Die Dinge, die wir immer wollten... von Sakuran (Taichi & Mimi) ================================================================================ Kapitel 6: Die Tage mit dir - Teil III: Vergebung ------------------------------------------------- 01. Juli 2015, Tateyama, Präfektur Chiba Sie schmiegte ihre nackte Haut dicht an seine und zog den dünnen Stoff enger um ihren Körper. Beide hatten sich in eine Decke gekuschelt. Taichi saß auf dem hölzernen Terrassenboden und war an die Hauswand gelehnt. Seine Freundin saß, mit dem Rücken zu ihm zwischen seinen Beinen und kuschelte ihren Kopf an seine Brust. Zärtlich schob er ihr langes hellbraunes Haar über ihre rechte Schulter, damit er ihre linke küssen konnte. Die Dunkelheit wich langsam dem aufkommenden Tageslicht und im Morgengrauen färbte sich der Himmel in den unterschiedlichsten Farbtönen. Sie hatten die gesamte Nacht hier draußen verbracht, jedoch nicht miteinander geschlafen. Stattdessen hatten sie etwas vollkommen anderes miteinander geteilt und Taichi konnte noch immer nicht fassen, dass sie wie zwei Teenager stundenlang wild miteinander rumgemacht hatten, ohne auch nur eine Sekunde daran zu denken, einen Schritt weiter zu gehen. „Sag mal, wie fühlt sich das eigentlich an, dass deine Schwester bald ein Baby bekommt und du dann ein Onkel bist?“ auf ihre Frage musste der Brünette grinsen. „Irgendwie fühlt es sich komisch an. Aber ich glaube, dass es am schlimmsten für Takeru gewesen sein muss.“ „Weshalb? Hat er sich nicht über die Schwangerschaft gefreut?“ „Mhm...nein, das würde ich nicht sagen. Ich glaube vielmehr, dass ich ihn wirklich schlimm zugerichtet habe.“ Mimi musste kichern und küsste seinen Oberarm. „Warum wundert mich das nicht? Man kann deine Feindseligkeit fast schon körperlich spüren, wenn man neben euch sitzt. Du kannst es ihm doch nicht tatsächlich immer noch übel nehmen, dass er mit deiner Schwester zusammen ist?“ „Natürlich kann ich das und noch viel wütender macht mich, dass er sie angefasst und geschwängert hat. Die beiden hätten besser aufpassen müssen, sie sind doch keine Kinder mehr.“ „Genau Tai, sie sind keine Kinder mehr und wenn sich beide dazu entscheiden, mit 20 Jahren ein Kind zu bekommen, dann ist es eine gute und richtige Entscheidung. Findest du nicht?“ „Nein finde ich nicht. Eine solch weitreichende Entscheidung sollte man erst dann treffen, wenn man dazu bereit ist, die Verantwortung für ein Kind und dessen Mutter auch wirklich ein Leben lang zu übernehmen.“ seine Stimme klang unerwartet bissig. „Tai...“ murmelte sie leise und sah ihn erschrocken an. „Entschuldige bitte, aber für mich ist dieses Thema einfach ein rotes Tuch.“ „Aber warum? Ich verstehe es nicht. Sie ist doch deine Schwester und du liebst sie über alles. Sicherlich willst du doch, dass sie glücklich wird.“ Der junge Mann seufzte nachdenklich und kniff seine Augen angestrengt zusammen. Wie hätte er das erklären sollen, warum es ihm so schwer fiel seine Schwester loszulassen und sie einem anderen Mann anzuvertrauen? „Ich glaube ich war zwölf oder dreizehn Jahre alt, als ich mit meiner Schwester und meiner Mutter übers Wochenende in die Therme nach Izu fahren wollte. Im Auto hatte ich mich so heftig mit Hikari gestritten, dass mich meine Mutter zurück nach Hause brachte und alleine mit meiner Schwester nach Izu fuhr...“ Mimi war verwundert, dass Taichi plötzlich anfing etwas aus seiner Vergangenheit zu erzählen. Doch offenbar bewegte es ihn sehr, denn der junge Mann hatte seine Augen geschlossen und sein bislang entspanntes Lächeln wich einem schmerzerfüllten Gesichtsausdruck. Die junge Frau schwieg und streichelte mit ihrem Daumen über seinen Handrücken, denn noch immer lagen seine Hände auf ihrem Bauch. Nach einer kurzen Pause konnte Taichi die richtigen Worte finden und sprach langsam weiter. „Als ich in die Wohnung kam wunderte ich mich, dass im Flur die Schuhe einer Frau standen. Zunächst dachte ich, dass vielleicht eine Arbeitskollegin meines Vaters zu Besuch war, doch weder in der Küche noch im Wohnzimmer saß jemand...“ Eigentlich hatte Taichi gedacht, dass er längst über diese Geschichte hinweg war. Doch es zum ersten Mal jemandem zu erzählen und es laut auszusprechen bereitete ihm tatsächlich körperliche Schmerzen. Als diese Bilder wieder vor seinem inneren Auge erschienen, wurde ihm derart übel, dass Taichi befürchtete sich gleich übergeben zu müssen. „Auf dem Weg in mein Zimmer, kam ich am Schlafzimmer meiner Eltern vorbei und die Tür war einen Spalt breit offen...mein Vater hatte tatsächlich Besuch....“ Mimis goldbraune Augen weiteten sich schlagartig und sie starrte ihren Freund fassungslos an. Er hatte, im Alter von zwölf Jahren, seinen Vater beim Fremdgehen erwischt? Die junge Frau war völlig erstarrt und wusste überhaupt nicht, was sie dazu sagen sollte. „Keine Ahnung wie, aber sie haben mich wohl bemerkt und mein Vater schickte sie dann weg. Stundenlang hat er mit mir geredet und mich darum gebeten meiner Mutter und Schwester nichts zu erzählen. Dann natürlich noch dieses typische dämliche Gequatsche von wegen, es ist nicht das wonach es aussieht bla, bla, bla...“ Voller Wut schüttelte er seinen Kopf und öffnete seine tiefbraunen Augen wieder. Sein entschlossener Blick verwirrte Mimi und sie hörte weiterhin aufmerksam seinen Worten zu. „Ich habe meiner Mutter nichts erzählt. Doch mein Vater hat mein Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Liebe und die Verantwortung die eine Ehe mit sich bringt zutiefst erschüttert. Er zwang mich dazu, dieses Geheimnis mit ihm zu teilen, was mich wiederum ebenso zu einem Lügner machte. Er betrog meine Mutter und deshalb fällt es mir einfach schwer, in anderen Männern einen aufrichtigen und gutmütigen Kerl zu sehen. Ich glaube fest, dass auch meine Schwester von Takeru enttäuscht werden wird und dann steht sie ganz alleine mit einem Kind da...“ Taichi biss sie auf seine Unterlippe. „Genauso wie meine Mutter...“ Mit zitternden Fingern streichelte Mimi ihm über seine Wange. Er wirkte mit einem Mal so zerbrechlich und hilflos. Sie wusste nicht, dass auch die Eltern von Tai derartige Krisen in ihrer Ehe durchlebt hatten. Sie wusste, dass Yamato und Takeru innerhalb einer Trennung aufwuchsen, doch Taichi selbst hatte niemals erwähnt, dass es ebenso große Probleme in seiner Familie gab. „Ich kann meinem Vater nicht vergeben und deshalb kann ich meine Schwester einfach nicht los lassen. Meine Angst ist viel zu groß, dass Takeru diese Verantwortung für sie und das Baby nicht tragen wird. Denn mein Vater hat in diesem Moment, auch keinen Gedanken an seine zwei Kinder verschwendet.“ Mimi drehte ihm wieder ihren Rücken zu und kuschelte sich an ihn. „Du vertraust ihm nicht. Weder deinem Vater noch dem Freund deiner Schwester. Doch was viel schlimmer ist, du vertraust dir selbst nicht.“ sie hatte ihre Worte klar und bestimmt gewählt. „Tai, du hast nichts falsch gemacht. Dein Vater ist hier der Schuldige...“ „Nein. Ich habe dieses Geheimnis bewahrt und damit riskiert, dass meine Mutter erst viel später dahinter kam. Denn natürlich hörte diese Affäre nicht auf. Kurz nach dem Tag am Strand mit dir, trennten sich meine Eltern und wir lebten einige Zeit alleine mit meiner Mutter in der Wohnung. Aber das Leben ist schwer für eine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Irgendwann hat mein Vater sie wieder weich gekriegt und sie versöhnten sich. Wenn ich von Anfang an etwas gesagt hätte, dann hätte meine Mutter sich vielleicht zeitiger von ihm lösen können und wäre nicht immer wieder so von ihm enttäuscht und verletzt worden.“ Ein Vater war das ultimative Vorbild für jeden jungen Mann und Taichi hatte ganz offensichtlich ein sehr schlechtes. „Wie würdest du entscheiden, wenn du an der Stelle von Takeru wärst? Würdest du Verantwortung für die Frau und das Kind übernehmen?“ ihre Stimme klang zart und leise. Mit einem bitteren Lächeln löste er seine Hände von ihren. „Mimi, ich konnte damals keine Verantwortung für mein eigenes Handeln übernehmen, wie sollte ich es jetzt können?“ Schließlich hatte er sich wie der letzte Arsch verhalten. Erst hatte er mit Mimi geschlafen und sich dann nicht mehr bei ihr gemeldet. Er hatte sie von sich gestoßen und sie damals mit ihren Sorgen und Nöten alleine gelassen. Er war ein schlechter Freund und ein noch viel schlechterer Liebhaber. Auf seine Aussage schwieg die junge Frau, denn sie hätte nichts ergänzen können. Doch eine Sache lag ihr auf dem Herzen. „Vielleicht hast du recht, mit dem was du sagst. Aber heute ist es anders. Heute bist du hier bei mir und versuchst deine Fehler wieder gut zumachen. Damit übernimmst du Verantwortung und ich glaube auch, dass Takeru an Stärke und Reife gewinnen wird, um deine Schwester glücklich zu machen. Er wird ein guter Vater, denn er hat ein gutes männliches Vorbild...“ Taichi zog ungläubig seine rechte Augenbraue nach oben. „Wen denn? Du meinst doch nicht etwa Yamato. Ich wüsste nicht inwieweit der ein gutes männliches Vorbild sein sollte.“ Mit einem verschmitzten Grinsen schüttelte Mimi ihren Kopf. Yamato war vielleicht wirklich nicht das beste Vorbild für einen jungen Mann. Er hatte vor seiner Beziehung zu Sora wahnsinnig viele Liebschaften und auch während der Beziehung zu ihr, hatte es immer mal wieder kurze Pausen gegeben, die sich der Blondschopf mit anderen Frauen versüßte. „Nein, ich meine nicht Yamato. Ich meine dich! Du bist ein gutes und starkes männliches Vorbild für ihn. Er kennt dich schon so lange und du bist der ältere Bruder seiner großen Liebe. Ich glaube, dass Takeru zu dir aufsieht und er sehr viel Wert auf deine Meinung legt. Er will es dir immer recht machen und schafft es einfach nicht.“ „Er kann es mir auch nicht recht machen, wenn er Sex mit meiner Schwester hat!“ fauchte Taichi und freute sich dennoch über die Worte seiner scharfsinnigen Freundin. Es imponierte ihm, dass Mimi ihn soeben als starkes männliches Vorbild bezeichnet hatte. Die junge Frau verdrehte seufzend ihre Augen und stieß ihm absichtlich ihren Kopf gegen die Brust. Plötzlich war sie sich nicht mehr so sicher, ob er wirklich irgendwann erwachsen werden und seine Schwester los lassen könnte. Doch viel wichtiger erschien ihr im Moment die Frage, ob er seinem Vater jemals vergeben könnte. Denn Mimi stellte sich genau die selbe Frage. Wann könnte sie ihrem Vater jemals verziehen? Warum war es so verdammt schwer, jemandem zu vergeben von dem man verletzt worden war? „Sag mal, warum ist es nicht zeitiger passiert?“ fragte er mit leiser Stimme und legte seine Hände doch wieder auf ihren nackten Bauch. „Was meinst du?“ Mimi legte ihren Kopf etwas schräg, damit sie ihn ansehen konnte. „Dein erstes Mal. Das war doch mit mir. Warum so spät? Du bist doch schon 18 gewesen.“ „Du stellst komische Fragen. Ist doch vollkommen egal warum. Es gab halt vorher keine Gelegenheit...“ stammelte sie errötend und wich seinem Blick aus. Wieso stellte er ihr plötzlich so eine dämliche Frage? Sie waren doch gerade noch bei einem völlig anderen Thema gewesen. „Du lügst. Als hättest du zuvor keine Gelegenheit gehabt. Ich glaube du hättest dir aus tausenden Männern, den Einen aussuchen können.“ „Das habe ich auch.“ Sie lächelte zufrieden und schloss ihre Augen. Mit dieser Antwort hatte er überhaupt nicht gerechnet. Sofort färbten sich seine Wangen rot und er starrte ihr unaufhörlich ins Gesicht. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust und ihr aufrichtiges Geständnis warf ihn vollkommen aus der Bahn. Mimi schob ihre Finger zwischen seine und drückte seine kräftigen Hände gegen ihren Bauch. Tai wollte ebenso ehrlich zu ihr sein. Auch er hatte zuvor zahlreiche Gelegenheiten gehabt, doch er konnte mit keiner der anderen Mädchen weiter gehen. In dieser Nacht vor vier Jahren, ist es schließlich völlig unverhofft mit Mimi passiert. Aber so sehr er es wollte, er konnte es ihr nicht offenbaren. Taichi brachte es einfach nicht übers Herz, ihr zu gestehen, dass sie die erste Frau war, mit der er geschlafen hatte. „Mit wem hattest du denn dein erstes Mal?“ sie brauchte ihn nicht anzusehen um zu wissen, dass ihre Frage ihn verlegen machte. Sie bekam keine Antwort von ihm und wunderte sich darüber. Mimi öffnete ihr Augen und beugte sich etwas zur Seite, damit sie ihn ansehen konnte. Sein Blick wirkte abwesend und beinahe verletzt. Vorsichtig legte sie ihre Hand an seine Wange und riss ihn aus seinen Gedanken. „Was ist mit dir? Ich wollte keine alten Wunden aufreißen oder schlechte Erinnerungen wecken...“ flüsterte sie besorgt. „Warum bist du gegangen?“ seine Frage hallte durch die Stille des nahenden Sonnenaufgangs. Sie zog sofort ihre Hand zurück und ihr zärtlicher Blick wurde sofort düster. „Was soll das? Warum stellst du mir diese Frage? Ist jawohl nicht dein Ernst?“ ihr wütender Tonfall sagte ihm bereits alles und dennoch, bestand er auf eine Antwort. „Du bist im Sommer 2012 gegangen und hast dich dazu entschieden, dein Studium in den USA zu absolvieren. Wenn es tatsächlich etwas mit mir zu tun hatte, dann hättest du viel eher gehen können...“ „Nein. Ich wollte meine Schule wenigstens beenden und mir nicht auch noch das von dir zerstören lassen!“ ihre bösartigen Worte unterbrachen ihn und Tai musste hart schlucken. „Beantworte mir meine Frage. Warum bist du gegangen?“ Sie konnte nicht glauben, dass er so hartnäckig blieb. Seine Dreistigkeit brachte sie zum kochen. Mimi löste sich aus seiner Umarmung und beugte sich etwas nach vorne. Im Moment wollte sie nicht, dass er sie berührte. „Du stellst die falschen Fragen! Vielmehr solltest du dich fragen, warum du mich nicht aufgehalten hast. Wenn dir unsere Freundschaft so wichtig gewesen ist, weshalb konntest du mich so schnell los lassen? Du sprichst von Verantwortung und davon, dass weder dein Vater noch Takeru jemals Verantwortung für jemand anderen übernehmen können. Warum konntest du mich ohne weiteres einfach gehen lassen? Warum hast du keine Verantwortung dafür übernommen?“ Er spürte, dass sie sich immer weiter von ihm löste und seinen Berührungen auswich. Taichi fuhr sich übers Gesicht und seufzte leise. Es gab nichts zu diskutieren. Mimi hatte, mit dem was sie sagte, völlig recht. „Ich habe dich niemals los gelassen. Ich bin feige gewesen...“ Tai konnte ihre Fragen nicht abschließend beantworten. Ihm fehlten einfach die richtigen Worte. „...Eine Entschuldigung wäre jetzt auch nicht das, was du hören willst. Außerdem hast du mehr verdient als bloße Worte...“ er flüsterte beinahe und legte seine Hand vorsichtig auf ihren nackten Rücken. Schweigend erhob sie sich und schlang die dünne Decke komplett um ihren zierlichen Körper. Traurig blickte er zu ihr rauf und griff nach ihrer Hand, doch Mimi stieß diese von sich weg und ging nach drinnen. Selbst wenn sie jetzt besser verstand, warum Taichi so unsicher war und offenbar mit seiner eigenen Vergangenheit, ein schweres Päckchen zu tragen hatte, so konnte sie ihm einfach nicht verzeihen. Mimi war noch nicht soweit, zu tief saßen die Wunden, zu sehr war ihr Herz gebrochen. Seufzend sammelte Taichi die restlichen Kleidungsstücke vom Boden und zog sich seine Unterhose an. Der junge Mann begab sich ebenfalls nach drinnen und bemerkte, dass seine Freundin ins Badezimmer gegangen war. Er selbst wusste genau, dass es jetzt nichts bringen würde, mit ihr zu sprechen. Deshalb ging er nach oben und legte sich vollkommen erschöpft in sein Bett. Die junge Frau hingegen saß noch eine ganze Weile alleine im Badezimmer und versuchte die Erinnerungen an diesen Abend zu vergessen. Sie wollte sich nicht an den Grund erinnern, warum sie im Herbst 2012 Japan verlassen hatte und Hals über Kopf in die USA geflüchtet war. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Es war einer der ersten Tage im August 2012 und die Regenzeit war gerade vorüber gegangen, als sich die acht Freunde in einem Hotel direkt am Strand niedergelassen hatten. Dieses Jahr hatte Sora die glorreiche Idee gehabt, den gemeinsamen Tag in Izu zu verbringen und gemeinsam einige Tage am Strand zu faulenzen. Nach dem turbulenten Schulabschluss von Mimi und Koushiro kamen ein paar ruhige Tage gerade richtig. Taichi versuchte jede Möglichkeit zu nutzen und ging Mimi größtenteils aus dem Weg. Problematisch war jedoch, dass er ebenso seinen Freunden Yamato und Sora auswich, da er überhaupt nicht damit zurecht kam, dass diese ständig aneinander hingen. Der junge Yagami empfand es als absolut unnötig, dass die beiden auch noch in einem gemeinsamen Zimmer schliefen. Und als wäre das alles nicht genug gewesen, spazierten seine Schwester und Takeru ständig fummelnd und knutschend vor ihm herum. Es blieb ihm überhaupt nichts anders übrig, als sich in diesen drei Tagen dem Alkohol hinzugeben. Nach einem nervigen Vormittag am Strand hatte er sich an der Hotelbar niedergelassen und versuchte seinen Kummer zu ertränken, was ihm mehr oder weniger auch gelang. Glücklicherweise teilte er sich ein Zimmer mit Koushiro. Denn der scharfsinnig Rotschopf zeigte wenig Interesse an dem aufgewühlten Gefühlsleben seines brünetten Freundes und stellte dementsprechend keine bohrenden Fragen. Damit Takeru die Finger von Hikari ließ, hatte Taichi diesen im Zimmer von Joe einquartiert. Seine Schwester teilte sich deswegen leider ein Zimmer mit Mimi. „Mimi...“ murmelte er bei diesem Gedanken und fuhr sich mit beiden Händen durch sein verschwitztes Haar. Seit seinem Geburtstag im vergangenen Jahr, hatten sie kein Wort mehr miteinander gesprochen. Sein Studium lief insoweit ohne Probleme und es lenkte Taichi von seinem beschissen Gefühlschaos ab. Dennoch hatte sich nichts daran geändert. Er fühlte sich einfach wahnsinnig alleine. Alle um ihn herum schienen ihr Glück zu finden. Seine Schwester führte eine feste Beziehung, welche immer ernster wurde und auch Yamato und Sora schienen sich endlich auf etwas verbindliches geeinigt zu haben. Nur ihm gelang es nicht, sich darüber klar zu werden was er denn eigentlich wollte. Es gelang ihm nicht, auch nur drei Sätze mit Mimi zu wechseln, ohne dass sich die beiden beschimpften. Einfach alles war die reinste Katastrophe. Wütend setzte er das nächste Glas an seine Lippen und leerte es in einem Zug. Er wollte einfach alles vergessen, nicht mehr an sie denken, sie los lassen, sein Glück in den Armen einer anderen Frau finden, selbst wenn es nur für eine Nacht wäre. „Ich gehe noch ein paar Bahnen schwimmen und ich möchte dich nicht bei irgendwas mit irgendwem erwischen, wenn ich wieder komme! Bitte behaltet eure Finger bei euch! Bis gleich Hikari.“ mit einem breiten Grinsen verließ Mimi das gemeinsame Zimmer und begab sich in den unteren Teil des Hotels. Heute Vormittag am Strand war sie überhaupt nicht dazu gekommen ein wenig zu schwimmen. Die Wellen im Meer waren viel zu hoch und darüber hinaus hatte sie sich viel zu sehr über diesen dämlichen Vollidioten geärgert. Was mischte der sich überhaupt ständig in ihre Gespräche ein? Ständig ging er dazwischen wenn sie sich mit anderen Männern unterhielt oder am Strand mit Joe und Koushiro herumalberte. Vorzugsweise warf er ihr dann beleidigende Sprüche an den Kopf oder schubste sie beim Volleyballspiel unsanft zur Seite. „Dämlicher Blödmann, kümmere dich doch um deine eigenen Sachen...“ murmelte sie und legte ihr Handtuch auf eine der Poolliegen. Der kleine Innenbereich war vollkommen menschenleer, da sich alle beim Abendessen befanden. Ihr Blick fiel auf eine andere Liege. Verwundert musterte sie die wenigen Bekleidungsstücke, welche sich darauf befanden. Es handelte sich um eine türkisfarbene Badehose und das Oberteil eines violetten Bikinis. Das passende Höschen fand Mimi schließlich auf dem Fußboden und blieb erschrocken vor einer der Umkleidekabinen stehen. Errötend nahm sie zur Kenntnis, dass sich zwei Personen hinter der dünnen Trennwand befanden und ganz offensichtlich großen Spaß miteinander hatten. Stolpernd eilte Mimi zurück und schnappte sich ihr Handtuch. Dabei fiel ihr Blick nochmals auf die Badehose. Sie hatte diese Hose heute schon einmal gesehen. Taichi trug diese heute Vormittag am Strand. Sie hatte sich noch über dieses dämliche Muster lustig gemacht und ihn damit aufgezogen. Ein beißender Schmerz durchzog ihren Körper. Kaum merklich schossen ihr die Tränen in die Augen. Eigentlich wollte sie einfach nur verschwinden, diese Scham nicht länger ertragen, dieses pulsierende Stechen in ihrer Brust ignorieren. Doch sie konnte nicht anders, als sich noch einmal umzudrehen. Laut und deutlich konnte sie das lustvolle Stöhnen des Pärchens hören. Ihre schmalen Finger krallten sich in den weichen Stoff ihres Handtuchs und ihre salzigen Tränen tropften unaufhaltsam auf ihren knöchernen Handrücken. Warum tat er das? Wie konnte er sich einfach mit einem anderen Mädchen vergnügen und warum musste sie es auch noch mitbekommen? Hatte er sie denn nicht schon genug erniedrigt und verletzt? Irgendwann gelang es Mimi, aus ihrer Schockstarre zu erwachen und den Poolbereich zu verlassen. Wütend riss sie die Zimmertür auf. Mit einem schrillen Schrei sprang Joe zur Seite und hielt sich ein Kissen vor seine entblößte Männlichkeit. „Mimi! Kannst du vielleicht anklopfen? Ich bin nackt! Was willst du?“ schrie er und hüpfte nervös einige Schritte nach hinten. „Ach bleib locker, du hast da unten nichts, was ich nicht schon längst woanders gesehen habe!“ ihre Stimme klang ungewollt bissig und sofort wendete sie ihren Blick von ihrem nackten Freund ab. Vom Aufschrei seines Zimmergenossen alarmiert, kam Takeru aus dem Badezimmer. Er hatte sein Handtuch um die Hüften gewickelt und musterte ratlos die Szene zwischen Mimi und Joe. „Du! Mitkommen!“ fauchte die junge Frau in einem dominanten Tonfall und winkte den Blondschopf mit ihrem Zeigefinger zu sich. Takeru wusste überhaupt nicht, was hier vor sich ging und folgte der Anweisung von Mimi. Er kam zu ihr und wurde plötzlich am Handgelenk gepackt und hinter ihr her gezogen. „Was...was soll das?“ murmelte er und hielt sich krampfhaft sein Handtuch fest, damit es nicht runter rutschte. Die junge Frau öffnete ihre eigene Zimmertür und beförderte den Jüngeren ins Zimmer. Wortlos platzierte sie ihn auf ihrem Bett und holte ihre Reisetasche aus dem Schrank. Hastig beförderte sie ihre Kleidung in die Tasche und zog sich ihre Jeans über. Aus dem Seitenfach ihres Schminkbeutels nahm sie einige Kondomverpackungen und drückte sie dem Blondschopf in die Hand. Noch immer entsetzt starrte Takeru seine Freundin an. „Ich werde jetzt abreisen und du wirst heute hier übernachten!“ Mimi schob gerade ihre Arme durch ihr knappes Shirt und schlüpfte in ihre Sandaletten. „Was?“ keuchte Takeru beinahe erstickt und sah auf die kleinen glänzenden viereckigen Verpackungen in seiner Hand. Mimi ging rüber zur Badezimmertür und klopfte. „Hikari, ich muss jetzt unverhofft nach Hause. Takeru sitzt auf meinem Bett und wartet auf dich. Nutzt eure Chance, dein dämlicher Bruder weiß nämlich nichts davon...“ Sie ging zurück zu Takeru und zwinkerte ihm zweideutig zu, als sie ihre Tasche vom Bett nahm. „Ich wünsche euch viel Spaß.“ mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Ohne ein Wort des Abschieds fuhr Mimi noch am selben Abend mit dem nächsten Zug zurück nach Tokyo. Der Schmerz über seinen Verrat saß so unendlich tief, dass sie nicht mehr sagen konnte, wann sie aufhörte zu weinen. Ihr war bewusst, dass Taichi stets darauf bedacht war, dass seine Schwester und Takeru niemals miteinander alleine waren. Somit war das ihre Rache an ihm, denn als Hikaris beste Freundin wusste Mimi genau, wie sehr sich die Jüngere nach gemeinsamer und ungestörter Zeit mit ihrem Freund sehnte. Diese Nacht verbrachten Takeru und Hikari tatsächlich miteinander. Somit ging Mimis Plan auf, denn als Taichi davon erfuhr, dass Takeru im Zimmer seiner Schwester übernachtet hatte, war er unsagbar wütend und gab Mimi für alles die Schuld. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Am nächsten Morgen stand Mimi bereits streitend im Wohnzimmer. Die Sturheit ihrer Großmutter trieb sie gerade an den Rande der Verzweiflung. „Sie hat aber gesagt, dass sie heute nicht kommen kann und wir deswegen ins Krankenhaus fahren sollen. Jetzt sei halt nicht so stur!“ ihre Stimme klang gereizt. „Das interessiert mich nicht. Was soll ich denn in diesem Krankenhaus? Ich will das nicht, dass mir ständig irgendwelche Gerätschaften in die Venen gebohrt werden.“ Kimiko leerte den letzten Schluck ihrer Teetasse und sah ihre Enkelin gleichgültig an. Mimi trug einen kurzen Jeansrock und dazu ein rotes Spitzentop. Ihre langen hellbraunen Haare hatte sie zu einem kunstvoll geflochtenen Zopf hochgesteckt. Ihre Nacht war kurz und der Anruf von Dr. Asuna Watanabe hatte sie endgültig aufgeweckt. Die Ärztin berichtete Mimi, dass sie heute soviel im Krankenhaus zu tun hätte, dass sie unmöglich zum Hausbesuch vorbei kommen und Kimiko untersuchen könnte. Sie bat die junge Frau deswegen darum, gemeinsam mit ihrer Großmutter ins Krankenhaus zu fahren. „Sie möchte aber mit dir über deine Blutergebnisse sprechen. Warum ist es dir so egal?“ verzweifelt gestikulierte Mimi mit ihren Händen und versuchte ihrer Großmutter die Notwendigkeit der Untersuchung deutlich zu machen. „Also wirklich alte Frau, was soll diese Diskussion? Wenn du deinen Garten heute noch auf Vordermann gebracht haben möchtest, dann solltest du deinen Hintern unverzüglich ins Auto schwingen und mit ins Krankenhaus fahren...“ Grinsend musterte der junge Mann die beiden Frauen und begab sich schnurstracks in den Flur, damit er seine Schuhe anziehen konnte. Seine Worte waren bewusst unverschämt und er musste sich wahrhaftig das Lachen verkneifen, als er die erschrockenen Blicke von Mimi und Kimiko mitbekam. Das lautstarke Wortgefecht der beiden Frauen hatte ihn aufgeweckt und beide hatten nicht einmal mitbekommen, dass er an ihnen vorbei ins Badezimmer gelaufen war. Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht erhob sich die ältere Dame aus ihrem Sessel und folgte ihrem männlichen Gast in den Flur. Völlig fassungslos starrte Mimi ihr hinterher und konnte nicht glauben, dass die große Klappe ihres Freundes tatsächlich dafür gesorgt hatte, dass sich ihre Großmutter umentschied. „Ihr seid wohl neue beste Freunde?“ zischte sie zynisch und sah zu ihrem Freund, als dieser das Auto aufschloss. „Bist du etwa eifersüchtig?“ Tai grinste sie nur frech an und stieg ins Auto. „Das hättest du wohl gern du selbstgefälliger Vollidiot!“ Mimi half ihrer Großmutter beim einsteigen und platzierte sich bewusst neben ihr auf dem Hintersitz. Die junge Frau hatte keine Lust neben Taichi zu sitzen, denn sie war noch immer wütend auf ihn. Er seufzte angestrengt, kommentierte die Aussage seiner Freundin jedoch nicht und fuhr los. Kimiko blickte aufgeweckt aus dem Fenster und zeigte Mimi einige Orte, an denen sie mit ihr als kleines Mädchen häufig gespielt hatte. Mit einem sanftmütigen Lächeln lauschte die junge Frau den Erzählungen ihrer Großmutter und konnte sich sogar an manche Geschichten zurückerinnern. Die ältere Dame schien in den letzten Wochen nicht sehr häufig das Haus verlassen zu haben, denn sie wirkte vollkommen aufgeregt und nervös, als die drei das Krankenhaus erreichten. „Ich brauche Ihre Hilfe nicht! Ich kann alleine laufen...“ schimpfte sie einen der männlichen Pfleger an und stolzierte geradewegs durch den Empfangsbereich. Kimiko wusste genau, wo sich das Büro ihrer langjährigen Freundin und behandelnden Ärztin befand. Mimi und Taichi folgten der ergrauten Dame schweigend und beobachteten die Reaktionen des Personals. Offenbar kannten sehr viele Angestellte des Krankenhauses Kimiko noch aus alten Zeiten, denn schließlich hatte sie über 40 Jahre hier gearbeitet. „Ihr setzt euch brav hier draußen hin und wartet bis ich fertig bin. Es werden keine Exkursionen durch das Krankenhaus angestellt, habt ihr verstanden?“ Kimiko grinste unverschämt als sie die errötenden Gesichter ihrer Enkelin und ihres männlichen Begleiters sah. „Was soll das heißen? Wie sprichst du denn mit uns? Als wären wir kleine Kinder.“ murmelte Mimi beleidigt und setzte sich gehorsam auf einen der Wartestühle. Taichi musste sich sein Lachen verkneifen und nahm ebenfalls neben Mimi Platz, als Kimiko das Zimmer von Dr. Asuna Watanabe betrat. Der weitläufige und dunkle Flur im sechsten Stockwerk des Krankenhauses war menschenleer. Alles wirkte so kühl und verlassen. Der beißende Geruch von chlorhaltigen Putzmitteln kroch beiden Freunden in die Nase. Mimi fühlte sich wahrlich unwohl und wollte so schnell wie möglich wieder nach draußen. Sie lehnte sich etwas nach vorne und stützte ihre Ellenbogen auf ihren Oberschenkeln ab. Nachdenklich starrte sie auf die gegenüberliegende Wand. Ungeduldig fing sie an mit ihrem rechten Fuß zu wippen. Irgendwie war sie plötzlich doch sehr um den Gesundheitszustand ihrer Großmutter besorgt. Was sollte sie nur tun, wenn die Werte schlecht waren? Wie sollte sie ihre Großmutter bis zum Ende begleiten? Was hätte sie dabei zu beachten? Wollte Kimiko sie überhaupt dabei haben? Zahllose Gedanken schossen ihr durch den Kopf, als sie plötzlich eine warme Hand auf ihrem Knie spürte. Mimi zuckte sofort zusammen und drehte ihren Kopf zur Seite. Mit einem liebevollen Lächeln betrachtete der brünette junge Mann die tiefen Falten auf ihrer Stirn. „Zerbrich dir nicht deinen hübschen Kopf, es wird schon alles gut sein und selbst wenn nicht, dann finden wir gemeinsam einen Weg, wie es dann weitergehen kann.“ Taichi seufzte genervt und presste seine Finger etwas fester gegen ihr Knie. „Und um Himmelswillen, hör auf so nervös mit deinem Fuß zu wippen! Du machst mich damit wahnsinnig.“ Mimi blies ihre Wangen auf und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand. Erst sagte er so einfühlsame Worte und dann machte dieser dämliche Spruch wieder alles kaputt. Taichi blieb einfach ein unbeholfener Kindskopf. „Du bist einfach unmöglich...“ grummelte sie zickig und sog die Luft scharf durch ihre Lippen. „Wieso denn schon wieder ich? Du bist jawohl unmöglich! Mich heute früh einfach so stehen zu lassen ohne meine Frage zu beantworten.“ Wütend zog sie ihre Augenbrauen hinab und fixierte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. „Deine Frage war dämlich. Ich kann überhaupt nicht glauben, dass du jetzt schon wieder damit anfängst.“ „Hör auf damit! Wir hatten uns etwas versprochen, wir wollten herausfinden, was das zwischen uns ist. Dafür muss ich wissen, warum alles so gekommen ist, wie es jetzt ist. Warum kannst du es mir nicht sagen? Was war der Grund? Warum bist du einfach gegangen?“ seine Stimme klang ruhig und sein zorniger Blick wich einem fast schon flehenden Gesichtsausdruck. Mimi konnte nicht anders, sie wich seinem Blick aus und kniff ihre goldbraunen Augen verzweifelt zusammen. Wie sollte sie ihm das nur erklären? Bis heute hatte sie selbst keine Worte dafür gefunden und ihm jetzt zu beichten, dass der Grund ihrer überstürzten Flucht in die USA war, dass sie ihn in flagrantie mit einer anderen Frau beim intimen Beisammensein erwischt hatte, brachte sie einfach nicht über die Lippen. „Hatte es was mit unserem jährlichen Treffen im Sommer in Izu zutun? Du bist am zweiten Abend einfach abgereist, ohne dich zu verabschieden und danach hieß es, du hättest die Zusage der Boston University bekommen und würdest in den USA studieren...“ Es gelang ihm nicht, seinen Satz zu beenden. Mimi fiel ihm abrupt ins Wort, denn sie konnte die aufflammenden Erinnerungen an diesen Zwischenfall am Pool nicht länger ertragen und wollte so schnell wie möglich dieses Thema beenden. „Du hast dich an diesem Wochenende einfach unmöglich verhalten. Ich hatte keine Lust mehr, ständig mit dir zu streiten und da bin ich lieber zurück gefahren.“ Erstaunt hielt Taichi inne und starrte seine langjährige Freundin an. „Ich habe mich unmöglich verhalten? Was ist denn mit dir? Du bist genauso ekelhaft gewesen und hast sogar absichtlich Takeru im Zimmer meiner Schwester übernachten lassen, nur um mir eins auszuwischen. Wie würdest du das bitte nennen?“ „Ach krieg dich mal ein! Du übertreibst es sowieso mit deinem exorbitanten Beschützerinstinkt.“ „Wie bitte? Ich stelle mir schon etwas Besseres für meine Schwester vor, als dass sie ihre Unschuld in einem mittelmäßigen Hotelzimmer verliert...“ „An diesem Abend hat sie gewiss nicht ihre Unschuld verloren. Da gab es bereits zuvor weitaus mehrere Gelegenheiten, von denen du überhaupt nichts weißt! Und warum nicht? Weil sie es dir niemals erzählen würde, weil du wie eine Bombe in die Luft gehen würdest. Was spielst du dich überhaupt so auf? Du bist doch viel schlimmer, vögelst mit irgendwelchen Weibern herum. Deine Schwester hat wenigstens seit langer Zeit einen festen Freund...“ Jetzt war das Maß wahrlich voll. Taichi konnte das nicht aushalten. Er sprang von seinem Stuhl auf und stellte sich vor Mimi. Wütend stieß er gegen ihre Schulter und schubste sie somit etwas nach hinten. „Was fällt dir überhaupt ein? Was erzählst du für einen blöden Scheiß und lass jetzt verdammt nochmal meine Schwester da raus. Hier geht es überhaupt nicht um meine Schwester, sondern um ein Problem, das du mit mir hast! Was unterstellst du mir eigentlich?“ plötzlich klang seine Stimme überhaupt nicht ruhig. Taichi war absolut aufgebracht und musste seine Wut wahnsinnig stark kontrollieren, damit er nicht vollkommen ausrastete. In ihm entflammte ein unbeschreibliches Feuer und noch nie zuvor hatte er sich so angegriffen von Mimi gefühlt. Als er sie nach hinten schubste, riss Mimi ihre Augen erschrocken auf und schlug seine Hand von sich weg. Sofort stand sie auf und stieß ihn ebenso nach hinten. Er sollte nicht den Eindruck bekommen, dass sie sich von seinem latent aggressiven Verhalten einschüchtern ließ. „Du bist so ein beschissener Lügner! Kannst du morgens überhaupt in den Spiegel schauen, ohne dich selbst anzuwidern? Ich habe dich gesehen mit ihr! An diesem Abend, unten am Pool. Du hast es mit ihr in der Umkleidekabine getrieben. Dir sind doch die Gefühle aller anderen Menschen um dich herum vollkommen egal. Du spielst dich als großer Beschützer auf, willst jeden Kummer und Schmerz von deiner Schwester fernhalten und was tust du mit mir? Was tust du mir an?“ Mit einem Mal brach ihre sonst so kräftige Stimme ab. Den Tränen nahe, ballte Mimi ihre Hände zur Faust und rang nach Atem. Ihre langen Fingernägel bohrten sich so tief in das Fleisch ihrer Handflächen, dass sie keuchend ihre Lippen aufeinander presste. Dennoch weinte sie nicht. Die junge Frau blieb standhaft und wich seinem Blick zu keiner Sekunde aus. Seine tiefbraunen Augen waren vollkommen leer und Taichi suchte verzweifelt nach Worten. Das, was sie gerade zu ihm gesagt hatte, traf ihn hart und unvermittelt. Noch nie, hatte sie ihm so direkt ins Gesicht gesagt, wie sehr er sie verletzt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich schonungslos damit konfrontiert und konnte damit überhaupt nicht umgehen. Es waren drei Schritte, bis er die Wand in seinem Rücken spürte. Hätte er sich nicht irgendwo anlehnen können, so hätte er wahrscheinlich das Gleichgewicht verloren und wäre in den tiefen Abgrund, welcher sich unmittelbar vor ihm auftat, gestürzt. Nach Atem ringend schüttelte er seinen Kopf und suchte in ihren wässrigen Augen nach der Antwort auf all seine Fragen. „Ich habe nicht...“ versuchte er seinen Satz zu beginnen, doch Mimi ließ es nicht zu. „Nein! Ich will es nicht hören. Es interessiert mich auch überhaupt nicht, mit wem und wie vielen Frauen zu zusammen gewesen bist. Mit wem du wie und wann geschlafen hast...“ Auf einmal packte er sie an ihren nackten Schultern und presste sie mit einem kraftvollen Stoß gegen die gegenüberliegende Wand. Wütend starrte er sie an. Seine Hände zitterten, als er ihren ängstlichen Blick wahrnahm. Sofort lockerte er seinen festen Griff und senkte seinen Kopf. „Hör mir zu...bitte! Mimi, bitte lass es mich wenigstens versuchen. Wenn wir uns weiter solche Vorwürfe an den Kopf schmeißen, werden wir niemals die Wahrheit herausfinden und uns gegenseitig vergeben können.“ Die junge Frau schluckte hart und drückte ihn mit beiden Händen von sich weg. Sein temperamentvolles Verhalten machte ihr Angst und plötzlich spürte sie, wie heiße Tränen über ihre Wangen rannen. „An diesem Wochenende bin ich mit niemandem zusammen gewesen. Ich saß an der Bar und habe versucht mich abzulenken. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie an dem Pool des Hotels oder in einer der Umkleidekabinen gewesen. Warum glaubst du, mich gesehen zu haben?“ Er blickte sie aufrichtig an und ließ ihre Schultern los. Taichi ging einige Schritte zurück, da er bemerkte, dass er sie zum weinen brachte. „Ich habe deine furchtbar hässliche Badehose gesehen und zwei Personen laut und deutlich dabei gehört...“ Nachdenklich lehnte er sich gegen die Wand und versuchte sich an dieses Wochenende zurück zu erinnern. Es fiel ihm verdammt schwer, da er über die gesamten drei Tage nur getrunken hatte. Irgendwie war dieses Wochenende ein schwarzer Fleck in seiner Erinnerung. Verzweifelt fuhr er sich durchs Haar. Taichi war sich absolut sicher, dass es nicht so gewesen war, wie Mimi es ihm unterstellte. „Diese Badehose. Du hattest mich das gesamte Wochenende damit aufgezogen und gesagt, dass sie wie die Fetzen einer Tapete eines abgehalfterten Hippies aussehe...“ verwundert fuhr sich Tai über sein Kinn und starrte an die Decke des Krankenhausflurs. „Ich habe diese Badehose nie wieder gesehen. Wo ist die denn abgeblieben?“ Ungläubig zog Mimi ihre linke Augenbraue nach oben und setzte sich wieder auf einen der Wartestühle. Wollte er ihr jetzt etwa das Märchen erzählen, irgendjemand hätte ihm diese hässliche Badehose geklaut? „Ich weiß noch, dass Yamato und Sora bereits zum Abendessen gegangen waren und ich nicht mitgehen wollte. Irgendwann kam Koushiro zu mir an die Hotelbar und brachte mir etwas zum essen. Was hatte er nur zu mir gesagt?“ Mit Zeigefinger und Daumen drückte Tai gegen seine schmerzenden Augen. Warum kamen ihm die Worte seines Freundes nicht in den Sinn? Was hatte er ihm nur gesagt? „Du glaubst auch, ich habe mir meinen Kopf nur ausgeliehen, damit es nicht in meinen Hals regnet, oder?“ Mimi verschränkte ihre Arme vor der Brust und konnte nicht fassen, dass Taichi sie wirklich zum Narren halten wollte. Mit einem Mal riss Tai seine Augen auf und starrte seine Freundin an. „Genau! Ausgeliehen! Er sagte mir, dass er versehentlich meine Badehose angezogen hätte und sie sich deswegen für den Rest des Wochenendes ausleihen wolle. Koushiro hat sie mir bis Heute nicht wiedergegeben.“ Taichi fing an, mit einem unanständigen Grinsen, zu seiner Freundin zu blicken. Die junge Frau pfiff misstrauisch durch ihre Lippen und schüttelte ihren Kopf. „Du willst mir nicht sagen, dass es Koushiro gewesen ist, den ich beim Koitus erwischt habe? Was bist du denn für einer? Jetzt schiebst du es auf andere? Du bist so schäbig Taichi Yagami!“ „Also wir können ihn gerne anrufen und fragen, was denn eigentlich aus meiner wunderschönen Badehose geworden ist...“ er zückte sein Telefon und wählte die Nummer seines rothaarigen Freundes. „Außerdem glaube ich nicht, dass du dir deinen hübschen Kopf nur ausgeliehen hast, damit es nicht rein regnet. Vielmehr ist der dafür da, dass du deine Haare irgendwo befestigen kannst.“ Mimi grinste selbstsicher und schlug ihre Beine übereinander. Der brünette junge Mann stellte sein Telefon auf Lautsprecher und setzte sich wieder neben seine Freundin. „Tai, hast du nichts zu tun? Was willst du, ich arbeite!“ wie gewohnt war Koushiro kurz angebunden und hatte alle Hände voll zu tun, obwohl vorlesungsfreie Zeit war. „Hey Kumpel, ich rufe dich aus Tateyama an und wollte heute eigentlich an den Strand gehen und da fiel mir auf, dass ich meine atemberaubend schöne Badehose vermisse. Hattest du sie dir nicht mal ausgeliehen?“ Mimi musste über das dämlich grinsende Gesicht ihres Freunde kichern und hielt sich dabei die Hände vor den Mund. Offenbar schien es ihm ernst zu sein und er wollte ihr beweisen, dass nicht er es war, der mit einem Mädchen in der Umkleidekabine geschlafen hatte. „Äh, wie? Was? Keine Ahnung? Badehose? Warum? Woher? Weiß ich doch nicht!“ das offensichtlich hilflose Stammeln seines Freundes verriet dem brünetten jungen Mann, dass Koushiro sehr wohl wusste, worum es ging. „In Ordnung. Vielleicht irre ich mich ja auch und die Badehose ist einfach woanders weg gekommen.“ Seine Stimme stockte immer wieder, weil Taichi kurz davor war in schallendes Gelächter auszubrechen. „Ist ja kein Thema. Ich muss jetzt leider wieder arbeiten. Mach's gut und viele Grüße an Mimi...“ dann hatte er auch schon aufgelegt und sich somit galant einem weiteren Verhör entzogen. Als Taichi sein Telefon wieder in die Hosentasche gesteckt hatte, fingen er und Mimi beinahe gleichzeitig an zu lachen. „Es war also Koushiro? Aber mit wem denn bitte?“ die junge Frau konnte kaum aufhören zu lachen und hielt sich ihren schmerzenden Bauch. „Ich habe keine Ahnung mit wem. Aber so was hätte ich ihm nicht zugetraut. Ein richtiger Casanova unser kleiner »Izzy« und dann noch mit meiner Badehose! Igitt! Ich weiß schon, warum ich die nicht wieder bekommen habe und ich will sie auch überhaupt nicht mehr. Wer weiß, was er damit angestellt hat....“ Mimi nickte nur stumm und erholte sich allmählich von ihrem kräftezehrenden Gelächter. Irgendwann war es wieder vollkommen still und die beiden saßen betreten nebeneinander. Taichi beugte sich nach vorne. Seine kräftigen Unterarme stützte er auf seinen Oberschenkeln ab und seine dunkelbraunen Augen musterten seine weißen Turnschuhe. Vor Nervosität fingen seine Finger an zu zittern und Taichi verschränkte beide Hände miteinander, in der Hoffnung, dass sich das unkontrollierte Zucken seiner Gliedmaßen dadurch verbessern würde. „Mimi, ich weiß selbst, dass nicht immer alles gut gelaufen ist zwischen uns. Eigentlich ist es nie so richtig gut gelaufen. Ich bin vielleicht ein dämlicher Vollidiot, der die Gefühle von anderen Menschen nicht immer richtig deuten kann und aus Angst selbst verletzt zu werden, lieber in Kauf nimmt, einen anderen Menschen zu verletzen. Aber ich bin kein Lügner.“ Sie sah ihn betrübt an und nickte leicht. Ein Gefühl von Scham und Schuld durchflutete ihr pochendes Herz. „Ich habe dich noch nie angelogen...“ sagte er leise und drehte sich langsam zu ihr um. „...ich möchte immer ehrlich zu dir sein und hoffe, dass du es irgendwann auch sein kannst.“ Sie wusste überhaupt nicht, was sie jetzt sagen sollte. Denn seine Worte waren so schonungslos ehrlich, dass es ihr unaussprechlich wehtat, dass es ihr nicht gelang, ebenso ehrlich zu ihm zu sein. Er konnte ihren traurigen Blick nicht richtig deuten und beschloss, es zunächst dabei zu belassen. Indirekt hatte er seine Antwort bekommen. Sie war gegangen, weil sie dachte, er hätte eine andere Frau. Sie hatte ihn ohne Abschied verlassen, weil sie sich unendlich verletzt und gedemütigt fühlte. Sicherlich wäre alles ganz anders verlaufen, hätte sie ihn zur Rede gestellt. Letztlich war es ein verhängnisvolles Missverständnis, welches das Maß für Mimi endgültig zum überlaufen brachte und bedingte, dass es die junge Frau nicht länger in seiner Nähe aushalten konnte. „Ich hole uns mal einen Kaffee...“ schwungvoll erhob sich der junge Mann von seinem Stuhl und schenkte seiner Freundin ein einfühlsames Lächeln. Wortlos sah sie ihm hinterher, als er in den Fahrstuhl stieg. Zitternd ballten sich ihre Hände auf ihrem Knie und kleine Tränen tropften auf ihre Haut. Wenn sie nicht so feige gewesen wäre, hätte sich alles ganz anders entwickelt. Diese Wut und Enttäuschung hätte sich nicht, über all die Jahre, in ihrem Herzen ausgebreitet. Obwohl sie jetzt wusste, dass es nicht Tai gewesen war, den sie mit einem anderen Mädchen erwischt hatte, fühlte sie sich keineswegs erleichtert. Denn plötzlich spürte sie den stechenden Schmerz der Eifersucht in ihrem Herzen und ihr wurde unaufhaltsam bewusst, dass es ihr überhaupt nicht egal war, mit wem er zusammen gewesen ist und mit wie vielen Frauen er geschlafen hatte. Beide sind zwar niemals ein Paar gewesen und doch fühlte sie sich von ihm betrogen. Wie sollte man jemandem etwas vergeben, obwohl er eigentlich überhaupt keinen Fehler gemacht hatte? Zappelig stand Taichi gegen den Kaffeeautomaten gelehnt und starrte sein eigenes Spiegelbild in der bunten Glasscheibe an. Damals war es keine andere Frau gewesen, aber in den darauffolgenden Jahren hatte er sehr wohl einige One-Night-Stands. Wie würde Mimi wohl darauf reagieren, wenn er ihr davon erzählen würde? Er selbst könnte überhaupt nicht damit umgehen, wenn sie ihm offenbaren sollte, dass sie ebenfalls andere Männer gehabt hatte. Er beugte sich runter und griff nach dem zweiten Becher Kaffee. Als sich Taichi wieder aufrichtete, glaubte er, in der Reflexion des Kaffeeautomaten, Mimi hinter sich zu erkennen. Verwundert drehte er sich um und verschüttete dabei etwas von dem heißen Gebräu auf seiner Hand. „Autsch...“ keuchte er und pustete sofort über seine verbrühte Handfläche. Die junge Frau bewegte sich an ihm vorbei und verschwand im nächsten Quergang. Mit holprigen Schritten folgte der junge Mann ihr, doch als er um die Ecke bog, konnte er nur sitzende Patienten und einige Krankenschwestern erkennen. Er schüttelte seinen Kopf und seufzte nachdenklich. „Ich sehe schon Gespenster...“ murmelte er und begab sich zurück in den sechsten Stock des Krankenhauses. Dort angekommen standen eine ältere Dame, eine brünette junge Frau und eine im weißen Kittel gekleidete Ärztin auf dem Gang. Die Untersuchung schien soweit beendet zu sein. Mimi schien sehr erleichtert zu sein und bedankte sich bei Dr. Watanabe mit einer tiefen Verbeugung. Taichi musste darüber grinsen, denn Mimi übertrieb es ein wenig mit ihrer Dankbarkeit. Kimiko hingegen kam ihm bereits entgegen und wirkte nervös. „Geht es dir gut alte Dame?“ fragte er frech und zwinkerte ihr verschmitzt zu. „Taufrisch wie ein kühler Frühlingsmorgen.“ entgegnete sie und drückte auf den Knopf des Fahrstuhls. Er grinste und lehnte sich wartend an die Wand. „Ich hätte nichts anderes erwartet, schließlich hält es jung andere Menschen herum zu kommandieren.“ „Ich kommandiere nur vorwitzige Jungs herum.“ „Ja, ich weiß. Es gefällt dir doch, mich herum zu kommandieren?“ „Aber nur, weil du meine Anweisungen so außerordentlich gut befolgst.“ Sie zwinkerte ihm zu und stieg in den Aufzug. Taichi seufzte nur lachend und sah zu Mimi, die ihm plötzlich einen der Kaffeebecher abnahm. Schweigend grinste sie über die kleine Auseinandersetzung zwischen ihrem Freund und ihrer Großmutter. „Ist soweit alles in Ordnung mit deiner Großmutter?“ fragte Tai flüsternd, sodass die ältere Dame nichts davon mitbekam. Mimi nickte stumm und nippte an ihrem Getränk. „Ja ihre Werte sind insoweit unverändert. Es gibt zwar keine drastische Verbesserung aber auch keine Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustandes.“ Er nickte verstehend und betrachtete ihr gemeinsames Spiegelbild an der Innenverkleidung des Fahrstuhls. „Mir ist gerade etwas merkwürdiges passiert. Als ich unten gewesen bin, dachte ich, ich hätte dich gesehen. Jedoch mit schwarzem Haar. Verrückt oder?“ Taichi nippte an seinem Heißgetränk und blickte zu Mimi. Dabei bemerkte er nicht, dass Kimiko kaum merklich etwas zusammenfuhr und nervös auf die Stockwerkanzeige des Fahrstuhls starrte. „Ich geistere dir also im Kopf herum, sodass du schon Halluzinationen von mir bekommst? Dabei würden mir schwarze Haare überhaupt nicht stehen...“ Sie wollten das Krankenhaus verlassen, als Mimi wie angewurzelt stehen blieb. „Oh nein! Ich habe meine Tasche oben vergessen. Wartet hier unten, ich bin gleich wieder da!“ Noch bevor Taichi oder Kimiko etwas sagen konnten, eilte die junge Frau zurück in die Eingangshalle und verschwand im nächsten Aufzug. „Nein! Warte! Mimi!“ rief Kimiko beinahe mit zitternder Stimme hinterher. Verwundert mustere Taichi die ältere Dame und lehnte sich gegen die Hauswand. Irgendwie hatte er den Eindruck, als würde etwas anderes dafür sorgen, dass Kimiko unter keinen Umständen hierher ins Krankenhaus wollte, als die Aversion gegenüber ihrer Behandlung. Als Mimi endlich wieder oben angekommen war, sah sie, dass die Zimmertür von Asuna Watanabe noch immer offen stand. Sie schien keinen neuen Patienten zu haben und so konnte Mimi ihre Tasche aus dem Behandlungszimmer heraus holen. „Entschuldige bitte, ich habe meine Tasche vergessen...“ Es brauchte lediglich drei Schritte, zwei Augenaufschläge und einen kurzer Atemzug, bis Mimi realisierte, dass vor ihr eine junge Frau stand. Eine junge Frau in Schwesternkleidung mit langem schwarzen Haar, goldbraunen Augen und einem Gesicht, das dem ihren zum verwechseln ähnlich sah. Erstarrt und unfähig etwas zu sagen verharrte Mimi in ihrer Bewegung und klammerte sich verkrampft an ihre kleine Handtasche. Ihr Gesicht färbte sich schal weiß und der Glanz verschwand aus ihren Augen. „Wie kann das sein?“ murmelte die Brünette noch immer vollkommen erstarrt. Im selben Moment trat Asuna hinter ihrem Schreibtisch hervor, doch Mimi sah nur wie sich ihre Lippen bewegten. Sie hörte kein Wort, sah nur weiterhin fassungslos in das Gesicht dieser fremden Frau, die ihr so unglaublich ähnlich sah. Sie kam einige Schritte auf Mimi zu und wollte nach ihrer Hand greifen, aber völlig panisch trat Mimi einige Schritte zurück, stieß dabei gegen die Tür und stürzte beinahe zu Boden. „Mimi...warte doch, lass es mich erklären...“ die Stimme dieser fremden Frau hallte markerschütternd in ihren Ohren wieder. Ohne eine Sekunde länger darüber nachzudenken, stieß Mimi die Tür zum Treppenhaus auf und eilte die unzähligen Stufen hinab. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie stolperte und sich weinend gegen das Geländer pressen musste, um nicht hinab zu fallen. Der Lärm in der riesigen Eingangshalle verstummte, als sie wie in Trance in Richtung Ausgang wankte. Noch immer waren ihre schmalen Fingerspitzen in das Leder ihrer Handtasche vergraben, doch es gab ihr keinen Halt. Vielmehr drohte sie, in einen endlosen Abgrund zu stürzen. Plötzlich packte sie jemand am Handgelenk. „Bitte warte. Du solltest es nicht auf diese Weise erfahren und schon gar nicht heute. Aber jetzt ist es eben passiert und wir müssen darüber sprechen.“ Asuna starrte in die leeren Augen der jungen Frau, welche sie festhielt. Kurzerhand stieß Mimi sie von sich Weg und eilte nach draußen. Taichi und Kimiko standen bereits am Auto. Beide beobachteten wie Mimi, mit schnellen Schritten auf sie zukam, dicht gefolgt von Asuna. Taichi konnte genau beobachten, wie Kimiko sich auf ihre Lippe biss und anfing zu zittern. „Ihr wollt mir also etwas erklären? Darauf bin ich gespannt! Dann mal los, ich höre...“ diese laute, fast schreiende Stimme kannte Taichi in dieser Art überhaupt nicht. Was war denn mit seiner Freundin los? So aufgebracht und wütend hatte er sie selten erlebt. „Nicht hier. Nicht auf dem Parkplatz...“ sagte Asuna seufzend und sah zu der älteren Dame. Ohne eine einzige Frage zu stellen oder auch nur ein Wort zu wechseln, fuhr Taichi mit den drei Frauen zurück ins Haus. Er hatte nicht die leiseste Vorstellung von dem, was im Krankenhaus geschehen war. Er konnte nicht verstehen, warum Mimi so aufgebracht und Kimiko so niedergeschlagen war. Mimi stürmte fluchend und schimpfend in das Haus, dabei wirbelte sie aufgebracht durch das Wohnzimmer. Asuna setzte sich ruhig auf das Sofa und zog ihren weißen Kittel aus. Kimiko legte ihre Hand sanft auf Taichis Schulter, der die Situation verständnislos beobachtete. „Machst du uns bitte einen Tee mein Lieber?“ ihre Stimme klang ruhig und fast schon entspannt. Von ihrer vorhergehenden Nervosität und Unsicherheit war nichts mehr zu spüren. Tai nickte nur stumm und ging in die Küche. Dennoch konnte er jedes Wort deutlich hören, was die drei miteinander wechselten. Wie gewöhnlich setzte sich Kimiko in ihren Sessel und betrachtete ihre Enkeltochter nachdenklich. „Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mir die richtigen Worte für diesen Moment zurecht gelegt habe und doch bekomme ich jetzt keinen vernünftigen Satz zustande.“ mit einem betrübten Blick sah Kimiko zu Mimi. „Ich weiß überhaupt nicht, ob ich deine Worte hören will. Was wirst du mir jetzt sagen? Was werdet ihr mir für eine Geschichte erzählen und wird es dann die Wahrheit sein? Was soll ich denn noch glauben?“ Mimi schüttelte ihren Kopf und wischte sich die aufkommenden Tränen aus den Augen. „Die junge Frau vorhin in meinem Büro, sie ist meine Tochter und die Tochter deines Vaters...“ Asuna stockte kurz und betrachtete den verzerrten Gesichtsausdruck von Mimi. „ Ihr Name ist Sae und sie ist deine Halbschwester.“ Mit einem Mal fing Mimi an zu lachen und setzte sich auf das Sofa. Sie konnte nicht glauben was sie da hörte. Wollte diese Frau ihr tatsächlich erzählen, ihr Vater hätte eine Affäre mit ihr gehabt? Kalter Schweiß überzog ihre zitternden Handflächen. Die junge Frau presste ihre Oberschenkel so fest aneinander, dass sich ihre Beine taub anfühlten. Übelkeit stieg ihren Hals hinauf, als hätte ihr jemand in die Magengrube geschlagen. „Dein Vater und Asuna waren langjährige Sandkastenfreunde. Sie ist sechs Jahre jünger als Sōsuke und nachdem dein Vater an die Oberschule wechselte, entfernten sich die beiden voneinander. Plötzlich empfand Sōsuke, dass Asuna viel zu jung und nervig sei. Über die gesamte Schulzeit hinweg, war es sein größtes Ziel, die Schule so schnell wie möglich zu beenden und dieses langweilige Fischerdorf zu verlassen. Doch als er von zu Hause wegging und seine Jugendliebe nicht mehr in seinem Leben war, konnte er nicht länger vor seinen Gefühlen davon laufen. Kurz vor der Hochzeit mit deiner Mutter, war er noch einmal hier zu Besuch und verbrachte eine Nacht mit Asuna. Daraus ging ein Kind hervor, doch Sōsuke lehnte die Verantwortung für seine Tochter ab, schließlich warst du bereits unterwegs und er wollte deine Mutter nicht alleine lassen. Er musste sich zwischen seiner großen Liebe und der Verantwortung, welche er für deine Mutter und dich übernommen hatte, entscheiden.“ Kimiko blieb vollkommen entspannt bei den Schilderungen aus der Vergangenheit und blickte nur einmal kurz zu Asuna, um sicher zu gehen, dass sie nichts falsches erzählt hatte. Die junge Ärztin hatte nichts hinzuzufügen und fuhr sich stattdessen mit ihren Fingern durchs Haar. Sie selbst hätte diese Geschichte nicht erzählen können. Zu tief saßen die Wunden, die eine unerfüllte Liebe hinterlassen hatte. Zu frisch waren die Erinnerungen an ihre gescheitere Ehe mit einem Mann, den sie niemals wirklich lieben konnte. „Dein Großvater hat die Entscheidung seines Sohnes niemals verstanden. Er sagte immer, dass dein Vater auch für zwei Kinder hätte die Verantwortung tragen können. Auch auf die Gefahr hin, dass deine Mutter ihm diesen Seitensprung nicht vergeben hätte. Dieser stetig anhaltende Disput führte letztlich zum Bruch zwischen deinem Großvater und deinem Vater.“ Taichi hörte jedes einzelne Wort und presste seine Hände auf die Arbeitsfläche der Küche. Diese Geschichte war grauenvoll. Mit keiner Faser seines Körpers hätte er den Schmerz und die Enttäuschung seiner Freundin nachempfinden können. Mit einem Mal war alles anders. Plötzlich hatte sie eine Halbschwester und einen Vater, der diese Wahrheit ihr gesamtes Leben vor ihr verheimlicht hatte. „Es war ein stillschweigendes Abkommen zwischen mir und deinem Vater, dass sich unsere Familie um Asuna und das Baby kümmern würde. Bis zu deinem achten Geburtstag seid ihr regelmäßig im Sommer zu Besuch gekommen. Dein Vater hat während dieser Zeit seine uneheliche Tochter und Asuna besucht. Doch mit jedem Jahr wurdet ihr euch ähnlicher. Ihr habt zusammen am Strand gespielt, ihr seid euch sehr nahe gewesen, wie richtige Schwestern und Sōsuke konnte das nicht länger ertragen. Er entschloss sich dazu, dass Rückzug die beste Alternative wäre und so hörten eure Besuche abrupt auf. Damit du niemals davon erfährst, verbot er dir ebenso hierher zu kommen.“ Mimi hörte den Worten ihrer Großmutter aufmerksam zu und drückte ihre Hände fest gegen ihre Oberschenkel. Im Moment befand sie sich im freien Fall und nichts gab ihr, in irgendeiner Weise, Halt. Alles um sie herum zerbrach und nichts in der Welt schien sie jetzt noch retten zu können. Nichts hätte sie dazu bringen können, ihrem Vater jemals zu vergeben. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Wange. Kimiko stand vor ihr und lächelte sie liebevoll an. „Mein Kind, es gibt keinen Grund dafür, dass du einen solch unaussprechlichen Groll gegen deinen Vater hegst. Dein Vater ist bestraft genug. Sein ganzes Geld und seine Macht stehen für innere Leere und den Versuch etwas zu verdrängen. Doch Geld und Macht sind völlig unbedeutend. Im Leben geht es einzig und allein um Anerkennung. Aber nur die Anerkennung der Menschen die wir lieben, erfüllt unser Herz mit Glück. Dein Vater hat die Frau, die er über so lange Zeit liebte, zurück gelassen, da er seine Gefühle für sie viel zu spät zugelassen hat und zu diesem Zeitpunkt bereits mit einer anderen Frau verlobt gewesen ist.“ Sie wischte ihrer Enkelin die Tränen aus dem Gesicht. „Wie viele Chancen gibt uns das Leben, bis wir begreifen, was uns wirklich wichtig ist? Irgendwann ist es zu spät. Irgendwann haben wir jede Möglichkeit verstreichen lassen. Doch ist das Band des Schicksals erst einmal durchtrennt, kann man es niemals wieder reparieren.“ Die Worte der älteren Dame trafen Taichi tief im Herzen und er musste seinen Kopf gegen die Wand lehnen. Seine Knie zitterten und der Schweiß rann ihm eiskalt über den Rücken. Plötzlich riss ihn die zerbrechliche Stimme seiner Freundin aus seinen Gedanken. Mimi war aufgestanden, hatte sich für die Ehrlichkeit ihrer Großmutter bedankt und für ihre wilden Beschimpfungen gegenüber Asuna entschuldigt. „Sicherlich könnt ihr verstehen, dass das ziemlich viel mit einem Mal ist und ich jetzt erstmal etwas Zeit für mich alleine brauche. Nehmt es mir nicht übel...“ sagte sie und wollte gerade nach draußen gehen, als Kimiko sie festhielt. „Mimi, ich habe deinem Vater schon vor sehr langer Zeit verziehen. Doch solange Sōsuke sich seine Fehler nicht selbst vergeben kann, werden wir nicht zueinander finden. Denn es fängt immer damit an, dass man aufhören muss sich selbst zu bestrafen. Auch du solltest irgendwann deine undurchdringliche Mauer fallen lassen und dem Mann, der schon so lange um dich kämpft, die Chance geben dein Herz zu erobern.“ stumm starrte die junge Frau in das faltige Gesicht ihrer Großmutter und quälte sich ein Lächeln über die Lippen. Wie konnte Kimiko nur so gut Bescheid wissen? Konnte sie ihre Emotionen etwa lesen wie ein offenes Buch? Selbstverständlich hatte Taichi diese Worte ebenso vernommen und biss sich auf seine Lippen. Von wem sprach Kimiko? Welchen Mann meinte sie? Besorgt sah Taichi in den Flur und beobachtete, wie sich Mimi ihre Schuhe anzog. Er war unschlüssig, ob er ihr folgen oder sie lieber alleine lassen sollte. Doch bevor er eine Entscheidung treffen konnte, kam Kimiko auf ihn zu und schob ihn zurück in die Küche. „Ist der Tee schon kalt, schließlich hast du eine Ewigkeit gebraucht ihn zu kochen. Ich dachte schon, du bist eingeschlafen...“ sie grinste und versuchte das merkwürdig angespannte Gesicht des jungen Mannes zu deuten. „Wie kannst du jetzt Witze machen? Du kannst sie doch nicht alleine gehen lassen. Ihre Welt zerbricht gerade und du lässt sie gehen?“ seine Stimme klang vorwurfsvoller als er es beabsichtigt hatte. „Manchmal muss man die Menschen, die man liebt los lassen, damit sie ihren eigenen Weg finden. Glaub nicht, dass es leicht für mich ist.“ ihr Blick wirkte zornig und Tai wich sofort zurück. Kimiko seufzte leise und sprach geduldig weiter. „Auch du müsstest begriffen haben, dass man im Leben nicht unendlich viele Chancen bekommt und es irgendwann einfach zu spät ist. Auch du solltest ehrlich zu dir selbst sein. Vor allem solltest du ehrlich zu ihr sein. Ihr beide müsst euch eure Fehler eingestehen und euch gegenseitig vergeben, nur dann könnt ihr zueinander finden. Doch im Moment hindert euch eure eigene Eitelkeit und die Angst erneut verletzt zu werden daran. Wenn du sie wirklich liebst, dann solltest du es ihr auch endlich offenbaren.“ schockiert riss er seine Augen auf und starrte in die wässrigen Augen der älteren Dame. „Wie bitte? Wie kommst du denn darauf?“ stotternd versuchte sich der junge Mann aus der Situation zu befreien. „Ach hör schon auf. Man kann es dir auf der Stirn ablesen. Warum hast du es nicht schon längst getan? Was fällt dir nur so schwer?“ diese Frage war tatsächlich berechtigt. Was zur Hölle machte es so schwer, ihr seine Gefühle zu offenbaren? „Vielleicht habe ich das schon längst und sie hat mich zurückgewiesen?“ Kimiko schüttelte auf seine Frage ihren Kopf und lächelte. „Das hast du nicht und sie würde dich heute nicht zurückweisen. Ein Blinder sieht doch, dass sie nur darauf wartet von dir gerettet zu werden. Sie wartet einzig und allein auf dich. Doch sei versichert, irgendwann wird auch Mimi aufgeben und versuchen, ihr Glück woanders zu finden. Genauso wie ihr Vater. Doch ihr werdet keine erfüllte Liebe bei einem anderen Menschen finden.“ Wütend sah Taichi zu der älteren Dame und war wirklich entrüstet über ihre Unverschämtheit ihm so etwas direkt ins Gesicht zu sagen. „Worte sind nicht alles. Man muss dem Menschen, den man liebt, seine Gefühle zeigen. Leere Worte reichen nicht aus...“ erstaunt über seine entschlossene Stimme blickte er verlegen zur Seite. „Das mag sein, aber weder das eine noch das andere hast du ihr einwandfrei bewiesen. Ich vermag sie nicht zu halten, jetzt da ihre Welt zerbricht. Das muss derjenige tun, dem ihr Herz gehört.“ Der Sand kitzelte unter ihren nackten Füßen, als Mimi den Strand erreichte. Schweigend betrachtete sie die blaue Färbung des Horizonts und spürte die Hitze der Nachmittagssonne auf ihrer gebräunten Haut. Langsam zogen große Regenwolken am Himmel auf und verdunkelten den strahlenden Tag. Der Wind peitschte über das salzige Meer und die bebenden Wellen türmten sich zu schäumenden Giganten auf. Die Regenzeit war noch nicht vorbei und dennoch kühlte der heftige Regen, die siedend heißen Tage nicht ab. Mimi gelang es nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Immer wieder sah sie das Gesicht dieser jungen Frau vor sich, hörte die Worte ihrer Großmutter und spürte das unaufhörliche Zittern ihrer eigenen Hände. Trotz des ohrenbetäubenden Rauschen des Meeres, hörte sie das knirschende Geräusch des Sandes, der durch die schweren Schritten einer Person sachte bewegt wurde. Es war nicht nötig sich umzudrehen, denn Mimi erkannte ihren Freund an seinem Gang. Müde strich sie sich einige Haarsträhnen zurück und ging in die Hocke. Ihre schmalen Finger zogen kleine Kreise im Sand und sie konnte beobachten, wie einzelne Regentropfen die winzigen Steinchen miteinander verklebten. „Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie mein Vater mit mir auf seinen Schultern über diesen Strand gelaufen ist. Als Kind hat er mir die ganze Welt gezeigt und ich dachte immer, dass er mich für immer und ewig beschützen würden. Nichts böses könnte mir passieren, wenn er in meiner Nähe ist und egal wie weit wir einmal voneinander entfernt wären, seine Liebe würde mich immer wieder finden...“ Ihr Lächeln wurde bitter und sie spürte, wie Taichi hinter ihr stehen blieb. Der junge Mann hatte beide Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben und betrachtete seine Freundin mit einem einfühlsamen Blick. Was sollte er ihr sagen? Wie sollte er sie trösten? „Manchmal wünschen wir uns sehnsüchtig, dass die Zeit einfach stehen bleibt. Doch das Leben geht einfach weiter und dabei ist es egal wie verzweifelt, entmutigt und traurig wir sind. Es gibt keine Pause, kein Verharren in unseren schönen Erinnerungen. Irgendwie muss es weiter gehen, irgendwie müssen wir immer wieder aufstehen...“ Verzweifelt schloss Mimi ihre goldbraunen Augen und schüttelte den Kopf. „Mit einem Mal zerbricht alles. Es gibt nichts mehr woran ich noch glauben kann. Mein Vater war der Mensch, zu dem ich immer aufgesehen habe. Doch er hat mich mein ganzes Leben belogen, eigentlich kenne ich ihn überhaupt nicht. Plötzlich ist er völlig fremd für mich und mein ganzes Leben scheint eine Lüge zu sein...“ Taichi richtete seinen Blick auf und betrachtete die tobende See. Mittlerweile war die Sonne hinter den beinahe schwarzen Regenwolken verschwunden und die Abstände der Regentropfen wurden immer geringer. „Am Ende tragen wir alle unsere Maske und leben eine Lüge. Wem zeigst du schon dein wahres Gesicht? Wer kennt dich denn wirklich genauso wie du bist?“ „Du hast recht, wir alle tragen unsere Maske und verstecken unsere wahren Gefühle dahinter. Es gibt wohl nur wenige Menschen, denen wir unser wahres Gesicht zeigen. Nur wenige, denen wir schutzlos gegenüber treten. Auch ich habe meine Maske irgendwann abgenommen, doch alles was übrig blieb war ein gebrochenes Herz. Selbst der eigene Vater kann einen hintergehen, verraten und die bis dahin heile Welt in tausend Scherben zerschmettern. Letztlich ist es einfacher, sich hinter einer großen Mauer zu verstecken, damit man nicht verletzt wird.“ Ein verbittertes Lächeln schob sich über ihre Lippen und eisig kalte Regentropfen rannen über ihre nackte Haut. Taichi blickte auf sie hinunter. Ihre Worte taten ihm weh und erneut erinnerte es ihn daran, wie sehr er sie verletzt haben musste. Wie sehr sie es bereute, sich ihm gegenüber jemals geöffnet zu haben. „Du darfst deinen Vater nicht einzig und allein dafür verurteilen, was er falsch gemacht hat. Vielmehr sollte man sich fragen, warum Menschen solche Entscheidungen treffen. Warum bevorzugen es viele Menschen lieber eine Lüge zu leben, anstatt ehrlich zu sich selbst und allen anderen zu sein? Wahrscheinlich wird sich dein Vater niemals vollständig gefühlt haben. Immer auf der Suche nach etwas, das er niemals wieder finden könnte, weil er es längst hinter sich gelassen hatte. Er hatte sich damals dazu entschieden, für dich und deine Mutter Verantwortung zu übernehmen. Doch er konnte die Frau, die er über alles liebte einfach nicht vergessen.“ Mimi hielt für einen kurzen Moment inne und überlegte, ob ihr Freund von sich selbst oder tatsächlich ihrem Vater sprach. Ihre Augen suchten auf dem endlosen Ozean nach irgendwas das ihr Halt geben konnte, doch sie fanden nichts. „Aber was ist mit meiner Mutter? Wie kann ich mit einem anderen Menschen zusammen sein, ein Kind bekommen und diesen nicht lieben? Das ist einfach nur selbstsüchtig...“ ihre Stimme war voller Wut und Schmerz, denn auch Taichi hatte sich für eine andere Frau entschieden. Er wies Mimi ab und gestand Sora, dass sie mehr als nur eine Freundin für ihn sei. Mimi würde dieses Telefonat mit ihrer rothaarigen Freundin niemals vergessen, in dem sie ihr davon erzählt hatte. Plötzlich durchbrach seine rauchige Stimme die Stille zwischen den beiden und riss die junge Frau aus ihren schmerzlichen Erinnerungen. „Ich glaube es gibt verschiedene Formen von Liebe. Die Liebe, die man für sein Kind oder seine Geschwister empfindet ist tief, beschützend und unauslöschlich. Dann die Liebe, die man für einen Freund empfindet, diese ist aufrichtig und vertrauensvoll...“ Taichi musste seinen Satz unterbrechen und hart Schlucken. Wie sollte er ihr seine Gefühle offenbaren? Seine Finger zitterten und seine Knie wurden weich. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so verletzlich und schwach gefühlt wie jetzt. „....zuletzt die Liebe, die zwei Menschen durch ein unsichtbares Band immer während miteinander verbindet. Voller Sehnsucht, Zuneigung, Hingabe und Aufopferung für den anderen, ohne etwas im Gegenzug dafür zu verlangen. Egal wie weit die beiden voneinander entfernt sein werden, sie werden immer nach diesem Gefühl suchen. Sie werden immer nach diesem einen besonderen Menschen suchen. Doch sie werden ihn nicht finden, denn diesen einen besonderen Menschen gibt es nur einmal auf dieser Welt.“ Während er sprach, öffnete Mimi ihre Augen. Tränenschwer starrte sie auf ihre Füße und ihr schlagendes Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. Langsam erhob sie sich und spürte seine Nähe in ihrem Rücken. „Demnach glaube ich nicht, dass er deine Mutter nicht liebt. Es ist nur nicht die gleiche Form der Liebe, die er möglicherweise für eine andere, beziehungsweise für eine besondere Frau empfindet.“ Mit diesen Worten beendete Taichi seine Ansprache und beobachtete, wie sich Mimi langsam auf das Wasser zu bewegte. Der Regen hatte sein Shirt bereits durchtränkt und Taichi folgte seiner Freundin. „Was glaubst du, kann man dieses Band, welches zwei Menschen miteinander verbindet durchtrennen? Wie lange wird der eine den anderen lieben, wenn seine Liebe nicht erwidert wird?“ Als er ihre Worte vernahm, starrte er sie erschrocken an. Doch Mimi rührte sich keinen Millimeter. Sie stand still am Wasser und starrte mit leerem Blick in die Ferne. Taichi biss sie auf seine Unterlippe und ballte seine Hände zu Fäusten. Alles an ihm fing an zu beben und es schien, als würde man ihm den Boden unter den Füßen wegreißen. „Wie lange der eine den anderen lieben wird?“ fragte er leise nach und fixierte mit seinen dunkelbraunen Augen ihre seitliche Gesichtskontur. „Er wird so lange bei ihr sein, wie die Gezeiten das Meer bewegen. Er wird sie solange wollen, solange sie ihn auch will. Er wird sie solange in seinen Armen halten, bis sie sich vor nichts mehr fürchtet. Er wird sie lieben, solange die Sterne über ihnen leuchten und noch länger, wenn er es kann.“ Ihr ganzer Körper bebte, als sie seine Worte hörte. Längst hatte Mimi ihr Gesicht zur Seite gedreht und starrte ihn vollkommen gerührt an. Ihre Tränen brannten auf ihren eisig kalten Wangen und der Regen peitschte von hinten gegen ihren Rücken. Sein Gesicht wirkte völlig entspannt und Mimi meinte, ein Lächeln auf seinen Lippen zu sehen. Der standhafte Blick des jungen Mannes hielt ihre goldbraunen Augen gefangen und sanft legte er seine Hand auf ihre Wange. Seine warmen Finger fuhren über ihre Haut. Unter seinen Berührungen musste sie anfangen zu schluchzen und plötzlich schlang sie stürmisch ihre Arme um ihn. Sofort erwiderte Taichi ihre Umarmung und legte beide Hände fest in ihren Nacken. Er schmiegte seinen Kopf an ihre Schulter und musste sich zusammenreißen nicht ebenso anzufangen zu weinen. Sein Herz raste und kalter Schweiß rann über seinen Rücken. Ihre Finger vergruben sich im nassen Stoff seines Shirts und Mimi konnte seinen unbeschreiblich guten Duft wahrnehmen. Weinend schmiegte sie ihr Gesicht gegen seine Brust und ihr wurde mit einem Mal bewusst, dass er hier an ihrer Seite war und darum kämpfte zu ihr durchzudringen. Doch Mimi konnte ihre Maske auch jetzt einfach nicht abnehmen. Zu tief saßen ihre Verletzungen und es würde niemals gelingen einander aufrichtig zu sein, solange sie ihm nicht verzeihen könnte. Die junge Frau war nicht dumm. Sie hatte sein indirektes und sehr vorsichtiges Liebesgeständnis gerade sehr wohl verstanden. Es war das erste Mal, dass er sich ihr gegenüber derart offenbarte und ihr, wenn auch sehr versteckt, zu verstehen gab, wie viel sie ihm bedeutete. In ihm überschlugen sich die Emotionen. Taichi war bewusst, dass es jetzt die perfekte Gelegenheit wäre, alles offen zu legen und ihr aufrichtig seine Gefühle zu gestehen. Doch sein Körper fühlte sich so schwer an und kein Worte kam ihm über die Lippen. Er war ein erbärmlicher Feigling. Mit einem Mal löste sich Mimi von ihm und lächelte ihn zärtlich an. „Gibst du mir noch einen Moment?“ fragte sie leise und streichelte über seine Wange. Denn trotz seiner liebevollen Worte, herrschte in ihrem Inneren eine große Unruhe und sie benötigte Zeit für sich, um alles wieder zu sortieren. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sie plötzlich eine Schwester und ihr gesamtes Leben hatte sich verändert. Hinzu kam sein unerwartetes indirektes Geständnis. Betroffen sah er sie an und nickte stumm. Ein riesiger Kloß steckte in seinem Hals und Taichi ärgerte sich unsäglich über sich selbst. Wie konnte er nur damit anfangen und es nicht zu Ende bringen? Was würde sie jetzt von ihm denken? Sicherlich hatte sie es nicht einmal wahrgenommen, dass er von seinen eigenen Gefühlen ihr gegenüber gesprochen hatte. Er hatte sich vollkommen lächerlich gemacht und wollte dieser furchtbaren Schmach entfliehen. Ohne weiteres drehte er ihr den Rücken zu und lief zurück zum Haus. Seine Wut trieb ihn vollkommen blind in sein provisorisches Zimmer. Er wusste nicht, ob Kimiko noch im Wohnzimmer saß und ob Asuna bereits gegangen war. Alles was er wahrnahm war das dröhnende Geräusch des Regens. Vor Kälte zitternd zog er sich seine nassen Klamotten aus und versteckte sich unter seiner Bettdecke. Am liebsten hätte er angefangen zu heulen. Wie konnte er ihr, in dieser Situation, nur sowas sagen? Es war doch klar, dass sie im Moment mit völlig anderen Dingen beschäftigt war als seinen kindischen Gefühlen. Irgendwann muss er wohl eingeschlafen sein, denn als er das dumpfe Kratzen der Schiebetür vernahm, war es bereits dunkel draußen. Noch immer regnete es und der silberne Schein des Mondes, kämpfte sich ab und an zwischen den verhangenen Regenwolken hervor. Schlaftrunken gelang es ihm nicht, sich rechtzeitig umzudrehen. Leise Schritte kamen näher und er spürte, wie sich ein zierlicher Körper unter seine Bettdecke schmiegte. Eiskalte Füße schoben sich unter seine Beine und der junge Mann zuckte erschrocken zusammen. Seine Augenlider blinzelten ein paar Mal und sein müder Körper drehte sich schlussendlich um. Ihre leuchtenden Augen sahen direkt in seine. Umgehend wich er ihrem Blick aus und versuchte zwischen ihren beiden Körper eine gewisse Distanz zu schaffen. Doch Mimi ließ es nicht zu. Zärtlich legte sie ihre Hand auf seine Wange. In der Dunkelheit tasteten ihre Finger sein raues Gesicht ab. Zart fuhr sie über seine Lippen und schließlich küsste sie ihn. Als er ihren hingebungsvollen Kuss nicht erwiderte, löste sie sich von ihm. Traurig suchten ihre Augen nach seinen. Ihre Finger glitten auf seine nackte Brust und sie konnte deutlich seinen schnellen Herzschlag spüren. „Ich bin dir so dankbar dafür, dass du hier an meiner Seite bist. Ohne dich, wäre ich heute zerbrochen. Ich habe verstanden, dass ich meine Maske abnehmen muss und mich nicht länger hinter meiner hohen Mauer verstecken darf. Denn wenn ich dir nicht vergeben kann, wird diese Mauer zwischen uns noch viel höher und jede Mauer ist der Anfang von einem Gefängnis. Aber ich will nicht einsam sein. Ich will nicht ohne dich sein. Ich möchte, dass du bei mir bist. Ich möchte, dass du mich solange in deinen Armen hältst, bis ich mich vor nichts mehr fürchte und ich möchte, dass die Sterne für immer über uns leuchten.“ Beinahe flüsternd erreichten ihn diese zärtlichen Worte. Es war eine wunderschöne Antwort auf sein Geständnis von vorhin. Sofort schlang er seine Arme um sie und zog sie fest an sich heran. Überstürzt legte er seine zitternden Lippen auf ihre und küsste sie so heftig, dass sein Atem kurz aussetzte. Als würde ein tonnenschwerer Stein von ihrem Herzen fallen, fühlte es sich an, diese Worte ausgesprochen zu haben. Mimi konnte sich endlich absolut befreit diesem innigen Kuss hingeben und vergrub ihre Finger in seiner wilden Haarmähne. Trotz eindeutiger Versuche, wies er sie auch diese Nacht höflich zurück und lächelte sie an. Es fiel Taichi unbeschreiblich schwer ihrem sinnlichen Körper zu widerstehen. Doch er wollte, dass es mehr zwischen ihnen gab als diese leidenschaftliche sexuelle Anziehungskraft. „Du sagtest vorletzte Nacht, dass du mehr für mich sein möchtest als »das«. Was meinst du damit?“ fragte sie leise. Verwundert betrachtete er ihr Gesicht und fuhr mit seinen Fingerspitzen sanft über ihren Rücken. Ihre schimmernden Augen fesselten ihn jedes Mal aufs neue und noch immer schmeckte er ihre süßlichen Lippen auf seinen. „Ich möchte der sein, der alles von dir weiß, der dich hält, dich beschützt und dem du alles anvertraust. Ich möchte der sein, den du hinter deine Maske blicken lässt. Mimi, ich weiß ganz genau, dass ich dir unglaublich wehgetan habe...“ Sie legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen und schüttelte sanft ihren Kopf. Erneut küsste sie ihn und schmiegte sich an ihn. Denn unlängst war er genau all das für sie und sie hatte ihm verziehen. Denn an der Tür, mit der wir die Vergangenheit abschließen, steht nur ein Wort: Vergebung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)