kräfte sammeln. Jetzt hast du das Gefühl, wieder alles verloren zu haben und diese Angst vor dem nächsten Verlust lässt es nicht zu, dass ich dich erreichen kann, egal wie sehr ich mich anstrenge.“ Einzelne Tränen kullerten über ihre Wange. „Ich weiß doch, wie sehr du dich anstrengst. Aber ich....“ sanft legte er seinen Finger auf ihre Lippen und unterbrach ihren Satz. „Ich kenne dich jetzt so lange und ich bin mir dessen bewusst, dass du das alles nicht aus Boshaftigkeit machst. Irgendwann hat sich mein Herz dazu entschieden, dieses schreckliche, zickige, dickköpfige und weinerliche Mädchen zu lieben. Und selbst heute, werden sich meine Gefühle nicht ändern. Egal wie ekelhaft du zu mir bist, so schnell wirst du mich nicht los. Denn nach all den Jahren weiß ich ganz genau, dass hinter dieser harten Schale ein unglaublich sanftmütiger, leidenschaftlicher und liebevoller Kern steckt. Du hättest diese Schwangerschaft nicht abgebrochen...“ Tai hielt kurz Inne und sah zu Boden. „...wer ist denn nun der Vater?“ Mimi lächelte sanft und zog sein Gesicht zu sich herunter. Liebevoll hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich hätte niemals gedacht, dass du noch dämlicher aussehen kannst, als ohne hin schon.“ Zärtlich fuhren ihre Finger durch sein Haar. Ihre beiden Blicke trafen sich und Taichi konnte seine Verwirrung nicht verstecken. „Ich bin in der achten Schwangerschaftswoche. Ich war in den letzten Monaten mit niemandem sonst zusammen, außer mit dir.“ Misstrauisch zog Taichi seine linke Augenbraue hoch. Sie war also in den letzten Monaten mit niemandem sonst zusammen? Und was war mit Joe? Diese Gedanken schob Taichi schnell wieder beiseite, schließlich hatte er das mit seinem Freund und Mimi geklärt. Dennoch passte seines Erachtens einiges noch nicht ganz zusammen. „Aber vor acht Wochen war doch die Hochzeit. Ich war zwar sehr betrunken, aber zwischen uns ist doch nichts gelaufen? Oder etwa doch?“ Er war so unbeholfen und manchmal auch ein kleiner Trottel. Mimi musste grinsen und kniff ihm in seine Nase. „Eine Schwangerschaft beginnt mit der Befruchtung. Also zu dem Zeitpunkt an dem man miteinander schläft. Das Schwangerschaftsalter wird jedoch ab Zyklusbeginn berechnet, also ab dem ersten Tag der letzten Regelblutung. Somit ist man in den ersten zwei Schwangerschaftswochen noch gar nicht schwanger. Müssen wir da nochmal den Biologie Unterricht besuchen?“ „Nein lass mal, das bei euch Frauen ist mir viel zu kompliziert, reicht doch, dass ich bei der Befruchtung anwesend war, oder?“ Tai grinste schelmisch. „Aber Anwesenheit allein zählt nicht. Auch Theorie und Praxis müssen vorzeigbar sein.“ sie streckte ihm die Zunge raus und knöpfte sich langsam ihre Bluse zu. „Also über meine Praxis hat sich noch keine der Ladys beschwert...“ dafür fing er sich sofort eine Ohrfeige von ihr ein. „Sei nicht so frech!“ tadelte sie ihn mit strenger Stimme, um ihm dann aber wieder ein verliebtes Lächeln zu schenken. „Vielen Dank für dieses besondere Geburtstagsgeschenk. Das hast du wirklich gut gemacht, Papa.“ Tai erwiderte ihren liebevollen Gesichtsausdruck und streichelte ihr zärtlich über die Wange. „Das heißt jetzt also, dass du noch ganz am Anfang bist und wir besonders gut auf dich aufpassen müssen. Also regelmäßig essen und schlafen! Keinen Stress oder ähnliches, richtig?“ Während sich Mimi von der Liege erhob, nickte sie bestätigend. Die ersten drei Monate einer Schwangerschaft waren sehr riskant für das ungeborene Kind. Plötzlich spürte sie seine Hände an ihrer Hüfte, als er sie sehnsüchtig in eine stürmische Umarmung zog. Sobald Tai ihren warmen Körper an seinem spürte und ihren unverwechselbaren Duft in sich aufnahm, wurde ihm zum ersten Mal wirklich bewusst, dass sie von nun an eine kleine Familie sein würden. Beide hatten ein neues Leben in diese Welt gesetzt und würden für den Rest ihres Lebens die Verantwortung dafür tragen. „Egal was passiert, egal wo du bist, egal welche Schwierigkeiten wir meistern müssen. Ich werde immer für euch beide sorgen. Ich bin hier, vor dir und gebe dir alles was ich habe, alles was ich bin und jemals sein werde.“ Fest schloss sie ihre Arme um seine Taille. Selbst wenn sie sich auf ihre Zehenspitzen stellte, reichte sie ihm gerade mal an sein Kinn. Seine muskulösen Oberarme legten sich wie ein schützender Mantel um ihren Körper. Sogar in ihrer dunkelsten Stunde, in den trostlosesten Momenten ihres Lebens, wenn sie ihr hässlichstes Gesicht zeigte, bewies er Stärke und stellte sich ihr mutig entgegen. Seine Finger fuhren zwischen ihre. Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals, als er sie dort küsste. Genüsslich seufzte sie unter ihm auf und schmiegte sich an seine kräftige Brust. „Lass uns gehen, ich bringe dich nach Hause.“ Tai löste seine verlangenden Lippen von ihr. Er hätte sich unmöglich länger beherrschen können, zu sehr sehnte er sich nach ihrer Nähe. Zu lange konnte er sie nicht berühren. Zu sehr wünschte er sich mehr, als nur unschuldige Küsse. Hand in Hand verließen beide dieses Krankenhaus und fuhren durch die Nacht zurück zum Haus. „Muss ich jetzt eigentlich etwas spezielles beachten? Außer, dass du kugelrund wie ein Ballon wirst?“ Tai versuchte die Stille zu durchbrechen und legte seine linke Hand auf ihren Oberschenkel. Trotz der freudigen Entscheidung, dass sie das Kind behalten und austragen würde, dass sie nun eine kleine Familie waren, schienen noch immer einige Fragen offen im Raum zu stehen. Waren sie ein Paar? Wie war es um ihre Gefühle für ihn bestellt? Wo würden sie zukünftig wohnen? Würde Mimi ihr Studium fortsetzen? Wie sollten beide ihr gemeinsames Leben finanzieren? Auch Taichi versuchte diese Fragen weitestgehend aus seinen Gedanken zu verbannen, denn in erster Linie wollte er sich einfach nur über die Nachricht freuen, dass er bald Vater werden würde. Doch seine Freude schien einseitig zu bleiben, denn Mimi wirkte immer noch sehr niedergeschlagen. „Tai ich....ich muss dir noch was sagen...“ stotterte sie angespannt und krallte sich an seiner Hand fest. Der junge Mann verlangsamte das Tempo und brachte das Auto schließlich zum stehen. Seine Kehle fühlte sich staubtrocken an und in der Dunkelheit fiel es ihm schwer, ihre Augen auszumachen. „Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, ständig versucht die richtigen Worte zu finden. Aber ich glaube, dass es einfach nicht immer die richtigen Worte gibt. Alles was du zu mir gesagt hast, so wie du mich siehst, ist soviel mehr, als ich mir je gewünscht habe. Mit jedem neuen Tag zeigst du mir, wie wichtig ich dir bin. Ich fühle mich so unbeholfen, wie ein kleines Mädchen, dass sich in einem dunklen Wald verlaufen hat. Immer auf der Suche, nach dem Licht, das mich aus der Dunkelheit führen könnte. Auf der Suche nach Schutz und Geborgenheit. Aber dabei hatte ich das Glück ständig vor meiner Nase.“ Mimi hielt kurz Inne und wischte sich über ihre feuchten Augenränder. Sie dachte an die Worte ihrer Großmutter, dass es die kleinen Dinge im Leben sind, die unsere Träume erst wirklich riesig werden lassen. Als sie weitersprach, drehte sie sich etwas zur Seite und sah Tai direkt in die Augen. „Wir beide sind über Jahre hinweg aneinander vorbei gegangen. Immer wieder nach einander suchend, uns vermissend und doch nicht dazu in der Lage uns gegenseitig festzuhalten. Und jetzt, jetzt habe ich schon wieder das Gefühl, alles verloren zu haben. Die Realität reißt mir den Boden unter den Füßen weg. In meiner Brust zerfetzen mich Gefühle von Trauer über den Tod meiner Großmutter und Freude über die Schwangerschaft. Aber egal wohin ich blicke, egal wann ich dich anschaue, ich sehe nur dich! Mit all deiner Liebe für mich und all den Narben, die ich auf deinem Herzen hinterlassen habe.“ Hingebungsvoll streichelte Mimi die Konturen seines Gesichtes nach. Seine Bartstoppeln kitzelten unter ihren Fingerkuppen und kurzzeitig bildete sie sich ein, etwas nasses auf seiner Haut zu spüren. „In deinen Augen sehe deinen Stolz und deine Wut aber auch dein großes Herz und deinen Mut. Ich liebe deine Art mich anzusehen. Wie du immer sofort weißt, wie es mir geht. Wenn du mir ein Lächeln schenkst, sind all meine Sorgen vergessen. Jede Minute, jede Sekunde die du an meiner Seite bist, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass du mich berührst und wenn du mich dann endlich küsst, verliere ich mich in meiner Sehnsucht nach dir.“ Plötzlich packte Tai sie im Nacken und zerrte ihren Kopf förmlich zu sich. Er konnte nicht länger an sich halten. Diese Emotionen in seiner Brust brachen alle gleichzeitig über ihn herein. Völlig orientierungslos, nicht mehr wissend wo oben und unten war, presste er seine Lippen auf ihre. Bereitwillig gewährte sie seiner Zunge Einlass und schlang ihre Arme um ihn. Mimi schmeckte ihn so intensiv, spürte seine raue Hand in ihrem Genick, hörte seinen hämmernden Herzschlag und fühlte seine Tränen an ihrer Wange. Vorsichtig löste sie sich von ihm. Ihre Stirn lehnte sie gegen seine und vergrub ihre Finger in seinem dichten Haar. Unter beständigem Schluchzen versuchte sie, ihre weiteren Worte mit Fassung zu formulieren. „Und wenn ich ehrlich bin, dann habe ich das alles so gewollt, den ganzen Schmerz und all das Glück mit dir. Weil ich weiß, dass du derjenige bist, der für mich bestimmt ist. Oftmals fühlt es sich so an, als seist du ein weit entfernter Fremder. Aber wenn wir zusammen sind, dann weiß ich genau, dass ich diejenige bin, die dich vervollständigen wird. Ich weiß, dass du von Anfang an da gewesen bist und auf mich gewartet hast....“ Ihre Stimme brach ab, doch als Tai ihr zärtlich über den Arm streichelte, konnte sie den letzten Mut endlich aufbringen und ihm das sagen, was ihr schon so lange auf dem Herzen lag. „Und jetzt bist du es, der mich und mein Leben komplett macht. Wenn auch unbeabsichtigt hast du mir das größte Geschenk auf der Welt gemacht. Du hast mir nicht nur dein Herz, sondern auch ein neues Leben geschenkt. Ich liebe dich so sehr.“ Alles was jetzt um ihn herum passierte, konnte er überhaupt nicht mehr wahrnehmen. Biochemische Prozesse in seinem Hirn vernebelten ihm die Sinne. Dopamin mischte sich mit Adrenalin und Taichi spulte ihre letzten fünf Worte wie ein Mantra in seinen Gedanken ab. Es war ein unbeschreiblich großartiges Gefühl, dieses Liebesgeständnis endlich von ihr zu hören. Obwohl sie im Moment so zerbrechlich wie noch nie in ihrem Leben war, offenbarte sie ihm ihre Liebe. Seine Gliedmaßen kribbelten bis in die Fingerspitzen und seine gesamte Haut war von einer Gänsehaut überzogen. Er konnte nicht anders, als sie einfach in seinen Armen zu halten. Sie dicht bei sich zu spüren, um sicher zu sein, dass es kein Traum war. „Ich hoffe, dass du mich auch dann noch liebst, wenn ich deine unehelich gezeugte Brut unter meinem Herzen trage und kugelrund wie ein Ballon bin...“ Über ihre flapsig daher gesagten Worte musste Tai unter Tränen lachen. Langsam löste er sich etwas von ihr und zunächst trocknete er ihre Tränen, indem er sie sanft mit seinen Lippen auffing, bevor er sich selbst beschämt mit dem Ärmel seines Hemdes die letzten Überreste seiner Tränen aus dem Gesicht wischte. „Weißt du, selbst bei 3 F würde ich dich noch lieben.“ Tai erkannte ihren fragenden Blick und grinste süffisant bevor er seinen Satz zu Ende führte. „Fett, fies und furzend...“ Sofort schlug sie ihm gegen die Schulter und zeigte sich sichtlich empört. „Was fällt dir ein? Du bist so ein Widerling! Ich überlege mir das lieber alles nochmal...“ grinsend verschränkte sie ihre Arme vor der Brust. „Den Fahrer schlägt man nicht!“ gluckste Tai kichernd und startete den Motor des Autos. „Ja richtig und mit dem Fahrer spricht man nicht! Also sei still und fahr los.“ Bevor er ihrer Anweisung folgte, sah er zu ihr und streichelte über ihren Bauch. „Wie ist denn jetzt unser Beziehungsstatus?“ Ein breites Grinsen schmückte ihr Gesicht als sie seine Frage hörte. „Ich weiß nicht, was deine weiteren Pläne sind. Aber mein leerer Ringfinger sagt noch immer »ledig«.“ Tai zog seine Unterlippe grinsend zwischen seine Zähne und zwinkerte ihr zu. „Dann sollten wir deinen Statusbericht schnellstmöglich auf »verheiratet« updaten, oder? Aber das System zu rebooten dauert immer eine Weile. Vielleicht kannst du dich vorab mit »vergeben an Taichi Yagami« begnügen?“ Verdutzt riss Mimi ihre riesigen haselnussbraunen Augen auf. Hatte er gerade »verheiratet« gesagt? Ein schüchternes Lächeln färbte ihre kirschroten Lippen. Sie lehnte sich zurück in den Sitz und hing kurz dieser Vorstellung nach, wie es wäre mit ihm verheiratet zu sein. Wie jedes Mädchen, hatte auch Mimi ihre Vorstellungen von einer Traumhochzeit, aber im Moment war es wirklich sehr unrealistisch von einer Hochzeit zu sprechen. Zum einen war es einfach nicht der richtige Zeitpunkt und zum anderen standen sie gerade erst am Anfang eines noch langen gemeinsamen Weges. „Unter vorbehaltlicher Rücksprache mit dem Administrator, kann ich mit dem von dir vorgeschlagenen Beziehungsstatus mitgehen.“ Auf dem Rückweg kamen sie am Gemeindehaus vorbei und Mimi bat Taichi darum, noch einmal anzuhalten, sodass sie die Gelegenheit bekam, sich noch ein letztes Mal von ihrer Großmutter zu verabschieden. Taichi hielt ihre Hand, während sie den großen Saal betraten. Alles war unverändert. Die Stühle standen starr in Reihe und Glied, während sich am vorderen Ende des Saales der aufgebahrte Sarg befand. Davor lagen unzählige Blumenkränze. Der starke süßliche Geruch der Königslilien erfüllte den gesamten Raum. Neben dem Sarg befand sich ein antiker Mahagonitisch mit aufwändigen Schnitzereien auf der Oberfläche. Die glänzend goldene Färbung des Kondolenzbuches, ließ die Vertiefungen der Schnitzarbeiten hell schimmern. Zahlreiche Seiten waren von den vielen Gästen abgegriffen und Mimi blätterte gedankenverloren darin herum. Sie las sich einige Trauerbekundungen einzelner Gäste durch, bis sie schließlich die erste Seite und somit die Gästeliste aufschlug. Sehr viele Personen hatten ihre Unterschrift gesetzt und waren zur Trauerfeier von Kimiko erschienen. In filigran geschwungenen Kanji setzte Mimi an das Ende der Liste ebenfalls ihren Namen. Gerade als sie das Buch zuschlagen wollte, viel ihr eine markante Unterschrift im mittleren Teil der Seite ins Auge. »Tachikawa, Sōsuke« Entsetzt warf sie das Buch zu und wich einige Schritte vom Tisch zurück. Das konnte unmöglich sein, aber die Unterschrift ihres Vaters würde sie überall wiedererkennen. Im selben Moment hörte sie die Stimme ihres Freundes und fuhr erneut zusammen. „Sieh mal, das sind Blumen von deinem Vater. Auf der Schärpe steht: »In ewiger Liebe, dein Sohn. Ich werde dich sehr vermissen.«...“ Taichi strich mit seinen Fingern über den seiden Stoff der Banderole. „Sicherlich hat er die schicken lassen...“ mit einem wütenden Blick erhob sich Tai wieder von seinen Knien und schob seine Hände in die Hosentaschen. Mimi trat neben Tai und blickte auf den Strauß aus schwarzen Rosen und weißen Lilien. „Nein, er muss hier gewesen sein. Seine Unterschrift ist auf der Gästeliste. Warum hat er nichts gesagt? Warum ist er nicht zu mir gekommen? Wie kann er einfach verschwinden, ohne ein Wort an mich zu richten?“ Ihre Stimme klang dünn und ihre Augen schimmerten gläsern, als sie sich hinkniete und einige Blütenköpfe berührte. Zwischen den unzähligen Kränzen und Sträußen entdeckte sie einen schmalen schwarzen Briefumschlag. Er verbarg sich hinter der rechten Schärpe und Mimi zog ihn langsam hervor. Auf dem Umschlag konnte sie die Schrift ihres Vaters erkennen. Kurz überlegte sie, den Brief zu öffnen und den Inhalt zu lesen. Aber dieser Brief war nicht für sie bestimmt. Mimi richtete sich wieder auf und legte den Brief behutsam unter die gefalteten Hände ihrer Großmutter. Mit größter Wertschätzung und Liebe betrachtete sie das ruhende Gesicht von Kimiko und streichelte ihr sanft über die Wange. „Es ist bedauerlich, dass ihr am Ende doch im Streit auseinander gegangen seid, aber vielleicht stimmen dich seine Worte versöhnlich und ihr könnt zu einem anderen Zeitpunkt wieder miteinander lachen. Du fehlst mir und ich hoffe, dass es dir jetzt besser geht, egal wo du sein magst.“ Als ihre Tränen auf den Briefumschlag tropften, wich Mimi etwas zurück und wischte sich schluchzend über ihre Wangen. „Und du bist doch eine Hexe, du hast von Anfang an gewusst, dass ich schwanger bin und hast diese Söckchen für mich gestrickt.“ sie lachte kurz und legte ihre Hand auf die ihrer Großmutter. „Ich verstehe viele Zusammenhänge noch nicht ganz und ich weiß auch nicht, warum du immer diesen grandiosen Durchblick hattest, aber ich bin so froh, dass du einen Teil meines Lebens begleitet hast. Ich werde dich niemals vergessen.“ Taichi legte von hinten seine Hände um ihre Schultern und drückte ihren Rücken an seine Brust. Im Moment war er so stolz auf sie, wie tapfer sie dieser Situation entgegen trat und wie erwachsen sie sich verabschieden konnte. Ohne Wut und Groll. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und hielt sie noch eine ganze Weile in seinen Armen. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Angespannt lehnte er sich gegen die Tür seines Autos. Sollte er jetzt wirklich fahren, ohne mit ihr zu sprechen? Was sollte er ihr auch sagen? Sie lebte jetzt ihr eigenes Leben und hatte offensichtlich einen guten Mann gefunden, der an ihrer Seite stand und auf sie aufpasste. „Wann bist du eigentlich so ein jämmerlicher Feigling geworden?“ Diese bekannte weibliche Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Müde drehte er sich um und lehnte sich mit seinem Rücken gegen die Fahrertür. Lässig griff er in seine Sakkotasche und fingerte eine Zigarette aus der Packung. „Immer noch so eine große Klappe. Manche Dinge ändern sich eben niemals.“ Sie reichte ihm Feuer und grinste geheimnisvoll. „Ich glaube, dass sich in den letzten Jahren sehr viele Dinge verändert haben. Doch du verschließt deine Augen und verpasst die schönsten Momente im Leben. Welchen Preis hast du für deine Karriere bezahlt, Sōsuke?“ „Ach hör schon auf mit deiner Moralpredigt, Asuna. Ich weiß, ihr seid alle soviel bessere Menschen als ich es bin. Willst du das jetzt wirklich mit mir besprechen?“ Die junge Ärztin schüttelte lächelnd ihren Kopf und faltete die Arme vor der Brust. „Ich weiß, dass du ein sturer Bock bist, aber welchen Streit du auch immer mit deiner Tochter gehabt haben magst, es sollte doch nicht so enden, wie zwischen dir und deiner Mutter, oder?“ „Was willst du mir vom Verzeihen erzählen? Nach all den Jahren fällt es dir doch immer noch schwer, mir zu vergeben.“ ein bitteres Lächeln zog sich über seine schmalen Lippen, nachdem er einen langen Zug von seiner Zigarette genommen hatte. „Es würde mir leichter fallen, wenn ich wüsste, dass du mich irgendwann einmal geliebt hast.“ „Vom ersten Augenblick an. Doch manchmal ist es uns nicht bestimmt den Weg gemeinsam zu gehen.“ antwortete Sōsuke unumwunden und fixierte Asuna mit seinem Blick. „Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht war es uns nicht bestimmt den Weg Hand in Hand zu gehen, aber dennoch sind unsere beiden Lebenswege durch unsere gemeinsame Tochter unzertrennlich miteinander verflochten.“ „Ich war für unsere Tochter niemals ein Vater und wahrscheinlich nicht einmal für Mimi. Wie sollte ich jetzt ein Teil ihres Lebens sein? Dafür ist es einfach zu spät.“ „Es ist niemals zu spät. Solange dieses Herz in deiner Brust schlägt und du bereit bist zu kämpfen, ist es nicht zu spät für euch.“ ihre Hand legte sich vorsichtig auf seine Brust. Für einen kurzen Moment herrschte Stille zwischen den beiden, bis er plötzlich seine Hand auf ihre legte. Asuna sah zu ihm auf und spürte, dass ihre Wangen leicht erröteten. Warum löste seine Berührung eine solche Aufregung in ihr aus? „Und was ist mit uns?“ sanft zog Sōsuke sie an sich. Asuna drückte sich von ihm weg und lächelte liebevoll. „Vielleicht werden wir uns im nächsten Leben begegnen. Wir werden dann vielleicht endlich verstehen, warum es jetzt nicht geht und warum ich jetzt besser gehe.“ „Warum lässt man gehen, was man später vermisst?“ Sie seufzte leise und löste sich aus seinen Armen. „Du bist gegangen. Du hast dich dazu entschieden und es ist alles solange her, bitte lass uns jetzt nicht davon anfangen. Wenn es auch sehr spät ist, zeigst du dennoch Größe, indem du wenigstens deiner Mutter die letzte Ehre erweist.“ „Es war ein letztes Lebwohl...“ er löschte seine Zigarette und fuhr sich nervös durchs Haar. „Dem ewigen Abschied wird irgendwann neues Leben folgen. Ich glaube, dass deine Tochter in freudiger Erwartung ist und möglicherweise, wird sie ihren Vater jetzt mehr denn je brauchen. Ich kann verstehen, dass du verletzt bist. Das sind wir doch immer, wenn unsere Kinder nicht den Weg beschreiten, den wir uns für sie gewünscht haben. Doch am Ende machst du plus / minus Null, denn sie wird ihren eigenen Weg gehen, zur Not auch ohne dich. Auch wenn man sagt, dass wir alle für unsere Fehler bezahlen müssen, so ist jeder Tag ein Neuanfang. Nutze diese Chance, denn irgendwann ist es vielleicht wirklich zu spät.“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Es war weit nach Mitternacht, als Taichi und Mimi zum Haus zurückkehrten. Beide saßen noch lange schweigend bei Kimiko. Er hatte nicht gewusst, was er hätte sagen oder tun sollen, um sie zu trösten. Also hielt er sie einfach in seinen Armen. Irgendwann hatte sich seine Freundin beruhigt und sie fuhren zusammen zurück zum Haus. Die Nacht war so still, dass man selbst hier oben das Rauschen der Wellen hören konnte. Als beide die wenigen Stufen zur Haustür hinauf liefen, stoppte Mimi abrupt und beugte sich nach unten. Zu ihren Füßen lag ein kleiner Briefumschlag mit ihrem Namen darauf. Zögernd knitterten ihre Finger die Kanten des Umschlages und Taichi konnte an dem nervösen Knabbern auf ihrer Unterlippe erkennen, dass sie Angst hatte diesen Brief zu öffnen. Mit einem Lächeln nahm er ihr das kleine Stück Papier aus der Hand. „Soll ich ihn öffnen und dir vorlesen?“ Als Antwort erhielt er ein stummes Nicken. Gemeinsam setzten sie sich auf die oberste Stufe der Treppe. Taichi öffnete den Briefumschlag mit Bedacht und fing an leise daraus vorzulesen. »Meine liebste Tochter, am heutigen Tag hast du mich sehr stolz gemacht. Du bist zu einer starken jungen Frau herangewachsen und konntest dich sogar deinem herrischen Vater widersetzen und versuchst deinen eigenen Weg zu finden. Soviel Mut und Aufrichtigkeit hätte ich mir für meinen Lebensweg auch gewünscht.Von mir kannst du diese Charakterzüge demnach nicht geerbt haben. Aber ich weiß sehr wohl, wer dir diese Stärken beigebracht hat. Deine Großmutter und dein Großvater waren außergewöhnliche Menschen. Sie haben mich und meine Familie stets respektvoll und mit sehr viel Liebe behandelt. Irgendwann weiß man leider überhaupt nicht mehr, wie man nach dem ewigen Streiten und endlosen Schweigen wieder zueinander finden soll. Ich habe zumindest keinen Weg gefunden und habe meine letzte Chance auf Frieden verpasst. Manchmal muss man erst alles verlieren, um dann zu begreifen, was man hat gehen lassen. Bitte glaube nicht, dass mir meine Eltern nichts bedeuteten. Ich befürchte, umso mehr wir einen Menschen lieben, desto schwerer wird es für uns, dass wir uns eingestehen, wie sehr wir diesen Menschen verletzt haben. Glaubst du, dass wir frei sein könnten, wenn die Vergangenheit und Zukunft gemeinsam verschwinden würden? Frei von allen Konventionen und Fehlern? Wenn ich eines Tages dazu in der Lage sein könnte, das zu fühlen, was in dir vorgeht, die Welt so zu sehen, wie du sie siehst, vielleicht bin ich dann dazu in der Lage dich auch so zu lieben, wie du es immer wolltest. Denn ich liebe dich über alles und das ist keine Lüge. Ich wünsche mir, dass du mir mein Versagen und meine Fehler vergeben kannst und ich vielleicht irgendwann wieder ein Teil deines Lebens sein darf. Wenn du mich brauchst, werde ich da sein. Gib mir einfach ein Zeichen, wenn du dazu bereit bist. Auch wenn es mittlerweile einen anderen Mann in deinem Leben gibt, der dich liebt und dir alles gibt, was du dir wünscht, möchte ich, dass du weißt, dass in der Zwischenzeit kein Tag vergehen wird, an dem ich nicht an dich denke. In Liebe, dein Vater.« Als Taichi den letzten Satz beendet hatte, faltete er das Stück Pergament wieder zusammen und schob es zurück in den Briefumschlag. Mimi hatte ihre Knie dicht an ihren Körper gezogen und ihre Arme drum herum geschlungen. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter und Tai spürte, dass ihre Tränen den Stoff seines Hemdes bereits durchtränkt hatten. Er platzierte den Brief auf ihren Schoß und legte seinen Arm um sie. Liebevoll streichelte er ihre Schulter und küsste ihre Stirn. „Hey Süße, das sind doch wirklich sehr aufrichtige Worte. Meinst du nicht, du könntest einen Schritt auf ihn zugehen?“ Eine Antwort blieb sie ihm schuldig, aber Tai versuchte es noch einmal. „Vielleicht sollte es zwischen dir und deinem Vater so laufen. Vielleicht sollt ihr nach diesem komplizierten Auf und Ab nun endlich wieder zueinander finden? Was wäre das Leben, ohne den Mut etwas zu riskieren? Sind wir nicht alle nur unbedeutende Statisten in diesem Stück was wir Leben nennen? Ist uns nicht am Ende sowieso alles vorherbestimmt? “ „Am Ende ist unser Schicksal vielleicht wirklich vorherbestimmt, aber ob wir es kampflos hinnehmen obliegt uns selbst. Wir haben immer eine Wahl und mein Vater hatte seine Wahl vor langer Zeit getroffen.“ Ihre Stimme klang monoton und kühl. Er richtete sie etwas auf, damit er ihr in die Augen sehen konnte. „Wir haben alle unsere Wahl getroffen. Wir haben alle gute und schlechte Entscheidungen gefällt. Aber manchmal müssen wir unseren Stolz runter schlucken und verzeihen.“ zärtlich strich er ihr die Haare aus dem Gesicht. „Aber du musst heute nichts mehr entscheiden. Ich glaube, dieser Tag war ereignisreich genug. Lass uns einfach schlafen gehen und morgen sieht die Welt schon anders aus.“ Die Nacht war kurz und unruhig. Als der junge Yagami seine verschlafenen Augen aufschlug, blickte er auf den leeren Platz neben sich. Als sie gestern nach Hause kamen, wollte Mimi unbedingt unter die Dusche. Taichi war etwas verwundert, als sie vehement darauf bestand, dass er sie begleitete. Noch nie hatte er so etwas erlebt. Sie suchte jede Sekunde seine Nähe und hing an ihm, wie ein kleines Klammeräffchen. Was wiederum dafür sorgte, dass der junge Mann mit sich selbst zu kämpfen hatte standhaft zu bleiben. Doch letztlich waren es zärtliche Berührungen, Umarmungen und unschuldige Küsse die sie miteinander austauschten. Sie suchte in seiner Innigkeit nach Schutz und den gab er ihr. Danach war es Taichi der darauf bestand, dass sie noch etwas aß. Beide saßen noch lange schweigend, aneinander gelehnt in der Küche, bis sie schließlich gemeinsam in Mimi's Zimmer ins Bett gingen. Er konnte sich an keine Situation erinnern, in welcher er eine Frau so fest in seinen Armen gehalten hatte, bis sie endlich eingeschlafen war. Selbst mit seiner ängstlichen kleinen Schwester gab es keine vergleichbaren Situationen. Immer wieder streichelte er, mit seinen rauen Fingern, über ihren schmalen Rücken und versuchte sie zu beruhigen und doch fing sie immer wieder an zu schluchzen. Seine Augen brannten und Taichi rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Mimi musste sich bereits aus seiner Umarmung gelöst haben und aufgestanden sein. Gestern Abend hatte sie ihm noch erzählt, dass ihre Schwester heute Vormittag vorbei kommen wollte, um sich einige Sachen von Kimiko abzuholen. Da es bereits nach frischem Kaffee duftete, ging Tai davon aus, dass Sae bereits da war und nach dem Grad der Helligkeit zu urteilen, war es mindestens schon 11 Uhr. Gemächlich machte er sich auf den Weg nach unten. Die beiden Frauen saßen im Wohnzimmer. Zwischen ihnen ein kleiner Karton, den sie bereits mit einigen Habseligkeiten gefüllt hatten. Im Moment blätterten beide in Familienalben herum und tranken dazu eine Tasse Kaffee. „Guten Morgen...“ knurrte Tai und trottete in seiner Unterhose ins Badezimmer. Bei dem Anblick seines durchtrainierten Oberkörpers und den strammen Oberschenkeln wurde Sae etwas verlegen. Ihre Wangen färbten sich feuerrot und beschämt starrte sie auf ihre Kaffeetasse. Mimi grinste vielsagend und kniff ihrer Schwester in den Arm. „Na hör mal, du sollst deinem neuen Arzt schöne Augen machen und nicht meinem Kerl!“ „Entschuldige, das ist mir so peinlich.“ hauchte Sae und wendete sich wieder ihrer vorhergehenden Tätigkeit zu. Mimi konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen, doch noch bevor sie sich wieder ihrer Schwester zu wenden konnte, klingelte es an der Tür. Verwundert sahen sich die beiden Frauen an, denn eigentlich gab es niemanden, den sie erwarteten. Die junge Frau fuhr sich durch ihr langes Haar und band sich einen Zopf, während sie zur Haustür lief und diese öffnete. Verblüfft sah sie in das Gesicht eines älteren Herren in einem schwarzen Nadelstreifenanzug. In seiner linken Hand hielt er eine dunkelgraue Aktentasche. Auf seiner Nase ruhte eine dicke Brille, welche er immer wieder mit dem Zeigefinger rauf schob. Ein unsicheres Lächeln umspielte seine Lippen, als neben ihm eine Frau mittleren Alters hervortrat. Es war Tante Mei, die noch etwas müde aussah und schließlich an Mimi das Wort richtete. „Guten Morgen meine Liebe, das ist Herr Mōrita. Er ist Rechtsanwalt und Notar deiner Großeltern gewesen. Heute Morgen stand er bei mir vor der Tür und suchte nach euch beiden. Herr Mōrita möchte mit euch über die Erbschaft sprechen.“ Inzwischen waren Sae und Taichi ebenfalls in den Flur gekommen und beobachteten die Situation. Tai hatte es sogar tatsächlich geschafft sich eine Hose anzuziehen. Nachdem sich Herr Mōrita noch einmal selbst vorgestellt hatte, begaben sich alle gemeinsam in das Wohnzimmer. Er legte seine Aktentasche auf den Couchtisch und öffnete den Verschluss. In seinen Händen hielt er schließlich einige Dokumente und blätterte wild darin herum. „Ihre Großeltern besitzen seit vielen Jahren die größte Fischerei in der gesamten Region. Nach dem Tod ihres Großvaters übernahmen ihre Großmutter und Tante die Leitung des Unternehmens. Nachdem nun leider auch Kimiko von uns gegangen ist, wird das Unternehmen unter den verbliebenen Nachkommen zu gleichen Teilen aufgeteilt. Ihre Großeltern hatten einen Sohn und eine Tochter, somit erben Ihre Tante und Ihr Vater zu gleichen Teilen die Anteile an der Firma.“ Taichi blickte etwas belämmert drein, denn es fiel ihm schwer den Äußerungen des Rechtsverdrehers zu folgen. Doch Mimi schien völlig souverän und schien einwandfrei zu verstehen, worum es ging. „Inwieweit betrifft diese Tatsache mich und meine Schwester?“ fragte sie schließlich und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Nun ja, es geht nicht nur um die Firma ihrer Großeltern, sondern ebenfalls um die zahlreichen Grundstücke, Ländereien und das Vermögen der Familie Tachikawa. Zum einen dieses Anwesen und dann einige Ländereien, welche sich in der Region erstrecken und natürlich das Grundstück der Fischerei und die darin enthaltenen Strandflächen und Schiffe.“ Tante Mei mischte sich kurz ein und versuchte den Sachverhalt aufzuklären. „Kimiko hatte zu Lebzeiten bereits festgesetzt, wer dieses Anwesen und die Grundstücke in Tateyama bekommen soll. Sie wollte, dass Mimi dieses Haus bekommt und Sae die restlichen verbliebenen Grundstücksflächen und Ländereien.“ „Mimi soll dieses ganze Haus und Grundstück alleine bekommen?“ entfuhr es dem jungen Yagami plötzlich. Ein rührseliges Lächeln zog sich über ihre Lippen und Mimi sah zu ihrem Freund. Der Rechtsanwalt lächelte und legte die Grundstücksurkunde auf den Tisch. „Aber nicht nur dieses Grundstück. Gestern Abend war Ihr Vater in meinem Büro und hat seinen gesamten Pflichtanteil der Erbschaft auf seine beiden Töchter überschrieben.“ Entsetzt sahen sich Mimi und Sae an. „Was hat das zu bedeuten?“ hauchte die ältere der Schwestern mit erstickter Stimme. „Das bedeutet, dass der Vermögensanteil Ihres Vaters, der sich auf etwa 4,5 Millionen Yen beläuft, unter Ihnen beiden aufgeteilt wird. Außerdem erhalten Sie beide aus den 50% seines Anteils an der Firma jeweils 25% der Aktienanteile. Somit werden Sie drei die einzigen Inhaber des Konzerns sein und Ihre Tante besitzt daran die mehrheitlichen Anteile.“ Im Zimmer herrschte mit einem Mal absolute Stille. Tai rechnete noch immer im Kopf nach, was wohl die Hälfte von 4,5 Millionen Yen waren, während Mimi sich hinsetzen musste. Warum hatte ihr Vater das getan? Wollte er sich freikaufen? Sollte er doch ersticken an seinem Geld. Sae setzte sich neben Mimi und wischte sich über ihre tränenden Augen. „Warum macht er das? Er kennt mich doch überhaupt nicht. Mir bedeutet dieses Geld doch überhaupt nichts...“ murmelte sie. Mei humpelte mit ihrem eingegipsten Bein zu den beiden rüber und setzte sich neben sie. „Ich glaube nicht, dass er sich freikaufen oder sein Gewissen damit bereinigen möchte. Ich denke vielmehr, dass er genau weiß, dass Kimiko es so gewollt hätte. Er ist doch sowieso nicht in Japan und die Führung dieser Firma würde ihm nur zusätzlichen Ärger bereiten. Die ganzen Grundstücke braucht er auch nicht, aber er weiß, dass ihr es gut gebrauchen könnt.“ „Davon völlig abgesehen, hat Ihnen Ihre Großmutter bereits zu Lebzeiten 500.000 Yen überschrieben Fräulein Tachikawa. Ich weiß nicht, wann Sie zuletzt ihren Kontostand überprüft haben, aber darauf befinden sich bereits die gesamten Vermögenswerte und monatlich erhalten Sie die Renditen aus Ihren Anteilen an der Firma sowie die Gewinnauszahlung. Also wenn ich mir diese Anmerkung erlauben darf, Geldsorgen dürften Sie die nächsten Jahre erstmal nicht haben.“ Der Rechtsanwalt legte mit einem höflichen Lächeln sämtliche Unterlagen auf den Tisch. Im selben Moment klatschte Taichi mit seiner flachen Hand gegen seine Stirn. Er konnte es nicht fassen, was er gerade zu hören bekam. Mit einem Mal war seine Freundin eine Multimillionärin und gestern hatten sie sich noch wie die Kesselflicker über Geld gestritten? Also im Moment glaubte er wirklich, dass er sich in einer schlechten Fernsehsendung befand. Seine Auge suchten nach ihren und er war über ihren erschrockenen Gesichtsausdruck völlig entsetzt. Warum freute sie sich denn nicht? Löste diese Botschaft nicht mit einem Mal all ihre Sorgen? Wenigstens hatte ihr Vater jetzt einmal etwas sinnvolles getan. Tai bekam am Rande noch mit, dass Mei den Rechtsanwalt höflich verabschiedet hatte und ihn nach draußen begleitete. Sae war ihrer Tante ebenfalls gefolgt und sprach mit ihr im Flur. Der junge Mann konnte deutlich erkennen, dass sie völlig aufgelöst war und es Mei schwer fiel, die junge Frau zu beruhigen. Mimi hingegen saß regungslos auf dem Sofa und starrte ihre nackten Füße an. „Mimi, ich verstehe eure Reaktion überhaupt nicht. Sind das denn keine guten Nachrichten?“ sagte er euphorisch und setzte sich auf den Couchtisch, mitten auf die Dokumente. „Ich kann das einfach nicht glauben...“ murmelte Mimi. „...erst dieser Brief und jetzt das. Warum kann er denn nicht einfach nur hier sein? Ich will sein Geld doch überhaupt nicht.“ „Das ist nicht sein Geld. Es ist das Geld deiner Großeltern und ich glaube, dass dein Vater einmal das Richtige getan hat. Nicht für dich, sondern für seine Mutter. Kimiko hätte es genauso gewollt.“ Er legte seine Hände auf ihre und grinste sie frech an. „Jetzt müssen wir uns darüber keine Gedanken mehr machen und du wirst mir gefälligst ein schönes neues Motorrad kaufen!“ Ihre haselnussbraunen Augen sahen zu ihm auf und erneut hatte er es geschafft, sie zum lachen zu bringen. „Du bist ein blöder Idiot! Als ob ich dir ein neues Motorrad kaufen würde, dann müsste ich auch gleich die nächste Stelle für eine Tätowierung aussuchen.“ Zärtlich legte er seine Hand an ihre Wange und zog sie langsam zu sich. „Wir werden das gemeinsam schaffen. Ich liebe dich auch mit deinem ganzen Geld.“ Mimi lehnte ihre Stirn gegen seine und lachte laut auf. „Wie soll es jetzt weiter gehen? Schließlich musst du zurück. Du hast eine Wohnung und musst dein Studium beenden.“ „Mhm, was hältst du davon, wenn wir erstmal zusammen zurück nach Tokio gehen. Ich kann mein Studium beenden und du zu Kräften kommen. Am Wochenende können wir doch hier raus fahren und uns um das Haus kümmern.“ er stockte kurz und wurde tatsächlich rot. Mimi sah ihn erstaunt an und küsste seine Nasenspitze. „Warum auf einmal so verlegen?“ „Ich...also....wenn es alles gut gehen sollte, dann könnten wir nach meinem Abschluss hier wohnen. Schließlich hätten wir in diesem großen Haus zu dritt viel mehr Platz.....“ Ihr Blick wurde sanft und sie zog ihn dicht an sich heran. Zärtlich legten sich ihre Lippen auf seine und verschmolzen zu einem hingebungsvollen Kuss. Sehnsüchtig ging Tai darauf ein und umspielte ihre Zunge mit seiner. Ihre Hände lagen auf seiner Brust und drückten ihn plötzlich etwas von sich weg, womit Mimi schließlich den Kuss löste. „Hört sich nach einer guten Idee an.“ hauchte sie verliebt gegen seine Lippen. „Ich liebe dich...“ „Ich liebe dich auch...“ seine Hand fuhr unter ihr Shirt und legte sich auf ihren nackten Bauch. „Nein, ich liebe euch beide. Denn von jetzt an, sind wir zu dritt.“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Er verstaute sein Handgepäck in der oberen Ablage und sah auf seine Armbanduhr. Die letzten 72 Stunden waren mehr als anstrengend und sein Kopf schmerzte außerordentlich. Müde ließ er sich auf den ledernen Sitzen der Business - Class nieder und nippte an seinem Glas Champagner. „Herzlichen Glückwunsch meine Hübsche, ich hoffe euch beiden geht’s gut. Vielleicht sehen wir uns bald wieder.“ sagte er und sah gedankenverloren aus dem Fenster des Flugzeuges. Noch immer hing ihm das Gespräch mit Asuna nach. Hatte sie wohl möglich recht damit, dass Mimi ein Kind erwartete? Wann war dieser aufdringliche Wirbelwind eigentlich eine derart intelligente Frau und Ärztin geworden? Sōsuke kam nicht umhin, immer wieder über den letzten Satz der jungen Ärztin nachzudenken: „Neues Leben bedingt immer den Abschied von etwas vergangenem und gleichzeitig den Anfang von etwas neuem. Der Tod und das Leben liegen so dicht beieinander und doch trifft uns beides immer unvorbereitet.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)