Schicksalswege von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 1: Die Knaben --------------------- Es war töricht daran zu glauben, dass man die Natur überlisten könnte! Dass aus dem Mädchen, das wie ein Junge erzogen wurde, etwas anderes werden würde! Das konnte doch niemals gut enden! Ein Mädchen gehörte in ein Kleid und nicht in die Uniform! So klagte zumindest seine Großmutter immer, wenn sie zu Besuch kam. Auch heute beschwerte sie sich, als sie ihrer Tochter beim Zubereiten der Mittagssuppe half: Kartoffeln, ein paar Karotten und einige Gewürze - mehr nicht. Die ältere Frau hatte zwei Laibe Brot mitgebracht und das war leider auch schon alles. Weder ihre Tochter, noch ihr Schwiegersohn wollten Geld von ihr oder sonstige Mildtätigkeiten annehmen. Deshalb war sie erleichtert, dass sie wenigstens das Brot zum Essen beisteuern konnte. Sophie selbst arbeitete als Haushälterin in einem Adelshaus und kümmerte sich um das jüngste Kind der Familie de Jarjayes. Man könnte sagen, dass sich der General einen Scherz erlaubte, weil er seine jüngste Tochter wie einen Jungen erzog. Aber der General meinte es ernst, denn er brauchte unbedingt einen Erben für die Nachfolge der de Jarjayes. Und auch das Mädchen selbst, war mit zunehmenden Alter stolz darauf, wie ein Junge erzogen worden zu sein. „...aber irgendwann werde ich sie dazu bringen, ein Kleid anzuziehen!“, beendete die altkluge Frau überzeugt ihre Klagen und fuchtelte mit dem Messer in der Luft, mit dem sie gerade die Kartoffeln schälte. „Ha, ha, ha!“, erklang eine knabenhafte Stimme an der Ecke der Feuerstelle: „Das würde ich gerne sehen, wie Ihr das schaffen wollt, Großmutter! Immerhin werdet Ihr damit gegen die Anordnung des Generals verstoßen!“ „Das hat dich nicht zu interessieren, André!“ Die besagte Großmutter wirbelte verärgert herum, stampfte mit dem Fuß auf und funkelte ihren Enkel jähzornig an: „Mach lieber das Feuer an, sonst wird die Suppe nie fertig!“ „Das ist schon erledigt.“ André beendete noch die letzten Handgriffe und präsentierte dann sein Werk. „Ich werde dann mal gehen.“ „Nein, das wirst du nicht!“ Seine Großmutter bewegte sich schon auf ihn zu, um ihn aufzuhalten. André schlüpfte ihr gerade noch rechtzeitig unter den drohenden Fäusten hindurch und schon war er aus der Wohnung verschwunden. „Was soll nur aus diesem Kind werden?!“, schimpfte Sophie ihm kopfschüttelnd nach. „Ach lasst ihn doch, Mutter. Er ist noch ein Kind.“ Madame Grandier gab das geschnittene Gemüse in den Kessel und übergoss es mit Wasser. „Ein Junge von fünfzehn Jahren ist schon längst kein Kind mehr!“, berichtigte Sophie ihre Tochter, rückte die runde Brille auf ihrer Nase zurecht und kam wieder zum Tisch zurück, um das Brot in Scheiben zu schneiden. Madame Grandier hob den Kessel vom Tisch, brachte ihn zur Kochstelle und stellte ihn auf das Feuer. Sie seufzte. „Es mag sein, dass man mit fünfzehn kein Kind mehr ist. Aber André soll sein Spaß haben, solange es ihm noch vergönnt ist. Man weiß doch nie, was für Zeiten schon morgen auf uns zukommen können. Manche Kinder haben keine richtige Kindheit und müssen, wie ihre Eltern, hart arbeiten. Das will ich meinem Sohn ersparen. Und zudem hilft er mir genügend im Haushalt, während ich als Wäscherin tätig bin.“ „Du bist viel zu gütig zu ihm und lässt ihm alles durchgehen, meine Tochter. Etwas Strenge hat noch niemanden geschadet.“ „Wenn ich mich recht erinnere, wart Ihr nur selten streng zu mir gewesen, als ich ein Kind war.“ „Du bist ein Mädchen und das ist etwas anderes. Mit Jungen muss man härter umgehen, sonst verwahrlosen sie und es wird nichts Gescheites aus ihnen werden!“ Madame Grandier verkniff sich eine Bemerkung über den Schützling ihrer Mutter. Das Mädchen, das wie ein Junge erzogen wurde, war eine seltene Besonderheit. Aber ob das nun gut oder schlecht war, wusste Madame Grandier nicht zu sagen. Sie kam in ihren Gedanken wieder auf ihren Sohn zurück. „André ist ein guter Junge, Mutter. Vielleicht lassen mein Mann und ich ihm auch deshalb Einiges durchgehen. Aber ich denke, wir erziehen ihn richtig und gerecht. Wir lieben ihn und wollen nur das Beste für ihn. Macht Euch also darum bitte keine Sorgen.“ „Schon gut. Ich wollte nicht an deiner Erziehung zweifeln.“ Sophie beendete das Zuschneiden des Brotes und legte den Rest in den Korb zurück. „Ich möchte meinem Enkel nur eine Zukunft sichern und deshalb habe ich mir auch überlegt, bei meinem Herren für ihn anzufragen.“ „Was habt Ihr vor?!“ Madame Grandier drehte sich an der Kochstelle um und sah ihre Mutter mit erschrockenen Augen an. Diese richtete sich auf und erwiderte besserwisserisch den Blick ihrer Tochter: „Wie ich eben bereits sagte: Seine Zukunft sichern. Ich erwäge meine Herrschaften zu fragen, ob sie ihm auf dem Anwesen eine Anstellung geben können. Vielleicht als Stallbursche...“ „Nein, Mutter!“, protestierte Madame Grandier nun etwas energischer: „Ihr wisst genau, wie mein Mann zu Adligen steht und auch ich will André nicht jetzt schon aus dem Elternhaus gehen lassen!“ „Beruhige dich doch! Es war nur ein Vorschlag und das heißt nicht, dass ich es sofort in die Tat umsetzen werde.“ Die ältere Frau gab ihr zu liebe nach und widmete sich wieder dem Zugeschnittenen Brot auf dem Tisch. Ihre Tochter war einfach zu weichherzig und empfindlich - besonders was André betraf und das würde sich wahrscheinlich auch nie ändern. Vielleicht beließ sie es deshalb dabei, um ihre Tochter nicht noch mehr zu verschrecken. - - - André wuchs bei seinen Eltern in Paris auf und hörte ständig die gleiche Geschichte von seiner Großmutter über ihren Schützling Namens Oscar. Das amüsierte ihn und er erntete dafür jedes Mal ein verärgertes Schimpfen von der alten Frau. André rannte aus der Wohnung hinaus, den Gang entlang und dann die Treppe herunter. Mitten auf dem Weg begegnete er dem Nachbarsjungen, der etwa genauso alt war wie er. „Alain!“, rief ihm André zu und holte ihn schnell ein. Der Angesprochene blieb stehen und drehte sich um. „André! Ist deine Großmutter etwa schon wieder zu Besuch?! Oder warum rennst du so, als wärst du auf der Flucht?!“ „Das erkläre ich dir draußen!“ André schnappte Alain am Ärmel und zerrte ihn mit sich. Alain grinste breit. Also hatte er ins Schwarze getroffen! André flüchtete meistens so überstürzt nach draußen, um seiner Großmutter zu entkommen. Nicht, dass André feige wäre, das gewiss nicht! Aber bei so einem Feuerdrachen von Großmutter würde auch er, Alain, davon laufen. Draußen herrschte sonniges Frühlingswetter - ganz passend, um mit guter Laune Schabernack mit Freunden zu treiben. Und zwei von ihnen waren bereits da: Die beiden Brüder waren ein und drei Jahre älter als er und André, mit dem er gerade das Haus verließ. Und diesmal warteten sie nicht wie gewöhnlich an der Haustür, sondern bedrängten drei kleine Mädchen zwischen fünf und sieben Jahren. Sie wollten etwas zurück haben, aber die Mädchen gaben es nicht her. „Du bist doch ein liebes Kind, gib es zurück!“, verlangte der Ältere der beiden Knaben und näherte sich bedrohlich den Mädchen. „Nein!“ Die Angesprochene drückte etwas an ihre Brust, wobei sich ihre kleine Hand zu einer Faust zusammendrückte und wich mit ihren Freundinnen ein Stückchen zurück. „Hey, Jérôme, Léon!“ Alain war schon bei ihnen und baute sich turmhoch vor seinen Freunden auf. Schützend verdeckte er die drei Mädchen und nagelte die beiden Brüder mit seinem durchbohrenden Blick fest. „Was soll das werden?!“ „Alain!“ Eines der Mädchen erstrahlte hinter dessen breiten Rücken. Jérôme verschränkte seine Arme vor der Brust und grinste listig. „Es ist nichts, Alain. Deine kleine Schwester hat etwas gefunden, was uns gehört und ich möchte es zurück haben. Aber sie gibt es nicht her! Vielleicht probierst du es mal? Auf dich hört sie ja mehr...“ „Das ist nicht wahr! Du lügst!“, protestierte ein anderes Mädchen: „Diane hat es gefunden als ihr noch nicht da wart! Deswegen kann es nicht deines sein!“ „Pah!“, machte Léon: „Als wir es verloren haben, wart ihr drei naseweisen Mädchen noch nicht da!“ „Um was geht es eigentlich?“ André gesellte sich unverfroren zu Alain, aber seine Frage richtete er mehr zu dessen Schwester. Diane beäugte ihn unschlüssig, aber dann entfernte sie ihre Fäuste von der Brust und öffnete sie. Sie vertraute ihm - so wie ihrem großen Bruder. Auf ihrer Handfläche glänzte eine Münze. „Ich habe das gefunden. Ehrlich, André!“ „Ein Livre?“ André sah von Diane auf die zwei Brüder und hätte beinahe losgelacht. „Ihr drangsaliert die Mädchen wegen einem Livre? Wie lächerlich seid ihr denn?!“ „Und wer es findet, darf es behalten!“, fügte auch Alain hinzu und bleckte frech mit seinen Zähnen. „Niemand drangsaliert sie!“, empörte sich Léon erbost zu André. „Und wetten, dass du unrecht hast?“, schob sich Jérôme gegen Alain. In seinen Augen glomm ein kämpferischer Funke auf. „Die Wette gilt!“ Alain verstand den verborgenen Hintergrund und auch in ihm keimte Kampfgeist auf. Er ging breitbeinig etwas auf Entfernung und drehte sich um. „Was ist? Habt ihr es euch anders überlegt?“, verlautete er provokativ, spuckte sich in die Handfläche und rieb sich angriffslustig die Hände. Jérôme und Léon tauschten kurze Blicke aus und stürzten sich dann in Windseile gemeinsam auf Alain. Dieser erwartete sie schon mit großem Elan und parierte wacker deren Angriff. Eine kleine Rangelei unter Freunden, die an sich nichts Neues und Ernstes war, aber durchaus die Knochen belebte. „Alain! Alain! Du schaffst es! Richtig so!“ Diane hüpfte beinahe vor Begeisterung, als ihr großer Bruder einen Kumpanen zu Boden schlug und den anderen mühelos von sich abwehrte. „Aber Diane!“ André sah von dem Kampf auf das kleine Mädchen. „Solche Aussagen sind gar nicht damenhaft!“ Unwillkürlich musste André dabei an einen anderen Jungen denken, der eigentlich ein Mädchen war: Oscar. Sie wurde im Fechten unterrichtet und hatte das Reiten gelernt. „Ich bin aber eine Dame!“ Diane streckte ihm die Zunge entgegen und feuerte ihren Bruder weiter an: „Gut so, Alain! Zeig es ihnen!“ „Nun, wer Alain zum Bruder hat, braucht sich eigentlich über das Benehmen seiner Schwester nicht wundern.“ Ein weiterer Knabe in Andrés Alter tauchte bei ihnen auf und grinste breit. „Jean!“, grüßte ihn André und musste auch grinsen. „Da könntest du recht haben...“ „Wollen wir Alain nicht zu Hilfe eilen?“, fragte Jean und gab sich gleich selber die Antwort. „Wobei... Wie ich sehe, wird er auch alleine mit den beiden zurechtkommen.“ Er überlegte etwas. Hier tatenlos als Zuschauer zu stehen, behagte ihm nicht. Innerlich spannten sich seine Muskeln an und seine Hände begannen zu kribbeln. Und sogleich kam ihm ein glänzender Einfall: „Mal sehen, ob unser Freund es auch mit Dreien aufnehmen kann...“ Alain stieß Léon gerade von sich, stellte Jérôme ein Bein und während dieser hinfiel, warf sich Jean auf ihn. André konnte das nicht länger mehr mit ansehen. „Alain, ich komme zu dir!“, rief er und warf sich in das Gerangel. „Alain! André! Wir sind auf eure Seite!“ Die drei Mädchen schrien fast im Chor und klatschten in die Hände, als einer der drei Gegner von André und Alain zu Boden ging. Sie verstummten abrupt als eine adlige Kutsche vor dem Haus anhielt. Niemand stieg aus, aber sie meinten trotzdem, jemanden darin gesehen zu haben. Jemanden mit blondem Haar, dessen restliche Gestalt durch die Vorhänge und das spärliche Licht der Kutsche tief verborgen blieb. Aus einem der oberen Fenster des Hauses lugte eine Frau hinaus und zog ihren Kopf dann wieder hinein. „Mutter, Euer Schützling scheint Euch wieder abholen zu wollen.“ Sie vermied es, das kleine Gefecht nicht weit von der Kutsche zu erwähnen. Ihre Mutter würde sich nur unnötig aufregen. Aber Knaben in diesem Alter waren nun mal so und maßen auf diese Art ihre Kräfte. Das war nichts Ungewöhnliches, völlig normal und sie sollten sich daher ruhig austoben. Sophie band schon ihre Schürze ab, legte sie gefaltet über einen Stuhl und verabschiedete sich von ihrer Tochter. „Das ist sehr gütig von ihr. Ich sollte Lady Oscar nicht länger warten lassen. Wenn was ist, dann lass es mich wissen. Ansonsten komme ich in ein paar Wochen wieder vorbei“, trug sie ihr noch auf, nahm ihren Korb und verließ die Wohnung ihrer Tochter. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Schützling sie abholte. Lady Oscar war im Grunde ein höfliches und anständiges Mädchen. Wie schade, dass sie wie ein Junge erzogen wurde.... Draußen fiel der alten Dame sofort die Rangelei auf. Normalerweise hätte sie dem keine Bedeutung beigemessen und wäre weiter gegangen. Aber nicht, wenn ihr Enkel mittendrin war und dabei auch noch Spaß zu haben schien! „André!“, geiferte sie verärgert und schrill. Sie bewegte ihre Füße in Richtung der kämpfenden Burschen und hob eine Faust in die Luft, als wolle sie damit allen eine Lektion erteilen. André, Alain und ihre Freunde hörten ihre drollige Stimme und beendeten sogleich den Kampf. „Madame Feuerdrache ist da!“, warnte Jean und spornte seine Freunde gleich mit einem Fluchtversuch an: „Nichts wie weg hier!“ Er rannte los und seine Freunde taten es ihm gleich. Nicht, dass sie vor Andrés Großmutter Angst hätten. Sie wollten sich nur nicht durch ihren Tadel und das Geschimpfe die gute Laune verderben lassen. Andrés Großmutter blieb nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben und den Flüchtlingen mit ihrer geballten Faust drohend nachrufen: „Ich kriege euch noch, ihr Nichtsnutze! Ihr seid eine schlechte Gesellschaft für meinen Enkel! André, komm sofort zurück!“ Es war eine vergebliche Mühe. André und seine Freunde waren schon weit weg und flüchteten bereits um die Ecke eines Hauses. Die alte Frau brummte verärgert unter ihrer Nase und begab sich unverrichteter Dinge zu der Kutsche zurück. Sie stieg ein und fuhr mit ihrem Schützling zum Anwesen. Sie versuchte ihren Ärger zu dämpfen, aber das gelang ihr nicht. „Diese Raufbolde...“ „In der Tat, Sophie...“, sagte ihr Schützling und versuchte so ernst wie möglich auszusehen. „Madame Feuerdrache - wie unverschämt... Das schreit nach einer Herausforderung...“ „Aber Lady Oscar!“ Sophie zog erschrocken die Luft ein. „Ihr wollt Euch doch nicht mit ihnen schlagen?!“ „Nein, Sophie. Ich werde deinen Enkel und seine Freunde schon nicht zur Rechenschaft ziehen...“ Oscar zeigte so etwas wie ein Schmunzeln, aber blieb dennoch undurchschaubar und kühl. Sophie atmete auf und Oscar sagte dann nichts mehr. Auf dem ganzen Heimweg blieb sie stumm und verlor kein Wort. Das war üblich bei ihr. Sie verschwieg ihrem Kindermädchen, dass sie die Rangelei zwischen den fünf Knaben sehr wohl reizvoll fand und am liebsten mitgemacht hätte. Aber ihre Erziehung und der Anstand verbaten es. Sie hatte daher nur den Vorhang etwas zur Seite geschoben und verstohlen den Kampf beobachtet, bis Sophie aus dem Haus kam und die Burschen verjagte, mitsamt ihrem Enkel. Dass er André hieß, hatte Oscar von Sophie erfahren. Aber sie hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen. Ihr Kindermädchen erzählte nie etwas über ihn, außer dass ihr Enkel André ein Lausebengel und Nichtsnutz war. Als Oscar den Wegrennenden aus der Kutsche nachgesehen hatte, konnte sie ihn auch nicht richtig ausmachen. Auf jeden Fall war er einer dieser fünf, die sie nur verstohlen beobachten und insgeheim beneiden konnte: Dafür, dass sie tun und lassen konnten, was sie wollten. Im Gegensatz zu ihr, die stets machen sollte, was der Vater ihr sagte und für sie bestimmt hatte... André dachte nicht mehr an die sorgenvollen Tiraden und Klagen seiner Großmutter über die ungerechte Erziehung ihres Schützlings, als er mit seinen Freunden von ihr wegrannte. In einer schmalen Gasse blieben sie allesamt stehen und atmeten tief durch. „Puh...“, schnaufte Jean und klopfte André halbherzig auf den Rücken. „Du tust mir leid, bei so einer Großmutter...“ „Ach, was!“ André winkte schmunzelnd ab: „Sie kommt doch nur ein, zwei Mal im Monat zu Besuch.“ „Das ist gut...“, meinte Léon in einer Verschnaufpause. „Wie dem auch sei“, mischte sich Alain, noch immer außer Puste, ein und grinste über beide Ohren. „Wegen ihr lassen wir uns doch nicht den Tag verderben, oder Jungs?“ „Ganz genau!“, stimmte ihm Jérôme zu und machte ihn neckend gleich auf etwas anderes aufmerksam. „Im Übrigen hast du ein hübsches Veilchen, Alain.“ Alain sah ihn belustigt an. „Denkst du, du siehst besser aus? Ich habe dir sogar zwei davon verpasst!“ Er lachte und steckte die anderen damit an. So war es normal zwischen ihnen. Eine kleine Schlägerei gehörte manchmal mit dazu. Das hieß aber nicht, dass sie deswegen Feinde wurden. Es schien ihre Freundschaft sogar noch zu bekräftigen. Die gefundene Münze, die Jérôme der kleinen Diane zuvor abnehmen wollte, hatten sie schon alle längst vergessen und heckten stattdessen den nächsten Schabernack zusammen aus. André traf sich gerne mit seinen Freunden, besonders mit Alain. Alain war ein Bürgerlicher wie er und die zwei unternahmen kaum etwas getrennt. André übte mit ihm immer wieder das Fechten und Rangeln. Als Waffen dienten ihnen eigenhändig angefertigte Holzstöcke. Oder sie trieben irgendeinen Schabernack in der Stadt oder außerhalb auf den Feldern. Das Leben schien für sie sorglos und unbeschwert - so, wie der gerade aufblühende Frühling. Sie lebten in den Tag hinein und machten sich keine Gedanken, was schon morgen passieren könnte. Kapitel 2: Kapitän der königlichen Garde ---------------------------------------- Langsam rollte die Kutsche auf das Anwesen der de Jarjayes zu. Kaum dass sie angehalten hatte, kamen auch schon ein paar Lakaien angerannt und öffneten die Tür. „Lady Oscar, willkommen zuhause“, sagte einer von ihnen und senkte standesgemäß sein Haupt, als die junge Dame in Knabenkleidern aus der Kutsche stieg. „Ihr werdet bereits erwartet.“ Oscar erwiderte nichts und zog ihre schmalen Lippen zu einem Strich zusammen. Sie wusste genau, von wem sie erwartet wurde. Hinter ihr stieg ihr einstiges Kindermädchen aus der Kutsche und ließ gleich eine Bemerkung fallen, als sie sah, wie ihr Schützling zu zögern schien. „Lady Oscar, Ihr wollt den jungen Grafen doch nicht schon wieder warten lassen? Ihr hättet mich nicht abholen brauchen.“ Obwohl sich Sophie wünschte, dass sich Oscar ihrem Geschlecht entsprechend benahm, war sie ständig in Sorge um sie und wollte nicht, dass sie Ärger von ihrem sittenstrengen Vater, dem General, bekam. Oscar ließ sie ohne Antwort stehen und ging geradewegs auf ihr Zimmer, um ihren Degen zu holen. Denn heute stand der letzte Tag ihrer Fechtübung bevor. Sophie hatte keine Ahnung, warum ihr Schützling sie ständig abholte. Einerseits war sie froh darüber, aber andererseits verstand sie das nicht. Nur Oscar selbst wusste warum und ließ keinen Menschen an ihren Gedanken teilhaben. In Wahrheit wollte sie nur ihrem Alltag entfliehen, selbst wenn es nur darum ging, Sophie in Paris abzuholen. Auf Beschluss des Königs wurde ihr vor ein paar Jahren ein Kampfgefährte zugeteilt, der ihrem Rang entsprach: der knapp vier Jahre ältere Graf Victor de Girodel. Er kam einmal im Monat für eine Woche zu ihr auf das Anwesen und übte sich mit ihr im Fechten und Schießen. Den Zweck der Sache wusste niemand. Vielleicht dachte sich General de Jarjayes, falls die Erziehung seiner Tochter als Soldat schief laufen sollte, dann könnte er sie dem Grafen zur Not als Braut geben. Aber Oscar war zum Glück der geborene Soldat. Sie passte perfekt in die Rolle eines Jungen und würde genauso gut in naher Zukunft einen stolzen Offizier abgeben. Das erleichterte den General und er verwarf guten Gewissens den Gedanken, sie jemals mit einem Mann vermählen zu müssen. Und dann ergab sich die beste Gelegenheit, Oscar am Hofe vorzustellen und ihr Können als Offizier zu beweisen. Der König hatte den Posten als Kapitän der königlichen Garde zu vergeben: Zum Schutz der österreichischen Prinzessin Marie Antoinette, die als Braut des französischen Thronfolgers Prinz Louis vorgesehen war. „Heute ist unsere letzte Übung, Lady Oscar. Und morgen wird sich entscheiden, wer von uns den Posten als Kapitän bekommt!“, frohlockte Victor de Girodel selbstgefällig und positionierte sich zum Angriff. Es war ein sonniger Nachmittag und er befand sich mit Oscar im Hinterhof des Anwesens. Gekonnt parierte sie seine Hiebe und gab ihm keine Möglichkeit zu gewinnen. Ihre Wendigkeit war ihr dabei immer von Vorteil. Sie gab ihm keine Antwort und konzentrierte sich stattdessen auf den Kampf. Das war nichts Ungewöhnliches bei ihr. Oscar war für ihre eisige Schweigsamkeit und eiserne Disziplin bekannt - Victor kannte sie nicht anders. Wenn Oscar jemals redete, dann meistens direkt und knapp. Für Jedermann war sie ein Buch mit sieben Siegeln. Dennoch imponierte sie ihm und er fand sie wunderschön. Sie beendeten die Kampfübung und Oscar verabschiedete sich von dem jungen Mann für heute. Sie ging auf ihr Zimmer und spielte Klavier. Eine fast tägliche Prozedur, die ihr beim Nachdenken half. Sie hatte keine Lust, auf eine Prinzessin aufpassen zu müssen. Aber was sollte sie denn tun, um ihren Vater nicht zu enttäuschen?! Er hatte ihr gestern sogar schon die Uniform mitgebracht! Oscar donnerte wuchtig auf die Klaviertasten und brach damit ihr Musikstück ab. Ihr Vater wollte, dass sie morgen das Duell mit Girodel gewinnen würde - aber weder er, noch sonst jemand fragte, was sie wollte! Oscar stand aufgebracht auf und ging ans Fenster. Der Tag neigte sich dem Abend zu und in der Ferne versammelten sich am Himmel einige Gewitterwolken. Wenn noch vor einer halben Stunde der Himmel sein typisches Blau ausgestrahlt hatte, dann verwandelte er sich zunehmend in ein tiefes Grau. Oscar öffnete das Fenster und sofort wehte ihr eine heftige Windböe ins Gesicht. Warum durfte sie nicht ihre eigene Entscheidung treffen?! Sie hörte schon das Donnergrollen in der Ferne und der erste Blitz zuckte grell durch die nun beinahe schwarzen Wolken. Sie liebte Frühlingsgewitter und beneidete die Natur, die weitaus mehr Freiheiten besaß als sie. Der Wind streifte heftig durch die Baumwipfel und ließ sie wie gefährliche Kreaturen wirken. Scharf ergoss sich der Regen auf den trockenen Boden und ließ in Windeseile riesige Pfützen entstehen. Das Wetter hatte sich innerhalb weniger Minuten von einem lauen Lüftchen zu einem rasanten Sturm entwickelt. Gebannt starrte Oscar nach draußen und ließ ihre Gedanken noch einmal Revue passieren. Sie hatte keine andere Wahl – sie musste sich den Anordnungen ihres Vaters und denen des Königs beugen. Sie wünschte sich plötzlich, dass es jemanden an ihrer Seite gäbe, dem sie vertrauen und auf den sie sich verlassen könnte. Ein Mensch, der niemals ihre Entscheidungen in Frage stellen würde, sondern sie so nahm wie sie war. Aber so jemanden gab es nicht. Girodel war zwar ein guter Fechtpartner, aber mehr auch nicht. Oscar stand mit ihrer Ansicht alleine da. Doch sie würde niemals aufgeben, es würde sich schon eine Lösung finden. Man hatte sie doch nicht umsonst wie einen Mann erzogen, ihr das Kämpfen beigebracht und sie in das Leben eingeführt, das einer Frau sonst unzugänglich war! Am nächsten Tag war es soweit und Oscar sollte das Duell mit dem Grafen de Girodel in Versailles austragen. Der König höchstpersönlich und der ganze Hofstaat würden dabei anwesend sein. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie auf dieses Duell am Hofe gerne verzichtet. Aber was für eine Wahl hatte sie denn letztendlich?! Girodel hatte schon heute früh zur Abfahrt bereit gestanden und auf sie gewartet, kaum dass sie mit dem Frühstück fertig gewesen war. Oscar blendete alles um sich herum aus, ignorierte den ganzen Hofstaat und konzentrierte sich auf den Kampf mit Girodel. Solange sie zurück denken konnte, hatte sie immer versucht, die Bessere zu sein und ihn niemals gewinnen zu lassen. Aber jetzt erwachte plötzlich in ihr der Wunsch, zu verlieren. Sie spürte die erwartungsvollen Blicke ihres Vaters auf sich, der zusammen mit den ganzen Höflingen um den König versammelt war. Und vielleicht war es eben diese Erwartung ihres Vaters, die sie dennoch antrieb und sie nicht klein beigeben ließ. Doch auch Girodel gab nicht nach und verdrängte, während des Kampfes, dass Oscar eigentlich eine Frau war. Er hatte bei all ihren Fechtübungen auf dem Anwesen stets etwas Rücksicht auf sie genommen, aber das hier war etwas anderes. Es war keine Übung mehr, sondern eine ernste Angelegenheit und er wollte unbedingt den Posten als Kapitän. Er schlug mit seinem Schwert hart zu, versuchte Oscar auszumanövrieren und sie zu besiegen. Oscar wehrte seine Hiebe gekonnt ab. Sie ließ sich von seiner Härte nicht beirren und wich ihm flink aus, als er versuchte, sie in die Enge zu treiben. Aber dann geschah etwas, was Oscar von Girodel nie erwartet hätte: Er gab aus unerklärlichen Gründen nach, führte seine Hiebe plötzlich halbherziger aus und tat so, als würde er von ihren Hieben nur in Deckung gehen. „Was soll das?!“, murrte Oscar und verzog missfällig ihr Gesicht: „Ihr sollt richtig kämpfen!“ „Das tue ich für Euch“, sagte Girodel im Vertraulichen und kreuzte das letzte Mal mit ihr die Klinge. „Mir ist gerade klar geworden, dass wir uns nach dem Duell nie mehr sehen werden, wenn ich gewinne. Daher ist niemand als Kapitän in der königlichen Garde besser geeignet, als Ihr! Und ich werde somit als Euer Untergebener immer in Eurer Nähe sein können!“ Oscar schoss das Blut heiß durch die Adern. Sie hasste einen unfairen Kampf! Am liebsten hätte sie ihn sich gleich vorgeknöpft und ihm ihre Meinung darüber direkt ins Gesicht geschleudert. Doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit, denn Girodel stieß sie in diesem Augenblick mit dem freien Arm von sich und holte zu einem weiteren Angriff aus. Gekonnt parierte Oscar seinen schwungvollen Hieb, woraufhin Girodel´s Schwert zu Boden fiel. Aus der Entfernung sah es so aus, als hätte Oscar ihm die Klinge aus der Hand geschlagen, doch dem war nicht so. Der Verlust der Waffe bedeutete auch das Ende des Kampfes. Oscar hatte ungewollt gewonnen und ebenso unverdient bekam sie den Posten als Kapitän. Insgeheim schwor sie sich, Girodel dafür zur Rechenschaft ziehen – irgendwann, wenn alles hier vorbei sein und sie die Zeit dafür finden würde... Ihr Vater, der General de Jarjayes, war auf seine Tochter stolzer denn je. Oscar ließ all die Glückwünsche und Lobpreisungen stoisch über sich ergehen. Seine Majestät hatte sogar zur Ehrung des Sieges ein Fest angeordnet. Die Feier selbst war Oscar zuwider. Sie mochte keine lauten Gesellschaften und vor allem die Schmeicheleien der zwiespältigen Höflinge, die sie als Freundin gewinnen wollten, widerten sie an. Zum ersten Mal hatte sie die Falschheit und den Machthunger in den Menschen gesehen. Sie hatte die Habgier und den Neid in deren Blicken erkannt, egal wie schön und nett sie ihr alle zulächelten oder zusprachen. Hier würde sie ständig auf der Hut sein müssen, um nicht irgendwann ein Messer in den Rücken zu bekommen! Ihr drehte es den Magen um. Wo hatte man sie da hineingezogen?! Wenn man solche verschlagenen und selbstsüchtigen Menschen als Freunde hatte, dann bräuchte man keine Feinde mehr! Sogar Girodel hatte das durchschaut und meinte ganz diskret zu ihr, sie solle aufpassen, mit wem sie hier Freundschaft schloss. Oscar nickte ihm daraufhin einvernehmlich und kühl zu. Sie hatte seinen Ratschlag nicht nötig und obwohl sie ihm den unfairen Kampf übel nahm, beruhigte sie es trotzdem ein wenig, dass er dergleichen Meinung war wie sie. Ab diesem Tag hüllte sie sich noch mehr in ihre eisige Schweigsamkeit und eiserne Disziplin ein. Sie mied die Unterhaltungen mit den Höflingen und wenn man sie etwas fragte, dann speiste sie sie immer mit dem gleichen Satz ab: „Entschuldigt, ich habe zu tun.“ Hinterher nannte man sie dann mit Achtung und Bewunderung zugleich: „Eine schöne und stolze Lady.“ Eigentlich waren ihre Ausreden nicht einmal gelogen: Als Kapitän der königlichen Garde nahm Oscar ihre Pflicht sehr ernst und es gab viele Vorbereitungen für die Ankunft der österreichischen Kronprinzessin zu treffen. Es musste alles perfekt bedacht und organisiert sein. Die Prozession sollte ohne Zwischenfälle ablaufen und nicht fehlschlagen. So verging wenigstens ein ganzes Jahr schnell und ohne Vorkommnisse zu ihren Gunsten ab. Im nächsten Jahr kam wie erwartet die Kronprinzessin Marie Antoinette nach Frankreich. Oscar begleitete selbstverständlich den Zug. Viele Menschen hatten sich unterwegs versammelt, um die schöne Kronprinzessin zu empfangen und zu sehen. So auch nahe Paris, als sie den Weg nach Versailles einschlugen. Was Oscar nicht ahnte und was auch eigentlich nicht von Belang war, dass unter den Versammelten auch André und sein Freund Alain standen. Dessen Blick war aber nicht auf die Kutsche mit Marie Antoinette gerichtet, sondern auf den Kapitän der königlichen Garde: Stolz und anmutig auf dem Pferd, in weißer Paradeuniform und mit kühlem Gesichtsausdruck. Das Haar so blond, wie die hellgelbe Sonne und die Augen so azurblau wie der Himmel. Genauso wie seine Großmutter ihren Schützling stets beschrieben hatte. André sah sie zum ersten Mal, aber er erkannte sie ohne jeglichen Zweifel und nur ein Wort lag auf seinen Lippen: „Oscar...“ „Hä? Hast du etwas gesagt?“, fragte sein Freund neben ihm. Oscar erlaubte sich einen flüchtigen Blick in ihre Richtung, als hätte sie die beiden gehört - aber sah niemanden, außer die vor Begeisterung johlende Volksmenge. Lächerlich! Wer könnte sie hier mitten in Paris schon kennen?! Das war unmöglich! Also sah sie wieder nach vorn und beobachtete aufmerksam den Verlauf der Prozession. Die Kutsche mit Marie Antoinette und dem ganzen Tross zog weiter. André sah noch einmal dem Kapitän hinterher und dann bewegte er seine Füße heimwärts. Sein Freund holte ihn schnell ein. „Du hast mir immer noch nicht die Frage beantwortet!“ „Hast du sie auch gesehen, Alain?“, stellte ihm André die Gegenfrage, anstatt die seine zu beantworten. „Wie sollte ich sie gesehen haben, wenn sie sich in ihrer Kutsche nach innen verkrochen hatte?! Und dann noch dieser Grünschnabel auf dem Pferd, der das Fenster völlig verdeckte!“ „Was meinst du denn jetzt damit?!“ André warf ihm einen irritierten Blick von der Seite zu. „Du redest doch von der Prinzessin oder etwa nicht?!“ Da dämmerte es André, was Alain gemeint hatte und er lachte. „Nein, sie meine ich nicht!“, erklärte er ihm, als er sich etwas gefangen hatte: „Ich rede von dem Kapitän, den du als Grünschnabel bezeichnet hast! Und dieser ist eine Frau!“ „Willst du mich jetzt veräppeln?!“ Alain dachte schon, sein Freund ist nicht bei Sinnen: „Der Grünschnabel soll eine Frau sein?!“ „Das war Oscar.“ André amüsierte sich über den verdutzten Gesichtsausdruck von Alain und klärte ihn dann doch noch auf: „Du weißt doch, dass der Schützling meiner Großmutter wie ein Mann erzogen wurde! Und dass sie seit einem Jahr als Kapitän in der königlichen Garde dient! Meine Großmutter hat sie immer ausführlich beschrieben und ich habe sie eben erkannt!“ Alain blinzelte und schüttelte seinen rabenschwarzen Schopf. Im Grunde wusste er eigentlich über alles Bescheid, was ihm sein Freund mitteilen wollte. Er hatte nur diesen blondgelockten Jüngling auf dem Pferd nicht sonderlich beachtet. Jetzt spürte er den Drang, noch einmal genauer nachzusehen. Aber als er über seine Schulter hinweg zurückschaute, war der ganze Zug mit der Kronprinzessin bereits fort, und erst recht der Kapitän, der eigentlich eine junge Frau war. Was für eine verrückte Welt! Diese Adligen schienen nichts Besseres zu tun zu haben, als ihre Töchter zu Soldaten zu erziehen! Sie sollten sich lieber um das einfache Volk kümmern und sich nicht ständig irgendwelche Absurditäten ausdenken! Alain hatte selbst eine kleine Schwester und er wusste mit Sicherheit, dass er niemals auf die Idee kommen würde, sie in Knabenkleider zu stecken! Er würde sie selbst vor jeglicher Gefahr beschützen und ihr niemals etwas aufzwingen, was sie nicht wollte und was nicht der weltlichen Ordnung entsprach! Besonders jetzt, wo er als einziger Mann im Haus übrig geblieben war... Sein Vater war vor zwei Monaten tödlich verunglückt – bei einer Schlägerei in einer billigen Spelunke in Paris. Es gab keine Schuldigen, außer vielleicht ihn selbst. Und wie es dazu genau kommen konnte, wusste keiner seiner Kumpanen zu erzählen. Das Einzige, was Alain von seinem Vater als Erinnerung geblieben war, war das rote Halstuch, das er von ihm schon als Kind geschenkt bekommen hatte und seitdem ständig trug. Alain richtete den Knoten des Halstuches etwas lockerer und kam auf das eigentliche Thema zurück: „Ich muss schon sagen, dass sie als Frau eine stattliche Erscheinung als Kapitän abgab, obwohl ich sie gar nicht richtig beachtet habe.“ „Ich schon.“ Besser gesagt, er hatte nur sie die ganze Zeit angesehen. André schlenderte mit Alain durch die Straßen der großen Stadt und rief sich Oscar immer wieder in Erinnerung. „Sie hat in unsere Richtung gesehen, aber ich glaube nicht, dass ihr Blick uns galt.“ „Ganz sicher nicht. Als Kapitän muss sie bestimmt zur Sicherheit der Prinzessin alles im Überblick haben und da werden wir zwei ganz sicherlich nicht auffallen“, ergänzte Alain und stupste seinen Freund mit dem Ellbogen in die Seite. „Was meinst du, ob so eine wie sie überhaupt jemals einen Mann abbekommen wird?“ „Keine Ahnung.“ André verschränkte seine Arme hinter dem Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch sein kurzes, dunkelbraunes Haar. „Ich denke, da sie wie ein Mann erzogen wurde, wird sie eh keinen anderen Mann haben wollen.“ „Das könnte hinhauen. Wer will schon ein Mannsweib zur Frau? An ihr würden sich bestimmt viele gestandene Männer die Zähne ausbeißen! Wenn sie überhaupt als Frau angesehen wird!“ Alain grinste amüsiert und steckte André mit an. Sie machten noch einige Späße auf Kosten von Oscar und verabschiedeten sich dann, als sie ihr Zuhause erreichten. Kapitel 3: Schicksalsschlag --------------------------- Der Abend brach an und die Sonne begann sich am Horizont vom Tag zu verabschieden. Sie hinterließ ein rötliches Farbenspiel am Himmelsgrund, bis es schließlich in ein tiefes Violett überging und dann immer dunkler wurde. Die Nacht würde bald Einzug halten und um diese Zeit kam Andrés Vater meistens heim. Madame Grandier hatte schon das Abendbrot gemacht und zu dritt saßen sie dann am Tisch beisammen, wie jeden Abend. „Wie war dein Arbeitstag?“, fragte Madame Grandier ihren Mann, wie immer, nachdem sie mit dem Essen begonnen hatten. Monsieur Grandier verzog abfällig sein Gesicht, als hätte er gerade in seiner Fischsuppe auf ein Sauerampfer gebissen. „Der Arbeitstag wäre erträglicher, wenn nicht alle über diese österreichische Prinzessin reden würden!“ Madame Grandier machte sich nichts aus seinem Missmut über die Adligen. Seit sie denken konnte, war er schon immer so. Die Welt der Adligen war für ihn ungerechte, da diese keine Steuern zahlen und die einfachen Menschen dafür umso härter arbeiten mussten, sodass die Aristokraten auf dessen Kosten ein schönes Leben genießen konnten. Madame Grandier schob diesen Gedanken beiseite. Ihr Mann hatte im Grunde recht, aber es änderte nichts an der Tatsache. „Heute war die Prozession der Prinzessin an Paris vorbeigezogen, denn sie fuhr zum ersten Mal nach Versailles. Viele haben sich den Zug angeschaut und reden nur noch darüber.“ „Ich habe sie gesehen...“, entfuhr es André zwischen zwei Bissen. „Du warst auch dabei?“ Sein Vater verengte seine Augen zu Schlitzen und schielte zu ihm. Seine Mutter verzog dagegen ein kaum merkliches Lächeln: „Du hast die Prinzessin also auch gesehen? Wie ist sie denn so? Man sagt, sie sei schön.“ André ließ seinen Löffel in den Teller herabsinken und erwiderte seiner Mutter das Lächeln. „Ich habe nicht die Prinzessin gesehen, sondern Großmutters Schützling. Lady Oscar ist jetzt doch Kapitän der königlichen Garde und ich muss zugeben, in ihrer weißen Paradeuniform sah sie nicht schlecht aus...“ „Pah!“, unterbrach ihn sein Vater knurrend. Seine Nasenflügel blähten sich auf und bebten. „Wir müssen uns hier abrackern und zusehen, wie wir unsere Familien ernähren können und diese kleine Göre in Männerkleidern bekommt alles in den Hintern geschoben! Dass ist doch lächerlich, dieses Mädchen als Kapitän - einfach so, ohne einen einzigen Finger krumm gemacht zu haben! Diese Aristokraten sind allesamt ein verfaultes Pack und ich will weder von dieser österreichischen Prinzessin, noch von dieser selbsternannten Lady Oscar etwas mehr hören! Ich möchte mein Abendmahl und die Zeit mit meiner Familie genießen!“ „Ja, Vater.“ André sagte nichts mehr dazu und aß lieber stumm den Rest seiner Suppe auf. Er musste sich eingestehen, dass sein Vater in vielen Punkten Recht hatte. Aber einer Sache hätte er ihm gerne widersprochen: Oscar konnte vielleicht nichts dafür, dass man sie in die Rolle eines Mannes gezwungen hatte. Immerhin hatte es ihr Vater, der General, schon von ihrer Geburt an so bestimmt. Das würde aber die Meinung seines Vaters nicht umstimmen. Ob es allerdings auch Oscars Wunsch und Wille war, wie ein Junge zu leben, war eine zweitrangige Sache. André rief sich Oscar wieder in Erinnerung: Stolz und aufrecht hatte sie auf ihrem weißen Schimmel gesessen. Man könnte das gar als faszinierend und wundervoll bezeichnen. Aber vielleicht verstellte sie sich nur, weil die Erziehung als Offizier das von ihr verlangte? Denn egal wie männlich sie sich zu geben versuchte, in ihr würde immer das Herz einer Frau schlagen. Das war André in diesem Moment klar geworden. - - - In den folgenden drei Jahren hatte André den Schützling seiner Großmutter kein einziges Mal mehr gesehen. Dafür aber hörte er Einiges über sie: Da gab es am Hofe einen Zwist zwischen der Kronprinzessin Marie Antoinette und der Mätresse des Königs, Madame Dubarry. Oscar war zwar selbst nicht davon betroffen, musste aber ständig Schlichterin spielen und mehr Acht auf die Kronprinzessin geben. Irgendwann wurde der Streit zwischen den beiden Frauen beigelegt. Kaum sich diese Sache erledigt wurde, hörte man an jeder Ecke von Paris die nächsten Neuigkeiten aus Versailles: Man munkelte, dass die Kronprinzessin demnächst beabsichtigte, die Großstadt mit ihrem gleichaltrigen Gemahl zu besuchen. Für André waren der französische Thronfolger und die Kronprinzessin uninteressant. Viel wichtiger war es zu wissen, ob der Kapitän der königlichen Garde den Zug anführen würde?! Ganz bestimmt würde Oscar dabei sein! Immerhin war es ihre Pflicht, die königliche Familie zu beschützen! Und wenn man seiner Großmutter Glauben schenken konnte, dann entzog sich Oscar niemals ihren Pflichten! André wusste selbst nicht, warum ihn Oscar, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, beschäftigte! Früher war das doch nicht so! Er lachte mit Alain über ihre Erziehung und dennoch reizte es ihn zugleich, ihr noch einmal zu begegnen. Eine Frau in Uniform sah man schließlich nicht jeden Tag! Das war für ihn wie eine Art Attraktion. Und was der Meinung seines Vaters anging, nun, er hatte es ja nicht verboten, sondern er wollte nur nichts darüber hören. Nun kam die Stunde null. Sämtliche Straßen waren mit allen möglichen Schaulustigen gesäumt. Alle wollten die schöne Prinzessin sehen. Alle, außer zwei jungen Männern. Der eine rieb sich die Hände, den Kapitän etwas näher betrachten zu können, als es ihm beim letzten Mal gelungen war, und der andere war neugierig, ob sich Oscar viel verändert hatte. „Da schaut! Da kommen sie!“ rief jemand aus einem der oberen Fenster des gegenüberliegenden Hauses und zeigte mit seinem Finger in eine bestimmte Richtung. Alle Zuschauer, ob auf den Straßen oder aus den Fenstern, renkten gespannt ihre Hälse und blickten erwartungsvoll in die Richtung der herannahenden Kutschen des Kronpaares und dessen Gefolge. Und in der Tat zeigten sich schon bald die Umrisse der vielen Pferde und Reiter, dicht gefolgt von der Kutsche mit der Kronprinzessin und dem Kronprinzen. An der Spitze des Zuges war nicht Oscar, sondern jemand anders. Sie selbst begleitete die Kutsche und bot wieder einmal eine elegante Erscheinung. Ehrwürdig auf ihrem Schimmel sitzend, beobachtete sie wachsam das Geschehen, wie auch bei ihrer letzten Begegnung. André bemerkte sie sofort, als sie in sein Sichtfeld kam. Ihre himmelblauen Augen schielten verstohlen von rechts nach links und wieder nach vorn. Ihr Haar war etwas in die Länge gewachsen und lag offen auf den Schultern. Und wieder flüsterte André halblaut ihren Namen, als sie ihn und Alain passierte, ohne die geringste Notiz von den Beiden zu nehmen. „Da läuft einem ein kalter Schauer über den Rücken!“ brummte Alain, als sie sich nach der Betrachtung des Zuges auf den Heimweg machten. Er überkreuzte symbolisch die Arme vor seinem Körper und rieb sich die Oberarme. So, als würde er frieren, obwohl es ein schöner, sonniger und warmer Tag am späten Nachmittag war. „Vielleicht ist sie in Wirklichkeit gar nicht so, wie sie sich gibt“, wandte André schulterzuckend ein. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er sich für Oscar einsetzte. Irgendein Impuls bewog ihn dazu. „Vielleicht muss sie sich so verhalten. Immerhin trägt sie die Verantwortung über die Sicherheit der königlichen Familie.“ „Pah!“ Alain beeindruckte das keineswegs. „Ihr eiskalter Blick lässt einem sogar in der Hölle erfrieren und du glaubst noch an Wunder!“ „Das Eis kann schmelzen, Alain...“ „Du bist ein Träumer, André. Ich glaube nicht, dass so eine Person überhaupt einen Funken Wärme in sich trägt.“ Im Gegensatz zu seinem Freund hatte Alain in seinem neunzehnten Lebensjahr ein paar Erfahrungen mit Frauen erlebt und meinte sich schon mit ihrem Wesen auszukennen. Er hatte auch schon versucht André in die Welt der weiblichen Reize und dem Vergnügen mit ihnen einzubeziehen, jedoch erfolglos. Sein Freund war nicht der Richtige für diese Art von Abenteuer und redete sich meistens aus der Sache heraus, dass er lieber auf die Richtige warten wollte. Daher passierte es oft, dass Alain und seine anderen Freunde, die gar schon fast hinter jedem Rock her rannten, spaßeshalber André als „Träumer“ bezeichneten. Vielleicht stimmte das ja auch, aber jeder Mensch hatte halt seine Prinzipien und diese sollte man jedem lassen. „Wenn du meinst...“ André gab nach. Nichts und niemand konnte Alains Meinung ändern. Vielleicht hatte Alain aber auch recht. Was wusste er schon von dem Leben einer Aristokratin, die wie ein Mann erzogen wurde? Einzig nur das, was seine Großmutter über sie erzählte. Allerdings: Ob das der Wahrheit entsprach, war eine ganz andere Frage. Sie passierten die Straße, nahmen eine Abkürzung durch eines der Elendsviertel, durchquerten eine der engen Gassen und kamen wieder an einer große Straße hinaus. Die Sonne strahlte noch mit letzter Kraft und verfärbte den Himmel mit so wunderschönen, kräftigen rötlichen Streifen, als sie sich dem Horizont neigte. Die Bürger beendeten langsam ihre Arbeit und schlossen ihre Läden. Es wurde immer ruhiger auf den Straßen, aber dafür umso voller in den Spelunken. Eine Kutsche fuhr schnell durch das abendliche Paris und überfuhr beinahe ein Mädchen. Ihr Schreckenslaut zog die Aufmerksamkeit der Bürger auf sich und die Kutsche blieb urplötzlich stehen. Daraus lugte ein adliger junger Mann und fragte aufrichtig, ob etwas passiert sei. Das Mädchen rappelte sich hoch und sagte, es sei alles in Ordnung. Der junge Mann atmete sichtbar auf und setzte seinen Weg fort. Diese Szene beobachteten rein zufällig auch André und Alain. Sie eilten hilfsbereit zu dem Mädchen. „Diese Adligen!“, knurrte Alain bissig und spuckte der fortfahrenden Kutsche nach: „Können die nicht aufpassen, wo sie hinfahren!“ „Es ist schon in Ordnung“, sagte das Mädchen und Alain sah sie wieder an. „Es war meine Schuld. Ich war in Gedanken versunken und habe nicht aufgepasst. Und der nette Herr hat sich sogar entschuldigt und nach meinem Befinden gefragt.“ „Trotzdem!“ Alain beeindruckten solche Aussagen keineswegs. „Hör doch auf!“, mischte sich André ein und widmete sich freundlich dem Mädchen zu: „Wie heißt du eigentlich? Das ist mein Freund Alain, er ist eigentlich ein netter Kerl. Und mein Name ist André.“ „Ich heiße Rosalie“, stellte sich das Mädchen mit einem unschuldigen Lächeln vor. „Freut mich euch kennenzulernen.“ Und vielleicht war genau dieses reine Lächeln, das Alain etwas milder stimmte. Oder auch ihr hübsches Äußeres, wenn man das zerschlissene, ärmliche und an manchen Stellen mehrfach geflickte Kleid nicht beachtete. Sie hatte große blaue Augen, langes blondes Haar, das zu einem Zopf gebunden war und noch recht kindliche Gesichtszüge, was auf ein Alter zwischen dreizehn oder vierzehn Jahre schließen ließ. Für Alain definitiv ein Spur zu jung. Er besann sich sogleich. „Die Freude ist auch unsererseits. Wo wohnst du? Wenn du möchtest, können wir dich begleiten.“ „Das ist nett von euch. Ich wohne hier um die Ecke.“ Rosalie zeigte auf eine Seitenstraße, wo die nächsten Elendsviertel begannen. Zu dritt setzten sie ihre Füße in Bewegung. „Fehlt dir wirklich nichts?“, hakte André nach und Rosalie schüttelte bekräftigend den Kopf. „Es ist wirklich alles in Ordnung. Es gibt Schlimmeres, als ein paar Kratzer.“ „Was meinst du damit?“, wollte Alain sogleich hellhörig wissen. Er war eigentlich kein Mensch, der sich in fremde Angelegenheiten einmischte, aber zu den weiblichen Geschöpfen verhielt er sich immer so – es sei denn, sie wären adliger Herkunft. „Meine ältere Schwester ist von Zuhause weggelaufen...“, erzählte Rosalie gleich trüb: „Und es wird alles teurer: Fleisch, Gemüse, Brot. Meine Mutter ist krank und wir haben noch kaum noch Geld.“ Alains Miene verfinsterte sich schlagartig. „Und wir haben gerade eben noch diesen prächtigen Zug angesehen! Was nützt uns die schöne Prinzessin, wenn das Volk weiter leidet!“ „Alain...“, versuchte André ihn zu besänftigen, doch insgeheim musste er ihm Recht geben. Ja, was nützte ihnen die schöne Prinzessin, wenn die Steuern und die Preise in die Höhe stiegen, das Volk hungerte und im Elend lebte, während in Versailles Feste gefeiert wurden. Und als wäre dieses Wissen nicht schon erdrückend genug, erlebte André, kaum dass er zu Hause ankam, ein weiteres Unglück: Seine Mutter saß bestürzt auf einem Stuhl, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte heftig. André war sofort bei ihr, kniete sich zu ihr nieder und fasste umsorgt ihre Handgelenke. „Mutter! Was ist passiert?“ Seine Mutter entfernte die Hände von ihrem Gesicht und griff nach den seinen. Sie zitterte. André umschloss mechanisch ihre Finger und hielt sie fest. Er traute sich nicht etwas zu sagen, weil er fürchtete, etwas Grauenvolles zu erfahren. Seine Mutter sah ihn mit roten Augen an und bittere Tränen liefen ihr haltlos über die Wangen. „Es ist alles aus, mein Sohn... Dein Vater hat heute seine Arbeit verloren... Sein Meister kann ihn nicht mehr bezahlen... Und jetzt... und jetzt betrinkt er sich in einer Spelunke... unser letztes Geld... Mein Verdienst als Wäscherin wird nicht mehr ausreichen...“ Sie entriss ihm ihre Hände, schlang ihre knochigen Arme um ihn und schluchzte hemmungslos an seiner Schulter. „Was sollen wir tun, André... Wie soll es nur weiter gehen...“ André hielt seine Mutter fest an sich gedrückt und musste erst einmal den Schlag verdauen. Die Zeit für ihn schien plötzlich still zu stehen und er rang nach Luft, um wenigstens atmen zu können. Doch der Schock dieser Nachricht nistete sich erbarmungslos in ihm ein und ein stechender Schmerz durchdrang seinen Körper. „Aber... aber was ist mit Großmutter...? Sie... sie würde uns doch bestimmt helfen können...“ Madame Grandier hörte mit dem Schluchzen auf, aber entriss sich nicht von ihm. Sie vergrub ihr Gesicht noch tiefer in seine Schulter. „Nein, mein Sohn... Sie hat schon genug zu tun... Wir sollten... wir wollen ihr nicht noch mehr zur Last fallen...“ „Ja, Mutter...“ André gab ihr widerwillig recht. Seine Großmutter würde ihnen natürlich helfen, aber sie war nicht mehr die Jüngste und würde nichts Großartiges an ihren Problemen ändern können. Sie musste selbst daran denken, wie sie ihre Arbeit behielt. Es war ein Glück und ein Segen, dass sie auf dem Anwesen de Jarjayes immer noch ihre sichere Anstellung hatte. Und das wollten sie ihr nicht nehmen, indem sie ihr zur Last fielen, um an das nötige Geld zu kommen. Das verstand André in diesem Falle sehr gut. „Wir werden es schon schaffen...“, versuchte er seiner Mutter Trost zu spenden und umarmte sie noch fester: „Ich werde meinen Meister fragen, ob ich neben meiner Lehre auch bei ihm arbeiten kann... Auch wenn es nicht viel sein wird... aber wir werden es schon schaffen...“ Seine Mutter hob den Kopf und sah ihn an. Das tränenüberflutete Gesicht nahm ihr die Sicht und sie konnte ihren Sohn nur verschwommen erkennen, aber das war ihr egal. „Du bist ein guter Junge... Ja, wir werden schon durchkommen... Wenn wir zusammenhalten, wird bald wieder alles in Ordnung sein...“ Mit diesem Gedanken hatte André schon lange gespielt. Seitdem er und Alain vor ein paar Jahren eine Lehre bei ihrem Meister begonnen hatten, hatte André dieser Gedanke beschäftigt. Nun ergab sich die Möglichkeit, es in die Tat umzusetzen und sein Können zum Besten zu geben. Kapitel 4: Ungerecht -------------------- André kam von seiner Arbeit nach Hause und brachte seinen Eltern den verdienten Lohn. Es war nicht viel, aber es reichte, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Vor etwa einem Jahr hatte er die Anstellung bei seinem Meister bekommen und verdiente seinen Unterhalt zusammen mit seinem Freund Alain als Handwerker. Eine aufgeladene und stickige Luft umfing André, als er zu Hause ankam. Gleich hinter der Tür befand sich der nicht allzu große Speiseraum mit einer Feuerstelle, einem Esstisch und zwei Schlafkammern. Auf dem Tisch brannte eine Öllampe und in der Feuerstelle prasselte ein Feuer. Aber es wurde nicht wie erwartet gekocht. Andrés Großmutter war zu Besuch und stritt heftig mit seinem Vater: „...anstatt dich pausenlos zu betrinken, solltest du lieber eine vernünftige Anstellung finden!“, bekam André gerade ihre letzte Anschuldigung mit und schloss die Wohnungstür hinter sich. Keiner schien seine Ankunft zu bemerken. Sein Vater und seine Großmutter standen sich mitten im Raum gegenüber und funkelten sich gegenseitig böse an, ohne dabei handgreiflich zu werden. Seine Mutter saß auf einem Stuhl am Tisch und vergrub wieder einmal ihr Gesicht in den Händen. Sie sah ermattet aus und beteiligte sich nicht am Streit. André ging unverzüglich zu ihr und nahm sie in seine Arme. Madame Grandier zuckte leicht erschrocken zusammen, doch als sie ihren Sohn sah, lehnte sie sich dankend an ihn. „Denkt Ihr, ich suche mir keine Arbeit?!“, empörte sich sein Vater jähzornig und seine Nasenflügel bebten wieder einmal: „Was unterstellt Ihr mir?! Ein Zimmermann wird anscheinend nicht mehr gebraucht! Und ich bin nicht mehr der Einzige, der seine Arbeit verloren hat! Es werden immer mehr! Aber das wisst Ihr doch nicht! Ihr behütet lieber Eure selbstgerechte Göre und denkt nicht einmal an Euren eigenen Enkel!“ „Wie kannst du es wagen, so über sie zu sprechen! Lady Oscar ist eine...“ „Es ist mir gleich, was sie ist!“ „Vater...“, entfuhr es André unbeabsichtigt und sofort lenkte dieser die Aufmerksamkeit der beiden Streitenden auf sich. Erst jetzt wurde den Sturköpfen bewusst, dass er schon zuhause war. Das minderte allerdings nicht ihre heftige Auseinandersetzung. Seine Großmutter rückte ihre Brille auf dem Nasenrücken zurecht, stemmte ihre Hände in die Hüfte und widmete sich dabei wieder altklug ihrem Schwiegersohn. „Und natürlich denke ich an meinen Enkel. Ich habe Lady Oscar bereits angesprochen und sie hat eingewilligt, dass er als Stallbursche auf dem Anwesen arbeiten kann. Er wird auch dort ein Zimmer beziehen können.“ „Was?! Wie bitte?!“, hörte man es aus allen Ecken der Wohnung. Sowohl André, als auch seine Eltern starrten die alte Frau empört an. „Niemals!“ Aufbrausend und barsch warf sein Vater seine Antwort Sophie entgegen und lief purpurrot an: „Niemals wird mein Sohn diesen verfaulten Aristokraten dienen! Und erst recht nicht diesem verwöhnten Mannsweib! Er ist ein freier Mann und wird es auch bleiben! Niemals werde ich zulassen, dass er bei diesen verkommenen Adligen zu Boden kriechen wird und sich von ihnen alles gefallen lassen muss! Niema...“ Plötzlich erstarrte er und fasste sich verkrampft an die linke Brust. Er ging mit einem gedämpften Schmerzenslaut in die Knie. „...arrgh... was ist das...?“ „Vater!“ André ließ erschrocken seine Mutter los, die perplex auf ihrem Stuhl verharrte, und war schon mit zwei Schritten bei ihm. Unsanft schob er seine Großmutter beiseite und kniete sich schreckensbleich zu seinem Vater. „Was ist mit dir?!“ André sah seinen Vater in einem ihm völlig unbekannten Zustand. Schweißperlen besetzten das glühend rote, schmerzverzerrte Gesicht. Seine rechte Hand griff immer noch verkrampft in sein Hemd und umfasste die stark brennende Brust. Unendlich dauernde Minuten schienen zu verstreichen, doch eine Antwort blieb aus. Stattdessen packte ihn sein Vater am Kragen und zog ihn zu sich. „Schwöre, mein Sohn!“, brachte er verstockt zu Stande und eine Dunstwolke nach billigem Schnaps hüllte André ein. Sein Vater zog ihn noch näher an sein Gesicht heran und der bissige, widerwärtige Geruch drehte André beinahe den Magen um. „Schwöre, dass du niemals für Adlige arbeiten wirst und...“ Sein Vater verkrampfte sich. Ein heftiger Schmerz jagte durch sein Herz, aber dennoch ließ er seinen Sohn nicht los. Seine Atmung wurde angestrengter, schneller, flacher. Dennoch bemühte er sich, den Satz zu vollenden: „...und dass du dich von ihnen... niemals ernie... drigen lassen wirst! Du bist... ein... ein freier Mann! Schwöre es!“ André konnte in seiner Schreckensstarre kein Wort hervor bringen. Er nickte ihm nur stumm zu. Seine Augenlider brannten und in seiner Kehle entstand ein dicker Kloß, als die Finger seines Vaters ihn schließlich entkräftet freigaben. Seine Mutter erwachte aus ihrer Reglosigkeit, lief unverzüglich herbei und fing ihren Mann gerade noch rechtzeitig auf. „André, hol einen Arzt!“, rief sie aufgebracht und ihre Stimme erweckte seine Lebensgeister. André brauchte eine halbe Stunde, bis er mit einem Arzt zurückkam. Für seinen Vater war das aber schon zu spät. Der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Sein Herz hatte ihm urplötzlich den Dienst versagt und er war binnen weniger Minuten verstorben – in den Armen seiner Frau und in Anwesenheit seiner Schwiegermutter. Letztere war bleich wie die Wand und wagte sich nicht von der Stelle zu rühren. In Anbetracht der erschütternden Situation, verlangte der Arzt dennoch sein Geld. „Aber Ihr habt ihn doch gar nicht behandelt!“, protestierte André verständnislos. „Tja, der Weg hierher kostet auch sein Geld. Und ich muss doch auch von etwas leben“, sagte der Arzt steif und streckte ihm schon seine Hand zu. André schaute wie benommen auf den leblosen Körper seines Vaters. Seine Mutter weinte sich auf dessen Brust aus und seine Großmutter versuchte sie verzweifelnd zu beruhigen. Angst vor der ungewissen Zukunft, ein bitterer Schmerz über die Geschehnisse und hilflose Wut auf die ungerechte Welt schossen glühend heiß durch Andrés Adern. Aber was konnte er schon tun? Er war jetzt der Mann im Hause und alle Entscheidungen oblagen von nun an ihm. André hatte keine andere Wahl: Er zog seinen Geldbeutel und bezahlte den Arzt mit dem Lohn, den er heute hart verdient hatte. - - - Wieder einmal besuchte seine Großmutter ihn und seine Mutter. Die Frage, ob er als Stallbursche auf dem Anwesen de Jarjayes arbeiten und wohnen sollte, hatte sich von alleine erübrigt. Da sein Vater vor einem halben Jahr so plötzlich verstarb, wollte André seine Mutter keineswegs verlassen. Er hatte doch seine Arbeit und sie würden schon irgendwie zusammen durchkommen. Gemeinsam war es immer leichter durchs Leben zu gehen, egal wie bitter und schwer es war oder sein würde. Einmal mehr erzählte Sophie ihrer Tochter beim Saubermachen der Wohnung die aktuellen, besorgniserregenden Vorkommnisse um ihren Schützling: „...vorgestern hat Lady Oscar das Leben der Prinzessin gerettet und sich dabei eine Verletzung am Arm zugezogen. Sie hat viel Blut verloren und ist bewusstlos geworden. Eine ganze Nacht lang war sie nicht ansprechbar und wir mussten um sie bangen. Doch anstatt sich zu schonen, ist sie heute früh schon wieder nach Versailles aufgebrochen, um ihren Dienst anzutreten! Zum Glück war ein gewisser Graf Hans Axel von Fersen aus Schweden dabei und hatte sie begleitet. Obwohl er nicht ursprünglich aus Frankreich kommt, spricht er fließend französisch. Er kam hierher um zu studieren und ist sehr edel und hübsch. Er ist des gleichen Alters wie Lady Oscar und sie meinte, sie habe ihn erst jetzt richtig kennengelernt. Ach, wenn sie nur nicht wie ein Mann, sondern wie eine richtige Dame erzogen worden wäre, dann könnte ich mir meine liebe Lady Oscar gut zusammen mit diesem Graf von Fersen vorstellen...“ André verließ die Wohnung und suchte Alain auf, um mit ihm gemeinsam zur Arbeit zu gehen. Er wurde langsam müde von den Erzählungen seiner Großmutter. Aber dennoch tat ihm Oscar im tiefsten Winkel seines Herzens schon irgendwo leid, wegen ihrer Verletzung und der Aufopferung für die Prinzessin. Es war ihre verdammte Pflicht, der sie stets getreu nachkam – ohne Rücksicht auf sich selbst. Was diesen gewissen Grafen aus Schweden anging, hätte André seiner Großmutter widersprochen. Er kannte ihn zwar nicht, jedoch verspürte er plötzlich einen schwachen Stich in seinem Brustkorb. Er wusste nicht weshalb und was das zu bedeuten hatte, aber es stimmte ihn missmutig. Er lachte nicht mehr über die falsche Erziehung des Schützlings seiner Großmutter. Seit dem Tod seines Vaters war er ernster geworden – und erwachsener. Mit seinen neunzehn Jahren trug er schon eine gewisse Verantwortung für den Haushalt, für das Geld und um seine Mutter. Seitdem ihr Mann unter der Erde lag, war seine Mutter immer kraftloser, kränklicher und mager geworden. Seit kurzem konnte sie nicht mehr ihrer Arbeit als Wäscherin nachgehen. André hatte somit seine eigenen Verpflichtungen und es interessierte ihn nicht, wie die Adligen ihr Leben führten und was mit ihnen geschah. Nur Oscar drang manchmal in sein Bewusstsein, wofür er sich keine Erklärung fand. Dann, etliche Wochen später, begegnete er ihr wieder. André erblickte sie nur ganz kurz, als das neue Königspaar nach der Krönungszeremonie ein Institut besuchte, wo der Student Maximilien de Robespierre die Gratulationsrede hielt. Oscar begleitete das Paar, das nun für die Zukunft Frankreichs die Verantwortung übernehmen würde: Marie Antoinette und ihr Gemahl Louis, der zum Ludwig XVI gekrönt wurde, nachdem sein Großvatter wenige Monate zuvor an Pocken gestorben war. Nun hoffte das Volk mit ihrem neuen König auf bessere Zeiten. Und diese Zeiten kamen tatsächlich, denn die Nahrungsmittel wurden billiger. Jedoch hielt dieser Umschwung nicht lange an. Schon bald stiegen die Steuern wieder und immer mehr Menschen verloren ihre Arbeit, weil sie nicht mehr bezahlt werden konnten. „Das ist doch nicht zu fassen! Wozu brauchen wir dann den neuen König und die neue Königin, wenn alles beim Alten bleibt?!“, beschwerte sich Alain bissig zum späteren Feierabend. „Zum Glück dürfen wir noch unsere Arbeit behalten“, erwiderte André nachdenklich und Alain sagte wieder einmal das, was ihm Sorgen bereitete: „Die Frage ist nur wie lange?! Unser Meister musste uns heute schon den Lohn halbieren und wenn es so weiter geht, dann werden wir noch umsonst arbeiten müssen!“ André konnte die miese Laune seines Freundes verstehen. Und nebenbei dachte er an das, was seine Großmutter vor wenigen Tagen über ihren Schützling erzählt hatte: Oscar wurde zum Kommandanten befördert. Es war das erste Anliegen Marie Antoinettes in ihrer Position als Königin. Doch auch andere beschenkte die Königin mit neuen Posten, durch die Verdopplung oder Verdreifachung des Gehalts oder schlicht mit einem prunkvollen kleinen und schlossähnlichen Anwesen. Das hieß also, dass nicht nur Oscar von der Gunst der Königin profitierte, sondern ebenso viele Adlige. Warum? Einfach so, weil es der Wunsch der Königin war! Wie ungerecht! Und das Volk durfte weiter in Elend und Armut versinken! Langsam erreichten André und Alain den Marktplatz und mussten kurz anhalten. Da stimmte etwas nicht! Viele Bürger hatten sich in einem Halbkreis versammelt. Im Zentrum stand ein kleiner, dunkelhaariger Junge und rieb sich weinend die Augen. Vor ihm postierte sich turmhoch ein Herzog und funkelte ihn mit hämischen Blicken an. An der Seite des Jungen kniete ein junges, blondhaariges Mädchen – bestimmt eine Bekannte oder Nachbarin, denn die beiden sahen sich in keinster Weise ähnlich. Das Mädchen versuchte flehend dem Mann etwas zu erklären. „Rosalie!“, schoss es André und Alain augenblicklich und gleichzeitig überrascht durch den Kopf. Sie rannten unverzüglich dorthin und erkundigten sich bei den Herumstehenden, was geschehen war. Sie standen am Rande der versammelten Menge und merkten nicht, dass hinter ihnen eine Kutsche Halt machte. „Was geschieht hier?“, erkundigte sich eine hohe, energische Stimme. „Ein kleiner Junge hat dem Herzog de Germain Geld gestohlen, weil er schon seit mindestens zwei Tagen nichts mehr zu Essen gehabt hatte“, erklärte Alain, was er bereits mit André von den Herumstehenden in Erfahrung gebracht hatte und sah sich um. Auf einmal erstarrte er und mit weit aufgerissenen Augen tippte er André hinweisend an. Dieser folgte seinem Blick und auch ihm rutschte beinahe das Herz in die Hose! Aus der Kutsche stieg ein junger Offizier in der roten Uniform eines hochrangigen Kommandanten und gesellte sich zu ihnen. Das blonde Haar lag wellig über die Schultern und der eisige Blick der blauen Augen heftete sich gradlinig auf das Geschehene. André und Alain überlief ein heiß-kalter Schauer. Nie im Leben hätten sie gedacht, ausgerechnet diese Person jemals so nahe neben sich stehen zu sehen. „Rosalie...“, murmelte diese und in ihrer Stimme schwang so etwas wie Mitgefühl. Das verblüffte die beiden Männer noch mehr. „Ihr... Ihr kennt sie?“, brachte André verstockt von sich, als wäre das wichtig. Die blondgelockte Person seufzte. Die beiden schienen Rosalie gut zu kennen und nebenbei durchströmte sie eine eigenartige Aura, die sie unwillkürlich gesprächiger machte. Aber vielleicht war das auch nur ein innerer Impuls, der sie dazu bewog, es den beiden zu erzählen: „Ich bin ihr vor wenigen Tagen begegnet. Das arme Mädchen war sehr verzweifelt, weil sie kein Geld hatte um ihrer Mutter Medizin zu kaufen und auch keine Arbeit finden konnte. Ich hoffe, ich habe ihr wenigstens etwas helfen können...“ Sie sah leicht betrübt zu Boden und murmelte leise für sich: „Ich wusste nicht, was für ein Elend in dieser Stadt herrscht...“ Dann neigte sie ihren Kopf zur Seite und warf den beiden jungen Männern einen abschätzenden Blick zu. „Warum erzähle ich euch das eigentlich?“ Das hätte sie selbst gerne gewusst, denn es war nicht ihre Art mit fremden Menschen auf diese, beinahe vertrauliche Weise zu reden. Ihr Blick durchbohrte die beiden, aber eine Antwort blieben sie ihr schuldig. Ein Pistolenschuss zerriss die Luft und hallte ohrenbetäubend durch den Markt. Alle drei richteten ihr Augenmerk schlagartig in die Richtung und was sie sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren: Der Herzog hatte den kleinen Jungen erschossen und stieg lachend in seine Kutsche, die sogleich auch ins Rollen kam. Das Gesicht der blondgelockten Person verfinsterte sich. Wut und Zorn sprachen daraus. „Dieses Untier!“, knurrte sie und setzte aufgewühlt der Kutsche nach. „Will sie ihn etwa zur Rechenschaft ziehen?“, dachte André augenblicklich bei sich. Er war für den Bruchteil einer Sekunde fassungslos. Dem Herzog konnte keiner etwas anhaben, nicht einmal der König selbst - und dass wusste jeder! Von einem unerklärlichen Impuls angetrieben rannte André ihr unverzüglich nach und bekam sie am Handgelenk zu fassen. Er packte sie und hielt sie auf, bevor er überhaupt überlegen konnte, was er da eigentlich tat und warum! „Halt! Das dürft Ihr nicht tun! Niemand kann das!“ Sie wirbelte aufgebracht herum, entriss ihm ihr Handgelenk und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. „Was fällt dir ein, mich anzufassen!“, schnaubte sie wütend und heiser. André schmerzte die brennende Wange, aber er blendete das aus. Ihre Ohrfeige saß tief und sein Ego war angekratzt. Sein Blut kochte! Mit einem Mal war ihm egal, wer vor ihm stand. „Und was fällt Euch ein, mich zu schlagen!“, schleuderte er ihr nun ebenfalls erzürnt ins Gesicht: „Glaubt Ihr, Ihr könnt Euch alles erlauben, weil Ihr adlig seid?! Wenn Ihr keine Frau wärt, würde ich Euch eine Lektion erteilen, die Ihr niemals vergessen würdet, Lady Oscar!“ „André, bist du Lebensmüde?!“ Alain tauchte unverhofft neben ihm auf, aber sein Freund fixierte nur seinen Gegenüber. Oscar war für einen kurzen Augenblick verblüfft, aber sogleich wurde ihr Gesicht noch wütender und herrischer. Sie hob wieder ihre Hand und ballte sie zur Faust – aber sie schlug nicht zu. „Woher kennst du meinen Namen?! Wer bist du?!“ André ignorierte ihre Fragen. Ob aus gekränktem Stolz oder etwas anderem, war ihm gerade nicht von Bedeutung. „Begreift Ihr das denn nicht?! Niemand darf den Herzog zur Rechenschaft ziehen! Niemand kann ihm etwas anhaben! Nicht einmal der König! Meine Großmutter hat schon genug Sorgen mit Euch...“ Oscar war wie erstarrt. Mit einem Mal war der Herzog vergessen. Eine schwache Erinnerung schwebte durch ihren Kopf: An eine Rangelei zwischen fünf Knaben, als sie ihr einstiges Kindermädchen mit einer Kutsche in Paris abgeholt hatte – es musste vier Jahre her sein. „Deine Großmutter...“ Es traf sie wie ein Blitz. Was für eine Begegnung! Was für ein Zufall! „Du bist also der Enkel von Sophie... André...“ Und im nächsten Augenblick legte sie sich die Hand an die Stirn. Sie atmete tief ein und aus. „Wie konnte ich... Ich werde den Herzog wohl ein anderes Mal herausfordern müssen...“ Sie warf André noch einen flüchtigen Blick zu und machte dann kehrt zu ihrer Kutsche. Sie fuhr weg und ließ beide Männer einfach perplex stehen. Der Kreis um die trauernde Mutter und ihrem getöteten Jungen, wurde immer kleiner. Die Verbliebenen halfen ihr beim Aufstehen, stützten sie von allen Seiten beim Laufen und brachten sie zusammen mit ihrem Kind fort. Die zwei jungen Männer bekamen das nur am Rande mit. André hielt unbewusst seine Wange und Alain verschlug es die Sprache. Keiner der beiden rührte sich, als wären sie in zwei steinerne Säulen verwandelt worden. Und so bemerkten sie nicht, dass Rosalie zu ihnen kam. Erst ihre entsetzte, weinerliche und fassungslose Stimme brachte sie in die Wirklichkeit zurück: „Wieso?“ Diese eine Frage fasste alles Geschehene zusammen, aber keiner fand eine Antwort darauf, denn sie fragten sich alle das Gleiche. Die Welt war ungerecht – erbarmungslos und niederträchtig. „Sie wollte bestimmt helfen... wie letztens mir... und ich weiß nicht einmal ihren Namen...“ Erneut zerriss Rosalies Stimme die schwere und erdrückende Stille. „Lady Oscar...“, murmelte André und entfernte die Hand von seiner Wange. Er formte sie zu einer lockeren Faust vor seiner Brust. Trotz des grausamen Ereignisses konnte er nicht verhindern, dass sein ganzes Denken nur dieser Frau in der roten Uniform galt. Er sah immer noch in die Richtung, in die sie weg gefahren war. So auch Rosalie und Alain. Und auch als es schon nichts mehr von ihrer Kutsche zu sehen gab, konnten sie sich noch immer nicht von der Stelle rühren. „Du kennst sie?“ Rosalie schien erstaunt zu sein. André nickte. „Wir sind uns bisher noch nie begegnet, aber meine Großmutter erzählt oft über sie. Sie arbeitet auf dem Anwesen de Jarjayes und Lady Oscar ist ihr Schützling.“ „So ist es also...“ Rosalie verstummte. Wenigstens kannte sie nun den Namen der gütigen Madame, die ihr sehr geholfen hatte. Mit diesem einen Goldstück, dass für einen Adligen kaum von Bedeutung war, würden ihre Mutter und sie noch lange auskommen. Wie gutherzig sie doch im Vergleich zu den meisten Adligen war - diese bemerkenswerte und außergewöhnlichen Lady in Uniform. Kapitel 5: Verlust ------------------ Auf dem Anwesen angekommen, sperrte sich Oscar auf ihrem Zimmer ein und donnerte wütend mit ihren Fäusten gegen die Wand. Ja, sie würde den Herzog herausfordern! Sie musste es tun! Der Herzog verachtete die Armen und Schwachen! Und wenn man solchen wie ihm erlaubte, sich zu benehmen wie er wollte, dann schadete es allen Adligen und somit warf das auch einen dunklen Schatten auf die königliche Familie! Aber was wusste dieser André schon davon?! Oscar drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Ihr Herz pochte wild und ihr Blut rauschte rasend durch die Adern. Seine Augen gingen ihr nicht aus dem Kopf. Dieses Grün erinnerte sie an die Blätter der Bäume im Sommer oder an sanftes Gras, wenn der Wind es hauchzart streifte. Nein! Was auch immer das zu bedeuten hatte, sie durfte diese Gefühle nicht zulassen! Dazu wurde sie nicht erzogen! Oscar hob ihre Hand und sah auf die Innenfläche, mit der sie André geohrfeigt hatte. Sie glaubte das leichte und brennende Kribbeln noch zu spüren, obwohl das schon ein paar Stunden zurück lag. Wie hatte sich seine Wange, seine Haut angefühlt? Das konnte sie nicht mehr sagen. Das hatte sie schon in dem Moment vergessen, als ihre Hand auf seine Wange schlug. Und warum interessierte sie das überhaupt?! Oscar schloss ihre Hand zur Faust und zog streng ihre Augenbrauen zusammen. Sie hatte Besseres zu tun, als an den Enkel ihres einstigen Kindermädchens zu denken! Es war sowieso nur eine einmalige Begegnung und hatte nichts zu bedeuten! Und auch, wenn ihr Bauchgefühl etwas anderes sagte, sie ignorierte es gewissenhaft und verdrängte es wieder. Wenige Wochen später besuchte Sophie ihre Tochter und ihren Enkel in Paris. Sie brachte etwas Brot, Kartoffeln, Gemüse und Schweinespeck in einem Korb mit. In einem anderen, Gläser. Das Gemüse, wie Gurken und Tomaten, waren für eine Marinade gedacht, die sie heute zusammen mit ihrer Tochter in die Gläser einlegen wollte. Dafür brauchten sie einige Gewürze, ein paar Kräuter und Wasser. Es war eine jährliche Prozedur zu Beginn des Herbstes. „...ich bin so ratlos...“, beklagte sich Sophie bei ihrer Tochter, während sie das Gemüse aus dem Korb auspackte und auf den Tisch legte: „Musste sie sich denn unbedingt mit dem Herzog duellieren?! Jetzt hat sie dafür drei Monate Hausarrest bekommen! Aber anstatt zuhause zu bleiben, bricht sie zu ihrem Familiensitz nach Arras auf! Ganz alleine! Stell dir das nur vor! Ich habe es versucht, sie davon abzuhalten, aber erfolglos! Was soll ich dem General sagen, wenn er zuhause eintrifft und Lady Oscar nicht da ist?! Sie meinte zwar, ich soll sagen, dass sie vor Traurigkeit krank geworden ist, aber das ist doch absurd!“ „Beruhigt Euch doch, Mutter. Ihr könnt nichts daran ändern, dass Euer Schützling Euch entwachsen ist...“, versuchte Madame Grandier ihre Mutter zu beschwichtigen. Sie packte derweilen die Gläser aus dem zweiten Korb aus und stellte sie am anderen Ende des Tisches ab. „Ja, ja...“, brummte die alte Frau verstimmt. André beteiligte sich nicht an den Frauengesprächen, aber er hörte zu und reparierte die einzigen beiden Fenster in den Schlafkammern. Sie mussten endlich abgedichtet werden, sonst würden sie hier im Winter einen sehr kalten Luftzug haben. Dabei unterdrückte er den Impuls, sich an die Wange zu fassen. Sein gekränkter Stolz hatte sich schon längst abgekühlt, so wie auch die brennende Stelle nach ihrer Ohrfeige. Dennoch glaubte er ihren Schlag noch zu spüren. Oscar hatte kräftig zugeschlagen, aber das war keineswegs die Stärke eines richtigen Mannes. Es hatte sich anders angefühlt: kühl, weich und glatt. Und ihr Handgelenk, das er vor der Ohrfeige zu fassen bekommen hatte, war schmal und hatte fast zerbrechlich gewirkt. In ihrer Uniform mochte sie robust aussehen, aber darunter war sie bestimmt viel zartgliedriger gebaut. Vielleicht wie eine Bohnenstange. André musste bei diesem Vergleich schmunzeln. Oscar war in jeder Hinsicht anders als alle Frauen. Nicht, dass er je eine gehabt hätte, das nicht. Im Gegensatz zu Alain hatte er zurzeit kein Interesse an Frauen. Vielleicht später, wenn die „Richtige“, mit der er immer wieder seine Freunde abspeiste, ihm über den Weg laufen würde. Doch Oscar gehörte nicht dazu. Sie war keine gewöhnliche Frau und dennoch musste André sich insgeheim eingestehen, dass ihn genau das ein bisschen reizte. Sie war mutig, selbstgerecht und konnte sich verteidigen. Und da gab es noch etwas: Nach dem, was er an jenem Tag mitbekommen hatte, schien sich Oscar für die Armen und Schwächeren einzusetzen. Ihre Worte über Rosalie und ihre Reaktion auf den Herzog, als dieser den kleinen Jungen feige erschoss, tauchten ihm immer wieder vor dem geistigen Auge auf. Und sie hatte diesen Herzog tatsächlich herausgefordert! Entweder kannte diese Frau in Uniform keine Furcht oder sie dachte nicht über die Konsequenzen nach, bevor sie handelte! Der Winter kam und die Verdichtung an beiden Fenstern hielt. Und nicht nur ein Winter. Drei Jahreszeiten lang hatte sie ausgehalten. André war ein guter Handwerker geworden, dank seinem guten Lehrmeister. Aber wie lange durfte er seine Arbeit überhaupt noch behalten? Diese Frage war sein ständiger Begleiter. Immer mehr Menschen wurden mittellos und ärmer als sie es schon bisher waren. Vor wenigen Monaten war in der Nachbarschaft ein Neugeborenes verstorben, weil dessen Mutter nicht genug Milch hatte und auch selbst schon seit langem kaum etwas zum Essen bekam. Und vor einigen Jahren war Rosalies Mutter von der Kutsche einer Adligen überfahren. André erinnerte sich an jenen Tag, als wäre es gestern passiert: Rosalie war mit der Zeit so etwas wie eine gute Freundin für ihn und Alain geworden. Sie besuchten sich hin und wieder gegenseitig. Das Schicksal hatte dem Mädchen nicht gut zugespielt und schien nur Unheil parat zu halten. Noch lange hatte Rosalie nach dem Unglück am Grab ihrer Mutter gestanden – völlig aufgelöst und in tiefer Trauer. André trat mit Alain näher zu ihr und wagte es, ihr tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen. „Wenn du etwas brauchst, kannst du ruhig zu uns kommen...“ „Ganz recht“, bekräftigte Alain seine Aussage: „Es ist immer besser, als alleine zu sein.“ „Auch ich schließe mich den beiden an“, erläuterte ein junger Mann, der zuvor bei dem verhängnisvollen Unfall dabei gewesen war. „Mein Name ist Bernard Châtelet, ich bin Gerichtsschreiber in Paris und Ihr könnt immer zu mir kommen, wenn Ihr Hilfe braucht...“ „Ich danke euch allen...“ Rosalie ließ ihn nicht aussprechen. Sie drehte sich auch nicht um. „Aber es ist nicht nötig... ich komme schon alleine zurecht...“ Ihre Stimme war belegt. Sie bewegte ihre Füße und ließ die drei danach einfach stehen. „Wo wollt Ihr denn hin?! So, wartet doch!“, rief ihr Bernard verständnislos nach, aber Rosalie blieb ihm eine Antwort schuldig und lief weiter gerade aus. „Das arme Mädchen...“, murmelte André ihrer schmalen Silhouette hinterher und Alain murrte verstimmt: „Sie hat es wirklich nicht leicht... Wie viel Leid wollen diese Adligen noch über uns bringen?! Es wird langsam Zeit, dass sich etwas ändert!“ „Da habt Ihr Recht...“ Bernard Châtelet runzelte missfällig die Stirn, was die zwei Freunde zwar nicht sahen, aber die versteckte Missgunst deutlich aus seiner Stimme vernahmen: „Irgendwann werden sie alle noch ihr blaues Wunder erleben...“ Rosalie war derweilen völlig aus deren Sichtfeld verschwunden. Und seitdem hatte man nichts mehr von ihr gehört. Weder André und Alain, noch ihre Nachbarn oder dieser Bernard Châtelet. Rosalie war wie vom Erdboden verschluckt. André seufzte schwer bei dieser Erinnerung und stapfte zusammen mit Alain durch den dichten Schnee in Richtung Heim... Es war ein harter Arbeitstag gewesen und es würde noch härter werden. Auf dem Weg begegnete ihnen ein Trauerzug und die beiden Männer senkten ihre Köpfe. Es war wieder jemand gestorben. Eine arme Seele weniger, die das Leid der Bürger nun nicht mehr ertragen musste, während der Hofstaat in Versailles weiterhin unbekümmert üppige Feste feierte... Die Königin gab viel Geld für überteuerte Kleider und Schmuck aus. Sie hatte dadurch sogar schon Unsummen an Schulden aufgehäuft, aber ärmer wurde sie deswegen nicht. Im Gegenteil. Das Geld schien ihr förmlich vom Himmel zu fallen. Ihren Günstlingen ebenso. Die Adligen lebten aufgrund der hohen Steuerabgaben der Bauern und Handwerker in Saus und Braus. Zuhause wartete bereits Madame Grandier auf ihren Sohn. Sie hatte schon eine warme Suppe gekocht, denn es war ihr heute auf dem Markt gelungen, etwas Fleisch und Brot zu erstehen. André überließ ihr immer seinen verdienten Lohn und sie konnte davon Lebensmittel oder Dinge kaufen, die sie brauchten. Es war zu wenig, aber es reichte zum Überleben. Seine Mutter wurde immer dünner und kraftloser. Seit der letzten Erkältung im Herbst, war sie zusehendst schwächer geworden. Auch jetzt hustete sie noch häufig. André machte sich große Sorgen um seine Mutter, obwohl sie ihm stets versicherte, dass es ihr gut ging. Nur der Husten störte sie, mehr nicht. Einen Arzt wollte sie auch nicht aufsuchen. „Wozu brauchen wir einen Arzt?“, sagte sie immer: „Er wird bei mir ohnehin nichts feststellen und dafür auch noch Geld verlangen! Es wird schon. Sobald der Frühling da ist, wird es mir besser gehen.“ Das war gelogen. Sie wusste das selbst nicht, aber es war gelogen. Im Frühling wurde es nicht besser, sondern noch schlimmer. Etwas hatte sich in ihren Lungen eingenistet und verging nicht mehr. Eine Krankheit, die sie im Inneren immer weiter verzehrte und irgendwann ans Bett fesselte. André hielt das nicht mehr aus und entgegen den Protesten seiner Mutter, holte er einen Arzt. Es war ein anderer, nicht der Habgierige, den er für seinen Vater geholt hatte. Dieser erwies sich wenigstens als nett und versuchte zu helfen, ohne dafür große Summen zu verlangen. Sophie besuchte ihre Tochter, so oft wie sie konnte und hinterließ immer wieder Geld für Medizin. Das alles half aber nicht. Madame Grandier wurde nie mehr gesund. Der Husten wurde schlimmer und sie bekam häufiger Atemnot. Bis sie eines Tages ihrer Krankheit erlag. André traf das sehr hart. Nun war er alleine. Außer seiner Großmutter gab es niemanden mehr von seinen Angehörigen. Er war verbittert und zerrissen, aber konnte nicht weinen. Das tat seine Großmutter schon genug für sie beide. Er musste jetzt stark und tapfer sein. Für Tränen würde er Zeit finden, wenn er allein sein würde. Jetzt galt es Entscheidungen zu treffen und Vieles zu erledigen. Am Tag der Beerdigung versammelte sich eine kleine Gruppe von Menschen. Freunde und Nachbarn, die Madame Grandier kannten, begleiteten den Trauerzug. Einzig Andrés Großmutter fehlte, da sie sich verspätete. André wusste nicht zu sagen, warum. Eigenartigerweise hatte er das nicht sonderlich zur Kenntnis genommen. Er musste durchhalten. Er musste diesen Tag aushalten. Später würde er sich diese Fragen stellen, aber nicht jetzt. Der Trauerzug erreichte den Friedhof und musste kurz davor zum Stehen kommen. Eine Kutsche hielt dort und zwei Personen stiegen daraus. Sie gingen gemeinsam auf den Trauerzug zu. Eine kleine, alte und rundliche Frau im schwarzen Kleid stützte sich am linken Unterarm eines jungen, blondköpfigen Offiziers. Er trug den rechten Arm in einer Schlinge. André war für einen Wimpernschlag baff. Alains Miene verfinsterte sich dagegen. „Was will das eiskalte Mannsweib hier?!“, knurrte er bissig. Die zwei Personen kamen an. Die alte Dame schniefte und tupfte ununterbrochen mit einem Taschentuch ihre Augen unter der runden Brille. Sie warf sich sogleich André in die Arme und schluchzte noch heftiger. „Warum? Warum musste es nur geschehen? Erst das Attentat auf Lady Oscar vor zwei Wochen... und jetzt meine Tochter...“ „Großmutter...“ Mehr brachte André nicht heraus. Ihm schnürte es den Brustkorb zu. „Mein ehrliches Beileid...“, sagte die blonde Person zu André und sah ihn lange an. Er hörte die Aufrichtigkeit ihrer Worte deutlich aus ihrer Stimme und in ihren blauen Augen glaubte er wahres Mitgefühl zu erkennen. „Danke... Lady Oscar...“, murmelte André verstockt und hielt ihrem Blick stand. „Das sollen wir Euch glauben?!“, platzte es aus Alain heraus und alle Augenpaare richteten sich überrascht auf ihn. Das spornte ihn sogar noch mehr in seiner Aufgeschlossenheit an: „Euch ist doch eh alles egal! Während hier Menschen vor Hunger und Krankheit sterben, feiert Ihr lieber Feste mit Eurer verschwendungssüchtigen Königin in Eurem schönen Versailles! Also schert Euch wieder dorthin!“ „Alain...“, flüsterte Andre baff. Seine Großmutter riss sich sogleich aus seinen Armen und strafte Alain mit einem bösen Blick. „Was fällt dir ein! Du hast kein Recht so mit Lady Oscar zu sprechen!“ „Schon gut, Sophie“, unterbrach Oscar sie mild, ohne sie dabei anzusehen. Ihre Haltung war angespannt und ihr eisiger Blick galt nur Alain, als überlege sie, ihn auf der Stelle herauszufordern. Dieser gab nicht klein bei und focht mit ihr ein stummes Duell. Für ein paar Sekunden, die allen wie Stunden vorkamen, herrschte eine gespannte Stille bis schließlich Oscar nachgab und ihre Aufmerksamkeit Sophie schenkte. „In Anbetracht der Situation werde ich diesen Mann ignorieren und mich zurückziehen. Ich warte an der Kutsche auf dich. Du hast ja deinen Enkel.“ Sie warf André einen kurzen Blick zu. „Gib auf sie acht. Sie ist labil.“ Dann machte sie kehrt. Der Trauerzug setzte seinen Weg fort und Oscar beobachtete ihn aus der Ferne. Es war nicht das erste mal, dass sie der Abneigung gegenüber der Adligen und Ihrer Majestät begegnete. Vor vier Jahren war sie dem gleichen Hass und Verachtung in Arras begegnet. Sie begriff, dass das Volk sich mit jedem Jahr mehr und mehr von dem Königshaus abwandte. Aber was konnte sie denn dagegen unternehmen? Sie hatte die Königin schon oft darum gebeten, sich mehr dem einfachen Volk zu widmen - aber erfolglos. Seit die Königin noch dazu eine gewisse Madame de Polignac zur Freundin hatte, mehrten sich die Ausgaben für Schmuck, Kleider, Bälle und Konzerte noch mehr. Das Attentat vor zwei Wochen hatte Oscar ganz bestimmt dieser machtgierigen Madame zu verdanken. Wenn ihr nicht Graf von Fersen zu Hilfe gekommen wäre, wäre sie vielleicht von den Schurken getötet worden. Aber so wurde sie zum Glück nur an ihrem rechten Schulterblatt verwundet und musste ihren Arm für längere Zeit in einer Schlinge ruhig halten. Leider hatte sie keine Beweise über den Drahtzieher des Überfalls, um diese gerissene Madame zu überführen. Oscar ließ einen schweren Seufzer von sich. Sie konnte doch den Menschen nicht erklären, dass Marie Antoinette nur deshalb so viel ausgab, um ihrem Liebeskummer zu entkommen. Das würde sowieso niemanden interessieren und es würde erst Recht keiner verstehen! Oscar selbst dagegen schon, denn der Liebeskummer hatte auch sie getroffen. Zumindest dachte sie das. Sie fühlte sich zu Graf von Fersen hingezogen. Aber dieser liebte Marie Antoinette und diese den Grafen. Nur durften sie sich diese Liebe niemals eingestehen. Marie Antoinette und von Fersen hätten bestimmt ein schönes Paar abgegeben, wenn es ihnen erlaubt wäre, sich zu lieben... Der Trauerzug in der Ferne blieb vor einem Haufen ausgehobener Erde stehen. Ein paar kräftige Männer ließen dann den Sarg mit Seilen in die Grube hinab. Oscar vernahm schwach das Wehklagen von Sophie und sah wie ihr Enkel sie in seinen Armen zu trösten versuchte. Oscar betrachtete ihn ausgiebig, obwohl aus dieser Entfernung nicht viel zu erkennen war: Nur seinen Rücken; sein dunkelbraunes, kurzes Haar und seine schmale Statur. Und in ihrem Geist, seine grünen Augen. Dieser Blick ließ sie wieder an das sanfte Gras oder die Blätter an den Bäumen im lauwarmen Sommer denken und wie der Wind hauchzart darüber streifte. Der Wind wehte auch jetzt leicht an ihr vorbei, streifte ihr ein paar Haarlocken ins Gesicht und es begann auf ihrer Haut zu kribbeln. Oscar schloss für kurze Zeit die Augen und versuchte ihren aufgeweckten Herzschlag zu beruhigen. Was war nur schon wieder mit los?! Da war wieder das gleiche Gefühl, wie bei der ersten Begegnung mit ihm! Das lag aber schon vier Jahre zurück und sie glaubte diesen Vorfall von damals längst vergessen zu haben! Wenn sie nur wüsste, was dieses Gefühl zu bedeuten hatte?! Dann wäre es ihr vielleicht besser gegangen... Oscar öffnete schlagartig ihre Augen. Nein! Das durfte nicht sein! Sie durfte sich solche Gefühle nicht eingestehen! Sie sollte hartherzig sein und wie ein Soldat auftreten! So, wie die Erziehung und die Position es von ihr verlangten! Sie zog streng ihre Augenbrauen zusammen und verbannte ihre Gefühlsregungen in den tiefsten Winkel ihrer Wahrnehmung. Dennoch haftete ihr undurchdringlicher Blick nur auf diesen André und seiner Großmutter. Kapitel 6: Bekanntschaft ------------------------ Es verging etwa eine Stunde, bis die Beerdigung zu Ende war. Oscar sah noch, wie sich die Menschen der Reihe nach von André und Sophie verabschiedeten, ihnen bekräftigend die Hände schüttelten, Beileid aussprachen oder eine tröstende Hand auf die Schulter legten. Dann gingen sie ihres Weges – alle, bis auf diesen rauen Gesellen mit dem roten Halstuch. Vielleicht würde Oscar ihn sich irgendwann einmal vorknöpfen, aber nicht jetzt. Es war wirklich nicht der passende Zeitpunkt dafür. Sie sollte lieber ihrem einstigen Kindermädchen beistehen – und das schloss Sophies Enkel mit ein... Die drei näherten sich der Kutsche. Wie es aussah, war dieser schwarzhaarige Mann Andrés bester Freund. Ein Freund. Oscar wusste nicht einmal die wahre Bedeutung dieses Wortes. In Versailles hatte sie schon genug von den falschen Freunden, die Ihre Majestät umschmeichelten um daraus ihre eigenen Vorzüge zu ziehen. Das beste Beispiel war Madame de Polignac. Der einzige Aufrichtige in diesem habgierigen Haufen schien Graf von Fersen zu sein. Und eben dieser Graf war auch ihr Freund geworden. Aber er war niemand, an den sie sich hätte anlehnen können oder mit dem sie gemeinsam Zeit verbringen könnte. Von Fersen interessierte sich nur für Marie Antoinette. Oscar hätte den beiden von Herzen das Glück gegönnt, aber es war unmöglich. Marie Antoinette war die Frau des Königs von Frankreich und von Fersen konnte ihr daher nicht sagen, dass er sie liebte - das hatte er Oscar vor wenigen Tagen selbst offenbart. Oscar hatte Mitleid mit diesem Mann und konnte ihm wiederum nicht sagen, was sie für ihn empfand. Und da war noch dieser André mit seinen sanftgrünen Augen, der sie eigenartigerweise in seinen Bann zog. Nein! Was war da schon wieder mit ihr los?! Warum verfiel sie immer wieder diesen Gefühlen?! André erreichte zusammen mit seiner Großmutter und Alain die Kutsche. Sophie hatte sich etwas gefangen und Oscar bekam gerade mit, wie sie auf ihren Enkel einredete: „...du musst jetzt mitkommen! Auf dem Anwesen wirst du alles bekommen, was du brauchst! Du wirst dort arbeiten und wohnen können! Ich habe erneut mit Lady Oscar darüber gesprochen und sie hat wieder eingewilligt.“ „Danke, Großmutter, aber ich möchte in Paris leben und arbeiten. Das ist meine Heimat und ich bin hier aufgewachsen“, erklärte André seiner Großmutter und blieb mit ihr und Alain vor Oscar stehen. „Ich möchte ein freier Mann bleiben und selbst über mein Leben bestimmen.“ Bei seiner Aussage bekam Oscar ein Stechen in ihrer Brust und ihre Augen weiteten sich leicht. Mit einem Mal begriff sie, warum sie ständig an das sanfte Gras und den streifenden Wind dachte, wenn sie André sah: Die Farbe seiner Augen vermittelten ihr immer das Gefühl der Freiheit, die sie nicht hatte. Denn sie war dazu verpflichtet, zu erfüllen, was die Erziehung von ihr forderte. Sophie strafte ihren Enkel mit einem gekränkten Blick. „Du sprichst schon wie dein Vater! Ich versuche dir deine Zukunft zu sichern und du denkst nur an dich selbst!“ Sie wandte sich sogleich an ihren Schützling: „Bitte, Lady Oscar, sagt Ihr es ihm. Vielleicht hört er auf Euch...“ André sah von seiner Großmutter direkt in Oscars feines Antlitz. Er glaubte in ihr etwas zu erkennen, was er als Staunen und Bedauern zugleich deutete. Das überraschte ihn erneut. Diese Frau war ein Geheimnis für sich. Oscar konnte seinem Blick nicht standhalten und senkte ihn auf seine Großmutter. „Nein, Sophie, es tut mir leid“, meinte sie zu ihr in einem sanften Tonfall: „Ich kann niemandem zu etwas zwingen. Freiheit ist ein kostbares Gut. Ich finde, jeder Mensch hat das Anrecht darauf, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.“ Sie drehte sich um und wollte schon in die Kutsche steigen, aber blieb jedoch noch kurz stehen. „André...“, sprach sie wieder gefasst und sachlich: „...du kannst aber trotzdem jederzeit zum Anwesen kommen und deine Großmutter besuchen. Das kann dir niemand verbieten...“ Sie sah ihn dabei kein einziges Mal an und stieg eilig in das Gefährt. „Aber, Lady Oscar...“ Sophie hätte ihr gern widersprochen, aber beließ es dabei. Heute war nicht der richtige Tag für etwaige Diskussionen. Sie verabschiedete sich daher noch von ihrem Enkel: „...aber überlege es dir trotzdem!“, ermahnte sie ihn zum Schluss und fuhr dann mit ihrem Schützling zurück zum Anwesen. André sah der Kutsche ungläubig eine Weile hinterher. Sogar sein Freund war sprachlos. Die Rede von Oscar hatte sie verblüfft und ihre Meinung über sie in Frage gestellt. Langsam begriff André noch eine Tatsache: Oscar war selbst eine Gefangene ihrer Pflichten und ihrer Erziehung. Sie tat ihm aufrichtig leid. Er würde irgendwann zum Anwesen gehen, aber nicht nur um seine Großmutter zu besuchen, sondern auch um mehr über Oscars unergründliche Persönlichkeit zu erfahren. Der Frühling ging zu Ende und machte Platz für den Sommer. Es waren zwei Monate seit der Beerdigung seiner Mutter vergangen und er hatte seitdem seine Großmutter nicht wieder gesehen. Sie hatte als Haushälterin bestimmt viel zu tun und schaffte es nicht, ihren Enkel zu besuchen. Also musste er das tun. André plagte langsam ein schlechtes Gewissen. Vielleicht würde er auch Oscar antreffen, woran er eigentlich zweifelte. Denn Oscar musste bestimmt an der Seite der Königin in Versailles sein. Neuerdings tauchten nämlich Gerüchte auf, dass Marie Antoinette mit dem Grafen von Fersen eine Affäre hätte. André interessierten die Gerüchte am Hofe wenig. Er hatte eigene Sorgen. Wie Alain es einst prophezeit hatte, hatte der Meister ihnen den Lohn ganz gestrichen, weil das Geld fehlte. Den beiden blieb nichts anderes übrig, als sich eine neue Arbeit zu suchen. Das war eine vergebliche Mühe. Niemand hatte eine Anstellung für sie - bis deren zwei Freunde, also die Brüder Jérôme und Léon, sich als Söldner in einer Kaserne bei Paris anmeldeten. Das hatte André und Alain dazu bewogen, ihnen gleich zu tun. Denn es versprach einen sicheren Lohn, wenn es auch nicht viel war. Für André und Alain begann der neue Dienst am ersten Tag des folgenden Monats. Bis dahin waren es allerdings noch drei Wochen und André beschloss seine Großmutter zu besuchen. Denn wenn er erst als Söldner seinen Dienst antreten würde, würde er aufgrund des Schichtdienstes erst recht keine Zeit mehr dafür haben. André stand beizeiten auf und machte sich auf den Weg zum Anwesens de Jarjayes. Er mietete sich eine Droschke, um schneller dorthin zu kommen. Das Geld dafür nahm er aus seinen Ersparnissen. Zurück würde er allerdings zu Fuß gehen müssen. Das Anwesen war sehr groß und er kam für einen kurzen Augenblick nicht aus dem Staunen heraus. Schon allein der Empfangssaal war doppelt so groß wie seine gesamte Wohnung. Sowohl von Außen, als auch von innen, sah alles elegant und extravagant ausgebaut. Das alles musste ziemlich viel Geld gekostet haben. So viel würde er sicher in seinem ganzen Leben nicht zusammenbekommen. Ein Mann im mittlerem Alter, ein gepflegt gekleideter Bürgerlicher, kam auf ihn zu und fragte nach seinem Anliegen. Er war ein Bediensteter, das leuchtete André gleich ein und er kam sich in seiner ärmlichen Kleidung schäbig vor. „Mein Name ist André Grandier, ich bin der Enkel von Sophie Glaces...“, versuchte er sich höflich vorzustellen und sein Unbehagen damit zu verdrängen. „Ich komme, um sie zu besuchen...“ Der Mann beäugte ihn von oben bis unten, dann nickte er. „Mein Beileid, wegen deiner Mutter. Madame Glaces ist in der Küche. Folge mir, ich werde dich zu ihr geleiten.“ „Danke“, brachte André leise heraus und folgte dem Mann. Er wurde gleich in das untere Stockwerk in die Küche geführt, wo er auf seine Großmutter traf. Der Bedienstete ging seines Weges. Sophie überschüttete André mit Fragen: Ob es ihm gut ging? Ob es ihm an etwas fehlte? Und ob er sich nicht doch noch überlegt hatte, hier auf dem Anwesen zu arbeiten und zu wohnen. Nebenbei bereitete sie für ihn einen Tee zu und stellte eine Schale mit Gebäck vor ihm auf den Tisch. André war von ihrer Fürsorge ein wenig überrascht. Aber das änderte nicht an seiner Meinung und er erzählte ihr, dass er demnächst als Söldner sein Geld verdienen würde. Sophie riss ihre Augen auf! Er sah es ihrem Gesicht förmlich an, dass ihr seine Entscheidung nicht passte. Empörung und Fassungslosigkeit zeichneten sich auf ihrer faltigen Stirn. „Du willst Soldat werden?“ „Was ist schon dabei, Großmutter?! Das ist gut verdientes Geld, reicht fürs Überleben, ist eine sichere Stelle und dort sind nur Bürgerliche, wie ich.“ „Weißt du überhaupt, was du da redest?!“ Sophie runzelte streng die Stirn. „Soldat zu sein ist hart! Und wenn es ums kämpfen geht, dann wirst du dein Leben einsetzen müssen!“ „Lass ihm doch seinen Willen, Sophie“, sagte eine hohe, angenehme Stimme von der Türschwelle. Die beiden richteten ihre Blicke gleichzeitig zur Tür. Sophie milderte sogleich ihren Gesichtsausdruck. „Oh, Lady Oscar. Ihr seid schon mit Eurer Fechtübung fertig? Ich mache Euch sofort einen Tee.“ „Danke, Sophie.“ Oscar bewegte sich nicht. Ihr undurchdringlicher Blick ruhte auf André. „Schön, dass du deine Großmutter besuchst.“ André nickte ihr nur unmerklich zu. Er konnte nichts sagen und starrte die Frau in Männerkleidern nur baff an. Oscar war nicht in ihrer Uniform und die Schlinge um ihren Arm war auch weg. Sie trug nur ein weißes Hemd und eine braune Hose. Der kleine Ausschnitt verriet nicht viel, nur ihren schlanken Hals und den schmalen Ansatz ihres Brustbeines. Dennoch verübte ihre Erscheinung eine Anziehungskraft auf ihn aus, dass es ihm die Sprache verschlug. Und so bemerkte er auch nicht die andere Person an ihrer Seite. „André!“ Erst ihre Stimme bewegte ihn dazu, hinzusehen. Er erhob sich verblüfft von seinem Stuhl. „Rosalie...“ Das junge Mädchen, das schon seit geraumer Zeit verschwunden war, eilte zu ihm. Sie drückte sich an ihn. Unverhofft flossen ihr die Tränen, wie ein rauschender Wasserfall. „Es tut mir leid, wegen deiner Mutter. Mein herzliches Beileid... Ich weiß wie du dich fühlen musst...“ Sie schluchzte herzzerreißend in seinen Armen. André verharrte perplex. Das hatte er nicht erwartet! Weder Rosalie hier zu begegnen, noch ihre Reaktion und dass sie ganz nebenbei in Knabenkleidern war. Viele Fragen schossen ihm durch den Kopf, aber keine einzige konnte er herausbringen. „Sei beruhigt, André“, erklärte Oscar bei diesem Anblick und ein sichtbares Lächeln stahl sich auf ihren Lippen. „Bei mir macht sie das fast tagtäglich.“ André nickte ihr wieder wortlos zu. Er wusste nicht, wie man mit Frauen richtig umgeht und wie er auf solch eine unerwartete Reaktion von Rosalie reagieren sollte. Das war eher Alains Sache. „Was...“, versuchte André seine Sprache doch noch zu finden: „Was machst du eigentlich hier, Rosalie?“ Er fühlte sich sogleich erleichtert, als Rosalie sich von ihm entriss, sich die Tränen mit ihrem Handrücken weg wischte und wieder gefasst wirkte. „Lady Oscar hat mich bei sich aufgenommen und sogar die Mörderin meiner Mutter gefunden!“ „Leider haben wir keine Beweise, um sie zu überführen“, fügte Oscar mit einem ermahnenden Unterton hinzu, der vermuten ließ, dass dieses Thema für Außenstehende unzugänglich war. André war noch erstaunter als bisher. Diese Frau faszinierte ihn mehr und mehr. Er versuchte ausdruckslos zu bleiben und sie nicht die ganze Zeit nur anzustarren. Deswegen sah er wieder Rosalie an und fand schon die nächste Frage: „Warum trägst du denn Knabensachen?“ Rosalie sah kurz an sich hinab und dann wieder auf ihn. „Ach, das trage ich nur für Fechtübungen und bei Ausritten. Lady Oscar bringt mir so Vieles bei.“ „Du wirst mir im Fechten langsam ebenbürtig“, lobte Oscar kurz angebunden und bewegte langsam ihre Füße. Sie ging an den Tisch und legte darauf zwei Degen ab. Dabei warf sie einen Blick auf André und etwas Geheimnisvolles glomm in dem sonst so eisigen Blau ihrer Augen. „Kannst du eigentlich fechten? Wenn du ein Soldat werden willst, musst du das können.“ Insgeheim dachte sie an den Tag ihrer ersten Begegnung mit ihm und was sie sich an dem Tag der Beerdigung von seiner Mutter vorgenommen hatte. André wurde sofort hellhörig. Das klang nach einer höflichen Herausforderung. Er glaubte das gar in ihrer Stimme vernommen zu haben. „Ich kann fechten“, meinte er aufrichtig. Sie hatte nun sein Interesse geweckt. Nicht, dass er sich mit Frauen schlug, aber mit dieser einer würde er es aufnehmen. Und ganz nebenbei meldete sich auch noch sein gekränkter Stolz von damals, als sie ihn geohrfeigt hatte. „Ich habe mit Alain oft genug trainiert. Wenn Ihr möchtet, kann ich Euch mein Können beweisen.“ „Wie interessant...“ Oscars himmelblaue Augen leuchteten verzückt. Der Freund von André mit dem roten Halstuch schwebte ihr sogleich wieder in Erinnerung. „Aber Lady Oscar!“, protestierte Sophie im Hintergrund: „Ihr wollt doch nicht ernsthaft mit ihm fechten?!“ „Keine Sorge, Sophie, es sind nur Übungswaffen.“ Oscar schnitt unwillkürlich eine Grimasse. Mehr und mehr reizte es sie, mit ihm in den Hinterhof hinaus zugehen und zu kämpfen. Sie nahm einen Degen vom Tisch und reichte ihn André. „Hier, nimm. Ich werde schon Rücksicht nehmen und dich nicht gleich drangsalieren.“ André nahm wie selbstverständlich den Degen an sich und auch seine Augen leuchteten begeistert. Die kalte Klinge war nicht schwer und lag gut in der Hand. „Ich werde auch Rücksicht nehmen, weil Ihr eine Dame seid.“ „Dann bist du der Erste, der mich als eine Dame betrachtet.“ Oscar verzog ein hämisches Grinsen. „Obwohl ich eine Frau bin, kann ich fechten wie ein Mann.“ Ja, das konnte sie. André bekam das gleich bei dem ersten Angriff zu spüren. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und agil, wie bei einer Katze. Sie war schnell und flink. Aber auch er gab nicht nach und hielt ihr stand. Er parierte gekonnt ihre Hiebe und schlug mit Härte zurück. Oscar wich ihm aus, versuchte seine Hiebe auszumanövrieren und ihn gleichfalls mit ihrem Nächsten zu überraschen. Die versprochene Rücksicht verflog bei allen beiden schon in wenigen Minuten des Fechtens. Und da war noch etwas: André glaubte dabei in Oscar eine andere Art entdeckt zu haben, die er bei ihren bisherigen Begegnungen nicht gesehen hatte. Oscar war nicht so gehemmt und geziert, sondern ausgelassen, gab sich der Fechtübung vollkommen hin und wirkte ganz in ihrem Element. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so unbeschwert gefühlt wie jetzt. Und das auch noch, obwohl sie André kaum kannte. Zu allen Menschen war sie eigentlich distanziert und unnahbar. Sogar Graf von Fersen behandelte sie mit einem gewissen Abstand und zurückhaltender Höflichkeit. Oscar parierte Andrés Schläge und ging dabei rückwärts. Ein Stein ragte aus der Erde und sie stieß mit der Ferse gegen ihn. Sie stolperte unerwartet, der Degen flog ihr aus der Hand und ihr Oberkörper bekam eine gefährliche Rücklage. Instinktiv suchten ihre Arme nach einem festen Halt. Doch sie griffen ins Leere. Oscar geriet ins Wanken und verlor das Gleichgewicht. André zögerte keine Sekunde. Sofort griff er instinktiv nach ihrem Unterarm, zog Oscar an sich und bewahrte sie so vor dem Fall. „Danke...“, japste Oscar noch leicht außer Atem und konnte nicht verhindern, dass ihr Herzschlag sich noch mehr beschleunigte. Sein Gesicht war ziemlich nahe an ihrem und seine fesselnden Augen bannten sie, wie noch nie zuvor. André hielt ihr Handgelenk immer noch fest umschlossen. Er konnte sich seine Reaktion selbst nicht erklären. Mit einem Mal fühlte er sich in ihren blauen Augen verloren. „Gern geschehen...“ Mehr brachte er nicht heraus. „Du kannst mich... jetzt wieder loslassen...“, bat ihn Oscar nicht mehr ganz bei der Sache, aber mit fester Stimme: „Die Kampfübung ist vorbei...“ Erst da wurde sich André gewahr, wie gefährlich nah er Oscar an sich hielt. Sofort ließ er sie los und suchte nach ihrem Degen. Er hob ihn auf und reichte ihn ihr entschuldigend. „Hier, Eure Waffe...“ Oscar bedankte sich mit einem Nicken und nahm den Übungsdegen an sich. „Du kannst gut fechten. Das hätte ich nicht gedacht. Kannst du auch mit Schusswaffen umgehen?“, fragte sie ihn wieder sachlich, um von dem eigenartigen Vorfall abzulenken. „Ehrlich gesagt, habe ich noch nie eine Schusswaffe in der Hand gehabt“, gab André zu und verspürte ein leichtes Bedauern, als er einen geordneten Abstand zwischen Oscar und sich brachte. „Ein Soldat muss aber auch mit Schusswaffen umgehen können“, wand Oscar ein und ihr kam sogleich ein Einfall. „Wenn du möchtest, kann ich es dir beibringen.“ „Gerne!“, kam aus seinem Mund, noch bevor er darüber überhaupt nachgedacht hatte. Die Tragweite seiner Zustimmung fiel ihm zu spät auf. Oscar schmunzelte schon vergnügt. „Schön. Dann hole ich die Pistole und du wartest hier“, beschloss sie und ging energisch in Richtung Haus zurück. André war wieder hellwach und holte sie schnell ein. „Nein, wartet!“, hielt er sie auf, ohne sie zu berühren. Diesen Versuch würde er nicht noch einmal wagen. Oscar blieb abrupt stehen und runzelte die Stirn. Sie mochte keine Widersprüche. „Hast du es dir etwa anders überlegt?“ Ihr eisiger Blick jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Er hatte vor ihr keine Angst, es war ihm nur alles zu viel. Er überlegte schnell nach einer passenden Ausrede. „Ähm... nein. Ich muss mich nur langsam auf den Weg zurück nach Paris machen und zu Fuß werde ich eine ganze Weile benötigen.“ „Verstehe...“ Oscar glättete ihre Stirn und wieder huschte ein kaum merkliches Lächeln über ihre Mundwinkel. „Und wenn ich dir ein Pferd gebe?“ „Was?!“ André starrte sie mit großen Augen an und sein Kiefer schlug weit auf. Diese Frau war eigenartig und unergründlich. Seine Starre schien Oscar dagegen zu amüsieren. Sie lachte – laut und kehlig. Und vielleicht war es ihr Lachen, welches ihn aus der Verblüffung holte. Wenn sie jemanden auslachen wollte, dann sollte sie sich jemanden anderen suchen! André verzog schmollend sein Gesicht, warf den Degen zu Boden und stapfte an ihr vorbei. Immerhin kannte er schon den Weg bis in die Küche. Hinter seinem Rücken verging Oscar das Lachen. Das hielt ihn aber nicht auf und er beschleunigte seinen Schritt. Was erlaubte sie sich?! Kapitel 7: Abmachung -------------------- In der Küche verabschiedete sich André von seiner Großmutter, ohne auf ihre Bitte einzugehen, zum Essen zu bleiben. Er war beleidigt und wollte nur noch weg von hier. Dank dieser selbstgerechten Lady Oscar! Nur konnte er das seiner Großmutter nicht sagen – sie würde höchstwahrscheinlich seine Gemütslage ohnehin nicht verstehen und ihn noch zurechtweisen, um ihren Schützling zu verteidigen! Auf das alles verzichtete André gerne! Er brummte nur einen Abschiedsgruß, verließ hastig die Küche und dann das Anwesen. Im Vorhof holte ihn überraschenderweise Rosalie ein. Sie hatte sich schon umgezogen: Sie trug jetzt ein rosafarbenes Kleid, was André nur beiläufig auffiel und eigentlich völlig gleichgültig war. „Ich begleite dich zum Tor“, sagte Rosalie fast außer Atem und André nickte ihr zu. Er war verstimmt. Schon wieder hatte diese Oscar ihn aus der Fassung gebracht und an seinem Ego gekratzt. „Ich habe gehört, wie Lady Oscar gelacht hat...“, sprach Rosalie fast flüsternd. „Sie hat mich ausgelacht!“, korrigierte sie André frustriert. Rosalie gab einen Seufzer von sich. Sie konnte seine schlechtgelaunte Gemütslage durchaus verstehen, aber nicht vertreten. Sie versuchte es ihm schonend beizubringen. „Das darfst du ihr nicht übel nehmen, André.“ „Und warum nicht?“, konterte er unverstanden und verzog sein Gesicht: „Nur weil sie adlig ist, darf sie sich deswegen alles erlauben?“ „Ich verstehe dich, aber bitte hör mir zu...“, bat ihn Rosalie leise und André gab nach. Er steuerte weiterhin aufgebracht auf das Tor zu, aber verlangsamte seinen Schritt und spitzte widerwillig seine Ohren. Rosalie atmete tief durch. „Lady Oscar ist im Grunde ein herzensguter Mensch. Es war bestimmt nicht ihre Absicht, dich auszulachen... Sie lacht eigentlich nie und heute war das erste Mal, dass sie glücklich ausgesehen hat. Ich darf es dir eigentlich nicht erzählen, aber du hast sie aus ihrem Kummer geholt. Das hat bisher noch niemand geschafft...“ Das verblüffte André. „Was für einen Kummer?“, wollte er auf einmal wissen. Plötzlich war seine Kränkung vergessen. Es war für ihn irgendwie unbegreiflich, dass solche adligen Menschen wie Oscar so etwas wie Kummer hatten. Er sah Rosalie von der Seite pikiert an. „Und warum ist sie nicht glücklich? Sie hat doch alles!“ „Ja, sie hat alles, aber sie leidet darunter“, vertraute ihm Rosalie an. Sie glaubte ihn und seinen Freund eigentlich gut zu kennen. Sie kamen doch früher so gut miteinander aus und darauf baute sie. „Ihre Erziehung und Position erlauben nicht, dass sie Gefühle zeigt und sich wie eine Frau benimmt. Und da ist dieser Kummer um den Grafen von Fersen...“ Die letzten Worte fielen ihr unbedacht aus dem Mund. „Von Fersen?“, unterbrach André sie fassungslos. Es stieß ihn ein wenig vor den Kopf, er geriet in Verwirrung. „Du meinst doch nicht etwa den Liebhaber der Königin?“ „Psscht, nicht so laut!“, ermahnte ihn Rosalie und schaute sich achtsam um. Niemand war in der Umgebung zu sehen. Sie hatte unbeabsichtigt ihre Vermutung verplappert. Sie hatte bisher niemandem davon erzählt, aber André war ein vertrauenswürdiger Mensch. Und er hatte es als einziger geschafft, Lady Oscar aus ihrem unüberwindbaren Schutzwall zu locken. Vielleicht war es das, weshalb Rosalie mit ihm offen darüber redete. Oder weil sie dadurch hoffte, dass André eine bessere Meinung über ihre Schutzpatronin bekam. Sie atmete auf. Das war ein sehr diskretes Thema. „Ja, den Grafen meine ich. Er ist eigentlich ein sehr netter Mensch und hat mir einmal geholfen. An dem Tag, als ich dir und Alain zum ersten Mal begegnete. Weißt du das noch?“ „Du meinst der Adlige, der dich mit seiner Kutsche beinahe überfahren hätte, war von Fersen?“ Jetzt kam sich André etwas dümmlich vor. „Den meine ich...“ Am großen Eisentor wechselte Rosalie jedoch das Thema. Sie fragte nach Alain und ließ schöne Grüße an ihn ausrichten. André verabschiedete sich dann von ihr und grübelte über das Gespräch auf dem Heimweg nach. Er rief immer wieder in seinem Kopf hoch, was Rosalie ihm erzählt hatte: Wie es aussah, war Oscar in von Fersen verliebt und gestand es sich nicht einmal ein. Dieser Graf pflegte jedoch eine Affäre mit der Königin. Was für eine verrückte Welt! Und Oscar tat ihm dabei aufrichtig leid. Eine Frau, die nie ihre Gefühle zulassen durfte... Die das Leben eines Soldaten führen musste, nur um ihre Pflichten zu erfüllen... Sie war zum Bedauern. So eine Frau konnte nur einsam und unglücklich sein, wie Rosalie es ihm vortrefflich geschildert hatte. André seufzte schwer und bekam plötzlich den Wunsch, Oscar noch einmal aufzusuchen und ihr Angebot anzunehmen. Vielleicht in ein paar Tagen. Immerhin hatte er noch drei Wochen Zeit, bis sein neuer Dienst in der Kaserne begann. Oscar verstand sich selbst nicht mehr. Dieser André schien ihr bisheriges Leben auf den Kopf zu stellen und in ihr eine Art zu erwecken, die sie selbst nicht kannte. Während der Fechtübung vor einigen Augenblicken hatte sie sich frei und unbefangen gefühlt, wie noch nie in ihrem Leben zuvor. Nicht einmal mit Rosalie hatte sie dieses Gefühl, obwohl sie das Mädchen sehr mochte und ihr gerne half. André hatte etwas an sich, dass sie all ihre Sorgen vergessen ließ. Sogar den Kummer um Graf von Fersen. Oscar hätte André gerne das Schießen beigebracht, um mit ihm noch etwas mehr Zeit zu verbringen, gestand sie sich selbst insgeheim zu. Sie hatte gesehen wie Rosalie ihn zum Tor begleitet hatte und fühlte sich dabei verlassen. Sie hatte ihn verletzt – das begriff sie, als er wortlos wegging und sie alleine im Hinterhof stehen ließ. Das hätte sie normalerweise für unverschämt empfunden, aber dem war nicht so. Sie fühlte sich schuldig und wollte ihren Fehler korrigieren. So zog sie eilig ihre Weste und Ausgehjacke an und rannte zum Stall. Bemerkenswert, wie leicht es ihr gerade fiel, ihrem aufgeweckten Herzen zu folgen. Ihr unerwartet erhöhter Pulsschlag trieb sie an, sich bei André zu entschuldigen. André hatte nicht einmal die Hälfte seines Heimweges geschafft, als er den Galopp mehrerer Pferde hinter sich hörte. Er wechselte auf den Straßenrand, um die Reiter vorbeizulassen und nicht über den Haufen geritten zu werden. Die Pferde kamen näher, aber überholten ihn nicht. Sehr eigenartig! Sie verlangsamten sogar ihr Tempo, als würden sie sich seinem Gang anpassen wollen. Das jagte André ein unangenehmes Kribbelgefühl im Nacken ein und er blieb stehen. Vorsichtig drehte er sich um und verharrte wie versteinert auf der Stelle. Vor ihm standen zwei Pferde und auf einem davon, ein weißer Schimmel, saß Oscar. Das andere braune war ohne Reiter und sie hielt es an den Zügel hinter sich fest. Ihr Blick musterte ihn ausgiebig. Was wollte sie jetzt schon wieder von ihm?! „Du hast dein Pferd vergessen“, sagte sie ihm sachlich, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Mein Pferd?“, André blinzelte verdattert auf das reiterlose Tier. „Ja, dein Pferd, das ich dir geschenkt habe. Ich möchte nicht, dass sich deine Großmutter um dich Sorgen macht und betrübt ist. Also hier.“ Sie warf ihm die Zügel zu, die er ganz mechanisch auffing. Sekunden verstrichen, bis André sich regte. Er ging vorsichtig auf das braune Tier zu, ließ ihn an seiner Hand schnuppern, um dessen Vertrauen zu gewinnen und strich ihm dann über die Nüstern. Der Braune knabberte mit seinen weichen Lippen an seiner Haut, schüttelte etwas mit seiner Mähne und ließ sich von ihm berühren, als wäre er schon immer sein Herr. André war überwältigt. Er wollte dieses Geschenk nicht annehmen, aber andererseits wollte er nicht unhöflich sein. Seine Hände fuhren sanft vom Kopf des Tieres zu seinem massiven Hals und hinab bis zum Sattelknauf. Oscar beobachtete jede seiner Bewegungen und ein dezentes Lächeln umspielte ihre Lippen, ohne dass es ihr bewusst war. „Er ist das ruhigste Pferd“, erklärte sie ihm, während er seinen Fuß in den Steigbügel schob und in den Sattel stieg. „Kannst du überhaupt reiten?“ André nickte, obwohl das nicht ganz stimmte. Er konzentrierte sich mehr auf sein Tun. Es würde schon gehen. Immerhin saß er bereits im Sattel. Vorsichtig stupste er das Pferd mit seinen Fersen in die Flanken und es trabte los. André zog verkrampft an den Zügeln und schwankte zur Seite. Oscar war sofort zur Stelle und griff ihm unter dem Arm, damit er das Gleichgewicht behielt. „Brrrr“, befahl sie den Pferden und beide Tiere blieben stehen. Sie war selbst von ihrer spontanen Reaktion überrascht und ließ seinen Arm los. „Geht es wieder?“, fragte sie, um von ihren eigentlichen Gefühlen abzulenken. André nickte ihr wieder zu. „Danke...“, stammelte er etwas verspätet von sich. „Schon gut.“ Oscar überging seinen Versuch, seine Unerfahrenheit im Reiten zu überspielen. Sie rückte sich selbst im Sattel wieder gerade und begann, ihm einige grundsätzliche Dinge zu erklären: „Du musst mit dem Pferd fühlen und darfst ihm niemals deine Furcht spüren lassen. Sonst wirft es dich aus dem Sattel. Sei eins mit ihm und dann wird alles gut.“ André nahm Oscars Rat an. Er versuchte sich auf das Tier einzulassen und entspannte sich. Nach wenigen Minuten der Übung beherrschte er das Reiten, als hätte er es schon immer gekonnt. „Danke...“, wiederholte er verlegen und wagte nun die Frage, die ihn beschäftigte: „Wieso macht Ihr das? Ich meine, dass mit dem Pferd und dass Ihr mir das Schießen beibringen wollt...“ „Das frage ich mich auch...“ Oscar trabte mit ihrem Schimmel im gemächlichen Gang den Weg entlang und sah nur gerade aus. André ritt neben ihr einher und sie suchte nach einer plausiblen Erklärung auf seine Frage. Beunruhigende Stille... André glaubte schon, er wäre mit diesen knappen Worten abgefertigt worden. Doch Oscar setzte wieder an: „Vielleicht, weil ich mich schuldig fühle oder weil deine Großmutter meine Kinderfrau war... Ich weiß es nicht...“ Dass mit seiner Großmutter leuchtete ihm noch ein, aber das andere konnte André nicht so richtig verstehen. „Schuldig? Aber wofür?“ Oscar warf ihm einen scharfen Seitenblick zu und musterte ihn kurz. „Hast du etwa unsere erste Begegnung vergessen?“ André verneinte kopfschüttelnd. „Nein.“ Wie würde er das jemals vergessen können! In seinen Fingern kribbelte es und er musste den Drang niederringen, sich an seiner Wange zu fassen. „Die Ohrfeige hätte nicht sein dürfen!“ Oscar schaute wieder nach vorn. „Du wolltest mich davon abhalten etwas Unüberlegtes zu tun und dafür bin ich dir dankbar. Und das Lachen von heute... Ich wollte dich nicht auslachen. Ich war nur so ausgelassen...“ „Schon in Ordnung. Ich bin Euch nicht böse...“ André betrachtete ihr seitliches Profil und glaubte ihre Beweggründe immer mehr zu verstehen. „Ach nein?“ Oscar warf ihm schlagartig ihren Blick zu. „Das sah vorhin aber ganz anders aus.“ „Es hat sich wieder gelegt.“ Ihre Blicke trafen sich wieder und für den Bruchteil einer Sekunde verloren sie sich darin. Ein leicht rötlicher Hauch auf ihren Wangenknochen verriet es. Fast gleichzeitig brachen sie aber diesen Blickkontakt ab. „Wann kommst du deine Großmutter wieder besuchen?“, fragte Oscar wieder nüchtern. „Ich weiß es nicht“, meinte André, zuckte die Achseln und stellte ihr die Gegenfrage: „Wieso fragt Ihr?“ „Ich wollte dir doch das Schießen beibringen. Schon vergessen?“ „Nein. Wenn Ihr wollt kann ich jeden Tag kommen. Mein Soldatendienst beginnt erst in drei Wochen.“ „Das ist gut. Ich bin jeden Nachmittag auf dem Anwesen anzutreffen. Da du jetzt ein Pferd hast, wirst du schneller vorankommen.“ „Da habt Ihr recht.“ André musste schmunzeln. Irgendwie gefiel es ihm, sich mit ihr zu unterhalten. Dabei dachte er immer wieder an das, was ihm Rosalie über sie erzählt hatte und er musste ihr in vielen Punkten recht geben. Auch Oscar selbst fühlte sich ein wenig befreiter, wenn sie mit diesem jungen Mann zu reden. „Also abgemacht“, sagte sie, wendete ihr Pferd und bewog es zum Stehen. André zügelte seinen Braunen auch und da reichte ihm Oscar völlig unerwartet ihre Hand. „Dann bis morgen.“ André zögerte. Ihre Geste kam zu unerwartet. Dann aber ergriff er ihre Hand und drückte sie fest. Ihre Haut fühlte sich weich und glatt an. „Bis morgen...“, säuselte er und ein angenehmer Schauer kribbelte ihm über den Rücken. „Ach, ja...“, meinte Oscar nachdenklich, bevor sie los ritt: „Du kannst auch deinen Freund mit dem roten Halstuch mitbringen...“ „Alain?“ Was wollte sie denn von seinem Freund?! „Ja, ich würde auch gerne mit ihm Fechten.“ Besser gesagt: Sie hatte insgeheim eine offene Rechnung mit ihm. Aber das sagte sie nicht. André verstand das zwar nicht, aber er stimmte zu. „Ich werde es ihm ausrichten, Lady Oscar.“ „Gut, das wäre dann alles.“ Oscar entriss ihm ihre Hand, stieß ihrem Schimmel heftig in die Seiten und preschte davon. André sah ihr eine Weile verwundert nach, bevor er weiter in Richtung Paris ritt. Eine eigenartige Frau und doch war sie nur ein Mensch wie jeder andere. Oscar dagegen ritt nicht zurück zu dem Anwesen der de Jarjayes. Ein kleiner See befand sich nicht weit davon entfernt und sie trieb ihr Pferd dorthin – immer schneller, als wäre sie auf der Flucht. Auf der Flucht vor etwas, dass ihr unbekannt war. Und dass weder lebendig, noch greifbar war... Der See war schon in Sicht, aber Oscar zügelte ihr Pferd nicht. Sie trieb es um ihn herum, in der Hoffnung, ihre durcheinander geratene Gefühle in Ordnung zu bringen. Es war zwecklos. Ihr Schimmel wurde allmählich aus eigener Kraft immer langsamer, bis sie ihn schließlich ganz zum Stehen bewog. Er trabte auf den See zu, senkte seinen Kopf zum Wasser und trank bis sein Durst gestillt war. Oscar ließ ihn gewähren. Sie blieb im Sattel und klopfte ihm dabei beherzt auf den muskulösen Hals. „Du hast es nicht leicht mit mir, nicht wahr? Und nun habe ich deinen besten Freund verschenkt. Es tut mir leid...“ Ihr Schimmel hob seinen Kopf, schüttelte mit seiner Mähne und schnaubte, als hätte er sie verstanden. „Schon gut, ich steige schon ab.“ Oscar musste unwillkürlich schmunzeln. Sie warf ein Bein über den Sattel, sprang behände herab und nahm ihren vierbeinigen Gefährten kürzer an den Zügeln. Dieser rieb seinen Kopf an ihrer Ausgehjacke und Oscar kraulte ihn zwischen den Ohren. Sie mochte ihn, obwohl er nur ein Tier war, aber er war ihr schon seit Kindesalter ein treuer Begleiter. Den Braunen, den sie an André verschenkt hatte, hatte sie auch gemocht. Es war ihr Ersatzpferd und Packtier zugleich, falls sie auf ihrem Schimmel längere Strecke zu meistern hatte. So ähnlich wie damals, als sie ihren Familiensitz in Arras über zehn Tage besucht hatte. Oder ihr Haus in der Normandie, wo sie ab und zu einkehrte, wenn sie dienstfreie Tage bekam. Nun gehörte ihr Brauner diesem André und sie verspürte nicht einmal Bedauern. Oscar ließ von ihrem Schimmel ab, ging zu dem nahestehenden Baum und ließ sich unter der mächtigen Baumkrone nieder. Ihr Pferd trabte einige Schritte hinter ihr her, dann hielt es an und zupfte an den frischen Grashalmen. Oscar betrachtete ihn dabei, ohne richtig hinzusehen. So, als schaue sie durch ihn hindurch. Sie lehnte sich an den massiven Stamm des alten Baumes, zog ein Bein nahe an ihren schlanken Körper heran und hielt ihr Knie eng umschlungen. Sie konnte es nicht verhindern, wieder an André zu denken und an die kurze Unterhaltung mit ihm. Dass sie jeden Nachmittag auf dem Anwesen sein würde, war nicht ganz korrekt: Manchmal verbrachte sie ganze Wochen in Versailles! Als Kommandant in der königlichen Garde war es hin und wieder einfach dringend erforderlich, dass sie rund um die Uhr zur Verfügung stand. Besonders, wenn es viel zu tun gab. Manchmal blieb also gar keine Zeit, ihr Zuhause aufzusuchen. Warum hatte sie dann André etwas anderes vorgegaukelt? Sie hatte es ihm einfach so gesagt, ohne überhaupt darüber nachzudenken – einen inneren Impuls nachgebend, weil sie sich so sehr darauf freute, ihn regelmäßig wieder zu sehen. Das hieß somit, sie würde versuchen jeden Nachmittag auf dem Anwesen zu sein. Denn Versprechen einzuhalten, war ihr genauso heilig, wie ihre Pflichten gegenüber der Königin. Kapitel 8: Frau Kommandant -------------------------- „Ist nicht wahr, oder?!“ Alains Augen wurden immer größer, als André ihm die heutigen Ereignisse schilderte. Schon allein die Tatsache, dass dieses Mannsweib die verschollene Rosalie bei sich aufgenommen und sogar die Mörderin ihrer Mutter gefunden hatte, war unglaubwürdig genug. Aber das Pferd, auf dem André vor kurzem angekommen war, stellte seine Zweifel und seinen Argwohn gegenüber dieser adligen Frau in Frage. „Willst du damit etwa sagen, dass diese eiskalte Frau so etwas wie Gefühl besitzt?“ „Sie hat Gefühle, Alain“, bestätigte André und wunderte sich insgeheim, warum er sich eigentlich schon wieder für Oscar einsetzte. Wie jeden Abend war er zum Abendmahl bei Alain und seiner Familie zu Gast. Nach dem Tod seiner Mutter hatte sich Madame de Soisson freundlich seiner angenommen. Dafür half André der Familie wo er konnte. „Wenn du meinst...“ „Im Übrigen möchte sie auch mit dir fechten.“ „Im Ernst?“ Alain lachte ungläubig auf: „Darauf kann sie lange warten! Ich setze keinen Fuß auf dieses Anwesen ein! Und ich kämpfe grundsätzlich nicht gegen Frauen!“ „Wie du willst...“ - - - Oscar beeilte sich, aber zu ihrem Überdruss kam etwas dazwischen. Es schien, als wollte man sie heute in Versailles festhalten. Natürlich ahnte kein Mensch, dass sie eine Verabredung hatte. Die Königin betraute sie mit nichtigen Aufgaben und Oscar musste sie wohl oder übel erfüllen. „Ihr seid aber heute gereizt“, bemerkte Graf de Grirodel, als sie aus einem der Gewölbe des Schlossen von Versailles auf den Hof heraustrat. Oscar sah ihn nicht einmal an und setzte ihren Weg fort. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, ihn für seinen unfairen Kampf von vor sechs Jahren zur Rechenschaft zu ziehen. Aber sie kam nicht dazu und ließ daher die Sache ruhen. Mittlerweile hatte sie ihn sogar als ihren Untergebenen zu schätzen gelernt. Er unterschied sich von diesen verkommenen Höflingen und stand ihr zur Seite, wenn sie ihn brauchte. „Ihr übernehmt heute die Befehlsgewalt für mich. Ich muss noch etwas für Ihre Majestät erledigen und komme heute nicht mehr zurück.“ Sie sagte nicht, dass sie zu Graf von Fersen musste. Die Königin hatte sie gebeten, ihm auszurichten, dass sie ihn heute an einem anderen Ort zum heimlichen Treffen erwartete als sonst. Das war im Grunde keine schwierige Aufgabe, aber für Oscars Herz schon. Es litt und stach schmerzlich. Girodel begleitete sie zum Stallhof. „Nehmt wenigstens ein oder zwei Soldaten zu Eurer Sicherheit mit.“ Seit dem Attentat auf sie, empfahl er dies oft. „Ich brauche keine Leibgarde!“ Oscars Schimmel wurde ihr schon entgegengebracht, kaum dass sie die Stallungen erreichte. „Ihre Majestät braucht mehr Schutz als ich.“ Galant stieg sie in den Sattel, nahm die Zügel an sich und ließ Versailles im gestreckten Galopp hinter sich. Sie brauchte etwa zwei Stunden, bis sie ihr Ziel erreicht und die Nachricht überbracht hatte. Von Fersen wollte sie zum Bleiben und auf ein Glas Wein überreden und Oscar hätte sein Angebot vielleicht sogar angenommen, aber eine gewisse Verabredung ließ dies nicht zu. „Entschuldigt mich, Graf, aber ich bin in Eile“, sagte sie bedauernd und verabschiedete sich. Auf dem Anwesen kam sie am späten Nachmittag an. Im Stall konnte sie das braune Pferd in keiner der Boxen entdecken, was sie etwas erleichterte und ihr gleichzeitig ein mulmiges Gefühl bescherte. Hatte André etwa ihre Verabredung vergessen oder warum verspätete er sich? Oder wollte er womöglich nicht mehr kommen? Solche Fragen schossen ihr durch den Kopf, während sie in das Haus und dann auf ihr Zimmer ging. Im Laufen zog sie ihre weißen Handschuhe aus und legte dann den Waffengurt ab. Anschließend begab sie sich in ihr Schlafzimmer, um sich dort ihrer Uniform zu entledigen. André ritt etwa eine Stunde später in den Hof des Anwesens ein. Sofort kam ein Stallbursche und nahm das Pferd bei den Zügeln. „Ihr werdet schon von Lady Oscar erwartet“, sagte er und André wunderte sich etwas über die höfliche Anrede zu seiner Person. Das war für ihn ein wenig ungewöhnlich. In der Küche begrüßte er seine Großmutter. Sophie war immer noch wegen gestern verstimmt und brummte den Gruß beinahe trocken unter ihrer Nase. „Ich habe geahnt, dass du kommst. Ein Raufbold wie du, wird sich doch keinen Kampf entgehen lassen. Aber wehe dir, wenn du Lady Oscar verletzt!“ Da André sich in dem großen Haus nicht auskannte, wartete er wohl oder übel bei seiner Großmutter in der Küche. „Seid beruhigt, ich werde sie schon nicht verletzen. Außerdem wollen wir heute gar nicht fechten, sondern das Schießen üben.“ „Trotzdem! Das kommt auf das Gleiche hinaus!“, ermahnte ihn Sophie streng, ohne ihn zu beachten. André sagte daraufhin nichts und seufzte nur leise. Er setzte sich an den Tisch und beobachtete sie stumm bei ihrer Geschäftigkeit. Minuten vergingen wie endlose Stunden. André wusste sich nicht zu helfen und seine Großmutter verlor an ihn auch kein einziges Wort mehr. So, als wäre er gar nicht da. Dann zeigte sich eine junge Frau an der Türschwelle und André sah auf. „Rosalie“, grüßte er sie und erhob sich mit einem Lächeln der Erleichterung von der Sitzbank. Egal was nun folgen würde, Hauptsache er würde hier nicht mehr tatenlos sitzen müssen. „Schön dich zu sehen, André.“ Rosalie lächelte auch erfreut. „Lady Oscar hat mich gebeten, dich in den Hinterhof zu geleiten. Du sollst dort bitte auf sie warten, sie kommt gleich nach.“ Wieder musste André lange Minuten warten. Diesmal allerdings im Hinterhof. Aber das war besser als in der Küche bei seiner Großmutter zu bleiben. Hier konnte er die frische Luft einatmen und sich die Füße vertreten. An dem kleinen Brunnen blieb er stehen und schaute verträumt in der Natur um. „Du bist spät dran“, sagte Oscar tonlos. Sie kam mit einer Waffenkiste auf ihn zu. „Entschuldigt.“ André verbeugte sich leicht zum Gruß und richtete sich wieder auf. Nun leuchtete es ihm gleich nebenbei ein, weshalb sie ihn so lange warten ließ. Womöglich war das ihre Art, es ihm für seine Verspätung heimzuzahlen. Oscar marschierte an ihm vorbei zu einem kleinen Tisch, und stellte dort die Kiste ab. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und André betrachtete ihr Profil flüchtig von den Schultern bis zu den Hüften. Die Hose lagen ihr eng an den Beinen und verdeutlichen noch mehr ihr kleines Hinterteil. André musste schlucken, ihm war heiß und kalt zu gleich. „Willst du dort Wurzeln schlagen oder das Schießen lernen?!“ Oscar sah sich nicht einmal um, trotzdem fühlte sich André irgendwie ertappt. Er bewegte seine Füße. Oscar öffnete derweilen den Deckel der Kiste und als er zu ihr kam, drehte sie sich um. „Hier deine Pistole!“ Ohne hinzusehen nahm sie eine in die Hand und reichte sie ihm. „Diese wird für heute deine sein. Ich zeige dir, wie man sie lädt, zielt und abfeuert.“ André nickte und nahm die Waffe vorsichtig an sich. Irgendwie kam ihm Oscar heute anders vor als gestern. Sie war gereizt. Zwar verbarg sie das gekonnt, aber eine gewisse Schärfe in ihren Augen und der schneidende Unterton in ihrer Stimme, verrieten sie. „Gut.“ Oscar nahm daraufhin die andere Pistole aus der Kiste und führte ihm ein paar Griffe vor, bevor sie zum Aufladen überging. Sie richtete die Pistole auf eine bereits aufgestellte Zielscheibe und begann zu erklären: „Die Pistole sollte gut in der Hand liegen. Alles andere ist reine Übungssache. Die Atmung ist wichtig, sonst verfehlt man das Objekt, auch wenn man vorher gut zielt. Bleibe also immer ruhig, egal wie hektisch die Situation auch sein mag.“ Oscar feuerte instinktiv und traf ins Schwarze. „Du bist dran!“ André streckte seinen Arm mit der Pistole aus, kniff ein Auge zusammen und zielte angestrengt auf die durchlöcherte Zielscheibe. „Eins, zwei...“ „Halt!“ Oscar packte ihn rüde am Arm und verhinderte, dass er abdrückte. „So geht das nicht! Du stehst falsch!“ „Wie?“ André ließ seinen Arm sinken und Oscar entfernte sich von ihm, als hätte sie sich verbrannt. Bestimmt weil sie ihn berührt hatte, was für sie selbst überraschend war. So ähnlich wie gestern, als sie ihm das Reiten gelehrt und ihn kurz gestützt hatte. Sie schüttelte den Kopf, um mehr auf die Schießübung zu konzentrieren und zielte. „Du musst gerade stehen! Sprich: Bauch rein, Brust raus! Sonst wird das nichts! Und vergiss dabei nicht, ruhig zu atmen!“ André beobachtete erneut ihre Vorführung und versuchte sich mehr auf ihre Worte zu konzentrieren als auf ihre Haltung. Sie stand aufrecht, zog ihren Bauch ein und schob die Brust raus. Von der Seite konnte man zwar nicht viel von ihrer Oberweite erkennen, aber André war wie gefesselt. Um sich nichts anmerken zu lassen, zwang er sich, alles zu wiederholen, was sie ihm vorzeigte. Wenig später erschallten die ersten Schüsse. Zuerst von ihr, danach von ihm. Oscars zuvor gereizte Laune milderte sich, je mehr sie ihre Pistole abfeuerte und ihm immer wieder vorführte, wie er das am besten machen sollte. André warf ihr dabei seine Blicke zu. Wie sie da stand, die gesamte Zeit über hochkonzentriert, stabil und aufrecht. Ihre Muskeln waren angespannt und ihre Statur wirkte beinahe steif und unbeugsam. „Genug für heute“, meinte Oscar irgendwann später. „Es ist schon fast Abend.“ André gab ihr die Pistole zurück und Oscar legte sie zusammen mit der ihren in die Kiste. „Wie Ihr wünscht.“ Oscar schloss den Deckel. „Für den Anfang warst du nicht mal so schlecht.“ „Ich danke Euch.“ André wusste nicht mehr zu sagen. Auch während der Übung war er nicht gesprächig und hatte nur ihren Worten gelauscht oder ihre Körperhaltung unauffällig gemustert. Oscar nahm die Kiste vom Tisch. „Du kannst besser werden, wenn du jeden Tag übst.“ „Es wird mir eine Ehre sein, jeden Tag hierher zu kommen.“ „Komm morgen nicht zu spät! Wenn du willst, kannst du noch bei deiner Großmutter zum Essen bleiben.“ Sie ging einfach los und ließ ihn nicht weit vom Brunnen stehen. Sie gab André damit zu verstehen, dass sie seine Anwesenheit nicht mehr wünschte. Aber warum hatte sie sich dann auf diese Schießübung mit ihm eingelassen? Sie hätte auch absagen oder ihn wieder nach Hause schicken können. Oscars Wesen war André ein Rätsel. Er blieb nicht bei seiner Großmutter zum Essen, sondern verabschiedete sich von ihr und ritt Heim. Am nächsten Tag war er pünktlich. Und Oscars Laune war ebenfalls besser. Ob das an seiner Pünktlichkeit lag, wusste André nicht zu sagen. Es erfreute ihn, dass Oscar nicht so gereizt war wie gestern. Sie zeigte sogar ein übersichtliches, zufriedenes Lächeln als er das Ziel traf. Er lernte schnell und das bereitete ihr eine heimliche Freude. Nach dem Schießen blieb noch etwas Zeit bis zum Abendeinbruch. Oscar wollte noch mit ihm Fechten, als hätte sie immer noch nicht genug. Vielleicht stimmte das auch... André wusste von ihr nicht viel. Er kannte nur die Beschwerden seiner Großmutter über ihre ungerechte Erziehung. Es reizte ihn, mehr über sie zu erfahren und daher stimmte er zu. Während des Fechtens fragte sie ihn plötzlich nach seinem Freund Alain. „Nun, er kämpft nicht gegen Frauen“, meinte André. Oscar krauste kurzzeitig ihre Stirn, sagte aber nichts dazu und André hakte auch nicht weiter nach. Jeden Tag, auch wenn es nur ein paar Stunden waren um mit dieser etwas außergewöhnlichen Frau Zeit zu verbringen, erfuhr Andre ein Stückchen mehr über ihre Persönlichkeit. Sie war eigensinnig, aber sie wusste sich auch zu beherrschen und nicht gleich tollwütig um sich toben. So, wie ein disziplinierter und kontrollierter Soldat, der all seine Emotionen unter einem undurchdringlichen Deckmantel verstecken konnte. André fragte sich des Öfteren, ob das bei Oscar auf Dauer gut gehen würde. Immerhin war sie eine Frau und noch dazu eine recht ästhetische. Dass sie ihm auf diese Art gefiel, verbarg auch er lieber unter seinem Taktgefühl. „Heute reiten wir aus“, schlug Oscar vor, kaum er dass mit Rosalie den Hinterhof betrat. Meistens wartete sie an dem kleinen Brunnen auf ihn. Rosalie, die auch ihre Knabenkleider angezogen hatte, freute sich sichtlich. „Das können wir natürlich machen, Lady Oscar! Und wo geht es diesmal hin?“ „Ich dachte vielleicht an den See. Dort können wir genauso das Fechten üben, wie hier.“ Oscar sah von Rosalie zu André: „Oder hast du Einwände?“ „Nein, Lady Oscar“, erwiderte dieser aufrichtig, was Oscar ein Aufleuchten von Freude in den Augen entlockte. „Gut, dann zu den Pferden!“ Bis zu dem genannten See ritten sie um die Wette. Das mochte Oscar sehr. Mitten im schnellen Ritt streckte sie ihr Gesicht dem Wind entgegen. Ihr goldgelbes Haar flatterte wild nach hinten und ihr Oberkörper beugte sich leicht nach vorn. André flankierte sie auf seinem Braunen von der einen Seite und Rosalie auf ihrem Grauen von der anderen, ohne sie dabei zu überholen. Sie hatten sich nie dabei abgesprochen, aber sie ließen Oscar meistens den kleinen Vorsprung und es war ihnen gleich, dass sie deswegen den Wettritt gewann. Oscars Freude und Hochgefühl waren es ihnen das Wert. Am See stiegen sie ab, ließen die Pferde unter einem alten Baum grasen und Oscar lieferte sich ein Übungsduell mit Rosalie. André ließ sich derweilen im grünen Gras nieder und beobachtete Oscar ausgiebig. Das hatte er sich zur Gewohnheit gemacht, wenn Rosalie und Oscar gegen einander antraten. Mit ihrer Anmut und den geschmeidigen Bewegungen glich Oscar einem listigen Fuchs und Rosalie einem unerfahrenen Rehkitz, dass lieber den Hieben auswich, als selbst Angriffe zu verüben. Rosalie war soweit sehr gut im Umgang mit dem Degen, aber sie würde Oscar dennoch nie das Wasser reichen können. Für André war Oscar in diesem Sinne unschlagbar. Er streckte seine Beine der Länge nach aus, lehnte sich auf seinen Arme zurück und spürte das weiche Gras unter den Handflächen. Es war ein angenehmes Gefühl, das ihn an seine Kindheit zurückdenken ließ: Als Kind war er oft im Sommer mit Alain und seinen Freunden barfuß durch die Straßen oder außerhalb der Stadt durch die Wiesen und Felder gelaufen. Sie hatten dabei immer ihren Spaß gehabt. André verspürte plötzlich den Wunsch, seine Stoffschuhe auszuziehen um sich wieder wie ein unbeschwertes Kind zu fühlen. Oscar wehrte mühelos Rosalies letzte Hiebe ab und unterbrach dann die Fechtübung. „Du bist viel besser geworden. Aber wir sollten André nicht länger warten lassen. Ich will ja auch sein Können unter Beweis stellen. Als nächstes fechtest du gegen ihn und anschließend ich.“ „Jawohl, Lady Oscar.“ Rosalie war einverstanden und machte eine Verschnaufpause, während Oscar zu André ging. Oscars Augen weiteten sich, als sie André ohne Schuhe im Gras sitzen sah. Und als wäre das nicht schon verwunderlich genug, rollte er das eine Hosenbein bis zum Knie nach oben und entblößte seine Wade. „Was machst du da?“ André tat ungerührt das Gleiche mit dem zweiten Hosenbein und stand auf. Er ließ einzelne Grashalme zwischen seine Zehen streifen und seufzte wohlwollend. „Hmm, herrlich... Ich habe das als Kind oft getan, als ich mit meinen Freunden Fangen gespielt habe...“ Oscar runzelte daraufhin verdrossen die Stirn. „Aber jetzt bist du doch kein Kind mehr!“ „Schaden tut es aber auch jetzt nicht.“ André lachte auf. Er machte sich aus ihrem verdutzten Gesichtsausdruck nichts. Oscar würde ihn deswegen nicht maßregeln, das wusste er genau. In der Zeit, die er schon mit ihr verbracht hatte, glaubte er sie schon ein wenig näher kennen gelernt zu haben. Sie war selbst der Meinung, dass er tun und lassen sollte, was er wollte. Er war in ihren Augen ein freier Mann und sie zwang ihn nie zu etwas. „Im Gegenteil. Das tut den Füßen gut“, fügte er hinzu und grinste flegelhaft. „Bin ich jetzt mit Fechten dran?“ Oscar nickte und gab ihm einen Degen. „Du fechtest erst mit Rosalie und dann gegen mich.“ „Wie Ihr es wünscht.“ André sah ihr direkt in die Augen, während seine Finger ihren Degen an sich nahmen und fest den Griff umschlossen. Und wieder ertappte er sich dabei, dass ihm dieses unergründliche Azurblau gefiel. Um nicht länger darin zu versinken, ging er pfeifend und leichtfüßig zu Rosalie. Diese kicherte verhallend in die Hand. „Wenn ich ein Junge wäre, würde ich auch gerne meine Schuhe ausziehen und barfuß laufen...“ André hörte mit dem Pfeifen auf und stellte sich vor ihr in Angriffsposition. „Das kannst du doch auch machen. Ich werde schon nicht auf deine Füße schauen, versprochen“, neckte er. „Vielleicht ein anderes Mal.“ Rosalie ging in Verteidigungsposition. „Und nun zum Kampf! Ich bin bereit!“ „Ich ebenfalls!“ André führte den ersten Angriff aus und Rosalie parierte geschickt. Oscar saß nicht weit von ihnen unter einem Baum, wo auch die Pferde grasten, und beobachtete die zwei Duellanten aufmerksam, um sich ihre Fehler zu merken und sie später darauf hinzuweisen. Der erste Fehler war, dass keiner von beiden die Fechtübung ernst nahm und sich stattdessen dabei amüsierte. Sie schlugen auch nicht mit Härte zu, sondern gingen sogar eher spielerisch miteinander um. Und da waren noch Andrés nackte Beine. Oscar wusste nicht, was sie davon halten sollte. Aber die Vorstellung, das sanfte Gras unter ihren Fußsohlen zu spüren und dieses herrliche Gefühl zu teilen, das André so genießerisch zur Geltung gebracht hatte, reizte sie. Aber es ging nicht! Das würde doch die Grenze der Schicklichkeit überschreiten! Und wie Rosalie es so vortrefflich angedeutet hatte: So etwas ziemte sich nicht für Frauen! Oscar überlegte kurz. Eine gewöhnliche Frau war sie aber nicht! Und wenn André sowieso nicht auf die Füße schaute, dann vielleicht... Kapitel 9: Harte Schale, weicher Kern ------------------------------------- Nein, nein und nochmals nein! Das ging doch nicht! André mochte zwar ein ehrlicher Mann sein, aber sie durfte sich nicht solche Albereien erlauben! Dennoch ließ Oscar das faszinierende Gefühl nicht los. Als sie ein Kind war, wurde ihr so etwas nicht gestattet, denn sie hätte sich ihre zarte Haut verletzen können. Oscar erinnerte sich daran, dass man ihr erklärt hatte, so ein Verhalten sei bäuerlich und ihres hohen Standes nicht angemessen. Oscar verzog säuerlich das Gesicht. Sie hatte schon früher den Standesunterschied nicht verstanden und als ungerecht empfunden, sie war doch ein Mensch wie jeder andere. Ihr Puls begann schneller zu schlagen, ihre Hände ballten sich zu Fäusten und als wollte sie der strengen Etikette trotzen, zog sie ihre Stiefel und Strümpfe aus. Sofort streifte eine erfrischende Brise über ihre Haut und bescherte ihr ein befreiendes Gefühl. „In der Tat herrlich...“ Sie schmunzelte kaum merklich und fühlte die Grashalme zwischen den Zehen. Im Gegensatz zu André, würde sie ihre Hose nicht bis zu den Knien hochrollen. Das wäre dann doch für ihren Anstand unschicklich. Denn ihrer knabenhaften Erziehung ungeachtet, blieb Oscar eine Frau und für solche ziemte sich ein derartig freizügiges Verhalten nicht. Sie stand auf und ging auf die Duellanten zu. André und Rosalie hörten mit der Fechtübung auf, als sie Oscar auf sie zukommen sahen. „Du hattest recht“, sagte sie zu André und blieb stehen. Sie sah auf ihre Füße herab und wackelte mit den Zehen. „Es schadet nicht.“ Rosalie und André folgten ihrem Blick und staunten nicht schlecht. André betrachtete Oscars nackte Füße neugierig und schmunzelte still in sich hinein. Ihre zarte Haut rief in ihm eigenartige Gefühle hervor. Er würde aufpassen müssen, um beim Fechten nicht auf ihre Füße zu treten, denn er wollte sie nicht verletzen. Rosalie riss ihn aus den Gedanken. „Lady Oscar...“, murmelte sie dabei mit großen Augen. „Mach dir keine Sorgen.“ Oscar schaute zu ihr und ihre Mundwinkel zuckten leicht. „Da ich wie ein Mann erzogen wurde, ist auch nichts schlimmes dabei. Würdest du mir deinen Degen geben?“ „Aber natürlich.“ Rosalie reichte ihr wie benommen den besagten Degen. Sie trat zur Seite und beobachtete, wie Lady Oscar mit André übte. Das Fechtmanöver ging an dem jungen Mädchen halbwegs vorbei, stattdessen machte sie eine Entdeckung in Lady Oscars Verhalten. Die Kommandantin schien in Andrés Gegenwart aufzublühen, obwohl sie es zu verbergen versuchte. André war äußerst darauf bedacht, von Oscars Füßen einen gewissen Abstand zu halten. Trotz seiner Vorsicht gab er im Kampf eine gute Figur ab. Oscar lachte auf, als sie sich bei einen ihrer Überraschungsangriffe zu nahe an ihn heranwagte und sprunghaft zurückwich. Rosalie verspürte auf einmal ein Glücksgefühl. Wie kein anderer vor ihm schaffte es André, Lady Oscar wie eine Rose aufblühen und in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Vielleicht würde sie durch ihn sogar ihren Kummer und ihre Erziehung, die sie wie in einem Käfig gefangen hielt, überwinden können. - - - Drei Wochen verstrichen wie im Flug und André versäumte keinen einzigen Tag auf dem Anwesen der de Jarjayes. Jeden Nachmittag übte er mit Oscar entweder Schießen oder Fechten und eigenartigerweise traf er kein einziges Mal auf ihre Eltern. Oscars Mutter wohnte praktisch in Versailles. Als Hofdame der Königin, musste sie sich stets in ihrer Nähe aufhalten und ihr zu Diensten sein. Und Oscars Vater war als General ständig im Auftrag seiner Majestät, dem König, unterwegs und hatte ebenso kaum Zeit sein trautes Heim aufzusuchen. Das hatte Rosalie André anvertraut, als er sie aus reiner Neugier danach gefragt hatte. Rosalie war für gewöhnlich bei fast allen seiner Besuche mit dabei und manchmal ritten sie zu dritt sogar an den See aus. Mittlerweile glaubte André Oscar und ihr Wesen schon gründlich zu kennen. Dass sie barfuß mit ihm gekämpft hatte, war einmalig und er bedauerte es beinahe. Oscar war zu diesem Zeitpunkt noch ausgelassener als gewohnt und vergaß sogar ihre elitäre Erziehung. Sie wirkte gänzlich wie ein anderer Mensch, gerade so als hätte sie mit diesem Stück Freiheit unter ihren Füßen auch ihren Schutzwall aus distanzierter Strenge abgelegt. Insgeheim hatte André sich gewünscht, Oscar würde nie mehr ihr altes Wesen annehmen. Doch sobald ihr Training vorbei war, zog Oscar wieder ihre undurchdringbare Mauer hoch. Dass dies immer so bleiben würde, hatte André an jenem schönen Tag vor drei Wochen mit Bedauern begriffen. Heute war der letzte Tag, an dem er zu ihr kam. Sie trainierten das Schießen und er verfehlte das Ziel kein einziges Mal. Der letzte Schuss donnerte durch die Luft. „Du bist viel besser geworden“, lobte ihn Oscar anerkennend und legte die Pistolen sorgsam in die dafür vorgesehene Kiste zurück. „Auch im Fechten bist du mir ein ernstzunehmender Gegner geworden.“ André schmunzelte. Ihm gefiel Oscars aufrichtiges Lächeln. Wenn sie doch immer so aufgeschlossen wäre. „Das habe ich Euch zu verdanken.“ Oscar lehnte sich gegen die Tischkante, als sie über die letzten drei Wochen nachdachte und musste sich eingestehen, dass sie André zu schätzen gelernt und sogar gern gewonnen hatte. Als Oscar daran dachte, dass er heute das letzte Mal hier war, durchzog sie ein flaues Gefühl. Wie eigenartig! Bisher hatte es noch kein Mensch geschafft, ihr Vertrauen in so kurzer Zeit zu gewinnen. Vielleicht lag es an Andrés offenem und ehrlichen Charakter, dass sie ihm vertraute. Wenn Oscar genauer überlegte, imponierte ihr dieser Wesenszug sogar sehr. Nichts hasste sie mehr als Lügen und Falschheit, davon sah sie tagtäglich am Hofe von Versailles genug! „Jetzt kannst du ein richtiger Soldat werden. Ich bedauere es fast, dass du jetzt nicht mehr zu uns kommst. Deine Großmutter wird dich vermissen.“ Dass seine Großmutter ihn vermissen würde, glaubte André im Gegensatz zu Oscar weniger, denn nichts was er tat schien ihr gut genug. Den Grund für die Unzufriedenheit der alten Dame kannte er nicht, aber das war für ihn nicht von Bedeutung. Hauptsache, er konnte in Oscars Nähe sein. „Ich kann an dienstfreien Tagen vorbeikommen, wenn es Euch nichts ausmacht.“ „Das macht mir in keinster Weise etwas aus.“ Ein geheimnisvoller Glanz spiegelte sich in Oscars Augen wider. „Das wird mich... Nein, ich meine, deine Großmutter wird sich freuen...“ Sie stieß sich vom Tisch ab und griff nach der Kiste. „Wie Ihr meint“, sagte André sanft und Oscar drehte sich wieder zu ihm um. Leicht drückte sie die Waffenkiste an sich und verlor sich erneut in seinen tief grünen Augen. Sie würde ihn vermissen, das wusste sie, aber verbannte diese Gefühle augenblicklich. Sie hatte mehr als zwanzig Jahre ohne ihn gelebt, also würde sie auch ihr weiteres Leben ohne ihn verkraften. „Soll ich für Euch die Kiste tragen?“, fragte André höflich und holte Oscar in die Gegenwart zurück. „Nein, es geht schon.“ Oscar wandte ihren Blick von ihm ab und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Du bist ein freier Mann und Niemandem verpflichtet“, fügte sie fast schwermütig hinzu: „Das wäre ich auch gerne...“ „Das kannst du auch sein...“, dachte André mitfühlend bei sich. „Was?“ Oscar sah ihn von der Seite mit hochgezogenen Augenbrauen an. Zu spät realisierte André, dass er seine Gedanken laut geäußert hatte. Das war ihm äußerst unangenehm und er versuchte verlegen seinen Fehler zu korrigieren. „Ich habe das nicht so gemeint, verzeiht...“ Oscar gab sich damit allerdings nicht zufrieden und runzelte die Stirn. „Doch, das hast du“, berichtigte sie ihn mit ungewöhnlicher Gelassenheit in der Stimme: „Ich bin nicht taub, André. Ich schätze eine aufrichtige Meinung sehr und von dir würde ich sie gerne hören. Und ich bin dir auch nicht böse, wenn du mich beim Namen nennst... Es hört sich irgendwie besser an, nicht ständig an die Hofetikette erinnert zu werden... Das heißt, du kannst daher ebenso auch „Du“ zu mir sagen.“ „Wie bitte?“ Jetzt war es André, der verdattert dreinschaute. Er blieb abrupt stehen. Oscar ging eins, zwei Schritte weiter und kam dann auch zum Stehen. Sie senkte etwas ihren Kopf und umklammerte die Kiste noch fester an sich. „Du bist ein guter Mensch, André... Wenn ich mit dir fechten oder schießen übe, dann fühle ich mich frei und beneide dich zugleich für deine tatsächliche Freiheit... Ich hätte nichts gegen einen Freund wie dich, aber ich kann dich zu nichts zwingen... Ich habe kein Recht dazu...“ „Oscar...“ André fand keinen passenden Ausdruck dafür. Er schluckte einen Kloß herunter und sammelte seinen Mut. Er bewegte sich nicht, als hätte er Wurzeln geschlagen. Aber irgendetwas musste er sagen, ihr eine Antwort geben! „Oscar“, wiederholte er selbstsicherer als ihm zumute war. Es klang tatsächlich viel besser sie beim Namen zu nennen, ohne diese Höflichkeitsfloskel „Lady“. Und wenn es sogar ihr Wunsch war, warum auch nicht?! „Es ist erstaunlich, was sich in drei Wochen alles ändern kann. Du kannst frei sein, wenn du es nur zulässt...“ Er erinnerte sie dabei bewusst an jenen sorglosen Tag am See, wo sie sich ein einziges Mal ihren verdrängten Gefühlen hingegeben hatte. Oscar verstand die versteckte Botschaft sehr gut und dachte dabei genauso an jenen Tag - immer noch mit einem wohlen Kribbeln in der Magengrube. „Das kann ich nicht...“, widersprach sie dann doch leise: „Dazu bin ich nicht erzogen worden...“ „Ich denke, das hat nichts mit deiner Erziehung zu tun. Man kann trotz alledem frei und unbeschwert sein.“ „Dann zeige es mir. Immer und immer wieder – damit ich es lernen kann.“ Oscar wirbelte herum und ihr Blick bohrte sich eindringlich in ihn. „Natürlich nur, wenn du möchtest...“ „Das kann ich selbstverständlich tun... Wie ein Freund...“ Oscars Augen glänzten im einfallenden Sonnenlicht und André glaubte ihre Erleichterung förmlich darin zu sehen. „Ich danke dir.“ Sie hielt die Kiste mit einem Arm umfasst und reichte ihm die freie Hand. „Dann sind wir ab nun Freunde.“ „Ja.“ André ergriff sachte ihre Hand und kam nicht umhin, sie verschmitzt anzulächeln. „Wollen wir noch etwas ausreiten?“, schlug Oscar unvermittelt vor: „Ich würde dich gerne nach Paris begleiten.“ André stimmte ihr mit einem verwegenen Nicken zu. „Das können wir natürlich machen. Aber was willst du in Paris?“ Das verwunderte ihn wirklich. Bisher hatte sie noch nie dorthin gewollt. Sogleich ließ er ihre Hand los und beide gingen langsam nebeneinander weiter. „Ich möchte wissen und mit eigenen Augen sehen, wie das einfache Volk lebt“, gestand sie ihm nachdenklich. „Und auch wie du lebst. Vielleicht kann ich mit meinen Beobachtungen der Königin die Augen öffnen und sie überzeugen, etwas gegen die Armut zu unternehmen...“ André war innerlich gerührt. Oscar besaß in der Tat ein gutes Herz und setzte sich für die Armen und Schwachen ein. Allerdings bezweifelte er, dass sie damit zu der Königin durchdringen würde. Dennoch tat er ihr den Gefallen und zeigte ihr während des Ausrittes die ärmsten Viertel von Paris. „Was denkst du über die Königin?“, wollte Oscar von ihm unterwegs wissen. André überlegte schnell, um nichts Falsches zu sagen. „Sage es mir...“, bat ihn Oscar etwas aufdringlicher: „Ich werde deine Worte nicht verurteilen, wirklich...“ André war dennoch unbehaglich zumute. Andererseits wollte er sie nicht belügen... Er atmete tief ein und aus. „Was soll ich über sie denken? Ich kenne sie nicht, nur das, was die Menschen über sie erzählen: Das Volk leidet und sie amüsiert sich mit ihren Höflingen auf Kosten der einfachen Bürger... Ich will nicht sagen, dass sie allein die Schuld an diesem Leiden trägt. Aber sie und der König sind die Einzigen, die daran etwas ändern können... Doch stattdessen ignorieren sie alles und leben in Versailles ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie es uns einfachen Menschen ergeht...“ Oscar sprach danach den ganzen Weg kein Wort mehr. Ihre Mimik war wie immer ausdruckslos und ihre Haltung steif. Nichts gab ihre eigentlichen Gedanken Preis. Dennoch merkte André an ihr, wie erschüttert und entsetzt sie war, als sie an den schmutzigen und übelriechenden Gassen vorbei ritten. Viele Menschen hatten nicht einmal ein Dach über dem Kopf und besaßen nichts als ihre zerlumpten Kleider. Sie lebten und bettelten mitten auf der Straße und die meisten von ihnen waren von irgendwelchen Krankheiten gezeichnet. Solche Einblicke hätte André Oscar gerne erspart, aber sie hatte darauf bestanden und trug nun das gesehene Elend mit Fassung. Letztendlich führte er sie in seine Wohnung. „Ich kann dir leider nichts anbieten“, entschuldigte er sich, nach dem er sie herein gelassen und die Tür hinter ihr geschlossen hatte. „Es tut mir leid, ich habe nicht so viel Komfort wie du...“ „Das macht nichts.“ Oscar ging langsam durch die Wohnung und sah sich flüchtig um. Sie sagte nicht, was sie darüber dachte und rümpfte auch nicht abfällig mit der Nase. Andrés ärmliche, bescheidene und kleine Wohnung schien ihr nichts auszumachen. Am Fenster blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. Ihre Stimme war leicht belegt. „Jetzt verstehe ich einiges...“ Sie lehnte mit den Händen auf dem Rücken am Fenstersims und betrachtete stumm ihren neu gewonnenen Freund. „So ist das Leben.“ André erwiderte ihr den Blick offen. „Da kann man nichts machen.“ „Wieso nicht?“ Eigentlich war das eine unnötige Frage, denn Oscar kannte die Antwort nur zu gut. Trotzdem gab sie die Hoffnung nicht auf. „Ich werde mit Ihrer Majestät reden und Ihr alles berichten, was ich gesehen habe. Sie ist ein gutherziger Mensch und wird sicherlich etwas unternehmen. Das werde ich mir zur Aufgabe machen, sobald ich wieder in Versailles bin.“ „Das ist gut.“ André stellte ihre Entscheidung nicht in Frage und versuchte sich seine Zweifel erst gar nicht anmerken zu lassen. Sie wollte sich doch wie ein freier Mensch fühlen und er würde sein Versprechen einhalten. Er würde ihr den Wunsch erfüllen und ihr helfen, aber niemals über sie bestimmen. Das war das, was sie brauchte - um zu lernen, unbeschwerter zu leben. Oscar war ihm dankbar dafür. Es war ein erleichterndes Gefühl, so einen Freund wie André gefunden zu haben. Ohne dass sie es merkte, glänzten ihre Augen leicht verzückt und André ertappte sich wieder dabei, dass sie ihm gefiel. Ein ungestümes Klopfen an der Tür zerriss die kurze Schweigsamkeit zwischen ihnen. Und kaum dass André die Tür geöffnet hatte, da platzte auch schon sein Freund herein. „Ich habe dein Pferd gesehen und wusste gleich, dass du schon hier bist! Nun, erzähl schon, wie war dein letzter Tag auf dem Anwesen?!“, forderte er gleich von der Türschwelle. Er fixierte nur André und übersah daher die weitere Person. Oscar verzog ernst ihr Gesicht und tauchte beinahe selbstgefällig neben André auf. „Das war nicht sein letzter Tag“, sagte sie kühl und warf André einen Blick von der Seite zu. „Ich gehe dann mal.“ Sie nickte dem schwarzhaarigen jungen Mann mit dem roten Halstuch autoritär zu und marschierte wie ein Soldat aus der Wohnung. André begleitete sie mit seinen Blicken, bis sie aus seinem Sichtfeld in dem langen Korridor verschwand. Dann schloss er die Tür und widmete sich wieder seinem Freund. „Schön dich zu sehen, Alain.“ Dieser blinzelte verdattert von der Tür, als hätte er ein Wunder gesehen. Im nächsten Moment verengte er seine Augen zu Schlitzen und seine buschigen Brauen schoben sich hartgesotten zusammen. „Was war DAS denn gerade?! Was wollte sie bei dir?!“ „Sie wollte wissen wie das einfache Volk lebt, um das dann der Königin zu berichten. Ich habe ihr die ärmsten Viertel gezeigt und sie dann zu mir eingeladen.“ Insgeheim amüsierte sich André über die verdutzte Miene seines Freundes. Alain tat sich immer noch schwer Oscar zu trauen, obwohl er Andrés Erzählungen über sie von Herzen glaubte. „Als würde das etwas ändern!“, murrte er verdrossen: „Die Königin interessiert sich nur für ihr eigenes Vergnügen und ihren Liebhaber!“ André gab ihm in dieser Hinsicht Recht und stellte erleichtert fest, dass es Alain offensichtlich vermied, weiter über Oscar nachzuhaken. Das war ihm mehr als recht. „Vielleicht wird sich das ändern, wenn es Oscar gelingt, ihr die Augen zu öffnen.“ „Das glaubst du doch wohl selber nicht!“ Alain lachte auf und klopfte André auf die Schulter: „Es mag sein, dass bei Oscar das Herz doch auf dem rechten Fleck sitzt, aber bei der Königin wird sie definitiv auf Granit beißen!“ - - - Oscar ritt unverzüglich nach Hause. Das Elend, das sie heute mit ansehen musste, nistete sich tief in ihr Herz ein. Sie würde ihr Versprechen halten und gleich morgen früh die Königin damit konfrontieren. Es konnte doch nicht sein, dass das Volk immer ärmer und ärmer wurde, als schon vor ein paar Jahren! Auch Andrés Wohnung hatte sie flüchtig in Augenschein genommen: Sie war klein und dürftig ausgestattet, aber auf eine andere Art behaglich. Sie fragte sich, wie André früher mit seinen Eltern in diesen grauen, kahlen vier Wänden überhaupt wohnen konnte! Oscar erinnerte sich, dass es Familien gab, die in doppelter oder dreifacher Personenzahl auf sol kleinen Flächen lebten. Sie waren froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben - das hatte ihr André offenbart, als er auf dem Weg zu seiner Wohnung über die allgemeine Lebenslage der Bürger erzählt hatte. Nur mit Mühe und dank der jahrelangen Übung in Beherrschung, hatte sich Oscar Tränen der hilflosen Wut verkneifen können. Jetzt, beim Alleinsein, ließ sie ihnen freien Lauf. Warum musste es nur so sein? Wo war die Gerechtigkeit? Waren etwa alle Adligen so kaltherzig und verkommen? Ja, auf eine gewisse Weise waren sie das. Von Intrigen, Betrug und Machtkampf hatte sie schon am Hofe genug miterlebt. Diese Nacht konnte Oscar nicht gut schlafen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie immer wieder die Elendsviertel, die schmutzigen Gassen und die armen Menschen in ihren zerlumpten Kleidern. Sie konnte keinem von ihnen helfen, auch wenn sie es gewollt hätte. Dafür waren es einfach zu viele... Obwohl sie dem Adelsstand angehörte und als Kommandant in der königlichen Garde eine hohe Position inne hatte, konnte sie ganz alleine nichts gegen die Armut ausrichten - wie bitter das für sie auch war. Es müssten mehrere von Ihresgleichen sein, die sich für mehr Gerechtigkeit stark machten, aber es gab zu wenige, die dazu bereit wären. Deswegen hatte sie sich fest vorgenommen, mit der Königin zu reden - denn Ihre Majestät, die Königin, war neben dem König der mächtigste Mensch. Und ebenso auch gutherzig. Oscar war am nächsten Tag zutiefst enttäuscht. Sie hatte mit der Königin gesprochen; die Not der einfachen Bürger und deren Elend geschildert. Ihr blutete dabei fast das Herz, als sie sich an das Gesehene während der Erzählung erinnerte. Und es schmerzte ihr noch mehr, wie Ihre Majestät nur teilnahmslos auf ihrem Thronstuhl saß und irgendwo in einer anderen Welt in ihren Gedanken verweilte. In ihrer Erscheinung sah sie wie immer anmutig und würdevoll aus, aber Oscar wurde schon bald klar, dass sie auf taube Ohren gestoßen war. „Ach, meine liebe, Oscar, Ihr macht Euch einfach unnötig zu viel Kopf“, war das einzige, was sie von Marie Antoinette zu hören bekam. Kapitel 10: Verhängnis ---------------------- André dachte oft darüber nach, dass Alain Prophet sein könnte. Seit zwei Monaten war er nun mit ihm in der Kaserne und unter dem Volk hatte sich nichts geändert – es litt weiterhin. Ob Oscar deswegen mit der Königin gesprochen hatte, wusste André nicht. Er hatte sie schon seit langem nicht mehr gesehen. Aber er hoffte, dass sie es getan hatte. Seine Großmutter besuchte ihn auch nicht, so hätte er wenigstens von ihr etwas über Oscar erfahren können... In der Kaserne lebte sich André ein und kam mit allen Soldaten gut aus. Vor allem die Brüder Jérôme und Léon empfingen ihn und Alain mit offenen Armen. Es fehlte nur noch Jean, um den Kreis ihrer Freunde aus Kindertagen zu vervollständigen. Aber Jean würde nie der Kaserne beitreten. Ursprünglich entstammte er einer Handelsfamilie, die bereits im Süden Frankreichs, im schönen Aquitanien, ihre Geschäfte mit Wein und Bier betrieben. Nach Paris kam er mit seinen Eltern um dies zu erweitern. Wenn André darüber nachdachte, dann war Jean schon immer ein Einzelgänger und folgte nur seinem eigenen Kopf. Er wollte anderes sein, als jeder von ihnen. Er war ein Denker und strebte danach, etwas zu erschaffen, dass alle Menschen gleichstellte. Vielleicht veranstaltete er deshalb im Verborgenen einige geheime Treffen mit Bürgern, besprach mit ihnen seine Ideen und entwickelte sich zu einem eifrigen Anführer seiner selbstständigen Organisation. Alain wurde binnen weniger Wochen zum Fürsprecher und Gruppenführer der Söldnertruppe auserkoren. Seine Schwester Diane, die mittlerweile schon das zarte Alter von vierzehn Jahren erreicht hatte, kam an jedem Besuchstag zu ihnen und eroberte schon bald die Herzen aller Söldner. Bis auf ihn, André. Er mochte sie, keine Frage, aber eher wie eine kleine Schwester. André musste immer schmunzeln, wenn er sich an ihr undamenhaftes Benehmen im Kindesalter erinnerte. Damals hatte er versucht sie mit Oscar zu vergleichen, obwohl er letztere noch gar nicht näher kannte. Doch nun kannte er Oscar mehr als genug und schweifte in seinen Gedanken von Diane auf sie ab. Morgen würden alle Söldner dienstfrei bekommen und konnten für ein paar Tage ihre Familien besuchen. André nahm sich vor, gleich nach der Kaserne seine Großmutter aufzusuchen. Oder besser gesagt, Oscar. Ob sie sich sehr verändert hatte? Das würde er erfahren, wenn er sie sah. Wenn nicht, dann würde ihm sicherlich Rosalie jede Menge über sie erzählen. Rosalie hatte in der Tat Einiges zu erzählen, als er seine Großmutter am nächsten Tag besuchte, allerdings kam sie nicht dazu. Sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und wollte niemanden sehen. Außer vielleicht Lady Oscar, erfuhr André von seiner Großmutter. „Was ist denn vorgefallen?“, wollte er von ihr interessiert wissen. Sophie beäugte ihn unschlüssig, ob sie ihm überhaupt solche Sachen anvertrauen sollte. Aber andererseits... „Sei nicht so neugierig, André. Es ist nichts vorgefallen. Du wohnst ja nicht hier, also brauchst du es auch nicht wissen“, speiste sie ihn mit knappen Sätzen. André verstand, dass sie nicht vor hatte, ihn in die Geschehnisse einzuweihen. Er seufzte. Seine Großmutter schien es noch immer zu grämen, dass er ein Leben als Soldat in der Kaserne der Einstellung auf dem Anwesen vorgezogen hatte. Also fragte er das, weshalb er eigentlich hier war. „Wo ist eigentlich Oscar? Ist sie heute hier oder in Versailles?“ Seine Großmutter funkelte ihn sogleich böse an. Ihr Gesicht verfinsterte sich und ihr Tonfall war schneidend: „Wie kannst du es wagen, sie beim Namen zu nennen! Für dich ist sie Lady Oscar!“ „Weil ich ihm erlaubt habe, mich bei Namen zu nennen, Sophie“, mischte sich unverhofft eine weibliche Stimme von der Türschwelle ein: „Sei bitte nicht gleich so verärgert. André und ich sind Freunde geworden.“ „Aber das geht nicht, Lady Oscar!“, protestierte Sophie empört: „André gehört doch nicht Eurer Gesellschaftsschicht an!“ „Das macht mir nichts aus.“ Oscar wehrte mit der Hand in der Luft ab und beachtete ihr einstiges Kindermädchen nicht weiter. Sie schenkte ihre Aufmerksamkeit André. „Gut, dass du da bist. Wenn du möchtest, können wir ausreiten. Oder ist dir Fechten lieber?“ André spürte innerlich, dass sie sich über seinen Besuch freute. Sie verstellte sich nur, wie immer. Er stand auf und ging auf sie zu. „Wir können beides machen. Ich habe den ganzen Tag Zeit.“ „Gut, dann beginnen wir mit reiten und danach fechten wir.“ Ihre Augen glänzten euphorisch, sobald er sich direkt vor ihr aufhielt. „Ich ziehe nur noch schnell meine Weste an.“ - - - Während des Ausrittes wollte Oscar von seinem Leben als Soldat in der Kaserne wissen und im Gegenzug erzählte sie ihm oberflächlich, was mit Rosalie los war. André erfuhr, dass Rosalies verstorbene Mutter nicht ihre leibliche Mutter war. Und dass sie ihrer leiblichen Mutter vor wenigen Tagen am Hofe begegnet war. Oscar brach mitten im Satz ab und André schlussfolgerte, dass etwas Schlimmes vorgefallen sein musste. Was für eine verrückte Welt! André konnte nun nachvollziehen, warum sich Rosalie eingesperrt hatte. Sie tat ihm leid. „... sie braucht nur etwas Zeit, um wieder zu sich zu finden und ich werde ihr dabei helfen“, fügte Oscar selbstsicher hinzu und von einem Moment auf den anderen erhellte sich ihr Gesicht. „Wollen wir um die Wette reiten?“ Es war das erste Mal, dass sie nur zu zweit wetteiferten, denn meistens war Rosalie dabei. Das freute André sehr, obwohl ihm Rosalie aufrichtig leid tat. Schnell wie ein Pfeil preschte Oscar auf ihrem Schimmel im gestreckten Galopp davon und André jagte ihr auf seinem Braunen nach. Staub wirbelte auf und Erdklumpen flogen unter den Hufen der angetriebenen Pferde umher. Die Tiere schnaubten, streckten ihre kräftigen Hälse und schienen immer schneller zu werden. Die Reiter beugten ihre Oberkörper vor, stießen immer wieder ihren vierbeinigen Gefährten in die Flanken und passten sich ihren Bewegungen an, als wären sie eine Einheit. Keiner von ihnen gab nach. Der See kam schon bald in Sicht und die Pferde wurden ein letztes Mal angetrieben. Oscar gewann wieder einmal und zügelte triumphierend ihren Schimmel an dem altbekannten Baum am See. „Das war ein schöner Wettritt.“ André hielt seinen Braunen direkt neben ihr an und klopfte ihm beruhigend an den verschwitzten Hals. Dabei sah er frohlockend zu Oscar. „In der Tat.“ „Manchmal glaube ich, dass du und Rosalie mich mit Absicht gewinnen lasst“, sagte sie in heiterer Stimmung und glitt aus dem Sattel. Ein Stechen durchzog plötzlich ihren Fuß und sie verzog unwillkürlich und schmerzverzerrt das Gesicht. „Alles in Ordnung, Oscar?“ André sprang schnell von seinem Braunen und stand schon bei ihr. Oscars Züge verhärmten sich und doch zog sie die zwei Degen, die am Sattel ihres Schimmels befestigt waren. „Es geht schon. Ich habe mir nur etwas den rechten Fuß vertreten, mehr nicht.“ Sie drehte sich zu ihm um. „Hier, dein Degen.“ „Bist du dir sicher?“ André nahm die Waffe mit unsicherem Blick auf ihren Fuß entgegen. Oscar lachte auf und ging auf kampfbereite Distanz. „Ziehe nicht so ein Gesicht! Es ist nichts!“ André war mehr als skeptisch. Er vermutete, dass sie mal wieder versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie wollte ihm keine Schwäche zeigen. Aber andererseits... „Nun, gut...“, mehr sagte er nicht dazu. Oscar würde schon wissen, was sie machte - schließlich waren sie keine kleinen Kinder mehr. Mittlerweile zählte er schon fünfundzwanzig Jahre und Oscar wird dieses Jahr vierundzwanzig. Hallend ertönte das Schlagen von Metall auf Metall nicht weit vom See, als die zwei mit dem Fechten begannen. Das Wasser lag still und ruhig. Die dunkle Oberfläche spiegelte das Blau des Himmels und glitzerte an manchen Stellen von dem Licht der Sonnenstrahlen. Die heiße Sommerluft lag stickig und schwer über der Landschaft, aber vom Wasser her wehte eine erfrischende Brise. Die Pferde trabten auf den See zu, um ihren Durst zu stillen – sie hatten sich die Verschnaufpause redlich verdient. Doch all das nahmen André und Oscar nicht wahr – zu konzentriert waren sie in ihr Duell. Oscar führte fachmännisch ihre Hiebe aus, André parierte sie gekonnt und Oscar holte dann zum Gegenschlag aus. Der Schmerz in ihrem Fußgelenk meldete sich heimtückisch und unverfroren wieder, als sie gerade Andre´s offensiven Schlag auswich. Aber sie wäre nicht sie, wenn sie deswegen klein beigeben würde... Ein nächster Hieb seinerseits, ein schnelles Parieren ihrerseits und immer unerträglich wurde das Stechen in ihrem Fußknöchel. Der Lederstiefel trug noch sein Übriges dazu bei. Oscar biss die Zähne zusammen. Nein, die Fechtübung war noch nicht zu Ende! Sie hatten doch gerade erst angefangen! André führte seine Hiebe immer mehr mit Elan. Ihm schien es, als würde er gegen Oscar gewinnen können und das wollte er sich nicht entgehen lassen. Oscar ging immer mehr rückwärts, parierte aber weiterhin gekonnt seine Schläge und holte selbst aus, wenn er nachließ. Unerwartet stieß sie mit dem Rücken gegen einen Baum. André hatte sie an den Baum gedrängt und sie somit in eine Falle gelockt. Dieses Hindernis hatte sie gar nicht mitbekommen! Andrés Klinge sauste schon an ihr vorbei und schlug ihr die eigene Waffe aus der Hand. Oder hatte sie sie selbst fallen gelassen und ihm damit die Möglichkeit gegeben, zu gewinnen? Aber wie war das möglich? André selbst führte seine Klinge an ihren Hals und grinste triumphierend. „Gratuliere...“, schnaufte Oscar außer Puste. „Du hast heute das Fechten mit Bravour gemeistert...“ Im nächsten Augenblick hielt sie inne. Was war das für eine Hitze, die ihren Körper bei seiner näheren Betrachtung empor stieg? Das kam nicht von der Sonne oder durch die Anstrengung durchs Fechten, es ging von ihm aus... von seinem Körper, der so anmutig und stolz vor ihr stand... „Danke...“ Das Grinsen erstarb aus seinem Gesicht. Tiefer als er es sich beim letzten Mal erlaubt hatte, sah er ihr in die Augen und versuchte ruhiger zu Atmen. Er merkte nicht, wie ihm dabei sein Degen aus der Hand glitt und lautlos auf das Gras fiel. Oscar wandte unerwartet ihren Blick von ihm ab. „Die Kampfübung ist vorbei...“, sagte sie beinahe rau. Sie schlüpfte an ihm vorbei und ausgerechnet da forderte ihr verletzter Knöchel seinen Tribut. Ihre Knie knickten von alleine ein und sie fiel mit einem überraschten Aufschrei vornüber. „Oscar!“ André griff hastig nach ihr und bekam sie zufällig noch am Ärmel ihres Hemdes zu fassen. Aber diesmal konnte er sie nicht vor dem Fall retten. Er verlor das Gleichgewicht und fiel buchstäblich über sie. So schnell konnten die beiden nicht sehen, als sie schon am Boden lagen... André stützte sich sofort auf seine Arme, rappelte sich auf seine Knie und stand dann auf allen Vieren über ihr. „Alles in Ordnung?“, brachte er schnaufend hervor und verharrte für einen Augenblick. Oscar drehte sich unter ihm auf den Rücken, schaute zu ihm empor und atmete pausenlos. „Ja“, stieß sie dabei hervor und hielt genauso inne wie er. Ein rosiger Teint überzog ihr schon leicht erhitztes Gesicht und ihren sichtbaren Hals. Ihre Schlagader pulsierte wild und ihr Brustkorb nahm größere Atemzüge. André schluckte. Sein Adamsapfel bewegte sich und ihm kam es so vor, als wären ihm bleischwere Fesseln angelegt. Fesseln, die sich so schmerzhaft und zeitgleich so samtweich anfühlten... und die den Namen einer jungen Frau trugen... André vergaß alles um sich herum. Die Welt schien mit einem Mal für ihn aufgehört haben zu existieren. Das Einzige was zählte und ein unkontrolliertes Rauschen in seinen Adern verursachte, lag gerade unter ihm. Ihr Gesicht strahlte noch die Hitze von dem beendeten Fechten aus - in einer rötlichen Farbe. Ob sie wusste, wie hinreißend und verlockend sie doch gerade aussah? André musterte sie ausgiebig und verbot sich jegliche Regungen. Oscar musterte ihn auch und beide wussten plötzlich nicht mehr, was sie tun oder sagen sollten. „André...“ Oscars Atem wurde etwas langsamer, aber ihr Herz raste weiter. „Würdest du... bitte aufstehen? Oder... kannst du es nicht mehr?“ Sie versuchte ihn zu necken, aber das misslang ihr. Zum Glück schwebten André keine Hintergedanken im Kopf, zumindest nach seinem reglosen Gesichtsausdruck zu urteilen. Er saß zögerlich auf. „Entschuldige...“ Oscar rappelte sich mit Hilfe ihrer Ellbogen hoch. Sie bemerkte keine verräterische Gefühlsregung bei ihm. Er wirkte wie immer freundlich und gelassen. „Es ist nicht deine Schuld.“ Der Schmerz in ihrem Fußknöchel pochte nun wie ein scharfer Dolch. Sie musste Nachsehen! André fiel aus allen Wolken, als Oscar an dem Stiefel ihres rechten Beines zog und dabei versuchte, ein verräterisches Zischen zu unterdrücken. „Warum hast du nicht gesagt, dass dein Fuß noch immer schmerzt?“ „Ich sagte doch, es ist nichts!“, zischte Oscar zwischen zusammengepressten Zähnen. Nach dem Stiefel entledigte sie sich des Strumpfes. „Danach sieht es aber nicht aus!“ Beinahe erschrocken schoss André in die Höhe. Oscars Fuß sah um den Knöchel ziemlich geschwollen und gerötet aus! Wie konnte sie das nur ertragen?! Sie hätten nicht fechten, sondern gleich zum Anwesen zurück reiten sollen! Aber es war typisch Oscar – ihre Sturheit war unübertroffen... „Es ist nicht schlimm“, entriss ihn ihre Stimme. Seine Sorgen mussten ihm ins Gesicht geschrieben stehen. Darauf ging André aber nicht ein. Er hatte genug gesehen. „Es muss gekühlt werden“, entschied er und begann an dem Ärmel seines Hemdes zu zerren, um ein Stück Stoff heraus zu reißen. Oscar riss ungläubig die Augen weit auf, als ihr bewusst wurde, was er vorhatte. Das konnte doch nicht wahr sein! Er wollte doch nicht sein Hemd für ihren Fuß opfern?! Er besaß doch kaum etwas... „André, warte!“, hielt sie ihn noch rechtzeitig von seiner Tat ab und reichte ihm ihr Taschentuch. „Nimm lieber das hier... Mein Fuß ist es wirklich nicht Wert, dass du deswegen dein Hemd kaputt machst...“ „Das kann wieder genäht werden.“ Andre zuckte gleichgültig mit seinen Schultern, aber nahm trotzdem ihr Taschentuch und ging eilends zum See um es nass zu machen. Unterwegs versuchte er sich in den Griff zu bekommen, damit Oscar nichts von seinen aufgewühlten Gefühlen mitbekam. Oscar rückte an den Baum, lehnte sich gegen den Stamm und beobachtete André, wie er das Taschentuch ins Wasser tränkte, es leicht auswrang und sich zurück auf den Weg zu ihr machte. Sie fühlte die raue Rinde des alten Baumes in ihrem Rücken und versuchte ruhiger zu atmen. Es würde nichts bringen, wenn sie sich ausgerechnet jetzt mit ihren irritierenden Gefühlen auseinandersetzte. Ihre Wangen überzog unbemerkt eine feine Röte, als André vor ihr niederkniete. Vorsichtig hob er ihren Fuß und stellte ihn sich auf den Schoß. Ihre Haut war weich und zart. André kostete es immense Selbstbeherrschung, nicht darüber zu streicheln. Bemüht, sich nur auf das Wesentliche zu konzentrieren, legte er ihr das kühle Nass um ihren Knöchel. „Tut es weh?“, fragte er dabei besorgt. Oscar zuckte leicht mit dem Bein, als seine Finger hauchzart ihren schmerzenden Knöchel berührten. Bestimmt unbeabsichtigt! Schon wieder stieg ihr eine gewisse Röte ins Gesicht und brachte ihre Wangen zum Glühen. Angestrengt rang sie diese Emotionen nieder und atmete mehrmals tief durch. „Es geht schon“, versuchte sie eine schiefe Grimasse zu schneiden. „Ich würde sagen, wir sollten lieber zum Anwesen zurück reiten.“ „In Ordnung...“ André verstand, dass die Verletzung schlimmer und schmerzlicher sein musste, als sie es zugab. Er verkniff sich eine Bemerkung. Behutsam streifte er ihr den Strumpf über, damit der provisorische Verband hielt, und dann den Stiefel. „Danke“, hauchte Oscar, als er mit seinem Werk fertig wurde, sich dann erhob und ihr die Hand reichte. André nickte nur stumm und half ihr beim Aufstehen. Seine Gefühle spielten verrückt und er konnte sich nur krampfhaft beherrschen. Kaum dass Oscar auf den Beinen stand, durchfuhr erneut ein stechender Schmerz ihren Knöchel und die Knie knickten ihr ein. André bot ihr sofort einen sicheren Halt und Oscar konnte sich nicht dagegen erwehren, dass ihr seine Stütze angenehm war. Aber wieso? … „Komm, ich helfe dir aufs Pferd...“ André bemühte sich neutral zu wirken und setzte ein verschwörerisches Lächeln auf. Einen Arm hielt er schon um ihre Mitte. Oscar schielte rasch zu ihm und wollte protestieren, als ihr die Worte einfach im Halse stecken blieben. Sie begriff schnell, dass sie es mit ihrer Verletzung nicht alleine schaffen würde. „Eine gute Idee...“, murmelte sie stattdessen und legte einen Arm um seine Schultern. Sie hinkte auf einem Fuß die letzten Schritte zu ihrem Pferd, dass André vorausschauend geholt hatte. Dabei versuchte sie, den pochenden Schmerz aus ihrer Wahrnehmung auszublenden und nicht an ihre missliche Lage zu denken. Normalerweise hätte sie sich auf keinen Fall so hilflos gezeigt, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Und zugegeben: Sie fühlte sich in seinen Armen sogar sehr wohl und erleichtert. Trotz des groben Stoffes seines Leinenhemdes spürte sie seinen kräftigen Arm um ihre Mitte und seine festen Muskeln unter ihrer Handfläche... Ihr Herz raste immer wilder - im Takt des pochenden Schmerzes. Auf dem Heimweg und hoch zu Pferde sprachen weder Oscar noch André miteinander. Sie konnten sich nicht sagen, was mit ihnen wirklich los war und dass dieser Vorfall sich sehr tief in ihnen einbrannte. Am Tor des Anwesens zügelte Oscar ihr Pferd. „Ich denke es wird besser sein, wenn du direkt nach Hause reitest“, meinte sie sogleich überlegend. „Nicht, dass deine Großmutter mit dir schimpft... Sie ist sehr empfindlich, was mich angeht...“ „Ich weiß...“ André sah bestürzt zu ihr. Er begriff, dass sie sich Sorgen um sein Wohlergehen machte, aber das war ihm halb so wichtig. „...ich widerspreche dir nur ungern, aber ich begleite dich. Wer wird dir vom Pferd helfen und dich bis zu deinem Zimmer bringen?“ Oscar schloss ihre Augen und atmete tief ein. Sie hatte diese Antwort von ihm erwartet. „Wir haben genug Bedienstete im Haus. Tue es für mich, André. Bitte. Komme lieber morgen wieder. Für heute möchte ich alleine sein...“ Sie hob ihre Lider, stieß ihrem Schimmel leicht in die Seiten und trabte durch das Tor, ohne André noch einmal anzusehen. Dieser war verwundert, folgte ihr aber nicht. Etwas war zwischen ihnen geschehen, das spürte er. Und er wusste mit Sicherheit, dass es Oscar nicht anders erging. Vielleicht wendete er deshalb sein Pferd und ritt Heim. Er würde ihr Zeit zum Nachdenken geben, denn auch er musste sich Einiges überlegen. Und das konnte er am besten, wenn er ungestört war - so ähnlich wie sie. Morgen würde er sie definitiv besuchen, aber heute nicht mehr. Kapitel 11: Was tust du mit mir... ---------------------------------- André ritt in den altbekannten und vertrauten Hinterhof ein und stieg lässig aus dem Sattel. Er führte seinen Braunen zu der kleinen Behausung, wo er ihn meistens absattelte und versorgte. Aber heute war ihm nicht danach. Er wollte sich nur noch in seine Wohnung verkriechen und sich vor aller Augen unsichtbar machen... „Hey, André!“ Die leutselige Stimme seines Freundes schreckte ihn auf und er blieb stehen. Nicht weit von ihm stand Alain und half seiner Schwester bei Wäsche aufhängen. Es war ein außergewöhnliches Bild: Alain, der bei Frauenarbeit mit anpackte – das sah man nicht jeden Tag! André schielte flüchtig zu den Geschwistern und hob nur matt seine Hand zum Gruß. Diane winkte ihm fröhlich zurück. „Du bist heute aber früh zurück! Das Essen ist noch nicht fertig, aber Mutter hat schon mit dem Kochen angefangen!“ „Ich habe heute keinen Appetit“, murmelte André lustlos und wandte sich von den Geschwistern ab. „Und rechnet heute nicht mehr mit mir. Ich möchte allein sein.“ Diane legte sich ihren Zeigefinger auf das Kinn und sah verwundert zu ihrem Bruder. „Etwas stimmt nicht mit ihm...“ „Mach dir nichts daraus!“ Alain verzog eine belustigende Miene und rief seinem Freund stichelnd nach: „Er hat bestimmt schon fein auf dem Anwesen gegessen und will unser schlichtes Abendbrot nicht! Habe ich recht, André?“ „Ich habe dort nichts gegessen und das tue ich auch nie...“ André setzte seinen Weg mit hängenden Schultern fort. „Das weißt du doch, Alain...“ Alain hatte ihn zwar nicht deutlich gehört, aber auch ihn beschlich nun der Verdacht, dass mit seinem Freund etwas nicht stimmte. Normalerweise reagierte André auf seine Neckereien nicht mit so einem trüben Gesichtsausdruck, als wäre ihm etwas Unheilvolles widerfahren. Alain sah kurz zu Diane, verständigte sich mit einem stummen Blickwechsel, stellte den Wäschekorb ab und rannte seinem Freund nach. Dieser erreichte schon die kleine Pferdeunterkunft und band seinen Braunen an einem Trog an. „Hey, Kumpel, was ist mit dir?! Ist etwas auf dem Anwesen vorgefallen?! Hat dich deine Großmutter schon wieder gescholten?! Oder hat das Mannsweib dir etwas angetan?!“ André warf Alain einen scharfen Blick zu, aber gleich darauf senkte er ihn. „Nichts dergleichen, Alain...“ Er schlenderte hastig an seinem Freund vorbei. „Mit mir ist alles in Ordnung!“ Dem war nicht so. Alain wusste mit Sicherheit, dass André ihn anlog. Denn sein Verhalten und seine trübe Miene sagten etwas anderes über ihn aus. Es war auf dem Anwesen also wirklich etwas vorgefallen, worüber er mit niemandem reden wollte. „Wie du willst...“, dachte Alain unverhohlen bei sich und schaute André wohl wissend hinterher. „Wenn du jetzt nicht reden willst - gut... Aber früher oder später wirst du es mir schon erzählen, ich kenne dich doch! Mir kannst du nichts vormachen, mein Freund...“ - - - André stürmte in seine Wohnung, knallte wuchtig die Tür hinter sich zu und glitt an ihr angelehnt in die Hocke. Sein Inneres stand in Flammen, sein Herz wurde von einem unsichtbaren Dolch durchbohrt und seine aufgewirbelten Gefühle erdrückten ihn. Oscar! Immer und immer wieder geisterte ihm der Vorfall durch den Kopf: Wie sie vor ihm an dem Baum stand... Wie sie hinfiel, als sie von ihm weggehen wollte... und wie sie ihn dann, unter ihm liegend, angesehen hatte! So verheißungsvoll nahe... so verlockend... Ihre himmelblauen Augen, die ihn mit einem geheimnisvollen Glanz ansahen und in denen er sich zu ertrinken geglaubt hatte... Ihre blutroten Lippen, die auf ihn wie eine Zauberkraft wirkten und die er am liebsten geküsst hätte... Und ihr goldblondes, samtweiches Haar, das ausgebreitet auf dem Grün lag und teilweise hauchzart seinen Handrücken bedeckte... André wusste selbst nicht, wie er es geschafft hatte, der Versuchung überhaupt zu widerstehen und Oscar nicht gleich an Ort und Stelle... Er vergrub seinen Kopf in den Händen und presste sie gegen seine Schläfen. Er wollte sich nicht vorstellen, was danach geschehen wäre... Aber was war das überhaupt für ein Empfinden? Dieses tief einschneidende Gefühl war viel intensiver als bei ihrer allerersten Fechtübung oder damals, als er sie schon einmal vor einem Sturz bewahrt hatte... Und es war auch viel schmerzhafter... Oscar mochte äußerlich kühl und hartherzig wirken, aber sie war eine Frau und recht bezaubernde noch dazu... Ihren zartgliedrigen Körper unter ihrem seidigen Hemd und der dicht gewebten Weste, ihr schmaler Fuß und ihre weiche Haut... - all das spürte André noch immer unter seiner Handfläche wie ein glühendes Eisen... „Was tust du mit mir... Oscar...“, murmelte er erstickt und raufte sich hilflos die Haare. Er musste sich fangen! Niemand durfte ihn in diesem Zustand sehen! Er würde lernen müssen, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen und sie im tiefsten Winkel seines Herzens verborgen zu halten. So, wie es Oscar bestimmt mit den ihren tat... - - - Oscar war für den Rest des Tages nicht mehr ansprechbar. Ihr einstiges Kindermädchen bemerkte den schmerzhaft verzogenen Gesichtsausdruck – obwohl sich Oscar bemühte, sich nichts ansehen zu lassen. Und selbst mit größter Mühe konnte Oscar nicht verhindern, dass sie hinkte. Ohne ihren Schützling darauf anzusprechen ließ Sophie sofort den Arzt holen. Und als dieser eintraf, kam sogar Rosalie aus ihrem Zimmer und vergaß darüber ihren eigenen Kummer. Sie kümmerte sich zusammen mit Sophie rührend um Oscar. Über die Fürsorge der beiden sagte Oscar nichts und ließ ihren Fuß stoisch vom Arzt untersuchen. Zu sehr beschäftigte sie noch der Vorfall am See – die Erinnerung rückte sich mehr in Vordergrund, als es ihr lieb war. „Wie konnte das nur passieren, Lady Oscar?!“ Sophie überschüttete sie wispernd mit Fragen, bekam aber keine Antwort. Sofort keimte ein Verdacht in der alten Frau auf, dass ihr Enkel daran schuld sein könnte. Denn er war nicht wie gewöhnlich mit Lady Oscar zurückgekehrt. Und was sollte der notdürftige, nasse Verband um ihren Fuß? Es war ihr klar, dass er zu Abkühlung gedacht war... André würde sich noch vor ihr verantworten müssen, das nahm sich Sophie insgeheim fest vor! „Zum Glück ist es kein Bruch“, entriss Doktor Lasonne sie aus ihren Gedanken und sie schenkte ihm wieder ihre Aufmerksamkeit. Sophie atmete auf, aber der Groll auf ihren Enkel verging dadurch noch nicht. Zusammen mit Rosalie verfolgte sie die Behandlung des Arztes. Oscar saß auf ihrem Bett, der Doktor ihr gegenüber auf einem Stuhl und ließ ihren Fuß nach der Untersuchung herabsinken. „Was können wir tun?!“, schniefte Sophie mit besorgtem Blick auf Oscars Bein. „Es ist schon sehr angeschwollen!“ Sie übertrieb ein wenig – fand Oscar. Es sah schlimmer aus als es wirklich war. „Ich empfehle ein kühles Fußbad zu machen, damit die Haut sich beruhigt und entspannt“, erklärte Doktor Lasonne und erhob sich vom Stuhl, um seine Utensilien einzupacken. „Ich werde gleich eines vorbereiten“, erbot sich Rosalie und nach einem zustimmenden Nicken von Sophie, eilte sie hinaus. „Nach dem Fußbad solltet Ihr den Fuß bandagieren und möglichst nicht laufen, um den verletzten Knöchel nicht zu belasten.“ Der Doktor sprach zu Oscar, aber diese sah nur stumm an ihm vorbei ins Leere. Daher übernahm Sophie für sie die Antwort. „Ja, Herr Doktor, so werden wir es machen. Ich danke Euch, dass Ihr so schnell kommen konntet...“ „Das ist doch selbstverständlich.“ Doktor Lasonne lächelte gütig und verabschiedete sich gleich darauf von Oscar, obwohl von ihr keine Regung kam. Sophie geleitete ihn hinaus und Oscar blieb auf ihrem Bett ungerührt weiter sitzen – darauf wartend, dass Rosalie mit dem angekündigten Sud kommen würde. Eigentlich wäre sie nicht so ruhig geblieben und hätte stattdessen heftig protestiert, wenn man sie zum Nichtstun verdonnerte. Aber das war ihr gerade nebensächlich. Sie hatte sogar den schmerzlich pochenden Knöchel während der Untersuchung ausgeblendet. Sie war tief in Gedanken: Bei dem Vorfall am See... Bei André... Wie er sie angesehen hatte, als er sie an den Baum gedrängt hatte und auch nach ihrem ungeschickten Fall... Wie er ihre Haut hauchzart berührt hatte, als er den kühl-nassen Verband um ihren Fuß legte... Wie er sie stützend in seinen starken Armen gehalten hatte, als sie beide zu den Pferden gingen... Und wie er ihr dann in den Sattel half... Oscar verschränkte ihre Arme, umfasste sich bei den Schultern und schloss ihre Augen, als wollte sie diese Bilder verwischen. Aber das ging nicht. Und als wäre das schon nicht genug, erfüllte ihr Körper mit einer eigenartigen Wärme. „Was tust du mit mir... André...“, murmelte sie und in dem Moment hörte sie, wie die Tür in ihrem Salon aufging. Sofort öffnete sie die Augen, richtete sich gerade auf und verbannte all ihre Empfindungen. Sophie kam gleich darauf in ihr Schlafzimmer, mit einem Verband und Tüchern. Hinter ihr ging Rosalie mit einer gefüllten Schüssel und stellte sie vor Oscars Füßen auf den Boden ab. Sofort stieg Oscar ein kräftiger Geruch nach irgendwelchen Heilpflanzen in die Nase. Wie benommen ließ sie von Sophie ihren Fuß in den kühlen Sud tauchen und biss die Zähne zusammen, als ihr verletzer Knöchel sich meldete. Unter dem Wasser beruhigte es sich jedoch schon bald und Oscar entspannte sich ein wenig. Nach dem Fußbad wurde ihr der Verband angelegt und sie verbrachte den restlichen Abend auf ihrem Zimmer und in ihrem Bett - so, wie der Arzt es verordnet hatte. Nicht, dass sie sich von der braven Seite zeigen wollte, sondern weil es viel zu überlegen gab. Sie musste ihre aufgewühlten Gefühle wieder ordnen und so sein, wie sie schon immer war. Nicht umsonst hatte man sie doch wie ein Mann erzogen... - - - Oscars Fußknöchel ging es am nächsten Tag wesentlich besser – im Gegensatz zu ihrem Gemüt. Die rötliche Schwellung um ihr Fußgelenk war über Nacht zurückgegangen. Oscar hinkte zwar noch etwas, aber sie brauchte keine Stütze. Sie schickte einen Boten nach Versailles, der sie für heutigen Tag entschuldigen würde. André kam kurz vor Mittag auf das Anwesen. Noch bevor er die große Vorhalle im unteren Stockwerk betrat, hörte er eine taktvolle Melodie, die das ganze Haus in einem leisen Klang erfüllte. Jemand spielte Klavier. Das konnte nur Oscar sein. André sah zu der großen Treppe hinauf und verharrte für einen Augenblick. Er hatte sie schon einmal spielen gehört – früher, als er erst anfing mit ihr Bekanntschaft zu machen und hierher kam, um mit ihr Fechten und Schießen zu üben. Und jetzt? Andrés Hände wurden feuchter, ihm wurde innerlich heiß und die Erinnerung an den Vorfall von gestern gewann wieder an Intensität. Seine Lippen bewegten sich und brachten nur tonlos ihren Namen hervor: „Oscar...“ Warum hatte man sie so erzogen? Warum ausgerechnet sie? Es gab doch so viele Frauen... aber nur diese eine hatte sein Herz berührt... Er sollte besser nicht mehr hierher kommen, aber das konnte er nicht... Er musste sie sehen, er wollte sie sehen – dass es ihr gut ging und wie es um ihren Fuß stand. André dämpfte erneut all seine wahren Empfindungen und setzte sich so unbekümmert wie möglich in Bewegung. Er ging in die Küche, um seiner Großmutter seine Anwesenheit kund zu tun. Aber diese war nicht da. „Madame Glacé ist bei Lady Oscar im Salon“, erfuhr von einer der Bediensteten. „Soll ich ihr Bescheid sagen, dass du hier bist? Oder soll ich dich gleich zu ihr bringen?“ „Ich wähle die zweite Option.“ André hatte nicht sonderlich Lust, hier auf seine Großmutter zu warten. „Dann folge mir.“ Das Dienstmädchen trocknete schnell ihre Hände an ihrer Schürze ab und ging ihm voraus. Je höher sie die Treppen empor stiegen und dann den langen Gang entlang liefen, desto mehr hörte André den Klang des Klaviers. An einer großen Doppeltür blieben sie stehen und das Dienstmädchen klopfte kurz, bevor sie eintrat. Die Musik verstummte. „Lady Oscar, verzeiht, dass ich störe.“ „Schon gut. Was gibt es?“, sage die Angesprochene und das Dienstmädchen meldete dann Andrés Besuch. „Er kann ruhig reinkommen“, entschied Oscar und André betrat sogleich den Salon. Das Dienstmädchen knickste und ging wieder in die Küche, als Oscar sie mit einem dankenden Nicken entließ. Sophie nutzte nun ihre Gelegenheit und überhäufte ihren Enkel mit einer gewaltigen Litanei: „Wo bleibt dein Anstand?! Nachdem du gestern Lady Oscars Verletzung verschuldet hast, nimmst du die Dreistigkeit hier auch noch aufzutauchen, als wäre nichts passiert! Wie konntest du Lady Oscar das antun und auch noch feige davonlaufen?“ „Es war nicht seine Schuld, Sophie!“, mischte sich barsch Oscar ein und milderte sogleich ihren Tonfall – sie wollte ja die alte Frau nicht verschrecken. Und ebenso wollte sie nicht, dass Sophie auf ihren Enkel ungerechtfertigt schimpfte. „Sei so lieb und bereite für uns bitte ein Tee“, schickte sie daher ihre einstige Kinderfrau unter dem Vorwand davon. Widerwillig, aber um das Wohl ihres Schützlings besorgt, verließ Sophie den Salon. Oscar blieb mit André und Rosalie alleine. Die junge Frau war noch nicht über die gestrigen Ereignisse hinweg und wich daher kaum von Oscars Seite. Im Gegensatz zu gestern wirkte Oscar wieder kühl und distanziert. Das lag diesmal nicht an André. Nein! Sie freute sich insgeheim über seinen Besuch. Sie war nur auf ihre eigenen Gefühle wütend und das durfte niemand mitbekommen. „Mach es dir gemütlich“, sagte sie ihm und klimperte auf ihrem Klavier ungerührt weiter. Was auch immer mit ihr los war, sie musste es verdrängen. André und Rosalie setzten sich an den Tisch gegenüber und hörten ihrem lieblichen Musikstück entspannt zu. André ließ sich erneut davon verzaubern. Und wieder spürte er dieses angenehme Prickeln unter seiner Haut... André war gegen die Stimme seines Herzens machtlos und seinen Gefühlen hilflos ausgeliefert. Es war mehr als nur freundschaftliche Zuneigung und Sympathie. Ob Oscar die gleichen Gefühle zu ihm empfand? Er hoffte zumindest darauf. Oder war ihr Kummer um Graf von Fersen stärker? Dieser Zweifel lähmte seine Hoffnung. Und: Wer war er denn schon, um überhaupt darauf zu hoffen? André wusste: Oscar wurde nicht dazu erzogen, zu lieben und geliebt zu werden. Das durfte sie nicht. Deswegen bekämpfte sie ihre Gefühle und versuchte sie aus ihrem mannhaften Lebensstil zu streichen. Als ob das so leicht wäre! Die Natur konnte man doch nicht überlisten oder gar davonlaufen, egal wie oft und wie viele Male man es versuchte. André wünschte sich, Oscar möge irgendwann auf ihr Herz hören. Denn der Glanz in ihren Augen, den er Gestern entdeckt und ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging, hatte ihm eine Leidenschaft angedeutet, die er bisher bei ihr noch nie beobachtet hatte. Und diese Leidenschaft war ganz sicher ihm gewidmet! Oscar hatte das bestimmt nicht wahrgenommen und wenn, dann hatte sie es schnell im Keim erstickt. André seufzte schwermütig. Er würde Oscar niemals bedrängen oder ihr seine Gefühle aufzwängen. Aber aufgeben wollte er auch nicht! Vielleicht würde sie es irgendwann selbst bemerken und von alleine zu ihm kommen. Dann würde er ihr auch sein Herz öffnen und sie glücklich machen. Aber bis dahin würde er weiterhin nur ein treuer Freund für sie bleiben und ihr immer wieder zeigen, wie man frei und unbeschwert sein kann. Kapitel 12: Kummer ------------------ Guter Laune ritt André zum Anwesen und pfiff die Melodie vor sich hin, die Oscar am meisten beliebte auf ihrem Klavier zu spielen. Es war ein schöner, sonniger Herbsttag und er freute sich auf das Wiedersehen mit ihr. Seit seinem letzten Besuch waren wieder Monate vergangen, denn erst heute hatte er sein langersehntes Dienstfrei. Den Vorfall am See im Sommer hatte er nicht vergessen und das würde er auch niemals. Aber zumindest hatte er sich derweilen damit abfinden können, mit seinen Gefühlen für Oscar zu leben, ohne sie zu zeigen. Die grünen Blätter an den Bäumen nahmen mit jedem Tag etwas mehr gelb-rötliche Färbung an und leuchteten bunt, wenn die Sonnenstrahlen zwischen die Äste durchdrangen. Manche Blätter fielen bereits ab, vollführten in der Luft einen letzten Tanz und raschelten dann zu Boden - unter die Hufe von Andrés Braunen. Etwas Mystisches lag bei diesem Anblick und versetzte ihn in einen verträumten Zustand. André passierte das Eisentor des Anwesens und begegnete auf dem Hof einen Reiter. Sofort unterbrach er sein Pfeifen und kam nicht umhin, den Mann im Sattel zu begutachten. Dieser hatte vor, das Anwesen zu verlassen. Bei näherer Betrachtung sah er ziemlich vornehm aus, doch sein Gesichtsausdruck war bekümmert. Dass dieser Mann dem Adel angehörte, war André sofort bewusst und er machte ihm deshalb den Weg frei. Umso mehr war er überrascht, als der Mann sein Pferd neben ihm zügelte und zu ihm herüber sah. „Kommt Ihr gerade aus Paris?“ „Ja“, sagte André schlicht und wunderte sich noch mehr, weil er von dem Adligen in höflicher Form angesprochen wurde. „Könnt Ihr mir einen billigen Gasthof in Paris empfehlen?“ Der Mann war für seine Verhältnisse freundlich und besaß eine angenehme Stimme. Doch besonders fiel André dessen trauriger Blick auf. Es sah so aus, als würde er seelisch leiden – sehr leiden. „Ähm.“ André überlegte schnell. „Wollt Ihr wirklich in einen billigen Gasthof einkehren? Nicht, dass Ihr dort ausgeraubt oder bestohlen werdet...“ Der Mann lächelte gequält. „Ich danke Euch für Eure Sorge um meine Wenigkeit... Vielleicht habt Ihr recht...“ Er stieß seinem Pferd in die Seiten und ritt davon. André sah ihm nach. Ein eigenartiger Mann. Seit wann verkehrten die noblen Herren in billigen Spelunken? André schüttelte darüber nur verwundert den Kopf. Weder er noch der adlige Mann hatten bemerkt, dass sie aus einem Fenster des Herrenhauses beobachtet wurden. Denn Oscar stand an einem großen Fenster in der Vorhalle des ersten Stockwerkes und sah in den Hof hinaus. Von Fersen unterhielt sich mit André. Es war eine kurze Unterhaltung. Aber das reichte, um ihr das Herz entzwei zu reißen: Zwei Männer, die ihr sehr wichtig waren und die zu ihren Freunden zählten. Oder vielleicht mehr? Von Fersen war ihr Kummer und Leid. André dagegen ihre Freude und Glückseligkeit. Sie erinnerte sich noch genau an den Vorfall im vergangenen Sommer und das bescherte ihr immer wieder ein warmes Kribbeln unter der Haut. Ihr Fuß war schon längst verheilt, sie konnte wieder normal und ohne Beschwerden auftreten. Aber in ihrem Inneren trug sie dagegen weiterhin eine Wunde, die nicht heilen wollte und sich immer schmerzlich öffnete... Sie konnte nicht länger dagegen ankämpfen - egal wie sehr sie sich anstrengte, ihre weiblichen Gefühle im Keim zu ersticken: Diesen Schmerz würde sie immer tragen müssen. Wie konnte sie dem nur entkommen?! Warum gab es dafür kein Heilmittel?! Vielleicht würde die Zeit irgendwann ihr geplagtes Herz heilen und dann würde alles wieder in Ordnung sein... Wenn sie nur daran glauben könnte! Oscar seufzte schwer. Von Fersen war heute hier, um sich nach einem heimlichen Treffen mit der Königin abzulenken. Er hatte mit Oscar eine angenehme Zeit verbracht, sich mit ihr über belanglose Sachen unterhalten und mit ihr gefochten. Ihm ging es danach besser, obwohl ihre Gesellschaft den Liebeskummer um Marie Antoinette nicht minderte. Oscar tat der Mann sehr leid und das quälte sie. „Lady Oscar?“, entriss sie eine besorgte, weibliche Stimme aus ihren trüben Gedanken. „Ist alles in Ordnung?“ „Gewiss, Rosalie.“ Oscar wandte sich vom Fester ab und sah die junge Frau mit einem freudlosen Lächeln an. „André ist gerade in den Hof eingeritten. Würdest du ihn empfangen, ihn in meinem Salon geleiten und dann einen Tee für uns drei bereiten?“ „Aber natürlich, Lady Oscar.“ Rosalie sah Oscar mitfühlend nach, wie diese die Treppen hochstieg und dann im oberen Stockwerk in dem langen Gang zu ihren Gemächern verschwand. Arme Lady Oscar! Obwohl sie ihre wahren Gefühle stets gekonnt verbergen mochte, schien Rosalie die Einzige zu sein, die sie durchschaute. Lady Oscar hatte es nicht verdient, traurig zu sein! Aber was konnte sie schon tun, um ihren Kummer zu mindern? André schien der Einzige zu sein, der sie zum Lachen brachte und ihren Kummer zerstreute. Rosalie schürzte die Röcke und beeilte sich, der Bitte von Lady Oscar nachzukommen. Sie setzte ein freundliches Lächeln auf und hastete in den Hof hinaus. Sie würde André darauf ansprechen, wenn sich eine gute Gelegenheit ergab, und er würde ihr sicherlich helfen! André war schon von seinem Pferd abgestiegen und hatte es einem der Stallburschen übergeben. „Rosalie!“ Mit aufrichtiger Freude ging er auf sie zu. „Wie geht es dir?!“ „Danke, André. Mir geht es viel besser“, begrüßte Rosalie ihn ehrlich und führte ihn gleich in die Küche zu seiner Großmutter. Auf nähere Details auf bezüglich ihrer leiblichen Mutter wollte sie nicht eingehen – sie wollte sie vergessen und erst gar nicht an sie denken. „Weißt du zufällig, wer der Mann war, der gerade das Anwesen verlassen hat?“, fragte André neugierig auf dem Weg. „Das war Graf Hans Axel von Fersen“, offenbarte ihm Rosalie ohne Umschweife: „Er hat Lady Oscar besucht.“ André war sichtlich erstaunt. Das war also der berüchtigte von Fersen, mit dem die Königin eine Affäre pflegte! Sie erreichten die Küche. „Schön Euch zu sehen, Großmutter!“, grüßte André gleich von der Türschwelle. „Wie geht es dir, mein Junge?!“ Sophie ließ alles stehen und liegen und kam gleich auf ihren Enkel zu, um ihn zu umarmen. „Mir geht es gut.“ André ließ die Umarmung über sich ergehen - überrascht, aber auch erfreut - bevor Sophie gleich wieder zu ihrer Tätigkeit zurückkehrte. Seine Großmutter war ihm also nicht mehr böse, wenn sie sich so verhielt: Weder über den Vorfall im Sommer, noch über sein selbst gewähltes Soldatenleben. Er ahnte ja nicht, dass sie nur deshalb so gut gelaunt war, weil Graf von Fersen ihren Schützling besucht hatte. Sophie glaubte Fröhlichkeit in Lady Oscar aufkeimen gesehen zu haben und das bescherte ihr ein Glücksgefühl. Sie hoffte insgeheim noch immer, dass sich zwischen den beiden vielleicht irgendwann etwas entwickeln würde und ihr Schützling dadurch in das Leben einer Frau finden würde... „Lady Oscar wünschte Tee für uns drei“, hörte sie Rosalie sagen und sah schon, wie die junge Frau flink selbst nach Tablett und Geschirr suchte. Sophie beeilte sich bei dem Zubereiten des Wassers und half Rosalie, alles auf das Tablett zu stellen. André beobachtete die beiden Frauen, in Gedanken bei Oscar und diesem von Fersen. Er hatte ihn sich ganz anders vorgestellt - zumindest nicht so höflich, vornehm und offenherzig gegenüber Menschen einfacher Herkunft. Trotzdem verstand er nicht, warum Oscar wegen diesem Mann Kummer hatte, wo sein Herz doch sowieso der Königin gehörte. Dabei stach Andrés eigenes Herz schmerzlich. Er redete sich ein, dass Oscar etwas anderes zu diesem Liebhaber der Königin hinzog. Dadurch fühlte er sich zwar nicht besser, aber es verschaffte ihm eine gewisse Beruhigung. Er dachte an den geheimnisvollen Glanz und das lodernde Feuer in ihren Augen, das er einmal bei ihr entdeckt hatte. So etwas schenkte man doch nicht jemandem, wenn man eigentlich einen anderen liebte?! Andre wusste, dass er mit einem Liebesgeständnis womöglich alles falsch machen würde. Weil Worte sie niemals davon überzeugen würden, was er für sie empfand. Vielleicht bestand seine einzige Möglichkeit darin, weiter dafür zu sorgen, Freude und Leichtigkeit in ihr geziertes Leben zu bringen. Ja, vielleicht... Er konnte sie doch nicht überrumpeln – nicht mit seinen Gefühlen und nicht, wenn er sie nicht gänzlich verlieren wollte. Vielleicht würde sie seine Gefühle niemals erwidern. Vielleicht würde sie nicht einmal erkennen, was er für sie empfand. Doch er würde die Hoffnung niemals aufgeben können. Rosalie kam mit dem beladenen Tablett auf ihn zu. „Lass mich das tragen“, erbot sich André und nahm Rosalie die Last ab. „Danke“, sagte sie und ging ihm voraus aus der Küche. Sie passierten die große Vorhalle und nahmen die Treppe in das obere Stockwerk, als Rosalie auf einmal mitten im Gang stehen blieb. „André?“ Dieser lief zum Glück nicht dicht hinter ihr, so dass er mit seinem Tablett nicht gegen sie stieß. Er umrundete sie und blieb direkt neben ihr stehen. „Ja, Rosalie? Was ist?“ „Kannst du mir etwas versprechen?“ Rosalie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern und auch ihre Haltung war etwas in sich gesunken. Die Gelegenheit, jetzt gleich hier mit ihm zu sprechen, schien ihr gerade am Besten zu sein. „Um was geht es?“ André sah verwundert zu ihr und bekam plötzlich die grobe Vorahnung, dass es etwas mit Oscar zu tun sein könnte. Rosalie faltete ihre Hände vor sich und sah ihn mit glänzenden Augen an. Schon alleine diese Gestik bestätigten ihm seine Annahme: „Wegen des Grafen ist Lady Oscar sehr traurig. Sie hat Kummer um ihn – zwar zeigt sie es nicht, aber ich sehe es ihr an. Doch du, du bringst sie immer zum Lachen und wenn du da bist, dann schimmern ihre Augen vor Freude. Ich wünsche mir, dass sie glücklich ist und bisher hat es niemand sonst geschafft, ihr diese reine und unbeschwerte Freude zu bereiten. Sie ist glücklich, wenn du da bist, auch wenn sie das nicht zeigt. Deswegen möchte ich, dass du mir versprichst, Lady Oscar niemals traurig zu machen und sie stattdessen weiter zum Lachen zu bringen.“ André wunderte sich nicht über ihre Bitte. Neben ihm war Rosalie der zweite Mensch, der Oscars wahre Persönlichkeit zu durchschauen schien. „Das verspreche ich dir gerne, Rosalie“, sagte er aufrichtig. Rosalie atmete erleichtert auf. „Ich danke dir, André.“ „Mach dir keine Sorgen, Rosalie. Es wird schon wieder gut, du wirst sehen. Irgendwann wird Oscar eine der Glücklichsten sein.“ Aber an wessen Seite?, fragte er sich insgeheim. Es war besser, dass diese Frage in seinen Gedanken blieb. Er schmunzelte Rosalie an. „Gehen wir? Sonst muss sich unsere werte Oscar neuen Tee bestellen, weil dieser hier kalt ist.“ Rosalie kicherte verhalten. „Ja, gehen wir...“ Im Salon spielte Oscar auf ihrem Klavier - um ihre Gedanken und Gefühle wieder in richtige Bahnen zu lenken. Sie hörte, dass leise Tür aufging, jemand den Raum betrat und auch das Klimpern des Teegeschirrs. Doch sie sah nicht auf – spielte stattdessen konzentriert und mit geschlossenen Augen weiter. Das konnten schließlich nur Rosalie und André sein... Die beiden durchquerten den Salon auf leisen Sohlen und André stellte dann genauso leise und vorsichtig das beladene Tablett auf dem Tisch ab. Er sah zu Oscar: Auf ihr schmales Rückgrat und ihre hellgoldene Haarpracht, die sowohl ihre zierlichen Schultern, als auch ihre Wirbelsäule bis knapp zu den Hüften bedeckte. Ihre schmalen Finger flogen voller Grazie über die Klaviertasten und entlockten so dem Instrument seine wundervolle Melodie. Die selben zartgliedrigen Hände konnten mit gleicher Leidenschaft hart zuschlagen und erbarmungslos Waffen führen. Wie mochten sich wohl ihre Hände, ihre Finger auf seiner Haut anfühlen? Zart, weich und sanft? Wäre möglich... Wenn Oscar nur wüsste, welch bezauberten Anblick sie André bot! Sie sah wunderschön aus – so entspannt und sorglos. Sein Herz füllte sich mit einer Wärme und einem unbeschreiblichen Gefühl, das nur dieser einen Frau galt. Er mochte sie sehr und er hatte großes Mitgefühl mit ihr. Warum nur musste sie an diesen von Fersen denken?! Sie schadete sich doch nur selbst damit! André schwor sich insgeheim, was er auch schon Rosalie versprochen hatte: Er würde Oscar niemals Kummer bereiten! Er würde alles dafür tun, dass sie stets lachte und Freude hatte! Immerhin war er ihr Freund und Freunde standen zu einander! Kapitel 13: Niemand hat sie verdient! ------------------------------------- Der goldene Herbst verwandelte sich in nächsten Tagen in eine graue Stimmung. Die bunten Blätter fielen weiter, manche Bäume waren bereits schon kahl und sahen gespenstig aus. Dennoch kämpfte sich die Sonne durch die bleischweren Wolken und schenkte der Natur ihre letzte Wärme. Das sanftgrüne Gras wurde immer welker und ragte schließlich nun noch als grässliches, vertrocknetes Gestrüpp aus der Erdoberfläche. Die Menschen und die Natur bereiteten sich auf den Winter vor. Von den Feldern war bereits eine magere Ernte eingebracht - doch die Bauern würden kaum etwas davon haben, denn der größte Teil davon ging als Steuer an den Königshof. Und die Steuern stiegen immer höher... Heute war Andrés letzter, dienstfreier Tag und er wollte ihn besonders gut verbringen, bevor er wieder für lange Monate in der Kaserne verweilen musste. „Wollen wir ausreiten?“, schlug er vor, als er zu Oscar auf das Anwesen kam. „Und was wird aus der Fechtübung?“, konterte sie mit einer Gegenfrage. André zuckte beiläufig mit den Schultern und verdrehte die Augen. Das entlockte Oscar wiederum ein leises Lächeln. „Also gut, lass uns ausreiten.“ Rosalie kam auch mit. Zu dritt ritten sie um die Wette zu dem altbekannten See. André und Rosalie ließen Oscar wieder einmal gewinnen. Diesmal legten sie an dem alten Baum keine Rast ein, sondern ritten gleich wieder zurück - allerdings in einem gemächlichen Trab und ohne Eile. Auf dem Hinterhof des Anwesens machten sie ihre Fechtübung. André hielt sich an sein Versprechen und brachte Oscar dabei zum Lachen. Und trotz des grauen und trüben Tages war Oscar fröhlich. Das begnügte André und Rosalie gleichermaßen. Die ausgelassene Stimmung hielt jedoch nicht lange. Die Fröhlichkeit verschwand schlagartig, als ein Bote aus Versailles kam und Oscar meldete, dass Ihre Majestät sie zu sehen wünschte. Oscar brach pflichtbewusst nach Versailles auf. Es war schon eine Weile her, dass die Königin sie zu sich bestellen ließ. Was wollte sie bloß von ihr? Oscar erfuhr es, als sie in Marie Antoinettes Salon ankam und diese all ihre Hofdamen fortschickte. Es ging um Graf von Fersen. Natürlich. Um wen denn sonst? Die Königin hielt ihr Gesicht verdeckt und bat Oscar um einen Gefallen. „...sagt bitte nicht nein, Oscar, sonst kann ich Euch nie wieder mit reinem Gewissen ins Gesicht sehen...“ Was konnte Oscar schon sagen, außer ihr den Gefallen zu erfüllen: „Seht mich bitte an, Majestät... Glaubt Ihr ernsthaft, ich könnte Euch jemals auch nur eine Bitte abschlagen?“ Dann verließ sie Ihre Majestät und ritt fort. Sie sollte Graf von Fersen ausrichten, dass Marie Antoinette sich heute nicht wie vereinbart mit ihm treffen konnte - weil sie vergessen hatte, dass der König einen hohen Gast erwartete und sie deshalb an seiner Seite sein müsste. Aber sie würde trotzdem versuchen, nachher auf dem Ball mit ihm zu tanzen. Mitten auf dem Weg, an einem Fluss, zügelte Oscar ihr Pferd. Sie stieg ab und ließ sich im welken Gras nieder. Heftige Windböen schoben an ihr vorbei, aber das war ihr egal. Ihre Wimpern wurden feucht, ihre Kehle schnürte sich allmählich zu und ihr Herz zerriss es förmlich. „...Ich bitte Euch, Majestät, verzeiht mir meine Worte, die ich an Euch richte. Aber bei all Eurem Schmerz, den ich sehr gut verstehen kann, scheint Ihr mir eines vergessen zu haben: Nämlich, dass Ihr die Königin von Frankreich seid...“ Oscar fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen, aber sogleich sammelten sich schon die nächsten Tränen. „Neulich, als Ihr mich um einen Gefallen gebeten habt, da habt Ihr Euer Gesicht wie ein gewöhnlicher Straßendieb verdeckt... Ich kann gut nachvollziehen, was in Euch vor geht, aber dennoch dürft Ihr dabei nicht vergessen, wer Ihr seid...“ Oscar schnürte es noch mehr die Kehle zu. Die Königin hatte nicht mitbekommen, dass auch ihr Kommandant der königlichen Garde unter dem selben Liebeskummer litt. Und vielleicht war das sogar besser so. Niemand sollte je erfahren, dass die tapfere, so unerschrockene und hartherzige Lady Oscar ihren weiblichen Gefühlen unterlag. Wie sollte es nur weitergehen? Oscar war es leid, diese Rolle zu spielen. Die Sache ging nur von Fersen und Marie Antoinette etwas an. Aber welche Wahl hatte sie denn schon? Es war ihre Pflicht, der Königin beizustehen - ob sie wollte oder nicht. Sie seufzte tief betrübt: „Ach, was redest du, Oscar...“ - - - Die grauen Wolken verdunkelten den Himmel immer mehr und kündigten Regen an. Auch der pfeifende Wind roch zunehmend nach Feuchtigkeit. André war gleich heimgeritten, als Oscar nach Versailles aufgebrochen war. Er hätte sie gerne ein Stück begleitet, obwohl ihre Wege sie in verschiedene Richtungen führten. Aber Oscar wollte das nicht. Das hatte er schon an ihrem kühlen Gesichtsausdruck verstanden, als der Bote Ihrer Majestät ihr die Nachricht mitgeteilt hatte. Gerade rechtzeitig kam er in seiner Wohnung an, bevor der Regen einsetzte. Er trommelte auch noch am Abend gegen die Fensterscheiben der Häuser, auf den gepflasterten Steinboden und einfach auf alles, was sich ihm in Weg stellte - sogar noch stärker als zu Beginn. Das Regenwasser floss in Rinnsalen und schien den sowieso schon nassen Erdboden gänzlich zu überfluten. Und dennoch ritt eine Person ziellos durch die Straßen von Paris. Sie wollte nicht nach Hause und auch nicht ins Trockene. Sie wollte nirgendwohin. Sie ritt von ihren Gefühlen davon und hoffte, dass der Regen sie wegwischen würde. Immer mehr Tränen trieb es ihr in die Augen und das salzige Nass vermischte sich auf ihrem Gesicht mit dem Regen. Sie war bereits völlig durchnässt, aber das war ihr nicht von Bedeutung. Ihre Gefühle erdrückten sie und sie wusste nicht, wie sie sie loswerden konnte. Vielleicht würde es helfen, wenn sie mit jemandem darüber redete? Aber mit wem? In dieser großen Stadt gab es nur einen, dem sie vertraute. Aber sollte sie ihn mit ihren Sorgen belasten? Sicherlich würde er sie anhören, immerhin verband sie mittlerweile eine tiefe Freundschaft! Aber würde es ihr dadurch besser gehen? Die längst vergessene Erinnerung einer Vierzehnjährigen keimte plötzlich in ihr auf: Damals hatte sie sich einen Freund gewünscht, an den sie sich anlehnen und auf den sie sich verlassen konnte. Zweifelsohne hatte sie in ihm eben diesen Freund gefunden, obwohl sie nie daran geglaubt hatte. Dennoch hatte das Schicksal ihre Wege gekreuzt und das musste doch etwas bedeuten... - - - André hätte nie erwartet, dass um diese völlig verregnete, späte Stunde ihn jemand aufsuchen würde. Nach dem kurzen und schlichten Abendmahl bei Alain und seiner Familie, kehrte er in seine Wohnung zurück. Er entfachte ein Feuer in der Kochstelle und bereitete sich einen Tee. Dies hatte er Oscar zu verdanken: Sie trank Tee zu jeder Gelegenheit und nun hatte er es sich auch angewöhnt, eine Tasse nach dem Heimkommen zu trinken. Und die Feuerstelle spendete zusätzlich Wärme in seiner kahlen Wohnung. Ein zaghaftes Klopfen an seiner Tür unterbrach ihn von seiner Tätigkeit. André machte auf und ihm fielen beinahe die Augen aus dem Kopf: Vor ihm stand Oscar! Regenwasser rann nur so aus ihren Haaren und von ihrer roten Uniform herab. Sie sah bedrückt aus - also müsste etwas vorgefallen sein, was sie in diese Stimmung versetzt und was sie sogar dazu angetrieben hatte, ihn bei diesem grässlichen Wetter aufzusuchen. „Darf ich reinkommen?“, fragte sie entschuldigend. „Natürlich!“ André ließ sie herein und schloss die Tür hinter ihr. Dann lief er schnell in seine Kammer, um ein paar Tücher für sie zu holen. Oscar ging bis an den Tisch und hinterließ dabei mit ihren Stiefeln nasse Spuren. Ihre tropfnasse Uniform hinterließ noch zusätzlich kleine Pfützen auf dem Fußboden. Am Tisch drehte sie sich um und schaute ihrem Freund hinterher. Sie wollte nicht, dass er sich ihretwegen Umstände machte. „Wenn es dir aber unpässlich ist, dann kann ich auch wieder gehen...“ „Bei dem Wetter?“ André kam aus seiner Schlafkammer. „Bleib lieber hier, bis es wenigstens aufgehört hat zu regnen.“ Er reichte ihr ein Tuch zum Trocknen. „Danke.“ Oscar nahm das Tuch gerne entgegen und begann ihre kringelnden Locken trocken zu reiben. „Was ist passiert?“ André verbarg erst gar nicht die Sorge in seiner Stimme. Er kehrte zu der Kochstelle zurück und bereitete den heißen Tee für sie, der ursprünglich für ihn gedacht war. Doch daran dachte er nicht mehr. Oscar brauchte ihn dringender und er würde für sich später noch einen Tee machen können. „Was wollte die Königin, dass du so betrübt bist und durch den Regen reitest?“ Oscar war verwundert: Ihr Freund schien sie durchgeschaut zu haben. Sie fühlte sich irgendwie erleichtert, zu ihm gekommen zu sein. All das motivierte sie, sich ihm anzuvertrauen. „Du hast sicher schon von der Affäre zwischen Graf von Fersen und Ihrer Majestät gehört, oder?“ Nach den Haaren begann Oscar nun, ihre rote Uniform von der Nässe zu befreien. „Nicht nur ich. Ganz Paris oder gar ganz Frankreich redet schon darüber.“ André goss die dampfendheiße Flüssigkeit in eine Tasse und stellte sie auf dem Tisch vor Oscar ab. „Danke.“ Oscar legte das feuchte Tuch auf einen Stuhl ab und nahm die Tasse an sich. Ihre unterkühlten Finger zitterten und sofort durchströmte sie diese angenehme Wärme. „Ihre Majestät bat mich, dem Grafen etwas auszurichten und das habe ich gerade getan. Ich komme gerade von ihm... Aber ich glaube nicht, dass das übliche Gerede über sie beide dadurch weniger sein wird...“ Sie senkte ihre langen Wimpern und trank einen Schluck. Heiß rann ihr der Tee den Hals hinab und verbreitete sich erwärmend in ihrem Inneren. Das tat ihrem Körper gut, aber nicht ihrer Seele. „Also möchte sie, dass du ihr hilfst“, schlussfolgerte André. Er zählte nur eins und eins zusammen. „Und deswegen bist du hier, weil du nicht weißt, was du machen sollst.“ „Ich will gar nichts mehr machen, André...“ Oscar kehrte ihm auf einmal den Rücken und ging langsam an das Fenster seiner Schlafkammer. Der Regen schien nachzulassen, trommelte aber immer noch gegen die Fensterscheibe. Die Tropfen liefen in Rinnsalen herab, vereinten sich mit anderen und setzten ihren Weg dann fort. „Die Sache geht nur die beide etwas an.“ Es drückte Oscar wieder trostlos im Brustkorb. Alle, vor allem die Königin, setzten große Erwartungen in sie. „Aber wer denkt dabei an mich?“, brachte sie halblaut hervor „Ich denke an dich...“, murmelte André und Oscar wirbelte auf ihren Absätzen herum. Sie hatte ihn verstanden und sah ihn pikiert an. André holte tief Luft. „Hör zu, ich weiß nicht warum, aber ich muss ständig an dich denken...“ „André...“ Oscar war baff. Sie konnte ihm nicht offenbaren, dass auch sie an ihn dachte. Plötzlich wollte sie am liebsten weglaufen. Um nicht unhöflich zu sein, ging sie an den Tisch im Vorraum zurück und stellte ihre Tasse ab. „Ich muss wieder los. Die Königin erwartet meine Hilfe und ich werde es tun - ich werde sie vor dem falschen Gerede schützen. Es ist meine Pflicht... Ich danke dir fürs Zuhören. Du bist ein wahrer Freund – der Beste, den man sich wünschen kann...“ Sie schlängelte sich hastig an ihm vorbei in Richtung Tür. Sie konnte nicht mehr! Sie musste fort von hier, fort von ihm - und das obwohl ihr seine Ehrlichkeit ein wohltuender Balsam war. Ihre Worte waren aufrichtig. Aber hatte sie seine Freundschaft überhaupt verdient? Er war einfach zu gut für diese Welt... Für ihre Welt, die nur aus Leid und Verpflichtungen bestand... „Oscar, warte!“, hörte sie ihn rufen, kaum dass sie den Türknauf berührte. Eine innere Kraft bewog sie, stehen zu bleiben und sich umzudrehen. André stand schon direkt vor ihr und legte ihr einen ledernen Umhang um die Schultern. „Hier, nimm. Er ist gut gegen Nässe.“ Dann fuhr er ihr unerwartet mit dem Daumen über die Wange. „Da war noch ein Regentropfen.“ Oscar schnürte es erneut die Kehle zu. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihm erlaubte, sie auf diese Weise zu berühren, ohne dass sie protestierte oder ihn in die Schranken wies. Warum nur? Etwas stimmte nicht mehr mit ihr. Sie konnte kein Wort mehr herausbringen und stürmte nur eilends aus seiner Wohnung. Sie hielt die Stelle ihrer Wange, wo sein Daumen ihre Haut berührt hatte, mit ihrer Handfläche und rannte schnell zu ihrem Pferd. Sie musste sich beruhigen. Ihr Herz schlug heftig gegen ihre Rippen und das Gefühlschaos in ihrem Inneren war nicht mehr zu beherrschen. Bis Oscar auf dem Anwesen ankam, hörte der Regen gänzlich auf. In dem Trubel ihrer unerklärlichen Gefühle fand sie eine Lösung, wie sie Ihrer Majestät helfen konnte: Sie würde heute ihre gute Ausgeh-Garderobe anziehen und mit der Königin die ganze Nacht tanzen. So würde sie Marie Antoinette vor weiterem Gerede und Klatsch bewahren. Als Oscar weg ritt, stand André am Fenster und sah in die verregnete Dunkelheit hinaus. Er schloss den Regentropfen in seiner Faust fest ein. Doch es war gar kein Regentropfen! Es war eindeutig eine Träne – ihre Träne! Er hatte die rötlichen Augenringe bei Oscar gesehen und mit einem Mal gewusst, dass sie geweint hatte! Ihr geplagter und kummervoller Anblick hatte ihm zutiefst geschmerzt. So, als würde ihr Herzensleiden auf ihn übergehen und auch von ihm Besitz ergreifen. Er hätte Oscar am liebsten in seine Arme geschlossen um sie zu trösten. Aber würde das ihr geplagtes Herz wirklich trösten können? Hatte überhaupt jemand das Recht, Oscar so eine Bürde aufzuerlegen? Nein! Denn niemand hatte Oscar verdient! Von Fersen hatte ihren Kummer und ihr Leid nicht verdient – auch wenn er selbst davon nichts wusste! Die Königin hatte ihre Herzensgüte und ihre Loyalität nicht verdient! Sogar ihre Eltern hatten so eine gerechte und offenherzige Tochter nicht verdient! Und womöglich auch er selber nicht... Kapitel 14: Ich denke an dich... -------------------------------- Der Morgen graute. Milchiger Nebel breitete sich aus und brachte eine herbstliche Frische mit sich. Oscar fuhr in der Kutsche und versank in Gedanken. Ihr gegenüber auf dem Sitz lag Andrés Regenumhang und sie war gerade auf dem Weg, ihn zurückzubringen. Sie hatte die ganze Nacht mit der Königin getanzt und sie somit vor weiterem Hofklatsch bewahrt. „...ich denke an dich...“, hatte André zu ihr gesagt und auch jetzt schien sie seine warme Stimme zu hören. Ihr Blick war starr auf seinen Regenumhang gerichtet und sie glaubte seine smaragdgrünen Augen darauf zu sehen. Sein sanfter Blick hatte mehr zu ihr gesagt als seine Worte – etwas, dass weit über Freundschaft hinaus ging. Das hatte sie nicht verstanden und ertragen konnte sie es auch nicht. Deshalb hatte sie seine Wohnung überstürzt verlassen. Jetzt fuhr sie wieder hin – in der Hoffnung, dass sie sich getäuscht hatte und dass zwischen ihnen die vertraute Freundschaft weiter bestehen blieb. „Ach, André...“ Oscar seufzte. In dem Moment blieb die Kutsche unerwartet stehen und rüttelte sie aus ihren Gedanken. Gleich auf der Hut, sah sie aus dem Fenster und erkannte eine weitere Kutsche. In der Nähe stand ein Mann und winkte ihr zu. „Von Fersen...“ Oscar war überrascht und stieg aus. „Ich danke Euch, Oscar.“ Gleich nach der Begrüßung offenbarte er sein Anliegen: „Wenn Ihr nicht mit der Königin getanzt hättet, dann wäre ich nicht von ihrer Seite gewichen. Denn wenn ich sie sehe, wünsche ich mir nur, in ihrer Nähe sein zu können. Aber genau dann würde man mir meine Gefühle ansehen und das würde sie mit Sicherheit in einen noch größeren Skandal verwickeln...“ Oscar hörte ihm zu und wusste nichts darauf zu sagen. Zu sehr war sie damit beschäftigt, ihre zwiespältigen Gefühle niederzuringen. Die Sonne stieg höher und vertrieb den milchigen Morgennebel. Silbriger Tau schimmerte auf dem welkenden Grün zu ihren Füßen. Von Fersen erzählte weiter von seinen wahren Gefühlen zu Marie Antoinette und beschloss erneut Frankreich zu verlassen, um sie zu schützen. „...gebt Acht auf sie, hört Ihr?! Lebt wohl, Oscar“, meinte er noch zum Abschied und ging. „Graf von Fersen! Wo wollt Ihr hin?!“ Oscar war wieder hellwach, aber von Fersen stieg bereits in seine Kutsche und fuhr fort. Ihr Herz zerriss aus mehreren Gründen: Von Fersen tat ihr leid, die Königin würde wieder vor Liebeskummer vergehen und sie selbst litt seelisch auch darunter – wegen den beiden und weil ihre Liebe nicht gestattet war. „...ich denke an dich...“, sauste wieder Andrés warme Stimme durch ihren Kopf. Oscar stieg eilends in ihre Kutsche, als würde sie dadurch seine Stimme und ihre zerrissenen Gefühle abschütteln können. Sie musste das verdrängen! Die Kutsche setzte sich in Bewegung und bis sie Paris erreichten, hatte sie sich halbwegs wieder im Griff. André war allerdings nicht in seiner Wohnung anzutreffen. Oscar klopfte mehrmals, aber keiner machte ihr auf, bis eine Nachbarin vorbei kam. „André ist heute wieder in der Kaserne“, teilte sie ihr freundlich mit. Es war ein junges und unbefangenes Mädchen. Sie trug ein ärmliches, aber gepflegtes Kleid. Ihr hellbraunes Haar war mit einer Schleife zu einem Zopf gebunden und ihre braunen Augen zeigten noch die Unreife eines halbwüchsigen Kindes. Oscar hatte vergessen, dass André heute seinen Dienst wieder antrat. Die Nachbarin stellte sich mit dem Namen Diane de Soisson vor. „Kann ich ihm etwas ausrichten?“ Diane musterte flüchtig das Gesicht der fremden Person und ihr erschien es zu ebenmäßig für einen jungen Mann... Auch die Stimme war nicht tief und rau... Und dieses blondes Haar und diese blaue Augen... Diane bekam das unsichere Gefühl, dass sie über diesen adligen Menschen schon mal etwas gehört hatte – zumindest dessen äußerliche Erscheinung ließ sie dies vermuten. Und warum sollte ausgerechnet ein nobler Offizier einen einfachen Bürgerlichen aufsuchen? Etwas Neugier stieg in ihr hoch und sie wollte mit einem Mal näheres darüber erfahren. Aber nicht gleich direkt – das wäre dann doch eine Spur zu unhöflich und dreist. Vielleicht war es genau das, was sie dazu veranlasste hinzuzufügen: „Ich kenne André seit ich ein kleines Kind war und er ist mit meinem Bruder Alain aufgewachsen.“ „Ich wollte ihm nur seinen Regenumhang zurückgeben.“ Oscar setzte ein freundliches Lächeln auf. Die Reinheit dieses Mädchens erinnerte sie an Rosalie. Doch bei der Erwähnung von Alain gingen ihr gleich andere Gedanken durch den Kopf. „Wenn Ihr möchtet, kann ich ihn ihm geben“, meinte Diane aufrichtig. „Das ist sehr nett von Euch.“ Oscar reichte ihr Andrés Umhang. „Grüßt ihn von mir, wenn Ihr ihn seht. Ich bin Oscar Francois de Jarjayes. Wir sind Freunde.“ „Das werde ich mit Sicherheit machen.“ Diane lächelte auch und nahm den gereichten Umhang an sich. Ihre Vermutung war nun bestätigt und die Neugier gestillt. Oscar fiel dabei die lederne Schnur um ihren Hals auf. Daran baumelte eine Münze. Das wunderte sie, denn vor allem die Menschen aus dem einfachen Volk brauchten doch Geld für Nahrung und andere lebenswichtige Dinge. „Ihr tragt einen Livre als Schmuck?“ Diane zog an der Schnur bis ihre Finger die Münze berührten und sah schmunzelnd darauf hinab. „Ach, das ist ein Glücksbringer. Ich habe ihn gefunden als ich sehr klein war. Alain hatte sich sogar mit seinen Freunden geschlagen, damit ich mein Fundstück behalten durfte. Seither trage ich die Münze um den Hals.“ „Eine interessante Geschichte...“ Oscar fragte sich insgeheim, ob André auch dabei beteiligt war und prompt erinnerte sie sich an einen Tag ihrer Jugend, als sie Sophie mit ihrer Kutsche abgeholt hatte. „Dann warst du es also gewesen...“ Diane blinzelte irritiert. „Was meint Ihr?“ Oscar lächelte noch mehr und erzählte ihr oberflächlich von jenem Tag. Dianes noch so jugendliches Gesicht erhellte sich mit einem Mal. „Dann wart Ihr also der junge Mann in der Kutsche!“ „Ja, das war ich. Ich habe Sophie immer abgeholt, wenn sie ihre Tochter und ihren Enkel hier besuchte.“ „Diane!“ Eine ältere Frau kam wie aus dem Nichts auf sie zu und betrachtete Oscar misstrauisch. Sofort sah sie das Mädchen mahnend an. „Was machst du hier? Und wer ist dieser Herr? Du weißt: Dem Adel kann man nicht trauen und du darfst im Allgemeinen nicht mit Fremden sprechen!“ Oscar stockte und hielt die Luft an. Soweit war also schon das Misstrauen der einfachen Menschen gegenüber dem Adel voran geschritten... „Sei unbesorgt, Mutter“, erklärte Diane der älteren Frau schulterzuckend. „Das ist Lady Oscar, Andrés Freundin. Sie wollte nur seinen Umhang zurückbringen.“ Der Gesichtsausdruck der älteren Frau milderte sich sofort. „Verzeiht mir, ich habe Euch für jemand anderen gehalten... Ich bin Madame de Soisson und André ist für mich ein Teil der Familie...“ „Schon gut.“ Oscar nahm ihr das keineswegs böse und atmete erleichtert auf. „Ich verstehe, was Ihr meint. Ihr habt eine sehr nette Tochter.“ Was man von diesem Alain nicht gerade behaupten konnte, aber das behielt sie lieber für sich und verabschiedete sich stattdessen von den beiden mit einem guten Gefühl. André hatte nette Menschen um sich herum und wie es den Anschein machte, fehlte es ihm an Nichts – obwohl er nicht minder arm war, wie seine Nachbarn. - - - Wieder einmal waren die Straßen von Paris von Menschenmassen gesäumt, um eine Armee von tausenden Soldaten, ins Ungewisse aufbrechend, zu verabschieden. Kavallerie, Alteriere, Kanonen und beladene Karren mit Proviant, Schusswaffen und vieles mehr, zogen in einem Marsch vorbei. Die königliche Garde flankierte eine Straßenseite und sorgte für Ordnung - auf der gegenüberliegenden Seite stand eine Söldnertruppe aus dem selben Grund aufgereiht. Oscar sah nicht hin. Sie begleitete von Fersen mit ihren Blicken, der als Hauptmann zu diesem Zug zählte. Hoch zu Pferde passierte er die Reihen der königlichen Garde und salutierte bei dem Kommandanten. Oscar erwiderte den Gruß anstandsgemäß und sah ihm eine Weile steif nach. „Wie sie ihm nachsieht...“, bemerkte Alain zu seinem Freund. „Man könnte meinen, dass die eiskalte Schönheit Gefühle hat...“ „Graf von Fersen ist ihr genauso ein guter Freund, wie ich...“ Zumindest versuchte André daran zu glauben und es sich so einzureden. Er stand in Reih und Glied direkt neben Alain. Und neben Alain befanden sich die Brüder Jérôme und Léon. „Das ist also der Liebhaber der Königin...“, stellte Jéróme fest und verzog eine schiefe Grimasse. Er und sein Bruder sahen den Grafen und Oscar zum ersten Mal. „...und der Kommandant, zu dem du bevorzugst zu gehen, als mit uns ein Bierchen zu trinken, André.“ André verdrehte die Augen und erwiderte nichts dazu. Léon seufzte dagegen. „Sie ist wirklich schön... und so stolz...“ „Aber bestimmt nichts für dich“, ließ ihn ein Mann hinter seinem Rücken nicht weiter reden. Die Brüder, sowie auch Alain und André, sahen sich über die Schulter und entdeckten ihren alten Freund Jean. Dieser betrachtete den weiblichen Kommandanten ausgiebig aus geringer Entfernung, verschränkte die Arme vor der Brust und umfasste dabei sein Kinn. „Ich frage mich, ob sie überhaupt für jemanden bestimmt ist. Denn eine normale Frau wäre in ihrem Alter schon längst verheiratet. Aber was soll`s, mir soll das eigentlich gleich sein.“ „Was machst du eigentlich hier?“, fragte Léon und Jean erklärte ihm achselzuckend: „Das gleiche wie die vielen anderen Menschen hier: Die Armee ansehen und hoffen, dass alle heil zurückkehren werden - obwohl ich das bezweifle, denn jeder Krieg fordert seine Opfer...“ „Ich wünsche mir auch, dass sie alle zurückkehren...“ Ein junges Mädchen schob sich vor, an Jeans Seite. Alain verzog sogleich unzufrieden seine buschigen Augenbrauen: „Was machst du ganz alleine hier, Diane?! Das ist kein guter Ort für dich!“ „Wieso alleine?“, konterte Diane kichernd. „Ich habe Jean getroffen und er hat mich begleitet.“ „So ist es!“, bekräftigte dieser grinsend. „Und strafe mich nicht mit dieser Miene, Alain. Ich werde auf deine Schwester achtgeben.“ „Ich nehme dich beim Wort!“, brummte Alain und hätte ihm am liebsten noch gedroht, aber sein Soldatendienst verbat es ihm. „Ziehe nicht so ein Gesicht“, munterte ihn auch noch André von der Seite auf: „Du kennst doch Jean. Er würde sich nie gegen dich auflehnen und deine Schwester ist bei ihm sicher.“ „Hört doch alle auf!“, mischte sich Diane unverblümt ein und faltete die Hände vor sich, mit dem verzückten Blick auf die Straße. Der ganze Zug der Armee war mittlerweile vorüber und eröffnete eine noch bessere Sicht auf die gegenüber liegende Seite. „Ach, Lady Oscar ist auch da! Sie hat übrigens deinen Regenumhang zurückgebracht, André.“ „Wirklich?“ André folgte ihrem Blick und schmunzelte vor sich hin. „Das ist sehr nett von ihr.“ „Seit wann gibst du ihr deine Sachen?“, wand Alain erbost ein: „Sie hat doch bestimmt ihre eigene und viel bessere Kleidung!“ „Sie kam im strömenden Regen und völlig durchnässt zu mir. Da konnte ich sie doch nicht im Stich lassen...“, konterte André und in seinem Kopf entstand wieder Oscars Bild von der letzten Begegnung. „Was geht hier vor!“ Wie aus dem Nichts baute sich der Befehlshaber der Söldnertruppe auf seinem Pferd vor den jungen Männern auf und Jean verdrückte sich sogleich mit Diane in der Menge der Schaulustigen. Alain, André und die Brüder strafften ihre Haltung wieder vor ihrem Oberst und Alain erstattete einen Bericht zur Entschuldigung. „Es ist alles in Ordnung!“ „Danach sah es mir aber nicht aus!“, wies Oberst Dagous sie zurecht und sein Tonfall wurde scheltender: „Hier ist kein Markt, wo ihr wie alte Tratschweiber herumträllern könnt! Ihr seid Soldaten und solltet euch dementsprechend benehmen!“ „Jawohl, Oberst!“, sagten nun die vier Zurechtgewiesenen im Chor, ballten in Gedanken ihre Fäuste und knirschten mit den Zähnen. „Gibt es hier Probleme?“ Der blondgelockte Kommandant tauchte auf seinem prächtigen Schimmel unverhofft auf und fixierte den Oberst der Söldnertruppe undurchdringlich. Der Armeezug war bereits fortgezogen und das hatte die Sicht auf die gegenüberliegende Straßenseite vollständig eröffnet. Das bedeutete auch, dass die königliche Garde ihre Pflicht getan hatte und nun abziehen konnte. Oscar hatte genau das vor, als sie den kleinen Tumult bemerkte und André unter den gescholtenen Söldnern entdeckte. Sofort hatte sie die Befehlsgewalt an Girodel übergeben und war über die Straße geritten, um zu wissen was da los war. Oberst Dagous salutierte vor Oscar. Schon allein ihre rote Uniform und die Rangabzeichen vermittelten ihm, dass sie in ihrem Posten höher war als er. „Es ist bereits geklärt, Kommandant!“ „Gut.“ Oscar warf einen flüchtigen Blick auf die Soldaten und verharrte für einen Wimpernschlag bei André. Dieser erwiderte ihr den Blick offen und glaubte den altbekannten Glanz in ihren kühlen Augen zu sehen. Sie wandte sich wieder an den Oberst der Söldnertruppe. „Dann ist alles in Ordnung.“ „Jawohl, Kommandant.“ Oberst Dagous salutierte wieder, aber diesmal zum Abschied. Oscar nickte ihm bestimmend zu, wendete ihr Pferd und mit einem letzten Blick auf André trieb sie es an. Sie wollte ihn wiedersehen und hatte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen wollen, als der Befehlshaber seine Soldaten zurechtgewiesen hatte. Nun hatte sie ihn gesehen, aber leichter wurde ihr dadurch nicht. Wie ein schwerer Stein beschwerte eine bedrückende Stimmung ihr Gemüt. Von Fersen war fort und es war ungewiss, wann und ob er zurückkehren würde... „Bitte... bitte bleibt am Leben...“, waren ihre Gedanken und wieder drängte sich Andrés warme Stimme in ihren Kopf: „Ich denke an dich... Ich weiß nicht warum, aber ich muss immer an dich denken, Oscar...“ Das zu wissen tat ihr einerseits gut, aber andererseits schnürte es ihr aufs Neue die Kehle zu - wie an dem verregneten Abend vor wenigen Tagen, als er das zu ihr gesagt hatte. Diese Erinnerung war nicht mehr zu verdrängen, egal wie sehr sie es versuchte – sie kam immer wieder zurück. Oscar überholte ihre Garde und verlangsamte ihr Pferd an der Spitze neben Girodel. Sie würde sich erkundigen, wann die Söldner ihre dienstfreien Tage hatten und versuchen in dieser Zeit so oft wie möglich auf dem Anwesen zu sein. Denn André würde sicherlich zu ihr kommen um mit ihr Fechten oder Schießen zu trainieren. André... Er war stets gut zu ihr, brachte sie zum Lachen und zeigte ihr, wie man sich als freier Mensch fühlen konnte. Das würde sie bestimmt von ihren trübsinnigen Gedanken ablenken können. - - - Seit Graf von Fersen nach Amerika aufgebrochen war, suchte Oscar immer öfter die Gesellschaft ihres Freundes. Jedes Mal, wenn er dienstfrei hatte, versuchte sie stets auf dem Anwesen zu sein. Durch ihre Unterhaltungen über belanglose Sachen, Ausritte an den See und Fecht- oder Schießübungen mit ihm, wollte sie den Kummer vergessen. Das gleiche Ziel verfolgte auch André. Er wollte nicht, dass Oscar an diesen Liebhaber der Königin dachte und bemühte sich, jede freie Minute bei ihr zu sein, um sie abzulenken. „Ich denke an dich...“ Kapitel 15: Die Feier --------------------- Im Jahre 1781 brachte die Königin den langersehnten Erben auf die Welt. Der ganze Hofstaat und das einfache Volk feierten. Wieder einmal gab es Hoffnung auf bessere Zeiten. „Sollen sie feiern, solange es noch geht“, sagte Alain dazu auf seine raue Art. „Sie sollen nur nicht vergessen, dass der Thronfolger noch ein Wickelkind ist und bis er herangewachsen ist, werden noch Jahre vergehen. Ich mache mir auf keinen Fall zu früh Hoffnungen.“ Er, die Brüder und einige seiner Kameraden, darunter auch André, schlenderten in einen Gasthof, um sich ein kühles Bierchen zu genehmigen und auf ihren dienstfreien Abend anzustoßen. „Ich kann leider nicht mit euch trinken“, verabschiedete sich André von ihnen, kaum dass sie die Kaserne verlassen hatten. „Ich werde meine Großmutter besuchen.“ „Ja, ja, deine Großmutter...“ Alain wusste schon seit langem, was genau hinter diesem Satz gemeint war und klopfte seinem Freund augenzwinkernd auf die Schulter. „Gib doch zu, dass du wieder deine eiskalte Freundin besuchen willst.“ Ein spöttischer Glanz trat dabei in seinen dunkelbraunen Augen. „Uns kannst du nichts mehr vormachen. Jeder von uns weiß doch, dass du auf deine Großmutter nicht sonderlich gut zu sprechen bist. Sie schimpft andauernd mit dir und ich glaube nicht, dass dir das gefällt.“ „Glaub was du willst, Alain.“ André schnitt eine Grimasse, stieg auf sein Pferd und ritt durch die vollen Menschenstraßen in Richtung des Anwesens de Jarjayes. Das Volk jubelte und feierte. Man hörte fröhlichen Gesang, laute Stimmen und trunkene Gelage. Fast jeder hatte einen Krug Bier oder billigen Wein in der Hand. André brauchte daher doppelt so lange, um aus der Stadt herauszukommen als normalerweise. Als er das endlich geschafft hatte, gab er seinem Braunen die Sporen und galoppierte schneller. Mitten auf dem Weg begegnete er ihr unverhofft. Sie ritt ihm auf ihrem weißen Schimmel entgegen und er erkannte sie schon aus der Ferne. Ihr blondes Haar wehte wild im schnellen Ritt und leuchtete hell, fast wie die Sonne selbst. „Oscar!“ Er zügelte sein Pferd und winkte ihr zu. Oscar erkannte ihn ebenfalls und verlangsamte ihren Schimmel. Direkt neben ihm, bewog sie ihr Tier zum Stehen. „Was für ein Zufall! Ich wollte gerade zu dir.“ „Ist etwas passiert?“ André wendete seinen Braunen und gemeinsam ritten sie im gemächlichen Trab nach Paris. „Wieso soll etwas passiert sein?“ Oscar warf ihm einen belustigten Blick von der Seite zu. „Obwohl, es ist schon etwas passiert! Die Königin hat endlich einen Thronfolger geboren! Ist das nicht schön?“ André schmunzelte. „Die ganze Stadt feiert schon deswegen.“ „Wollen wir mitfeiern?“ „Warum auch nicht?!“ Es war ein außergewöhnlicher Anblick, dass sich eine Adlige unter die Bürgerlichen mischte und mitfeierte, als wäre sie von ihresgleichen. Aber wenn Oscar das glücklich machte, dann stellte André ihren Wunsch nicht in Frage. Hauptsache sie lachte und konnte fröhlich sein - nicht gestellt oder geziert, sondern rein und unbeschwert. Beide ließen ihre Pferde bei André im Hinterhof zurück und gingen unter die Menschen, um mit ihnen auf das Wohl des neugeborenen Prinzen zu trinken. Und so blieb es nicht nur bei einem Krug Bier... Mitten auf der Straße stießen sie auf eine tanzende Gruppe. Sie blieben etwas Abseits stehen, um ihnen zuzusehen. „Sie sind alle so fröhlich“, bemerkte Oscar und lachte dieses ausgelassene Lachen, das André so sehr an ihr mochte. „Wollen wir mittanzen?“ Er sah zu ihr und schmunzelte zufrieden. Oscar schüttelte ablehnend den Kopf und hob lieber ihren Krug mit Bier auf die tanzende und singende Menge. „Es ist schöner sie zu beobachten. Daran bin ich mehr als gewohnt.“ Sie leerte den letzten Schluck und wischte sich dann die Schaumreste mit dem Ärmel von ihrem Mund. „Aber wenn du möchtest, kannst du ruhig tanzen gehen.“ „Ich bleibe lieber bei dir.“ André trank ebenfalls sein Bier in einem Zug. „Es ist schöner an deiner Seite zu stehen und den Feiernden zuzusehen, als sich ohne dich  zu amüsieren.“ Und zugegeben: Er hatte sich noch nie zu einem Tanz erdreisten lassen. Er mochte es irgendwie nicht und hatte meistens das Gefühl, dass ihm etwas fehlen würde. Oder besser gesagt, jemand fehlen würde – jemanden, den man auch als bessere Hälfte bezeichnen könnte... „André...“ Oscar war innerlich angetan, sah aber nicht zu ihm. Sie wollte noch etwas sagen, fand aber keine passende Worte. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn bei solch unterschwelligen Komplimenten ertappte. Doch verbieten konnte sie es ihm nicht, denn er war in ihren Augen ein freier Mann und sie wollte ihm seine offene Meinung nicht nehmen. Aus der tanzenden Gruppe löste sich ein junges Mädchen und lief mit einem breiten Lächeln auf sie zu. „André!“, rief sie dabei und winkte fröhlich zum Gruß. „Lady Oscar.“ Sie knickste vor dem adligen Offizier, als sie vor ihnen zum Stehen kam. „Diane!“ André begrüßte sie erfreut und auch Oscar: „Es ist mir eine Ehre, Euch wieder zu sehen.“ André hatte fast vergessen, dass sich die beiden schon einmal begegnet sind. „Die Ehre ist auch meinerseits, Lady Oscar.“ Dianes Augen glänzten immer verzückter und verliehen ihr einen schwärmerischen Ausdruck. „André erzählt uns manchmal von seinen Fechtübungen mit Euch und wie Ihr ihm das Schießen beigebracht habt.“ „Ach ja?“ Oscar sah überrascht zu ihrem Freund. „Nichts Schlimmes.“ André fuhr sich verlegen durch die schulterlangen Haare und wechselte das Thema: „Aber was machst du hier ganz alleine, Diane? Wenn dein Bruder dich mit Männern tanzen sieht, dann wird er nicht begeistert sein...“ „Ach was.“ Diane kicherte sich in die Faust. „Alain ist doch nicht hier. Und ich bin nicht alleine, sondern mit meinen Freundinnen unterwegs.“ Sie zeigte auf zwei Mädchen in ihrem Alter, die wie lebhafte Schmetterlinge bei einem leutseligen Gruppentanz mitmachten. Diane´s Blick wechselte zwischen Oscar und André. „Möchtet ihr beide bei uns mittanzen?“ Die Angesprochenen schüttelten verneinend den Kopf und Diane musste wieder kichern. „Ihr verpasst so Einiges. Es ist gerade so schön.“ „Ich bin im Volkstanz nicht gewandt“, meinte Oscar als Entschuldigung. „Aber André kann von mir aus tanzen gehen.“ „Dann seid Ihr hier alleine...“, bemerkte Diane. Sie hatte den weiblichen Offizier schon damals bei ihrer ersten Begegnung ins Herz geschlossen, denn Lady Oscar unterschied sich sehr von ihresgleichen und war mit André befreundet – ein Zug, der nicht jedem Aristokraten zuzumuten war. „Das macht mir nichts aus“, erwiderte Oscar nett und Diane kehrte aus ihrer Bewunderung in die Wirklichkeit zurück. Es täte ihr schon sehr leid, wenn die sonst so warmherzige Lady Oscar hier unbeteiligt stehen würde. „Und wenn ich Euch den Volkstanz beibringe?“, fand Diane eine Lösung. „Würdet Ihr dann mitkommen?“ Oscars Augen weiteten sich. Das Mädchen war zu freundlich und sie suchte schnell nach einer höflichen Ausrede, um sie nicht zu verletzen. Aber ihr fiel nichts ein. „Also gut“, gab sie nach. Ein kleiner Tanz würde sie schon nicht umbringen. André begleitete Oscar überrascht mit seinen Blicken, wie sie mit Diane zu der tanzenden Gruppe mitten auf der Straße aufschloss. Doch ein junger Mann entriss ihn schon kurze Zeit später davon und gesellte sich zu ihm. „Welch ein Wunder, ausgerechnet dich bei der Volksfeier anzutreffen, André!“ „Hallo, Jean.“ André sah nicht hin. „Ich bin mit Oscar hier.“ „Mit dem schönen Kommandant der königlichen Garde?“ Jean lachte ungläubig, denn er sah niemanden an Andrés Seite. „Du glaubst mir nicht, oder?“ André kam ihm gleich auf die Schliche und zeigte auf zwei Personen in der tanzenden Menge. „Da drüben, siehst du? Zusammen mit Diane.“ „Gut, dass Alain nicht hier ist...“ Jean kratzte sich am Hinterkopf und lachte wieder auf. „Aber ich hätte gerne gesehen, was er machen würde! Er schlägt doch jeden grün und blau, der versucht, sich Diane zu nähren!“ „Ich glaube nicht, dass er sich mit Oscar prügeln würde“, stellte André klar: „Erstens kämpft er grundsätzlich nicht gegen Frauen, egal ob sie Männerkleider trägt; und zweitens müsste er dann erst an mir vorbeikommen...“ Jean wurde sofort stutzig. „Das hört sich an, als würdest du für den schönen Kommandanten mehr empfinden, als du zugibst...“ André sagte dazu nichts und bestätigte Jean damit die Vermutung. Oscar stand fast reglos mitten in der Menge, während Diane um ihre eigene Achse wirbelte. Jean betrachtete das ungleiche Paar ausgiebig und runzelte die Stirn, je mehr sein Blick auf dem Offizier in der roten Uniform haften blieb. „Ein schönes Spielzeug, aber leider in den falschen Händen....“ „Was hast du gesagt?“ André wandte sich ruckartig zu ihm um und zog missfällig seine Augenbrauen zusammen. „Oscar ist kein Spielzeug!“ „Doch mein Freund.“ Jean ließ sich nicht beirren. „Sieh sie dir genauer an und vergleiche sie mit Diane! Während Diane fröhlich und lebhaft um sie tanzt, steht sie da wie ein Soldat und macht höchstens ein paar hölzerne Bewegungen.“ „Oscar kennt keinen Volkstanz und Diane wollte ihr nur zeigen, wie das geht“, rechtfertigte André seine Freundin. „Du verstehst mich nicht...“ Jean seufzte tief und klärte ihn schonungslos auf. „Sie erinnert mich an eine Puppe, die sich nicht von selbst bewegen kann. So, als würde jemand über sie bestimmen und an den Fäden ziehen, um sie zu leiten – wie bei einer Marionette... Solche Menschen sind zum Bedauern - sie leben nur für ihre Pflicht... Bis man genug mit ihr gespielt hat und sie ihren Reiz verloren hat... So ist das Leben der Mächtigeren... Wenn sie dir so sehr am Herzen liegt, André, dann hole sie da raus...“ Um sie vielleicht mehr auf die Seite des Volkes zu gewinnen, denn solche einflussreiche Menschen konnten gut von Nutzen sein... Aber das sagte Jean lieber nicht und ließ sein Satz unvollendet in der Luft hängen. André schluckte bitter. Er hatte bisher nie gewagt, darüber nachzudenken oder so etwas überhaupt auszusprechen. Aber sein Freund hatte gerade den Nagel auf den Kopf getroffen: Oscar war eine Zierpuppe des Hofes und die Königin verfügte nach Belieben mit ihr. Von Geburt an war ihr Weg durch ihren Vater bestimmt und es gab kein Entrinnen – nicht, solange Oscar es nicht selbst wünschte. André wusste nicht, wie er sie da raus holen sollte, denn Oscar würde immer der Königin dienen... André holte tief Luft und stieß sie durch die Nase wieder aus. „Jean...“ Ihm kam ein Geistesblitz durch den Kopf: „Du hast doch überall deine Spitzel, oder?“ Jean spitzte hellhörig die Ohren und senkte bedächtig seine Stimme. „Das hängt davon ab, was du darunter verstehst.“ „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten...“, flüsterte André leise und geheimnisvoll. Zwar bedurfte Oscar solches bestimmt nicht, aber er würde sich dadurch vielleicht weniger Sorgen um sie machen, denn Kommandant der königlichen Garde zu sein war sicherlich keine leichte und ungefährliche Aufgabe... Besonders für eine Frau... „Geht es um sie?“ Jean zeigte mit seinem Kinn auf Oscar und André nickte zur Bestätigung. Jean horchte noch mehr auf: „Ich bin ganz Ohr.“ André fühlte sich erleichtert. Jean hatte mit den Jahren eine kleine Organisation im Untergrund aufgebaut, die nur aus Bürgerlichen bestand und als dessen Anführer er galt. So brachte er interessierte Bürger zusammen, besprach die aktuelle Lage und was oder wie man daran etwas ändern konnte. Um über alles im Bilde zu sein, hatte Jean natürlich seine Spitzel, die Informationen von Adligen sammelten und ihm darüber berichteten. So auch bestimmt in Versailles. André ließ Oscar nicht aus den Augen und sprach noch leiser zu seinem Freund: „Ich möchte, dass jemand am Hofe auf sie acht gibt... Während meiner Dienstzeit in der Kaserne kann ich es nicht selbst tun... Und nur an meinen dienstfreien Tagen reicht mir nicht aus... Ich möchte wissen, wie es ihr in Versailles und auch so während meiner Abwesenheit geht... Aber niemand soll davon etwas mitbekommen!“ „Verstehe...“ Jean runzelte nachdenklich die Stirn, umfasste sein bartloses Kinn und  schmunzelte dann listig. „Ich kenne zwei Burschen, die in den königlichen Stallungen arbeiten... Sie versorgen auch die Pferde der Garde... Und nebenbei beobachten sie, was die Soldaten und die Befehlshaber so treiben...“ André verstand und schmunzelte ebenfalls. „Ich wäre dir sehr dankbar, Jean...“ „Wir sind doch Freunde, André.“ Jean klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Nun muss ich aber gehen. Gib gut acht auf deinen hübschen Offizier.“ „Das versuche ich, Jean.“ André reichte ihm die Hand und nach einem kräftigen Händedruck verabschiedete sich Jean und war sogleich fort. Kapitel 16: Berauscht --------------------- Silberne Sterne flimmerten am schwarzen Himmelsgrund und deuteten darauf hin, dass es in den nächsten Tagen kälter werden würde. Schwach leuchteten die Laternen auf den großen Straßen und zeigten den vorbeilaufenden Bürgern den Weg. In den schmalen Gassen und kleinen Straßen gab es dagegen kein Laternenlicht – nur von manchen Fenstern leuchtete das schwache Licht der Talglampen oder Kerzen. Drei Personen liefen eben an einer dieser unbeleuchteten Straßen entlang und blieben vor einem dreistöckigen Haus stehen. Es war düster und gespenstisch, aber Angst machte der Anblick niemanden – denn zweien von ihnen war die Umgebung sehr vertraut, hier waren sie zu Hause. André und Oscar begleiteten Diane bis zum Wohnhaus. „So, da wären wir“, sagte André und alle drei blieben vor der Haustür stehen. Das junge Mädchen war immer noch froher Natur. „Das war der schönste Abend meines Lebens!“, schwärmte Diane und schaute mit breitem Lächeln von André zu Oscar: „Und Euch danke ich für den Tanz. Er wird für mich unvergesslich bleiben.“ „Nichts zu danken...“ Oscar schmunzelte unwillkürlich. Eigentlich hatte sie nicht viel getanzt – nur versucht hin und wieder Diane mit ein paar Schritten und Bewegungen zu folgen. Aber wenn sie das unbedarfte Mädchen damit glücklich gemacht hatte, dann war es auch für sie den Einsatz wert. Und sie musste zugeben, dass sie Diane schon längst in ihr Herz geschlossen hatte. Durch ihre freundliche Art und ihr fröhliches Wesen, hatte Diane ihre Sympathie gewonnen. Ihr Bruder Alain zählte dagegen zu einem anderen Fall. Aber mit ihm würde sie sich irgendwann später befassen, wenn sich eine passende Gelegenheit ergeben sollte. „Ich werde dann mal gehen...“, verabschiedete sich Diane und vollführte vor Oscar einen flüchtigen Knicks. Oscar wünschte ihr eine gute Nacht und André bestellte einen Gruß an Alain. „Wenn er überhaupt schon da ist“, fügte er hinzu, als Diane schon ins Haus gehen wollte. „Das werde ich feststellen, wenn ich in der Wohnung bin. Aber wenn er nicht da ist, dann richte ich es ihm morgen aus – es eilt ja nicht.“ „Da hast du wohl recht“, stimmte ihr André zu und Dianes Blick wechselte noch einmal von ihm zu Oscar, bevor sie hinter der Haustür verschwand. Dank dem heutigen Abend konnte sie die beiden in einem anderen Licht betrachten – zusammen und als wären sie ein unvergleichbares, aber schönes Paar. So hatte sich Diane die zwei die ganze Zeit vorgestellt und ihr kam es so vor, als gehörten André und Lady Oscar schon längst zusammen. So, als würden sie eine Einheit bilden und sich hervorragend ergänzen. Schade, dass die Wirklichkeit anders aussah und die beiden nur Freunde waren... Aber vielleicht kommt die Liebe doch noch zu ihnen – Diane hoffte sehr darauf und wünschte ihnen vom Herzen alles Gute. Während Diane ins Haus ging, blieb André noch bei Oscar, um seine Freundin bis zu ihrem Schimmel in den Hinterhof des Hauses zu begleiten. „Ein sehr nettes Mädchen“, sagte Oscar und sah über die Schulter in Richtung der Haustür, wo Diane schon längst aus ihrer Sicht entschwunden war. „Sie ist wie eine kleine Schwester für mich“, meinte André sogleich und Oscar betrachtete ihn von der Seite. „Ich dachte eher, sie ist deine Geliebte“, neckte sie ihn. „Nein“, beteuerte André etwas verwegen. „Diane wird für mich nie so etwas sein.“ Oscar ging ein Licht auf. „Ah, ich verstehe... Dann hast du also eine andere!“ „Falsch geraten...“, lehrte sie André eines besseren: „Ich bin nicht wie Alain, der jedem Rock nachrennt. Ich warte lieber, bis mir die Richtige begegnet...“ Oscar staunte. In ihrer Vorstellung waren die meisten Männer in seinem Alter bereits liiert oder hätten eine Geliebte – aber André schien einer ganz besonderen Sorte anzugehören... Und was hatte es mit „der Richtigen“ auf sich? So etwas gibt es nicht – das hätte sie ihm am liebsten gesagt, doch sie brachte es nicht über sich. Es wäre falsch, André seine Einstellung zu nehmen, denn sie selbst träumte manchmal auch von einer aufrichtigen und bedingungslosen Liebe, die auf dieser Welt nicht zu existieren schien. Diese Erkenntnis tat weh und deswegen wechselte sie abrupt das Thema. „Das war wirklich eine schöne Feier...“ Oscar zog ihre Mundwinkel nach oben und gluckste angeheitert. „Das stimmt“, André schielte zu ihr. Er war auch leicht beschwipst. Dennoch hatte er einen klaren Kopf. Die Straßen wurden immer leerer. Hier und da hörte man noch die leutselige Gelage der Feiernden. Oscar warf ihm auch einen Seitenblick zu und blieb plötzlich direkt vor ihm stehen. Sie sah ihn musternd an. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen schimmerten im fahlen Mondlicht. André erwiderte ihr offen den Blick. In ihm breitete sich eine unnatürliche Hitze aus und jagte ihm einen kribbelnden Schauer den Rücken hinab. Eine Gruppe von betrunkener Männer näherte sich ihnen. Sie torkelten auf wackeligen Beinen und sangen anzügliche Lieder im unverständlichen Kauderwelsch. Oscar und André nahmen sie kaum wahr. Zu sehr waren sie in ihren Blicken gefesselt, wie berauscht. Vielleicht war es der Alkohol in ihren Köpfen, der sie dazu verleitete. Die Trunkenbolde kamen näher. „Sieh einer an!“, lachte einer von ihnen lallend und stieß André kräftig gegen das Schulterblatt. „Wenn das nicht unser alter Kumpel ist!“ André kippte überraschend vorn über und konnte sich gerade so auf den Beinen halten, um nicht auf Oscar zu stürzen. Diese half ihm genauso überrascht das Gleichgewicht zu behalten und ihre feinen Gesichtszüge verfinsterten sich. „Habt Ihr denn keine Augen im Kopf?!“, brummte sie dem Mann hinter André an und erst jetzt fiel ihr dessen rotes Halstuch auf. André richtete sich wieder auf und ordnete kleinlich seine Kleidung, bevor er sich zu den Männern umwandte. „Es ist gut, Oscar, mir ist nichts passiert.“ „Oh, wie unverzeihlich von mir, Kommandant...“ Alain grinste spöttisch und drehte sich zu seinen Kumpanen um. „Lasst uns weitergehen, Männer!“ Welch eine Dreistigkeit in Oscars Augen! „Wie bitte?“ Es kratzte an ihrem Ego. So eine Unverschämtheit durfte nicht ungestraft bleiben! „Ihr geht nirgendwohin!“ André klappte der Mund auf. Zum ersten Mal erlebte er, wie schnell Oscars Laune umschlagen konnte. Und dabei war doch gerade alles so friedlich... Noch bevor ihm die Idee kam, sie aufzuhalten, stürmte Oscar an ihm vorbei und stellte sich den Männern. „Wie wäre es, wenn Ihr Euch erst einmal entschuldigt!“ Die kleine Gruppe starrte sie baff an. Alain wirkte auf einmal auch nicht mehr belustigt. „Wofür denn?“ „Für Euer Benehmen!“, half ihm Oscar auf die Sprünge. Ihr Blick wurde immer herausfordernder und schien Alain und die Männer in Stücke zu reißen. „Es ist doch nichts passiert...“ Einer von Alains Kumpanen wagte es, seine Hand auf Oscars Schulter zu legen. Er wollte anscheinend keine Auseinandersetzungen – zu gut gelaunt war er gerade dafür. Doch das war sein Fehler! Oscar stieß seine Hand grob von sich. „Fasst mich nicht an!“ Der Gesichtsausdruck des Mannes verwandelte sich in Argwohn. „Wie Ihr wollt, Monsieur...“ Er krempelte seine Ärmel hoch. „Ich habe es nur gut gemeint...“, und stürzte auf Oscar. Diese wich seiner Faust aus und rammte ihm ihr Knie in die Magengrube. André war fassungsloser denn je. Oscar schien urplötzlich auch noch Gefallen daran gefunden zu haben, sich mit Trunkenbolden zu schlagen! Das konnte doch nicht wahr sein! Er eilte sofort zu ihr und bekam sie am Arm zu fassen. „Halte ein!“ Die Dunkelheit der Nacht hinderte Oscar dran zu erkennen, wer genau sich vor oder hinter ihr aufhielt. Sie spürte nur, dass jemand sie anfasste und ihr Kampfinstinkt drängte sie dazu, dies nicht zu zulassen. Sie wirbelte blitzschnell herum und verpasste dem Störenfried einen Schlag. André konnte sich kaum versehen, als sein Hintern hart auf dem Steinboden aufschlug. Er stöhnte auf. Oscar stand vor ihm, hatte inne gehalten und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen. „André... Entschuldige... Ich wusste nicht...“ „Wir waren aber noch nicht fertig, Freundchen“, sagte der Mann, der sich weder von Oscars Schlag krümmte, noch sich mit einer Rolle als Zuschauer abfinden wollte. Er tippte ihr auf die Schulter. Diese drehte unüberlegt ihren Kopf und spürte sogleich seine Faust dicht an ihrer Schläfe. „So, jetzt sind wir fertig“, blaffte er und grinste zufrieden, als sein Gegner zurück taumelte und drohte, sein Gleichgewicht zu verlieren. Oscar schnaufte angriffslustig und musste feststellen, dass ihr das Adrenalin befriedigend durch die Adern rauschte und ihre Sinne noch mehr davon wollten – auch wenn ihr Körper schmerzte und sie morgen womöglich ein paar blaue Flecken bekommen würde... Schallendes Gelächter ließ sie und ihren Gegner herumfahren. Alain stand nicht weit von ihnen entfernt und hielt sich den Bauch vor Lachen. Er konnte nicht mehr! Er half nicht einmal André auf die Beine. Dieser rappelte sich mühsam hoch. Oscar war empört. „Wie könnt Ihr lachen?!“ Als Antwort erfasste ein Schwall Wasser die ganze Gruppe. „Schert euch woanders prügeln!“, brüllte eine grollende Stimme und alle hörten, wie über ihnen Fensterläden heftig zugeknallt worden. Alains Lachen verstummte. Seine Kumpane sammelten sich und torkelten davon. Wasser triefte ihm von der Uniform und er selbst schüttelte sich wie ein Hund. Jetzt war es André, der sich köstlich amüsierte. Auch Oscar schmunzelte, ungeachtet ihrer Blessuren. Im Gegensatz zu Alain hatten sie und André nur wenige Spritzer abbekommen. „Ihr hättet Euch lieber entschuldigen sollen“, meinte sie und kam mit André auf den Betroffenen leicht schwankend zu. Das war zu viel für Alain. Seine Hand ballte sich zur Faust. Was bildete sich dieses aufgeblasene Mannsweib überhaupt ein! Er packte Oscar am Kragen, doch bevor er es ihr heimzahlen konnte, hielte er inne. Sein Verstand mahnte ihn immer wieder, dass sie nur eine Frau ist und es nicht wert sein würde, seine Prinzipien über Bord zu werfen. Seine Einstellung, dass er grundsätzlich nicht gegen Frauen kämpfte, bewog ihn nachzugeben. „Wir sprechen uns noch!“, grollte er stattdessen, stieß Oscar zur Seite und marschierte ins Haus. Er musste sich umkleiden und wollte sich nicht noch zusätzlich in einer nassen Uniform vor dieser selbstgerechten Adligen zum Gespött machen! Oscar und André sahen ihm eine Weile vergnügt nach. Sie wollten gewiss nicht schadenfroh sein, aber es erheiterte trotzdem ihre Stimmung. Und immer mehr bekam Oscar die Folgen der kleinen Schlägerei zu spüren: Ihre Knochen schmerzten, ihr Kopf begann zu schwirren und er fühlte sich so an, als würde er schon bald platzen wollen. Oscar blieb unvermittelt stehen und fasste sich an die Schläfe. „André...“, hauchte sie kaum hörbar und lehnte sich plötzlich und unwillkürlich an ihn. Das kam sogar für sie selbst unerwartet. Eigentlich hätte sie sich zur Wehr gesetzt und sich von ihm entrissen - aber das konnte sie gerade nicht. Sie spürte die Kraft seiner Muskeln, als er stützend seinen Arm um sie legte, wie an einem schon längst vergangenen Sommer... Wie damals überkam sie eine Woge der Sicherheit... Diesmal aber intensiver, stärker, einnehmender... Überraschenderweise fühlte sie sich schwach – angenehm schwach. Nur bei ihm fand sie diesen Halt. Nur für einen kleinen Augenblick... Oscar hörte durch seine Kleider hindurch, wie sein Herz immer schneller zu Schlagen begann – so als renne André um die Wette, obwohl er ganz reglos da stand.... Und in ihrem Kopf summte ein undefiniertes Rauschen im Takt seiner Herzstöße – so, als würden sie eine Einheit bilden und die Welt um sich herum ausschließen... Als wollte das Schicksal damit etwas sagen, das nur für sie beide bestimmt war... Aber was? Und vor allem wieso? Es gab doch nichts Gemeinsames zwischen ihnen – bis auf ihre Freundschaft... Gleichzeitig schwirrten Oscar eigenartige Gedanken durch den Kopf: Wie würde sich wohl „seine Richtige“ fühlen, wenn er sie gefunden hatte und sie genauso wohlwollend in seinen Armen halten würde? Würde ihr Herz genauso aufgeweckt schlagen und sich nach etwas sehnen, was Oscar gerade beflügelte und sich gleichzeitig so schmerzlich anfühlte? Langsam regte sie sich in Andrés Armen und hob ihren Kopf von seiner breiten Brust. Kaum merklich reckte sie ihren schlanken Hals zu ihm und senkte ihre langen Wimpern. „...halte mich bitte fest... mir ist schwindlig...“ Den Gefallen tat ihr André nur zu gerne. Er hielt sie mit einem Arm fest an sich und verharrte ganz still. Ihm war auch schwindlig – angenehm schwindlig. Ihr Gesicht war schon ziemlich nah an dem seinen. Oscar hielt inne und wartete auf etwas. In diesem berauschenden Augenblick erkannte er sie kaum wieder. Wollte sie ihm jetzt auf diese Weise seine Liebe erwidern? Wäre das denn überhaupt möglich? Ausgerechnet von ihr? Andrés Herz stand in Flamen und hämmerte voller Sehnsucht nach ihr. Es schrie lautstark danach, seine Lippen mit den ihren zu vereinen. Aber halt! Würde Oscar denn so etwas von sich aus tun, wenn sie nicht angetrunken wäre? Wollte sie das wirklich? Oder dachte sie dabei an von Fersen? Nur eine fingerbreite Distanz trennte ihre Lippen von einander. André sah von ihren geschlossenen Augen auf ihren sinnlichen Mund und konnte es einfach nicht über sich bringen, sie zu küssen. Nicht, wenn sie angetrunken und ihr Verstand unter dem Rausch von Bier benebelt war. Und erst recht nicht, wenn sie womöglich auch noch an jemand anderen dachte... Er ballte seine freie Hand zur Faust, schluckte bitter alle seine Emotionen herunter und versuchte sich krampfhaft zu beherrschen. „Oscar...“, murmelte er mit belegter Stimme. Wie ein Peitschenhieb hallte seine Stimme in ihren Ohren und zerstörte alles... Oscar öffnete schlagartig ihre Augen und entfernte sich von ihm, als wäre sie gerade wachgerüttelt worden. Aber er hielt sie immer noch fest. „Lass mich los...“, bat sie ihn halblaut und André lockerte seinen Arm um ihre Mitte. Sie machte sogleich einen Schritt rückwärts, weg von ihm, und sah ihn mit großen Augen an. Was war gerade geschehen? Wie konnte sie sich nur so gehen lassen?! Ihre Sinne waren wieder hellwach. War es ein Zauber? War es Einbildung? Doch es war nichts passiert! André hatte ihr nur den nötigen Halt geboten. Mehr nicht! Mehr war da nicht drin! Er hatte nur anständig gehandelt – im Gegensatz zu ihr... Wie unverzeihlich! Hoffentlich würde er das nicht falsch verstehen und denken, dass sie sich wie ein naives, leichtfertiges Mädchen benahm! Denn genauso hatte sie sich gerade verhalten! Und das war für ihre Person beschämend! Sehr sogar! „Alles in Ordnung?“, fragte André sanft, darum bemüht, sein Bedauern nicht preiszugeben. „Es geht schon...“ Oscar wandte ihren Blick von ihm ab und versuchte ihr heftig pochendes Herz zu beruhigen. „Danke für den heutigen Tag. Die Feier war schön. Jetzt ist es aber Zeit, nach Hause zu gehen.“ „Wie du wünschst...“ André begleitete Oscar noch zu den Pferden und wieder ritt sie beinahe überstürzt weg. Er hatte seine beste Gelegenheit verpasst und könnte sich ohrfeigen. Aber andererseits hatte er nur das Richtige getan - das Richtige für sie. Sie war noch nicht bereit, das hatte er ihr angesehen, als sie sich von ihm entfernt hatte – erschrocken über sich selbst. Ihre Gefühle galten bestimmt noch von Fersen, obwohl dieser schon seit mehr als zwei Jahren in Amerika war... „Ach, Oscar...“, murmelte André und ging betrübt zu seiner Wohnung. Wie lange er wohl noch warten musste, bis sie ihre Liebe zu ihm erkennen oder gar zulassen würde? Das konnte er nicht sagen. Aber er hoffte, dass es schon bald passieren würde. Denn er wusste beim besten Willen nicht, wie lange er noch diese Qual aushalten würde. Oscar hätte sich selbst ohrfeigen können. Warum war sie dem Rausch verfallen? Sie hätte nicht so viel trinken dürfen! Aber eigentlich hatte sie das auch nicht. Zwei Krüge Bier hatten bei ihr normalerweise keine sonderliche Wirkung. Aber dennoch kam es ihr so vor, als hätte sie ein ganzes Fass geleert und wäre sturzbetrunken - betrunken in einem anderen Sinn und geleitet von ihren Gefühlen... Nein, das durfte nicht noch einmal passieren! Sie mochte André, das konnte sie nicht verleugnen, aber auf mehr hoffte sie nicht. Die Sache mit von Fersen hatte ihr gereicht und sie wollte nicht noch einmal von der Liebe enttäuscht werden. Zumal sie nicht wusste, ob André nur Freundschaft für sie empfand. Er hatte zwar gesagt, dass er auf die Richtige wartet, aber bestimmt nicht auf so eine Frau wie sie! Sie war für ihn bestimmt nichts weiter, als ein Kampfgefährte, ein Kamerad – mehr nicht. Wenn er sie als Frau gesehen hätte und sie als solche liebte, dann hätte er sie doch ganz bestimmt geküsst... Oscar trieb ihren Schimmel immer schneller an. Er schnaubte, aber gehorchte und trug seine Herrin in Windeseile durch die Dunkelheit der Nacht. Außerhalb der Stadt, weitab von den gelben Lichter der Straßenlaternen und Fenstern, schienen die silbernen Sterne und der Mond noch greller zu leuchten. Sie beschworen eine kühle Atmosphäre und den ersten Frost. Der ebenso kalte Wind peitschte Oscar im schnellen Galopp entgegen und traf stichelnd die unbedeckte Haut ihrer Hände und ihres Gesichtes. Oscar drückte ihre Schenkel fester gegen die Flanken ihres Pferdes, beugte ihren Oberkörper noch tiefer vor und umschloss kräftiger die Zügel, bis die Knöchel ihrer Finger weiß heraustraten. Die weiße Mähne des Schimmels wehte ihr direkt in das Gesicht und kitzelte ihre Haut, aber das beachtete sie nicht... Oscar entstand ein erdrückender Kloß im Hals. Sie schluckte mehrmals, aber das Gefühl verging nicht. Und wieder bildete sie sich ein, Andrés warmen Atem auf ihren Wangen zu spüren... Er spendete ihr immer Trost, ohne überhaupt etwas zu sagen und lenkte sie immer von ihrem Kummer ab. André war ein wahrer Freund und sie wusste, dass sie auf ihn immer bauen konnte. „Ach, André...“, entrann es ihr leicht zittrig von den Lippen, als sie fast an dem Anwesen ankam. Sie wünschte ihm Glück, um seine Richtige zu finden und insgeheim verfluchte sie sich selbst, dass sie es nicht sein würde... Kapitel 17: Unverhofft ---------------------- Wie gewinnt man das Herz einer Frau, die wie ein Mann erzogen wurde? Mit Geduld? Denn davon besaß André zur Genüge, was ihn manchmal sogar selbst erstaunte. Manch ein anderer Mann hätte schon längst aufgegeben und hätte sein Glück bei einer „leichteren“ Dame probiert. Aber nicht so André. Er ahnte - nein, er spürte mit jeder Faser seines Körpers, dass ihn zu Oscar mehr verband als nur Freundschaft oder Kameradschaft. Und Oscar empfand womöglich das Gleiche... Aber im Gegensatz zu ihm, wollte und konnte sie das bestimmt nicht wahrhaben. Warum sonst fieberte sie ständig seinen dienstfreien Tagen entgegen, wenn er sie besuchte? Ganz einfach: Weil er ihr ein treuer Freund war und das wollte sie beibehalten... Wieder herrschte Herbst und wieder war es ein Tag im Oktober. Der Tag, an dem der Thronfolger Frankreichs, Prinz Louis Joseph, vor zwei Jahren das Licht der Welt erblickt hatte. Diesmal gab es allerdings keine öffentliche Feier. Weder in Versailles, noch unter dem Volk. Missgunst und Unzufriedenheit breitete sich seit kurzem nun auch unter den adligen Untertanen gegenüber Ihrer Majestät aus. Die Königin hatte sich schon vor einer Weile mit ihren Kindern in ein abgelegenes Schloss zurückgezogen und seitdem hörte man praktisch nichts mehr von ihr. Ihre neue Residenz, Schloss Trianon, durfte niemand außer ihren engsten Vertrauten betreten und das missfiel vielen Aristokraten. Marie Antoinette vernachlässigte ihre königlichen Pflichten noch mehr als jemals zuvor und blieb jeglichen Audienzen fern, um mehr für ihre Kinder da zu sein und mit ihnen die Zeit zu verbringen. Daher war der Geburtstag des kleinen Prinzen für alle Bürger nur ein gewöhnlicher Tag. André weilte an diesem Tag in der Kaserne, bis zur zweiten Stunde nach Mitternacht und dann bekam er mit seinen Freunden sein langersehntes Frei. Für gewöhnlich wäre er gleich zum Anwesen de Jarjayes aufgebrochen, aber doch nicht zu dieser späten Stunde. Er glaubte nicht, dass Oscar über seinen Besuch des nachts begeistert wäre. Er würde sie daher erst morgen aufsuchen und jetzt ließ er sich von seinen Freunden auf ein Bier in einem der Gasthöfe von Paris überreden. Von außen glich ein Gasthof dem anderen, aber bei Bewirtung, Kosten und Einrichtung waren alle verschieden. „Heute gönnen wir uns etwas Feines!“, erläuterte Alain gutgelaunt auf dem Weg. „Und was wird das sein?“ André schielte fragend zu ihm. Sie schlenderten durch die dunklen und menschenleeren Straßen von Paris. Die typische Herbstkühle lag in der Luft und ausnahmsweise war der sonst von bleigrauen Wolken verzogene Himmel sternenklar. Zu dieser Jahreszeit passierte das selten und versprach einen besseren Tag für morgen – wenn die Sternen da oben nur nicht flimmern würden... Auch die Kerzenlichter in den Straßenlaternen flimmerten. Aber vielleicht war das nur der kühle Herbstwind, der sie so zittern ließ... André war der Einzige seiner Freunde, der ein Pferd hinter sich an den Zügeln führte. Den Braunen, den Oscar ihm vor etwa vier Jahren geschenkt hatte, wollte er nirgendwo alleine stehen lassen - nicht einmal in der Kaserne, wo es eigentlich am sichersten aufgehoben wäre. Das Tier war ihm schlichtweg ein zu kostbares Geschenkt - immerhin hatte es früher Oscar gehört. Außerdem waren heutzutage Diebstähle nicht auszuschließen – auch in der Kaserne nicht. Es wäre schade und sogar ein großer Verlust, dieses Geschenk auf so eine Weise zu verlieren. Und bekanntlich fand man es nie wieder – höchstens bei einem Händler auf dem Markt, der das Tier entweder lebend oder nur dessen geschlachtetes Fleisch zu übertrieben horrenden Preisen zum Verkauf anbot. André versuchte erst gar nicht an so etwas zu denken und freute sich lieber darüber, sein Pferd überhaupt noch zu besitzen. Mit der Zeit war es sein treuer Gefährte geworden und er hatte nicht vor, es im Allgemeinen loswerden zu wollen. André schloss noch Kräftiger die Faust um die Zügel und horchte dem Geplapper seiner Freunde weiter zu. „Das wirst du gleich sehen.“ Alain zwinkerte André auf dessen Frage hin zu und lachte derb. Die Brüder Jérôme und Léon grinsten anzüglich über beide Ohren und André verdrehte wissend seine Augen. Natürlich! Den dreien ging es um weibliche Gesellschaft. Aber nicht in einem Freudenhaus – dafür würde ihr verdiente Sold nicht ausreichen. Sie würden mit den Damen Vorlieb nehmen, die in billigen Spelunken die Gäste bewirteten und mit ihnen schäkerten. André mied meistens solche Gasthöfe, aber so lange er von diesen freizügigen Frauen verschont bleiben würde, wollte er nicht der Spielverderber unter seinen Freunden sein. Die Gaststube war gut gefüllt und in eine leutselige Stimmung getaucht. Gleich am Eingang eröffnete sich den Männern ein Bild der Ausgelassenheit: Drei Tische standen zusammen gerückt und darauf tanzten zwei Frauen unter dem derben und johlenden Gesang der Gäste, die sich um die Tische drängten. Sie pfiffen lautstark und riefen jubelnd nach mehr, als eine der Tänzerin bei einer Drehung ihren Rock lüftete und dabei ihre Waden entblößte. Es schien den beiden Spaß zu machen, die Männer auf diese verruchte Art zu unterhalten und von ihnen auf diese unanständige Weise angebetet zu werden. Obendrein landeten klirrend zu ihren Füßen hinreichend Münzen, um die Stimmung der beiden Frauen ungebrochen weiter zu beflügeln. Nun... Womit man so alles sein Geld verdiente... Der eine oder der andere Mann (höchstwahrscheinlich diejenigen unter ihnen, die am großzügigsten Münzen auf den Tisch geworfen hatten) würden vielleicht noch das Vergnügen haben, eine der beiden Frauen heute Nacht zu beglücken... Und die anderen, die kaum Geld in den Taschen hatten, mussten sich mit Zuschauen zufrieden geben... „Ich denke, wir sind gerade rechtzeitig angekommen!“ Jérôme rieb sich die Hände und beobachtete lechzend die Tänzerinnen – jedoch nicht lange. „Ich schaue sie mir mal aus der Nähe an!“, griente er und gesellte sich zu der Gruppe der herumstehenden Zuschauer, mit genauso leuchtenden Augen und johlenden Ausrufen. André sah erst gar nicht hin. „Ich suche schon mal einen Tisch für uns“, war seine gleichgültige Äußerung. „Das brauchst du nicht!“ Alain stieß ihn kräftig gegen das Schulterblatt und wies ihn an einen der Tische, der sich fast in der Nähe der massiven Eingangstür des Wirtshauses befand. „Wir nehmen den da!“ „Und wir heuern derweilen mal die Mädchen an!“ Léon marschierte seinem Bruder hinterher und ließ sich ebenfalls von den Tänzerinnen aufheitern und unterhalten. André überließ Alain den freien Blick auf die Tanzenden und setzte sich ihm gegenüber. Er wollte nicht zusehen müssen, wie die zwei unter dem Jubel der Männer noch mehr nackte Haut preisgaben. „Ha!“ Alains dunkle Augen weiteten sich vor Vergnügen. „Der einen springen schon die Brüste aus dem Ausschnitt!“ Er legte sich zwei Finger in den Mund und pfiff anzüglich. André drehte sich erst gar nicht um und schnitt stattdessen eine Grimasse. „Sollen sie machen, wenn sie wollen – mich interessiert das nicht im Geringsten.“ „Was würde denn Euch interessieren, Monsieur?“ Eine dürre Brünette kam zu ihnen an den Tisch und beugte sich so vor, dass ihr die Brustansätze in vollen Massen aus dem Kleid heraus quollen. „Zwei Bier“, brummte André und wandte beinahe angewidert seinen Blick von ihr ab. Alain tätschelte der Frau den Hintern und entblößte seine Zähne. „Ja, zwei Bier und deine Gesellschaft, bitte.“ „Mit Vergnügen!“, kokettierte sie süßlich und schwebte mit schwankenden Hüften davon. „Du kannst es nicht lassen, oder?“, meinte gleich darauf André kopfschüttelnd zu seinem Freund. Alain machte sich nichts daraus und grinste noch breiter. „Wieso nicht?! Das gehört zu unserem Amüsement genauso wie eine Schlägerei! Aber anscheinend ist das nur für einen alteingesessenen Jungessellen wie dich unverständlich.“ „Du kannst ja meinetwegen die Frau bezirzen, aber halte mich bitte daraus.“ Das war eine indirekte Botschaft, die Alain nur zu gut von ihm kannte. Er nickte daher einvernehmlich. „In Ordnung, Kumpel, ich werde sie dir schon vom Leib halten. Dann bleibt eben mehr Vergnügen ganz alleine für mich!“ „Gut, dann sind wir uns einig.“ André bedankte sich mit einem Nicken. Es war immer das gleiche, wenn er mit seinen Freunden in solchen Spelunken einkehrte. Wenn eine Frau sich erdreistete und sich an ihn ran machte, dann nutzte Alain immer die Chance und lenkte das Interesse der Frau bereitwillig auf sich. Das klappte bisher immer gut, aber diesmal sollte es gewaltig scheitern... Die vollbusige Brünette kehrte mit zwei Bier zurück. „So, da bin ich!“ Sie stellte das eine Bier vor Alain und das andere vor André auf dem Tisch ab. Bevor letztere seinen Krug an sich nehmen konnte, platzierte sich die Frau ungefragt auf dessen Schoß. Sie lachte kehlig über Andrés überraschten Gesichtsausdruck und schlang bereits ihre Arme um seinen Hals. „Hey, hey!“ Alain spielte sofort einen Benachteiligten: „Und was ist mit mir?! Willst du mich etwa nicht umarmen?!“ „Du kommst auch noch dran!“ Die Frau schenkte ihm einen Handkuss und widmete sich wieder André. Geschmeidig legte sie ihm eine Hand an die Wange und mit der anderen nestelte sie am Kragen seiner Uniform. Auch ihre Hüfte setzte sie ganz langsam in Bewegung – im gewogenen Rhythmus, auf und ab rieb sie an seinem Schritt. „Du hast eine hübsche Augenfarbe, weißt du das?! So sanft grün, wie eine Wiese voller Wildblumen... Da möchte man sich einfach hinwerfen und die ganze Zeit liegen bleiben...“ André wurde unbehaglich. Und auch schlecht. Sein bestes Stück dagegen reagierte auf die Anreize der Frau wie ein Verräter und richtete sich immer mehr in seiner Hose auf. Die Frau leckte sich die Lippe, als sie seine ungewollte Erregung spürte und atmete betont flacher, beinahe heißhungrig. André schauderte, als sie sich immer enger an ihn heran schmiegte. Das Einzige, wo er hinstarrte, waren ihre grauen Augen. An sich eine hübsche Kombination mit ihrem braunen Haar, aber nichts für ihn. Er musste an etwas anderes denken! Wie wäre es mit Oscar? Sie würde ihm in dieser Aufmachung besser gefallen... Selbst Alain staunte bestimmt nicht schlecht über dieses unverfrorene Verhalten, denn von ihm kam kein einziger Ton mehr. So, als hätte es ihm die Sprache verschlagen. André überlegte schnell, wie er die aufdringliche Dame auf seinem Schoß wieder loswerden konnte und erfand eilig eine Ausrede: „Tut mir leid, ich bin schon vergeben...“ Aber das beeindruckte die Frau keineswegs. „Deine bessere Hälfte wird schon nichts erfahren, keine Sorge“, schnurrte sie honigsüß und öffnete ihm bereits flink die oberen Knöpfe seiner dunkelblauen Uniform. Geschickt schlüpften ihre Finger unter den Kragen seines Hemdes und vergruben sich immer tiefer. André konnte nicht mehr! Instinktiv versuchte er sich das feine Antlitz seiner Freundin vorzustellen, die Frau auf seinem Schoß auszublenden und ihre Machenschaften zu ignorieren. Vielleicht würde sie von ihm eher ablassen, wenn er unbeteiligt und ignorant da saß? Ihre Finger fuhren bereits schmeichelnd von seinem Schlüsselbein bis zu seinem Rippenansatz. Gänsehaut überlief ihn - seine feinen Härchen sträubten sich am ganzen Körper und er schauderte. Sein Magen rebellierte. Aber sein bestes Stück schien Gefallen an der Zuwendung gefunden zu haben und wurde immer härter. Das reichte! André musste etwas unternehmen! Seine Hand griff schon mechanisch um das Handgelenk der Frau, als die Tür in der Gaststube aufging. Ein nobler Offizier trat über die Schwelle. Reflexartig sah André hin und sein Hirn schlug blitzschnell Purzelbäume. Er erstarrte auf der Stelle, als hätte er einen Geist gesehen oder wäre mit einem Eimer eiskalten Wasser übergossen worden... und sofort hörte es auf, dieses unangenehme und unerträgliche Pulsieren seiner Erregung. Und André wusste, dass sie in wenigen Augenblicken abgeklungen sein würde. Das war einerseits gut, aber erleichtert fühlte er sich dabei auch nicht... Auch Alain sah überrascht hin. „Wen haben wir denn da...“ Er begann sich innerlich zu amüsieren. Einzig die Frau auf Andrés Schoß blieb unbeeindruckt. Sie folgte den Blicken der beiden Männer und ihre Augen glänzten verzückt. Dem Anschein nach kannten ihre zwei Kandidaten den vor Stolz protzenden Gast. „Oh, noch ein Freund von euch! Und wie hübsch er aussieht! Dann wollen wir ihn mal begrüßen!“ Sie sprang leichtfüßig auf und schwebte mit geschürzten Röcken zu dem Neuankömmling. Kapitel 18: Notre Dame de Paris ------------------------------- Oscar musste in Versailles wieder aufmüpfigen Höflinge in die Schranken weisen und bei den Aufdringlichsten gar ihre Soldaten einsetzen, um sie aus Versailles zu verweisen. Sie war es leid, aber das gehörte nun mal zu ihren Pflichten als Kommandant der königlichen Leibgarde. Wann hörte der Ansturm endlich auf? Es musste etwas dagegen getan werden! Aber nur was? Es konnte nur die Rückkehr Ihrer Majestät der Königin und die Wiederaufnahme der Audienzen helfen. Aber würde das wirklich etwas ändern? Seit Oscar denken konnte, hatte Marie Antoinette ihre königlichen Pflichten vernachlässigt... Der Tag ging zur Neige und Oscar war erschöpft. Heute hatte es sogar bis Mitternacht gedauert, um Ordnung unter den Unzufriedenen und Klagenden zu schaffen. Sie wollte weg. Sie wollte ihre Ruhe haben und so übergab sie die Befehlsgewalt an ihren Untergebenen, Graf de Girodel. „Seid aber vorsichtig, denn es ist nicht empfehlenswert, nachts allein durch Paris zu reiten... Es könnte hinter jeder Ecke eine Gefahr lauern...“, meinte Girodel bedächtig. „Wovon redet Ihr? Ich scheue keine Gefahren!“ Oscar hörte ihn nicht einmal zu Ende an: „Und außerdem: Paris ist in mancher Hinsicht sogar der sicherste Ort für mich!“ Sie stieß ihrem Schimmel in die Seiten und ritt in Windeseile nach Paris, um in einem der Gasthöfe ein Bier zu trinken und den anstrengenden Trubel des Tages zu vergessen. Ihren Freund wollte sie lieber nicht behelligen. Er würde höchstwahrscheinlich noch in der Kaserne sein und erst morgen Dienstfrei bekommen. Sie würde ihn also erst morgen wiedersehen können und wohl oder übel ihr Bier heute allein genießen müssen. Aber es machte ihr nichts aus - sie war es gewohnt, alleine zu sein. Oscar hätte nicht gedacht, auf welche ungewöhnlichen Wegen sie das Schicksal zu André führen würde. Bei dem Ritt durch das nächtliche Paris, auf der Suche nach einem geeigneten Gasthof, begann ihr Schimmel leise vor sich hin zu wiehern. Nicht weit entfernt ertönte als Antwort das Wiehern eines anderen Pferdes. Es klang so, als würden sich die beiden Tiere wie alte Freunde begrüßen. Oscar wurde stutzig und neugierig zu gleich. Sie änderte die Richtung und ihr Pferd trabte von selbst immer schneller. Er folgte einer Witterung und brachte seine Herrin zu einem nicht gerade ansehnlichen Wirtshaus. An dem Pfosten zum Eingang tänzelte ein dunkles Pferd und es sah so aus, als würde es ihrem Schimmel am liebsten entgegen laufen wollen. Doch der Halfter ließ das nicht zu und so schüttelte es mit seiner Mähne und wieherte freudig. Oscar staunte nicht schlecht und sofort keimte eine heimliche Vorfreude in ihr auf. Sie zügelte ihren vierbeinigen Gefährten direkt neben dem angebundenen Braunen und klopfte ihm an den Hals. „Gut gemacht, mein Lieber!“ Sie stieg ab, band ihr Pferd an und die zwei Tiere begrüßten sich mit gegenseitigem aneinander reiben der Köpfe. Oscar schmunzelte unwillkürlich bei diesem Anblick und beschloss, sofort in den Gasthof zu gehen. In Andrés Gesellschaft würde das Bier sicherlich viel besser schmecken. Die Freude verging ihr sofort, als sie die Gaststube betrat: Vor ihr standen Männer johlend und jubelnd um drei Tische, auf denen zwei Frauen mit freizügiger Oberweite tanzten. Ihre unbedeckten Rundungen hüpften im Takt vulgären Bewegungen auf und ab. Angewidert wandte Oscar den Blick ab - und dann entdeckte sie ihren Freund! Gleich darauf traf sie der Schlag des Entsetzens! Eine vollbusige Brünette saß auf seinem Schoss und fummelte unter seinem Kragen. Er wirkte genauso entsetzt und überrascht wie sie! Ob wegen der Frau oder ihrem unverhofften Erscheinen, wusste sie nicht zu sagen. Ein schmerzlicher Stich durchfuhr in ihr Innerstes und erneut wollte sie nur noch weg. Dennoch stand sie wie festgefroren da. Die Brünette sprang sogleich leichtfüßig auf und schwebte zu ihr. „Herzlich willkommen, Monsieur. Wollt Ihr Euch zu uns gesellen?“ „Nein, danke!“, murrte Oscar heiser und ihre Füße bewegten sich dann doch wie von alleine. Sie verließ überstürzt die Gaststube, band eilig ihren Schimmel ab, stieg sofort in den Sattel und ritt im vollen Galopp davon. In der Gaststube kehrte unterdessen die Frau an den Tisch und damit zu den beiden Männern zurück, als wäre nichts passiert. „Ihr habt aber merkwürdige Freunde...“ Sie machte Anstalten, sich wieder auf Andrés Schoß sich zu setzen, als dieser wie gestochen hochsprang. „Was ist Euch auf einmal?“, fragte sie zuckersüß und schmiegte sich schamlos an ihn. André packte sie an den Handgelenken und stieß sie vehement von sich. „Lasst mich in Ruhe!“, knurrte er und hastete aus der Gaststube. „Ihr seid aber seltsame Männer...“ Die Frau sah verwundert André nach, vergaß ihn aber schnell wieder und widmete sich stattdessen nun Alain. „Dann schenke ich eben Euch meine Aufmerksamkeit.“ „Umso besser“, lachte Alain und zog sie vergnügt auf seinen Schoss. - - - Wie besessen trieb Oscar ihr Pferd durch die nachtdunklen Straßen von Paris. Die wenigen noch leuchtenden Laternen am Straßenrand flogen nur so an ihr vorbei. Wut und Schmerz brodelten in ihr, wie noch nie zuvor. Aber warum? Nur weil sie André mit einer Frau gesehen hatte? Vielleicht war das seine „Richtige“? Nein, unmöglich! Und was ging sie das überhaupt an?! Es war lächerlich! André war ungebunden und konnte tun und lassen was er wollte! Sie durfte sich nicht in sein Privatleben einmischen! Dennoch zerbarst ihr Herz qualvoll alleine bei dem Gedanken... Sie bekam immer mehr das Gefühl, ihren ganzen Schmerz und ihre Wut hinausschreien zu müssen! Sie fühlte sich auf einmal so verraten, betrogen und hintergangen! „Oscar, warte!“ War das seine Stimme? Nein, es konnte nur Einbildung sein! André befand sich in bessere Gesellschaft und sie konnte ihm das nicht verwehren! Doch das Hufklappern eines galoppierten Pferdes hinter ihr, sprach dafür, dass ihr jemand auf den Fersen war. „Nein, du bist es nicht, André...“, redete sich Oscar ein und stieß die Stiefelabsätze noch heftiger ihrem Schimmel in die Seiten. „Warte doch, Oscar, bitte!“, wieder hörte sie seine Stimme hinter sich, aber sperrte sie sogleich wieder aus. Sie war sich nun sicher, dass er ihr folgte. „Bitte nicht, André... Lass es sein... Kehre lieber um... zurück zu ihr... Du darfst mir nicht folgen... Lebe dein Leben, wie du es für richtig hältst... Aber lass mich allein – ich werde das schon verkraften...“, schluchzte Oscar hörbar, doch der Wind vermochte ihre Worte nicht an sein Ohr zu tragen. Ihre Augen brannten, ihr Brustkorb zog sich erdrückend zusammen und ihr Pferd bekam unermüdlich die Sporen ihrer Stiefel zu spüren. André setzte alles daran, Oscar einzuholen. Es war absurd! Er wollte sich rechtfertigen, ihr eine Erklärung geben – doch sie gehörte ihm nicht! Oscar gehörte niemanden! Trotzdem fühlte er sich miserabel und schuldig, weil sie ihn mit einer anderen Frau so anzüglich gesehen hatte. Es war nicht das, wonach es ausgesehen hatte und was sie nun zweifelsfrei dachte. Das wollte er ihr sagen. Die Wahrheit, dass sich diese Frau ihn an den Hals geworfen hatte, ohne dass er es gewollt hatte. Sie hatte ihn bedrängt und er hatte wirklich versucht, sie abzuwehren. André gab seinem Braunen auch immer wieder die Sporen. Das war kein Wettritt und er würde Oscar deshalb nicht gewinnen lassen. Er würde sie einholen, koste es was es wolle! Ihr Schimmel vor ihm war bereits erschöpft und wurde immer langsamer. André überholte sie und trieb sein Pferd dazu, ihr den Weg abzuschneiden. Oscar zügelte beinahe erschrocken ihren Schimmel. „Brrr!“ Dann sah sie ihren Freund mit weit aufgerissenen Augen an und eine gewisse Erleichterung durchströmte ihr Inneres. André war ihr in der Tat nachgeritten! Er hatte ihretwegen diese Frau verlassen! „Du bist es...“, meinte sie gefasst. „Was für eine Überraschung. Ich glaubte dich eigentlich woanders zu wissen...“ Wie konnte sie sich nur derart verstellen?! Sie belog sich selbst, um von ihren verletzten Gefühlen abzulenken. André ahnte das und holte tief Luft: „Wir haben nach Mitternacht dienstfrei bekommen und wollten uns in einem Gasthof ein Bierchen gönnen...“ „Das habe ich gesehen...“, entfuhr es Oscar von den Lippen - kleinlauter als gedacht. Das erschreckte sie selbst. Vor ihrem inneren Auge spielte sich immer wieder die Szene im Gasthof ab: Wie die zwei Frauen auf den Tischen tanzten und sich die Brünette an Andrés Schoß rieb. Erneut stieg dabei dieser geißelnde Schmerz in ihrem Brustkorb auf und es kam ihr so vor, als würde es ihr den Atem verschlagen. Krampfhaft versuchte sie, die anstößigen Bilder zu verdrängen und sachlich zu bleiben. André sollte nichts von ihrem Kampf mit ihren überforderten Gefühlen mitbekommen. Doch André konnte sich vorstellen, an was sie dachte. Auch ihn quälte die Erinnerung an die Tänzerinnen und der vulgäres Benehmen der Brünette. „Das habe ich nicht gewollt...“, murmelte er mit gebrochener Stimme: „Verzeih... Ich habe nicht damit gerechnet...“ „Dass ich im Gasthof erscheine?“ Oscar verfluchte sich innerlich dafür, dass ihre Zunge schneller war, als ihr Verstand. Sie wollte sich doch nicht in sein Privatleben einmischen! „Nein!“, widersprach er sofort und hielt den Riemen der Zügel noch fester in seinen Fäusten. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass so etwas passieren würde und sich diese Frau so schamlos...“ Plötzlich geriet er ins Stottern. Er konnte einfach nicht weiter sprechen... Oscar beobachtete ihn die ganze Zeit, soweit es in der Dunkelheit möglich war. Sie spürte, dass es ihm unangenehm war, über den Vorfall zu sprechen. Also war ihm das Ganze genauso unangenehm wie ihr. „Lass gut sein, André.“ Mit diesen Worten gewann sie wieder die Oberhand über ihre verletzten Gefühle. André verstummte. Eine bedrückte Stille breitete sich augenblicklich zwischen ihnen aus - nur das Schnaufen der Pferde und das Zirpen der Grillen durchbrach sie. Irgendwann hielt es André nicht aus und er stellte die erst beste Frage, die ihm gerade einfiel: „Und, was bringt dich nach Paris in der tiefen Nacht? Ich glaubte dich eigentlich in Versailles zu wissen.“ Oscar horchte auf. Wieso interessierte ihn das? „Das ist eine lange Geschichte...“ „Wir haben Zeit.“ André zwang seinen Mundwinkeln ein Lächeln ab. Ihm kam gerade ein besserer Einfall, um nicht untätig an Ort und Stelle zu stehen. „Wir können gemütlich durch die Stadt reiten und dann erzählst du es mir. Wenn du willst...“ „Eine gute Idee.“ Oscar setzte ihren Schimmel in Bewegung und André schloss sich ihr sogleich an. Im gemächlichen Trab ritten sie nebeneinander einher und Oscar erzählte über die unzufriedenen Höflinge in Versailles. „... ich kann den Unmut der Menschen verstehen, aber sieht denn niemand Marie Antoinette, wenn sie so ungezwungen mit ihren Kindern spielt?! Seit langem habe ich kein solch glückliches Lächeln mehr bei ihr gesehen.“ „Nun...“ André konnte einerseits die Prioritäten der Königin nachvollziehen, aber er konnte auch Oscars Sorge um sie verstehen. „...ich verstehe, was du meinst. Aber wenn das so weiter geht, dann wird etwas Unheilvolles geschehen. Denn es sind nicht nur Bürgerliche, die sich bereits immer mehr von Ihrer Majestät abwenden. Es sind auch Adlige und wenn sie nichts unternimmt, dann könnte es zu spät sein...“ „Ja, ich weiß...“ Mit Bedauern gab Oscar ihm recht. Aber etwas daran ändern, konnte sie leider nicht. Sie wollte nicht mehr darüber reden. Sie war eigentlich nach Paris gekommen, um sich davon abzulenken und wenigstens für ein paar Stunden die Probleme zu vergessen. So wechselte sie unerwartet das Thema: „...aber erzähle mir lieber, wie es dir in der Kaserne geht.“ André tat ihr den Gefallen und erzählte seinerseits über das Soldatenleben in der Kaserne. „Es gibt keine nennenswerten Änderungen. Unser Oberst ist streng und behandelt uns als wären wir unter seiner Würde. Er ist der einzige, der dem Adel angehört – wir Söldner sind dagegen alle bürgerlich und halten zusammen. Aber das weißt du doch schon alles.“ Ja, das wusste sie tatsächlich schon, aber sie wollte es trotzdem immer wieder von ihm hören. „Erzähl trotzdem weiter. Es tut gut, zur Abwechslung mal etwas anderes zu hören, als immer nur vom Hof und über unzufriedenen Höflinge.“ „Was willst du denn sonst hören, Oscar?“ André sah kurz zu ihr. „Die Söldner sind genauso unzufrieden über die ungerechten Verhältnisse des Landes, wie die adligen Untertanen über das Verhalten Ihrer Majestät.“ „Nun...“ Wie eigenartig es doch war, dass das Thema erneut auf die Königin zurück kam. „Ich denke, Unzufriedenheit wird es immer geben. Aber lassen wir das jetzt lieber... Heute möchte ich über diese Sorgen nicht mehr nachdenken... Bitte lass uns über etwas anderes sprechen, André.“ „In Ordnung.“ André überlegte, welches Thema er einschlagen konnte, um Oscar aufzuheitern. „Ach, das habe ich fast vergessen: Vor paar Tage war Besuchstag bei uns in der Kaserne und Diane bat mich, dir herzliche Grüße auszurichten.“ Die Erwähnung des Mädchens blieb nicht wirkungslos. Oscars Mundwinkel zogen sich gleich nach oben und ihre Stimme klang nicht mehr so geplagt. „Danke, du kannst ihr auch von mir liebe Grüße ausrichten. Wie geht es ihr?“ An Alain versuchte sie gar nicht erst zu denken. Seit ihrer letzten Begegnung mit ihm bei der Feier hatte André nichts mehr über ihn erwähnt. Ob er ihr grollte oder nach Rache sinnte? Er war auch in der Gaststube gewesen, erinnerte sie sich, aber sie hatte ihn nicht weiter beachtet. Ihr Blick hatte nur André und der Frau gegolten. Oscar schüttelte sich. Darüber wollte sie erst recht nicht nachdenken. Sie konzertierte sich daher wieder darauf, was ihr Freund über Diane zu erzählen wusste. „Ihr geht es gut. Sie war von deinem Auftritt und deiner Ausstrahlung letztes Mal sehr angetan. Immer wieder schwärmt sie davon.“ „Das ist doch aber schon zwei Jahre her!“ Oscar staunte sichtlich, wie unvergesslich sie dem Mädchen geblieben war. André schmunzelte. „Dann kannst du mal sehen, wie schnell du die Menschen verzaubern und auf deine Seite ziehen kannst.“ Bis auf Alain und einige seiner Kameraden, aber das blieb besser unausgesprochen. „Junge, schwärmende Mädchen, die in mir einen Mann sehen und sich fragen, warum ich nicht als solcher geboren wurde...“, scherzte Oscar bitter, denn es lag doch sehr viel Wahrheit darin. Schon als sie im zarten Alter von vierzehn Jahren an den königlichen Hof kam und Kapitän der Garde wurde, hatten die Hofdamen von ihr und ihrem stolzen Erscheinungsbild geschwärmt. Daran war sie über die Jahre hinweg gewöhnt und sie machte sich nichts daraus. Aber es tat gut, sich mit dieser Unterhaltung von dem Thema abzulenken und so blieb Oscar dabei. Die Gemüter heiterten sich unterwegs immer mehr auf und die Zeit verging schnell, ohne das Oscar oder André es bemerkten. Vertieft in ihre Unterhaltung, passierten sie Straße für Straße, überquerten Brücke für Brücke, und drangen immer mehr in das Zentrum der Stadt vor. Die dunklen Umrisse einer mächtigen Kathedrale zeichneten sich schon bald vor ihnen ab und bewogen sie dazu, die Pferde zu zügeln. „Notre Dame...“ Oscar betrachtete die imposanten, mächtigen Türme. André folgte ihrem Blick. „Ja.“ Er lächelte verschmitzt. „Als Kind war ich oft dort oben.“ „Du hast dich dort wohl vor deiner Großmutter versteckt?“, neckte ihn Oscar scherzhaft. „Nein“, betonte er auffällig zweideutig. „Ich mochte den Blick über die Stadt.“ André sah zu Oscar. „Das hat mich immer verzaubert und ich kenne bis heute nichts Vergleichbares. Das würde dir bestimmt auch gefallen können.“ „Woher willst du das wissen?“, wollte Oscar fragen, doch sie spürte eine aufladende Energie in sich und ein Prickeln unter der Haut, die ihr die Sprache verschlugen. „Das weiß ich nicht, André. Aber dort hoch zu steigen, wäre mir die Sache wert.“ Hunderte von Stufen ließen sie hinter sich, bis sie ganz oben auf einen der Türme ankamen. Sie schnauften und ihre Beine fühlten sich schwer an. Heftiger Wind zerzauste ihnen die Haare und sie hatten Mühe, sie sich aus dem Gesicht zu halten. Aber das alles spielte schlagartig keine Rolle mehr. Denn der Ausblick auf Paris war herrlich und unbeschreiblich. Besonders wenn die Sonne aufging, während unten noch die Dunkelheit der Nacht herrschte. Im Osten, weit entfernt am Horizont, breiteten sich rötliche Streifen am dunkelblauen Himmelsgrund aus. Träge zeigte die Sonne ihre ersten Strahlen. Verträumt beobachteten Oscar und André das Naturschauspiel. Oscar musste André recht geben: Das sah unvergleichbar schön aus! Ein gerührtes Lächeln stahl sich auf ihren Lippen. „Du hast mir ganz Paris zu Füßen gelegt...“, sagte sie nachdenklich. „Eigentlich machen das nur Männer um ihre Liebsten zu beeindrucken...“ „Meinst du?“ André sah von der Seite zu ihr. „Ich kenne nur, dass man die Welt oder das Herz zu Füßen seiner Liebsten legt... Aber Paris?“ Er log. Für sie würde er weit mehr tun, als nur das. Warum sagte er ihr nicht gleich die Wahrheit? Die Gelegenheit war doch günstig. Hatte er Angst, dass sie es falsch aufnehmen würde? Ja, das hatte er... Oscar senkte ihre langen Wimpern. „Und dennoch hast du es getan. Ob beabsichtigt oder nicht: Du hast mir die Schönste Stadt der Welt zu Füßen gelegt. Wieso machst du das nicht lieber bei deiner Auserwählten aus der Gaststube? Sie würde sich sicher mehr freuen als ich.“ „Sie ist nicht meine Auserwählte...“, erinnerte sie André schulterzuckend. „Ich warte noch immer auf die Richtige.“ „Ja, aber...“ Oscar hob schlagartig ihren Blick und sah direkt in seine Augen. Sie erinnerte sich deutlich, dass sich ihr vorhin ein ganz anderes Bild gezeigt hatte... „...aber im Gasthof...“ „Das war nichts! Die Frau bedeutet mir nichts! Sie hat sich mir an den Hals geworfen und ich war gerade dabei mich von ihr zu befreien, als du kamst. Ich kann solch leichte Mädchen nicht ausstehen.“ Er sagte das so trocken und nüchtern, dass sich ihr unweigerlich eine Frage stellte, der sie auf den Grund gehen musste: „Welche sind dann nach deinem Geschmack?“ André überlegte angestrengt, suchte nach richtigen Worten. Er wollte Oscar weder vor den Kopf stoßen, noch sie in Verlegenheit bringen. „Eine ganz Besondere. Vielleicht auch eine Außergewöhnliche. Aber eine liebenswerte und gleichzeitig starke Frau, die mich aus tiefstem Herzen liebt.“ André sah noch eindringlicher in ihr Antlitz, das von den rötlich-orangen Strahlen der langsam aufgehenden Sonne überzogen war. Oscar schluckte hart und ihre Augen spiegelten dieses Morgenlicht mit dem Glanz der Verwunderung. „André... so eine Frau gibt es nicht...“ „Doch!“, hätte André gerne gesagt, aber er verkniff es sich. Er hatte den verborgenen Schmerz in Oscars Augen gesehen und das hielt ihn davon ab, ihr seine Gefühle zu offenbaren. Sie hatte ihn gewiss verstanden und es bedurfte keiner Worte mehr. Wenn man eine Rose unbedacht berührte, dann bestand die Gefahr, von ihren Dornen gestochen zu werden. Aber wenn man behutsam mit ihr umging, dann konnte nichts passieren. So war es auch mit Oscar. Sie brauchte noch Zeit, um sich ihre Gefühle einzugestehen. Aber dieser Punkt in ihrem Leben war nicht mehr fern. Das hatte André in ihrem Blick gesehen. Sie war bereit. Sie musste das nur noch selbst erkennen. Kapitel 19: Im Wahn ------------------- Eisige Winterkälte hielt Einzug über das Land. Frost, Wind und Schnee machten den Menschen das Leben schwer - besonders den Armen und Schwachen. In der Kaserne gab es zu dieser Jahreszeit häufiger als sonst Diebstähle von Bürgerlichen und die Soldaten mussten wachsamer sein. Außer Brennholz und Essbarem wurde meist nichts Nennenswertes entwendet. Der stationierte Befehlshaber der Söldnertruppe, Oberst Dagous, achtete sorgsam darauf, dass seine Männer ordnungsgemäß seine Befehle durchführten und nicht nachlässig wurden. Daher gestattete er ihnen auch keine dienstfreien Tage - nur in äußersten Notfällen. Die Soldaten murrten und zogen finstere Gesichter, aber sie fügten sich. Was blieb ihnen auch anderes übrig, wenn sie weder ihren Sold riskieren, noch eine Suspendierung beschwören wollten?! Wenigstens die Besuchstage waren gestattet und damit trösteten sie sich. Alains Schwester kam so eines Tages wieder zu Besuch. Sie brachte frische Wäsche für ihren Bruder und André. Diese gaben ihr dafür schon die nächste Kleidung zum Waschen mit und mehr als die Hälfte ihres Soldes. Diane nahm alles mit einem netten Lächeln an sich. Im Quartier wurde Alain später sofort über seine Schwester ausgefragt. Aber dieser speiste alle nur mit einer drohenden Faust ab: „Lasst mir die Finger von ihr, sonst werdet ihr eures Lebens nicht mehr froh sein!“ „Das sagst du jedes Mal“, konterte Léon achselzuckend und bekam eine scherzhafte Kopfnuss von seinem Kameraden. „Wofür war das denn?!“ Er rieb sich verständnislos sein Haupt. „Dafür, dass ich es ernst meine!“ Alain lachte und zeigte auf seinen Freund: „Nimm dir lieber ein Beispiel an unserem André. Er läuft nämlich nicht meiner Schwester hinterher.“ „Wenn er überhaupt irgendwelchen Frauen hinterher läuft!“, ergänzte Jérôme und weckte somit die Neugierde aller Söldner. Alain umfasste sein markantes Kinn und musterte seinen Freund ausgiebig. „Da muss ich ihm Recht geben... Obwohl wir in der gleichen Nachbarschaft aufwuchsen und fast ständig zusammen waren, habe ich dich noch nie einem Mädchen den Hof machen sehen... Obwohl, im letzten Herbst war da etwas...“ „Ich warte, bis mir die Richtige über den Weg läuft.“ André schnitt ihm dagegen eine schiefe Grimasse. „Ha!“, rief einer der Kameraden belustigt: „Du bist ein Träumer, André! So etwas gibt es nicht!“ Die anderen stimmten mit ein und lachten allesamt. „Mag sein, dass ich ein Träumer bin. Aber so etwas wie die eine, richtige Frau gibt es wirklich.“ André schmunzelte geheimnisvoll und erhob sich von seiner Schlafstätte. Er ging zum vereisten Fenster, streckte seine Glieder und lächelte noch mehr vor sich hin. „...und ich habe sie schon gefunden.“ „Echt?!“ Den Söldnern weiteten sich vor Neugierde die Augen. „Und, wer ist sie?“, wollten sie im Chor wissen. „Das würde mich auch interessieren...“, dachte Alain bei sich. Seine Augenbrauen zogen sich hoch, als er hörte, wie André nur einen einzigen Namen hauchte: „Oscar...“ Die Neugierde verwandelte sich bei den Männern in Verblüffung. Nun gut, alle wussten über seine Freundschaft zu dieser eigenartigen Frau und amüsierten sich gern darüber. Aber Liebe? Das war doch ein wenig unbegreiflich! „Nein!“ Alain schoss sogleich aufbrausend in die Höhe und baute sich turmhoch vor seinem Freund auf. „Warum ausgerechnet dieses Mannsweib?! Sie gehört dem Adel an!“ „Das macht mir nichts aus. Ich liebe sie - nur sie...“, gestand André ruhig und gelassen. Er sah an Alain vorbei auf das bizarre Eismuster an der Fensterscheibe und sein Gesichtsausdruck bekam noch mehr etwas Träumerisches... Alain konnte es kaum länger mitanhören. „Und liebt sie dich wenigstens auch?“ „Ich glaube schon...“ „Du glaubst?!“ Das war doch nicht zu fassen! Was ging in dem hohlen Kopf von André überhaupt vor! „Sie weiß nichts von meinen Gefühlen.“ Nun zog auch André seine Brauen streng zusammen und sah Alain ernst an. „Und soll auch nichts davon wissen!“ Das reichte! Alain packte ihn unsanft bei den Schultern und rüttelte ihn heftig. „Schlag sie dir aus dem Kopf! Du hast besseres verdient, als diese selbstgerechte Aristokratin in Männerkleidern!“ André versuchte ihn reflexartig von sich zu schieben. „Was soll das, Alain?!“ „Was das soll?!“ Alain packte ihn noch fester an der Uniform und warf einen flüchtigen Blick auf die staunenden Söldner im Raum. „Männer, helft mir! Unser Freund ist nicht ganz klar im Kopf! Er braucht dringend eine Abkühlung!“ „Hey, lasst das!“, brummte André überrascht, als nun auch seine Kameraden nach ihm griffen. Sie packten ihn von allen Seiten, ließen ihm keinen Spielraum für eine Gegenwehr und zerrten ihn aus der Baracke. André versuchte sich zu wehren, aber zwecklos. Die Männer schleppten ihn bis zu den Stallungen, hoben ihn hoch und warfen ihn dort in den Trog mit eiskaltem Wasser. André umfing das eisige Nass und durchtränkte im Bruchteil weniger Sekunden seine Kleidung. Er zappelte hektisch mit den Armen und versuchte sich aus dem Trog zu befreien. Er bewegte seine Beine, schaffte es, sich aus dem Wasser hochzuziehen und stieg dann endlich ins Freie. Das Wasser triefte von seinen Haaren und von seiner Uniform in Strömen. Völlig nass stand er vor dem Dutzend Kameraden - sie lachten ihn genüsslich aus. „Ich hoffe, dein Kopf ist jetzt frischer geworden!“ Auch Alain grinste über beide Ohren, sodass André ihm am liebsten dieses Grinsen ausgeschlagen hätte... An seinen Schläfen pulsierte das Adrenalin. Seine Augen durchzog ein rötlicher Schleier und das heiße Rauschen seines Blutes überdeckte das schallende Gelächter seine Kameraden. Seine nassen Hände formten sich zu festen Fäusten, seine Kiefer mahlten und sein mörderischer Blick galt nur Alain. „Das wirst du mir büßen!“, knurrte André angriffslustig und stürzte sich auf ihn. Alain durchschaute sein Vorhaben auf Anhieb und rannte aus dem Stall. Für eine Rangelei war auf dem Hof mehr Platz. Und wenn André unbedingt eine wollte, dann sollte er eine bekommen. Er warf einen Blick über seine Schulter – André folgte ihm dicht auf den Fersen und kaum dass Alain sich umgedreht hatte, da stürzte André auch schon auf ihn. Alain hatte keine Zeit, um sich in Angriffsposition zu stellen und damit seinen Freund entsprechend zu begegnen. Er verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings in den Schnee – André über ihn. Dennoch wehrte Alain geschickt dessen Fäuste ab und schaffte es, ihn von sich zu stoßen. André rollte sich im Schnee schnell auf den Rücken – seine tropfnasse Uniform wurde zunehmend hart und kalt, aber das war ihm egal. In seinem Inneren loderten die Flammen des Zorns. Niemand hatte das Recht, so über Oscar zu sprechen und seine Liebe zu ihr zu verspotten! Er wollte sich hochrappeln, aber da saß Alain schon rittlings auf ihm und drückte ihn mit aller Kraft gegen den verschneiten Boden. „Hört doch auf!“, rief einer der Kameraden besorgt. „Das ist nicht mehr lustig!“ War das Léon? Wer auch immer das war, niemand ging dazwischen. Niemand gebot den beiden Streitlustigen Einhalt und brachte sie auseinander – vielleicht, weil solche Schlägereien in ihrem Soldatenleben nichts Neues waren. Oder vielleicht, weil sie auf die Vernunft der beiden appellierten. Doch womöglich war es ihnen auch nur eine willkommene Abwechslung. Alle Kameraden standen im Halbkreis um sie herum und warteten mit Spannung, was noch folgen würde. „Hast du gehört, Kumpel?“, schnaufte Alain und verstärkte den Druck auf Andrés Brustkorb. „Lass den Unsinn!“ „Nein!“ Andrés Wiederspruch erzeugte eine Wolke aus Eiskristallen von seinem Mund. Er stemmte seine Arme gegen Alain und versuchte, ihn von sich fernzuhalten. „Sie ist kein Unsinn!“ Seine Hände fanden den Weg zu dem Knoten des roten Halstuches seines Gegners. Seine Finger schlossen sich um den muskulösen Hals. Kraftvoll drückte er zu. Alain schnappte nach Luft. André drückte ihm den Knoten direkt gegen den Kehlkopf und Alain begann zu röcheln. Alains Kraft ließ nach und André schaffte es, ihn von sich zu stoßen. Schnaufend rappelte André sich hoch. Ungeachtet des Schnees in seinen Haaren, an seinen Stiefeln und an der Uniform, schleppte er sich zu Alain. Dieser hielt sich den Hals und saß schwer atmend auf. „Bist du noch bei Trost, Andre?!“, brüllte er ihn knirschend an: „Komm zur Vernunft! Sie ist es nicht wert!“ André verharrte plötzlich still und starrte entgeistert auf ihn herunter. Der rötlicher Schleier löste sich vor seinen Augen, das heiße Blutrauschen kühlte sich ab und er dämpfte seinen rasenden Atem. Was war nur in ihn gefahren?! Das war doch nicht seine Art! Seine vor Kälte versteiften Fäuste lockerten sich wie von alleine. André wurde sich erst jetzt des eisigen Frosts gewahr, der erbarmungslos unter seine Kleider kroch und auf seiner Haut brannte. Und ihm wurde bewusst, was er beinahe getan hätte... Für seine Liebe hätte er fast seinen Freund getötet... Zögernd reichte André Alain die Hand. „Entschuldige...“, murmelte er frierend und klapperte fast mit den Zähnen. „...Ich liebe sie wirklich.“ Alain rappelte sich mit der dargebotenen Geste hoch, seine Atmung wurde immer besser und er klopfte den Schnee von seiner Uniform ab. Beinahe mitleidig schielte er zu André. „Du bist ein Narr, Kumpel! Diese Frau wird dein Verderben sein und ich will dich nur davor bewahren!“ „Das ehrt dich, Alain. Aber gegen die Liebe kann man nicht ankämpfen...“ André erwiderte ihm offen den Blick. „Dann wird sie wohl mein Verderben sein...“, sagte er und ging einfach an ihm vorbei, in Richtung der Baracke. „Und was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte Léon ratlos. „Wie können wir ihm nun helfen?“ „Ich glaube, ihm ist nicht mehr zu helfen...“, meinte Jérôme und Alain musste ihm insgeheim Recht geben. André war nicht mehr zu retten. Ein Herz konnte man nicht befehligen. Aber er konnte seinem Freund beistehen und ihn im Auge behalten. Und das nahm sich Alain fest vor. Notre Dame de Paris. Die Sonne ging am östlichen Horizont auf. Auf einem der Türme standen Oscar und André – sie sahen sich lange an. Er hatte ihr beim letzten Mal nicht gesagt, was sie ihm bedeutete... Aber nun würde er es tun! Er würde ihr die drei Worte sagen, die Alles und Nichts bedeuteten: „Ich liebe dich, Oscar“, sagte er und senkte seinen Mund über ihre Lippen... Doch Oscar zeigte keine Regung, als wäre sie nur eine Statue... Eine Statue, die sich urplötzlich in Luft auflöste... Mitten in der Nacht wurde Alain von einem seiner Kameraden rüde geweckt. „Steh auf! André geht es nicht gut! Er redet im Schlaf und ist glühend heiß!“ André hatte hohes Fieber, das sah Alain sofort, als er vor dem Bett stand. André lag schweißgebadet auf seiner Schlafstätte und glühte förmlich. Sein Kopf drehte sich immer wieder von einer Seite auf die andere und seine trockenen Lippen formten zwischendurch ein kaum hörbares: „Oscar... Nein, geh bitte nicht...! Oscar...!“ „Holt sofort Oberst Dagous, dann Tücher und Schnee!“, befahl Alain heiser und hockte sich vor das Bett seines Freundes. Schuldgefühle und Gewissensbisse stiegen in ihm hoch. „Halte durch, dir wird es gleich besser gehen!“, flüsterte er ihm zu, aber innerlich ahnte er bereits, wie trügerisch seine Worte waren und wie heimtückisch das Fieber sein konnte... Doch auch der Schnee, der in einem Holzeimer gebracht wurde, half nicht und Oberst Dagous ordnete an, André aus der Kaserne fort zu schaffen. „...sonst steckt er euch hier alle an!“, fügte er seine Begründung trocken hinzu. „Aber er braucht einen Arzt!“, protestierte Alain heftig. Der Oberst fixierte ihn mit verengten Augen. „Bring ihn fort! Meinetwegen kannst du zwei deiner Kameraden mitnehmen und dich um ihn kümmern! Aber bis Einbruch der Dunkelheit bist du morgen mit ihnen wieder hier, sonst braucht ihr drei gar nicht mehr kommen!“ Er wandte sich ab und verließ das Quartier. Alain knirschte mit den Zähnen. Der Oberst gehörte dem Adel an und war im Herzen genauso verkommen, wie der Rest Seinesgleichen. „...Oscar...“, ertönte erneut ein schwacher Laut aus dem Bett - das brachte Alain wieder zur Besinnung. Er vergaß den Oberst und schenkte seinem Freund die volle Aufmerksamkeit. „Jérôme, Léon, helft mir, ihn in seine Wohnung zu bringen!“, ordnete er auffordernd an und machte sich schon selbst an André zu schaffen. Die ganze Nacht hielt Alain über André Wache. Seine Mutter und seine Schwester kümmerten sich um ihn und taten alles, was in ihrer Macht stand. Aber es half nichts. Bei Morgengrauen verstärkte sich das Fieber. Der gerufene Arzt konnte auch nichts für ihn tun – zu wenig Geld, um dem Kranken noch zu helfen. „Was machen wir jetzt?“, wisperte Diane erschöpft, nachdem der Arzt gegangen war. „Reite nach Anwesen de Jarjayes und hole seine Großmutter hierher“, empfahl Madame de Soisson hoffnungslos. „André würde zwar ihr Geld und ihre Hilfe nicht wollen, aber sie ist die Einzige, die den Arzt bezahlen kann, um ihren Enkel vielleicht doch noch zu retten...“ Alain nickte zustimmend. Den Gedanken hatte er auch. Schleunigst befolgte er den Ratschlag seiner Mutter. Doch im tiefsten Winkel seines Herzens hoffte er, auf Oscar zu treffen und dass sie wirklich nicht so kaltherzig war, wie sie aussah. Wenn André ihr etwas bedeutete, dann würde sie kommen und mehr für ihn tun können, als alle anderen. Sie hatte mehr Möglichkeiten und war seine Freundin, wie André ihm stets stolz und überzeugt weiszumachen versuchte... Wenn jedoch dieses selbstgerechte Weib nichts unternehmen würde, dann würde er, Alain, sie zur Rechenschaft ziehen und sie büßen lassen – egal, ob er dadurch seine Prinzipien verwerfen müsste, um mit ihr zu kämpfen... André war ihm das allemal wert und das Einzige, was gerade noch zählte, war sein dahinscheidendes Leben... - - - Oscar war schon seit Tagen nicht mehr zu Hause gewesen. Sie musste in Versailles weiterhin die aufdringlichen Höflinge beschwichtigen. Dank ihrer Position als Kommandant machte sie kurzen Prozess mit ihnen und verwies sie gekonnt des Audienzsaales. Doch der Unmut wuchs und wuchs, da die Königin niemanden mehr empfing und lieber mit ihren Kindern im Lustschlösschen Trianon spielte. Das ständige Hin und Her zerrte an Oscars Kräften - und an ihren Nerven. Aber sie blieb eisern und behielt mit ihrer Garde die Oberhand. Als sich die Lage etwas entspannte, nahm sich Oscar einen Nachmittag frei, um auf dem Anwesen etwas zur Ruhe zu kommen. Erschöpft, aber frohen Gemüts ritt sie geschwind Heim. Das Fehlen ihres einstigen Kindermädchens bemerkte sie zunächst nicht. Sie ging, sich nichts dabei denkend, auf ihr Zimmer und wollte sich gerade ihrer Uniform entledigen, als es an der Tür zu ihrem Salon klopfte. Rosalie kam mit verweinten Augen in den Salon, die Hände vor der Brust gefaltet. „Lady Oscar...“, schniefte sie tränenerstickt. „Was ist passiert?!“ Oscar war sofort bei ihr und fasste sie umsorgt bei den Armen. „André... André liegt seit gestern Abend im Sterben... und seine Großmutter ist gerade bei ihm...“ „Was sagst du?!“ Oscar traf das völlig unvorbereitet, wie ein harter Schlag in die Magengrube. Die Welt hörte mit einem Mal auf, sich zu drehen. Ihre Füße dagegen setzten sich von alleine in Bewegung. Sie ließ die junge Frau einfach stehen, schnappte nach ihrem Mantel und hastete zurück zu ihrem Pferd in den Stall. Das gab es doch nicht! Nein, nicht André! Ihr Herz zerriss in unzählige Stücke und ihr Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Seit gestern Abend und niemand hatte sie darüber in Kenntnis gesetzt?! Warum?! Oscar hoffte, dass sie nicht zu spät käme und dass Rosalies Worte nur ein Irrtum wären... Die Hoffnung zerplatzte, als sie in seine Wohnung gelassen wurde. Alain, der die Tür öffnete, war sichtlich erstaunt von ihrer Erscheinung. Oscar beachtete ihn nicht. Sie stürmte wie besessen in Andrés Schlafkammer. Sophie, die an dem Bett ihres Enkels saß und hemmungslos schluchzte, fuhr erschrocken hoch. „Lady Oscar...“ Doch auch sie wurde von Oscar außer Acht gelassen. In dem Raum befanden sich noch weitere Personen: Zwei Soldaten, Diane mit ihrer Mutter und ein Arzt. Im Halbkreis standen sie um das Bett und blickten erschrocken auf den Neuankömmling. Oscar würdigte keinen von ihnen eines Blickes. Ihre Füße kamen neben Sophie zum Stehen und ihr Herz rutschte immer tiefer in ein Loch. Ihre Aufmerksamkeit galt alleine ihrem Freund. Sein Anblick versetzte sie in Schreckensstarre: André lag, in ein schlichtes Hemd gekleidet, unter einer dünnen Decke – er war schweißgebadet, glühend heiß und zeigte kaum noch Lebenszeichen. Ein Eimer mit angetautem Schnee stand neben seinem Bett und ein feuchtes Tuch bedeckte seine Stirn. „Was hat er?! Was ist mit ihm?!“, verlangte Oscar mit belegter Stimme zu wissen und schluckte einen dicken Kloß herunter. „Er hat hohes Fieber“, erklärte der Arzt gefühlslos. „Es gibt nichts mehr, was wir für ihn tun können.“ Oscar warf ihm einen messerscharfen Blick. „Habt Ihr denn überhaupt etwas für ihn getan, außer hier zu stehen und zuzusehen, wie er dahinscheidet?!“ Es war nicht zu übersehen, dass sie in Rage geriet. „Was erlaubt Ihr Euch?!“, konterte der Arzt empört und verlor die Fassung: „Das Fieber wütet schon seit gestern Abend in ihm und ist nicht mehr heilbar! Zudem fehlt mir das Geld für die richtigen Mittel, um ihn besser behandeln zu können!“ „Und deswegen lasst Ihr ihn sterben?!“, donnerte Oscar außer sich vor Wut und umfasste den Griff ihres Degens. Aber sie zog ihn nicht aus der Schafft. „Wenn Euch Geld wichtiger ist als ein Menschenleben, dann seid Ihr kein richtiger Arzt, sondern ein niederträchtiger Hochstapler!“ „Untersteht Euch!“, empörte sich der Arzt schnaubend, aber Oscar ließ ihn sich nicht weiter rechtfertigen. „Schert Euch hinaus, sonst stelle ich Euch vor Gericht!“, fauchte sie aufgebracht und entblößte provokant ein Stück des kalten Metalls an ihrer Seite. „Wie Ihr wollt. Aber das ändert nichts daran, dass er schon so gut wie tot ist!“, blaffte der Arzt verächtlich und verließ überstürzt die Wohnung. Oscar schob ihren Degen zurück in den Schafft und sah wieder zu ihrem Freund. Der lodernde Zorn auf diesen habgierigen Arzt verwandelte sich in Hilflosigkeit. Nein, André würde nicht sterben! Das würde sie nicht zulassen! „Ich habe schon geahnt, dass der Arzt ein Betrüger ist“, hörte sie jemanden hinter sich sagen und so sah sie sich um. Der bester Freund Andrés, der mit dem roten Halstuch, stand direkt hinter ihr. Auch in seiner Miene sah sie Angst. „Warum hat mich niemand davon informiert, dass André so schlimm erkrankt ist?!“ Nun musste Alain in ihrer Weißglut dran glauben. „Ihr wart in Versailles und dort wollte mich niemand reinlassen oder Euch eine Nachricht überbringen!“ Alain hielt ihrem Blick stand und schob streng seine Brauen zusammen. Dieser Person würde er offen seine Meinung sagen, egal ob sie ausrasten würde oder nicht. Oscar dagegen sah ihn verwundert an. „Das habe ich nicht gewusst...“, sagte sie in wesentlich milderem Tonfall. Für Diskussionen dieser Art war allerdings nicht der richtige Zeitpunkt. Es musste schnell etwas getan werden, um André zu retten! Oscar verzog ernst ihr Gesicht. „Wir müssen André zu mir auf das Anwesen de Jarjayes bringen und unseren Familienarzt holen! Die Kosten für alles übernehme ich! Ich lasse nicht zu, dass er stirbt! Niemals!“ Kapitel 20: Bitte lebe ---------------------- „Lieber Gott, ich bete um das Leben von André... Ich...“ Oscar stockte mitten in ihren Gedanken. André wurde gerade von Doktor Lasonne untersucht und das besorgniserregende Schniefen von Sophie ließ sie nicht lange in ihrem stummen Gebet verweilen. Auch der hartgesottene Blick von Alain, der zwischen ihr und André wechselte, bescherte ihr ein unbehagliches Gefühl. Nur die zwei Kameraden zeigten keine Regung in ihren steifen Mienen. „Hat er im Fieberwahn schon gesprochen?“, hörte sie den Arzt fragen und schenkte ihm ihre Aufmerksamkeit. „Nicht dass ich wüsste...“, meinte Oscar, noch immer nicht ganz aus ihrem Gebet in die Wirklichkeit zurückgekehrt. „Wieso fragt Ihr?“ „Nun...“, erklärte Doktor Lasonne, als er mit seiner Untersuchung fertig wurde und seine Utensilien einpackte: „Im Fieberwahn redet man über Sachen, die einem sehr wichtig sind. Wenn man diese Sachen beschafft, dann könnte es dem Kranken auf dem Weg der Besserung helfen – und vielleicht sogar seinen Lebenswillen bestärken.“ „Also, André hat schon heute Nacht im Fieber gesprochen...“, setzte einer der Söldner an, mit einem flüchtigen Blick auf Oscar. Doch er wurde sogleich von Alain am Weiterreden gehindert: „Wir haben aber nicht verstanden, was er gesprochen hat!“ „Alain...“ Der Söldner sah verständnislos zu ihm und Alain schnitt ihm erneut das Wort ab: „André hat etwas Unverständliches von sich gegeben, Léon. Ich muss es ja wissen, denn ich habe näher an seinem Bett gestanden, als ihr!“ „Du hast schon recht.“ Jérôme stupste seinen Bruder unauffällig in die Seite und gab ihm damit zu verstehen, dass Alain schon seine Gründe haben würde, dass er log. „Wir müssen in die Kaserne zurück.“ Mit einem letzten Blick auf André verabschiedete er sich von allen und verließ das Zimmer. „Die Pflicht ruft.“ Alain setzte seine Mütze auf, bedachte Oscar mit einem distanzierten Nicken und folgte Jérôme. „Er hat nach Euch gerufen...“, murmelte Léon beim Vorbeigehen an Oscar - so leise, dass sie Mühe hatte, ihn zu verstehen. Rosalie geleitete die drei hinaus und Oscar starrte die zugegangene Tür perplex an. André hatte also im Fieberwahn von ihr gesprochen! Warum hatte dann aber Alain gelogen? Was wollte er damit bewirken? Wie dem auch sei... Wenn ihre Anwesenheit André helfen würde, wieder auf die Beine zu kommen, dann würde sie ihm seinen Wunsch erfüllen – auch wenn das bedeutete, dass sie ihre Pflichten im Garderegiment vernachlässigen musste. André musste Leben! Er durfte nicht sterben! Er durfte sie nicht alleine Lassen - das war im Moment das wichtigste für sie... Drei weitere Tage verstrichen, ohne dass André erwachte. Zumindest nicht vor ihren Augen, beziehungsweise bei ihrer Anwesenheit. Der Familienarzt der de Jarjayes kam zwei Mal am Tag und kümmerte sich um den Kranken. Wenigstens sank das Fieber und André drohte daher keine Lebensgefahr mehr. Oscar hatte von Anfang an veranlasst, dass er in einem hellen Gästezimmer untergebracht wurde. Und jeden Tag beeilte sie sich, um schon nachmittags zu Hause sein zu können. Aber nicht heute: Es schneite und sie schickte einen Boten nach Versailles, dass sie erkältet sei und ihr Untergebener Graf de Girodel die Befehlsgewalt übernehmen sollte. Zwar stimmte das nicht, aber sie wollte mehr Zeit bei ihrem Freund wachen. Ihre militärischen Pflichten könnten ein einziges Mal warten. Wenn etwas vorfallen sollte, würde Girodel ihr schon einen Boten schicken. Es war ein Vorteil, Kommandant der königlichen Garde zu sein, und diesen Vorzug nutzte sie diesmal. Oscar blickte aus dem Fenster. Draußen fielen dicke und weiche Schneeflocken wie weiße Federn langsam auf den milchweißen Erdboden. Die allgegenwärtige Umgebung, die schwarzen Bäume, die Dächer der Häuser und die ganze Landschaft verwandelten sie in eine märchenhafte Gestalt. Oscar konnte sich daran aber nicht erfreuen. Sie kehrte dem Fenster den Rücken und sah sich im Gästezimmer um. Doktor Lasonne verstaute gerade wieder seine Utensilien in seinem breiten Arztkoffer. „Ich werde heute Abend noch einmal vorbeikommen“, versprach er. Sophie geleitete ihn hinaus. „Aber wenn das Wetter nicht besser wird, müsst Ihr Euch nicht hier her bemühen. Meinem Enkel geht es doch schon wesentlich besser, habt Ihr selbst gesagt. Er braucht sich ausruhen...“ „Nun...“ Doktor Lasonne blieb noch einmal kurz an der Tür stehen. Er sah dabei zum Fenster und lächelte. „Ich werde heute Abend trotzdem vorbeikommen.“ Oscar verstand, doch sie blieb undurchschaubar und nickte ihm steif zu. „Ich danke Euch. Aber wenn heute Abend ein Schneesturm aufkommt, dann bleibt bitte zu Hause. Kommt lieber, wenn es sich gelegt hat und passt gut auf Euch auf.“ „Das werde ich mit Sicherheit machen, Lady Oscar.“ Doktor Lasonne verabschiedete sich von ihr mit einem Gruß und ging in Begleitung von Sophie aus dem Zimmer. Oscar kam langsam auf das Bett zu, während Rosalie noch die dagelassenen Phiolen Medizin auf der kleinen Kommode ordnete. „Ich hoffe sehr, dass er bald wieder aufwacht... und dass wir es bemerken...“, schniefte sie verhallend. „Das wird er...“, sagte Oscar überzeugt und sah die junge Frau neben sich von der Seite an. „Könntest du mir bitte einen Tee bereiten, Rosalie?“ „Aber natürlich, Lady Oscar.“ Rosalie knickste flüchtig und war dann gleich auch aus dem Zimmer fort. Als Oscar alleine war, nahm sie einen Stuhl und setzte sich an das Kopfende des Bettes. André lag reglos, als würde er nur schlafen. Sein Brustkorb hob und senkte sich kaum merklich. Bei seiner Betrachtung schnürte sich Oscars Kehle wieder zu und ihre Augen schimmerten glasig. Sie rang gekonnt ihre Tränen hinunter und gab ihnen keine Möglichkeit, auszubrechen. Tausende Gedanken schossen ihr durch den Kopf und alle galten ihrem Freund. Momente aus ihrer gemeinsamen Zeit geisterten vor ihrem inneren Auge und sie wünschte sich diese Zeit von ganzem Herzen zurück. Es drängte sich ihr die Erinnerung an diesen Sommer ins Bewusstsein, als sie mit ihm barfuß am See gefochten hatte. Oder dieser warme, aber missglückte Tag, als er ihren verletzten Fußknöchel behandelt hatte... Und der Sonnenaufgang auf einem der Türme von Notre Dame, als er ihr Paris zu Füßen gelegt hatte... Das waren die glücklichsten Momente in ihrem Leben... Ein Leben, das nur aus Pflichten bestand, die sie ihrer mannhaften Erziehung zu verdanken hatte... „Was soll ich ohne dich tun?“, fragte ihn Oscar gedanklich und unwillkürlich erinnerte sie sich an ihr bisheriges Leben ohne ihn. Es kam ihr unwirklich und absurd vor. Oscar hob vorsichtig ihre Hand und legte sie ihm hauchfein auf den Brustkorb. Unter ihren Fingern, spürte sie den Wollstoff der Decke und unter seinem Hemd den mit straffen Muskeln bespannten Brustkorb. Sein rhythmischer Herzschlag ließ sie lautlos aufatmen. „Du musst leben...“, hauchte sie und erneut musste sie einen Kloß herunter rügen. Ohne ihn kam ihr ihr Leben sinnlos und leer vor, wie eine Ödnis. „Lass mich nicht allein...“, bat sie. „Ich weiß doch gar nicht mehr, wie ich ohne dich weiter leben soll... Du hast mein Leben verändert und mir beigebracht, wie man frei und unbeschwert sein kann... Wenn ich dir nicht begegnet wäre, dann hätte ich nie erfahren, wie man richtig lebt... Dank dir fühle ich mich wie ein Mensch und nicht mehr nur wie eine Zierpuppe... Bei dir kann ich so sein, wie ich wirklich bin. Du stellst mich niemals in Frage... Du bist meine Freude, mein Leben...“ Oscar zog hastig ihre Hand zurück, stellte ihre Ellenbogen auf die Bettkante und vergrub den Kopf in ihren Händen. Was redete sie denn da?! So, als würde André schon tot sein! Sie erkannte sich selbst kaum! Und dennoch musste sie sich eingestehen, dass André ihr sehr wichtig war! Draußen, außerhalb des Zimmers, entstand ein kleiner Tumult. Oscar hob schlagartig den Kopf, schob ihre Empfindungen beiseite und sah alarmiert zur Tür. Sie hörte die verärgerte Stimme von Sophie und die Stimme eines Mannes. Es schien, als würde Sophie den Mann fortjagen wollen. Also war es ein unerwünschter Besucher. Oscar glaubte die tiefe Stimme zu kennen und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie musste einfach erfahren, was da los war! Sie straffte ihre Schultern und verließ Andrés Krankenzimmer. Im langen Gang hörte sie die zwei Stimmen deutlicher und in der Empfangshalle bestätigte sich ihre Vorahnung. „...was ist schon dabei, wenn ich meinen Freund besuchen will?!“, brummte Alain unnachgiebig und krauste die Stirn. „Was dabei ist?!“, schimpfte Sophie aufbrausend: „Du bist eine schlechte Gesellschaft für meinen Enkel! Ich habe das immer schon gewusst, dass du ihm nichts weiter als Schwierigkeiten bringst!“ Das saß bei Alain. Das ließ er sich nicht gefallen! Sein gekränkter Stolz schrie danach, es diesem Feuerdrachen heimzuzahlen! „Und Ihr?! Tut nicht so, als würde Euch André wichtig sein! Ich weiß genau, dass Euch Euer Schützling von jeher stets wichtiger war, als er! Er war Euch gleichgültig! Jedes Mal, wenn Ihr bei ihm und seinen Eltern zu Besuch wart, ging es nur um Lady Oscar! André habt Ihr ignoriert! Außer Euren Schimpftiraden und Eurem Tadel habt Ihr nie etwas für ihn übrig! Kein Wunder, dass er vor Euch immer wegrannte!“ „HINAUS!!!“ Sophie brüllte! Ihr rundes Gesicht lief purpur an und sie schüttelte drohend ihre kleine Fäuste, als würde sie den wesentlich größeren und bärenstarken Mann vor sich damit einschüchtern wollen. „Genug!“ In dem Moment schritt Oscar ein. „Aufhören, alle beide!“, beschied sie in herrischem Ton und stellte sich an die Seite von Sophie. Sie sah zwischen den beiden Kontrahenten hin und her. „Ich dulde hier keine Streitigkeiten! Nicht wegen mir! Und erst recht nicht unter solchen Umständen!“ Oscar bemerkte nicht, dass sie selbst immer aufgebrachter wurde. „Alain, achte auf deine Worte, sonst werde ich dich fordern müssen! Degen oder Pistole, ist mir gleich!“ Selbst die Förmlichkeiten entfielen ihr, ohne dass sie das überhaupt zur Kenntnis nahm. An ihr einstiges Kindermädchen gewandt, fuhr sie fort: „Und Sophie: Wenn Alain seinen Freund besuchen möchte, dann ist ihm das jederzeit gestattet!“ „Aber, Lady Oscar...“, setzte Sophie zu einem Protest an. Doch sie verstummte sofort wieder, als sie den gereizten Blick ihres Schützlings direkt auf sich spürte. Zur Bestätigung funkelten Oscars Augen bitterböse und sie glaubte darin ein nahendes Gewitter zu sehen. In diesem Zustand war es nicht ratsam, mit ihrem Schützling zu diskutieren. Es würde ohnehin nichts bringen... Alain starrte ganz baff zu Oscar. Sie verblüffte ihn erneut – ähnlich wie vor wenigen Tagen, als sie den betrügerischen Arzt aus Andrés Wohnung geworfen hatte und sich entschloss, für die Genesung ihres Freundes selbst aufzukommen und alles dafür zu tun, sein Leben zu retten. Das hatte nicht nur ihn, Alain, sondern auch die Brüder Jérôme und Léon beeindruckt. Die beiden sprachen noch heute in der Kaserne über ihren Auftritt und hofften, dass sie André würde helfen können. Während Alain in Gedanken darüber nachdachte, unterzog er nebenbei die Gestalt Oscars einer Musterung: Er sah sie zum ersten Mal nur in Hemd, Weste und Hose. Der eckige Ausschnitt ihres Hemdes endete gerade so am Brustknochen und verriet praktisch nichts. Sie schien zierlicher zu sein, als es die kompakte Uniform stets vermittelte. Langsam verstand er André immer mehr. Diese Frau war ein Geheimnis für sich und verübte daher, selbst auf ihn, einen gewissen Reiz. Aber sich in sie rettungslos zu verlieben, würde Alain nie einfallen. Dafür war sie einfach zu herrisch und zu stolz. Er räusperte sich in die Faust, um seine Fassung wieder zu finden. „Ich kämpfe grundsätzlich nicht gegen Frauen“, erwiderte er rau. Es war ein genugtuender Triumph über die alte Großmutter von André, weil sie ihn nun nicht mehr raus werfen konnte. „Deine Entscheidung. Aber ich kann genauso gut kämpfen, wie ein Mann.“ Oscar verzog eine schiefe Grimasse. Sie hatte noch eine Rechnung mit diesem Mann offen und würde sich deshalb durchsetzen wissen. Nur nicht jetzt... „Das ändert aber trotzdem nichts an der Tatsache, dass Ihr eine Frau seid, Kommandant.“ Alain grinste hinterlistig. Diese Frau war unnachgiebig, aber auch er besaß seinen Stolz und würde vor ihr in keinster Weise beigeben, egal wie hoch ihr Rang war. „Und ich bin heute eigentlich nur gekommen, um meinen Freund zu besuchen.“ Der zweite Satz ermutigte Oscar in ihrer Hoffnung, dass er es irgendwann doch noch tun würde. „Wie du willst“, sagte sie ausdruckslos und ging ihm vor. „Folge mir.“ „Hmpf!“, machte Alain und holte sie mit einigen großen Schritten ein. Er lief ihr nicht nach, wie es üblicherweise angemessen gewesen wäre, sondern stolzierte in voller Größe neben ihr. Oscar schielte achtsam in seine Richtung, sagte aber nichts. Ihr einstiges Kindermädchen dagegen schon. „Unverschämter Lümmel! Kein Funke Anstand!“, brummte sie unter ihrer Nase und folgte den beiden auf Schritt und Tritt. Sie würde Alain keinen Augenblick mit Lady Oscar alleine lassen! Sie erreichten zu dritt das Gästezimmer und Sophie öffnete die Tür. Wenigstens hier bewies Alain Anstand und ließ Oscar den Vortritt. Allerdings mit einem diabolischen Grinsen und ganz bestimmt mit irgendwelchen Hintergedanken, die nur er wusste. „Sophie.“ Oscar blieb bei Andrés Großmutter plötzlich stehen. „Würdest du bitte unseren Gast einen Tee machen.“ „Wie bitte?!“ Das war für Sophie zu viel der Güte. Sie hielt es nicht mehr aus. „Aber Lady Oscar!“, protestierte sie heftig. „Ihr wollt doch nicht etwa diesen Unhold auch noch beköstigen?!“ Oscar spürte förmlich Sophies Abneigung gegen Alain und verstand das nicht. Nun gut, der Mann hatte etwas Derbes und Unverhohlenes an sich, aber das hieß noch lange nicht, dass er deswegen ein schlechter Mensch war. Zumal André ihr schon oft über ihn erzählt hatte und was sie gemeinsam alles durchgestanden hatten. Das war eben eine Freundschaft zwischen zwei Menschen, die von klein auf zusammen wuchs. Das hätte sich Oscar selbst sehnlichst gewünscht. Wie sollte sie daher Alain den Zutritt zu André verwehren?! Sie wandte sich an Sophie. „Wenn du nicht willst, dann mache ich es selbst.“ Sie lächelte die verdutzte Haushälterin an und ging einfach in Richtung Küche. „Aber, Lady Oscar!“, rief ihr Sophie empört nach, schürzte ihre Röcke und holte sie ein. „Wartet doch! Das könnt Ihr nicht tun!“ „Aber natürlich kann ich das.“ Oscar blieb weder stehen, noch hörte sie auf die alte Frau. Alain sah kopfschüttelnd den beiden Frauen nach und marschierte dann breitbeinig in das Gästezimmer, als wäre es sein eigenes. Sofort schlug ihm eine wohltuende Wärme entgegen. Im Kamin gegenüber des Bettes prasselte ein Feuer, wie er es schon lange nicht mehr gesehen hatte. Alain warf seinen dicken Filzmantel und die Uniformjacke auf den Stuhl, auf dem Oscar vorhin noch gesessen hatte und fühlte sich behaglich. Seine durchgefrorenen Finger tauten auf und auch seine steifen Glieder entspannten sich. Er lehnte sich zurück und machte es sich bequem, verschränkte seine Arme hinter den Kopf und überkreuzte die Beine. Sein Blick ruhte auf seinem Freund, der noch immer schlief. „Tja, Kumpel, nun bin ich wieder hier...“, hielt er in Gedanken eine stumme Rede: „Ich muss sagen, dein eiskalter Kommandant scheint zu schmelzen... So gesehen, wirken ihre Körperformen gar nicht übel, ohne Uniform... Aber sie ist bestimmt genauso flach, wie sie aussieht... Und ich muss zugeben, sie mag dich...“ Alain lachte und setzte sich auf. „Hey, André!“ Er beugte seinen Oberkörper etwas vor und legte seinem Freund eine Hand auf den Oberarm. „Ich hörte, du bist über alle Berge! Also wach bald auf, sonst darfst du nicht mehr in die Kaserne zurückkehren. Ich will ehrlich sein: Unser Oberst hat mich hierher geschickt, um dir das mitzuteilen. Er gab die Anordnung, dass, wenn du nicht bis zum morgigen Tag zurückkommst, dann bist du deines Dienstes als Söldner suspendiert...“ - - - „Ich verstehe Euch nicht, Lady Oscar!“, zeterte Sophie immer wieder, als ihr Schützling in der Küche sein Vorhaben in die Tat umgesetzt hatte und Rosalie nun auch für den Gast Tee zubereitete. „Wie könnt Ihr diesen Mann als Gast behandeln! Er bringt nichts Gutes mit sich!“ „Alain ist eigentlich ein sehr netter Mensch...“, äußerte Rosalie beiläufig und belud derweilen ein Tablett mit Geschirr und Besteck. „Er hat mir, zusammen mit André, so viel geholfen, als ich noch in Paris lebte...“ Sophie gab kein Deut auf das Gesagte und winkte nur verärgert ab. „Das täuscht, Kindchen. Ich kenne Alain länger als du und weiß, wovon ich rede! Er hat meinen Enkel in schlimmste Sachen hineingezogen! Diese ständigen und sinnlosen Schlägereien...“ Oscar holte eine Erinnerung aus längst vergessenen Tagen ihrer Jugend ein. Sie schmunzelte und kam auf die alte Frau zu. „Ach, Sophie...“ Beruhigend legte sie ihr die Hände auf die rundlichen Schultern. „Damals waren sie doch noch Kinder und kleine Rangeleien sind in diesem Alter normal...“ Das hatte ihr André einstmals erklärt, aber das behielt sie für sich. Sonst würde sich Sophie noch mehr aufregen. „Keine Sorge, ich kümmere mich schon darum, dass Alain keinen Ärger in unserem Hause macht.“ „Lady Oscar, der Tee ist fertig“, teilte Rosalie ihr aus dem Hintergrund mit und Oscar schenkte Sophie ein Lächeln. „Es wird schon alles gut gehen. Komm, wir sollten Alain lieber nicht länger mit André alleine lassen. Oder was meinst du?“ „Ihr habt Recht, Lady Oscar...“ Sophie schien sich etwas beruhigt zu haben. „Aber ich würde gerne hier bleiben und das Mittagessen zubereiten, anstatt...“ „Schon gut, Sophie, ich habe dich verstanden.“ Oscar ließ sie nicht zu Ende aussprechen. Sie wollte nicht, dass Sophie sich erneut aufregte und noch mehr mit Alain aneinander womöglich geriet. „Rosalie, komm“, sagte sie zu der jungen Frau am Tisch und verließ mit ihr dann die Küche. Kapitel 21: Erwachen -------------------- André träumte in seinem Unterbewusstsein von einem heißen Tag im Sommer: Er rannte mit Oscar barfuss um die Wette. Sie lachte und stolperte. Er bekam sie zu fassen und fiel mit ihr in das sanfte Gras. Oscar sah ihn mit glänzenden Augen an und reckte ihren schlanken Hals kaum merklich zu ihm. Er ließ sich davon berauschen, denn im Traum war alles möglich und man brauchte nicht über die Folgen davon zu denken. Er senkte seinen Mund über ihre Lippen und küsste sie. Oscar erwiderte ihm den Kuss und dann löste sich der Traum im Nichts auf... André erwachte – quälend langsam, aber er erwachte. Das war nicht das erste Mal, dass er wach geworden war, aber diesmal war etwas anders: Er befand sich nicht alleine in dem hellen und mit Blumenmuster tapeziertem Zimmer, wie gestern oder vorgestern... Er hörte leise Stimmen – hohe und tiefe. Und er glaubte sie zu erkennen: Alain, Rosalie und Oscar. Oscar? War sie etwa tatsächlich bei ihm? Und wie war das möglich, dass Oscar und Alain sich ruhig, im Flüsterton unterhielten? Oder hatte er Hirngespinste? Aber höchstwahrscheinlich führten sie sich nur in Rosalies Gegenwart so auf. Es sähe Oscar nicht ähnlich, wenn sie sich jetzt mit Alain auseinandersetzen würde. Auch Alain würde sich sicherlich als Gast zu benehmen wissen – obwohl ihm so etwas am wenigsten scherte... André öffnete mühsam seine schweren Augenlider. Sein Kopf dröhnte, seine Kehle fühlte sich ausgetrocknet an und seine Sicht war noch etwas verschleiert. „Lady Oscar, schaut!“, hörte er den überraschten Ausruf Rosalies: „André ist erwacht!“ „Rosalie, hole seine Großmutter!“, vernahm er wieder Oscars Stimme und dann sah er sie. Ihre himmelblauen Augen und ihre Lippen, die sich zu einem Lächeln formten. „Gott sei Dank!“ Sie beugte sich zu ihm vor und die weichen Spitzen ihres goldblonden Haares kitzelten ihn an der Wange. Wobei, kitzeln war nicht ganz richtig. Samtweich streiften sie seine Haut und seine Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. Und ihre Stimme verriet eindeutig die Besorgnis um ihn: „Wie fühlst du dich? Hast du ein Wunsch? André, sag doch etwas!“ Wie gern hätte André ihr Haar berührt oder mit seinen Fingern über ihre Wange gestrichen, aber das wagte er nicht. Zum einen war er noch geschwächt und zum anderen, würde seine Geste bestimmt missverstanden werden. Wie ein Engel stand sie über ihm und er verlor sich buchstäblich in ihrem Anblick. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, aber es kam nur ein Krächzen heraus: „Oscar...“ Mehr brachte er nicht zu Stande. „Ja, ich bin hier, bei dir.“ Oscars Augen schimmerten vor Freude. Oder wollte sie etwa weinen? Doch nicht die tapfere und mutige Oscar?! „Alain ist auch hier.“ Ihr feines Antlitz verschwand aus seiner Sicht und gleich darauf tauchte in der Tat das hagere Gesicht seines Freundes auf. „Alain...“, brachte er auch dessen Name krächzend hervor. „Oh, Mann, du kannst aber schlafen!“, scherzte dieser auf seine eigene Weise, aber in seinen dunklen Augen lag dieselbe Freude und Erleichterung wie zuvor bei Oscar. „Schon seit Tagen spannst du uns hier auf die Folter!“ „Was?“ André war augenblicklich fassungslos. So lange war er schon weggetreten? Nun gut, er war mal zwischendurch wach, aber das schienen nur kurze Momente gewesen zu sein... „Du hast schon richtig gehört!“, redete Alain, als wäre er nicht unterbrochen worden: „Du hast uns mit deinem Fieber einen mächtigen Schrecken eingejagt, mein Freund! Du bist auf dem Anwesen de Jarjayes. Kommandant Oscar hat das veranlasst und den besten Arzt geholt. Das hat dich gerettet und nun bist du über den Berg!“ Was allerdings Alains persönliche Konfrontationen mit Oscar anging, hatte er stillschweigend ein kleines Abkommen mit ihr geschlossen – vorübergehend, bis die Lage um seinen Freund sich gebessert hatte. Oscar betraf das Gleiche: Sie duldete ihn nur hier, bis zu Andrés vollständiger Genesung. Obwohl ihm nicht gerade danach war, musste André schmunzeln. Egal wie grau der Tag war, Alain fand immer aufheiternde und passende Worte. Nur mit knappen Sätzen erklärte er ihm die ganze Lage. André musste das noch alles verarbeiten. Der Verdacht, dass er nicht in seiner Wohnung war, kam ihm schon gleich bei seinem ersten Erwachen am vorgestrigen Tag. Denn dieses Zimmer war zu hell und räumlicher, obwohl er im Moment nur ein kleines Stück davon erspähen konnte. Allen Schmerzen zum Trotz, versuchte er sich mit Hilfe seiner Ellbogen hochzuziehen und aufzusetzen. „Du musst doch noch liegen bleiben!“, ermahnte ihn Alain, aber half ihm beim Aufsitzen. „Danke.“ André fand langsam seine Stimme wieder. Das erste, wonach seine Augen suchten, war Oscar. Die Ausstattung des Zimmers war ihm unwichtig. Sie stand hinter Alain am Fenster. „Hast du Hunger? Willst du etwas trinken?“, fragte sie ihn, als sein Blick sie fand. André schüttelte verneinend den Kopf, woraufhin ihm gleich etwas schwirrend wurde. Seine Kehle kratzte. „Vielleicht einen Schluck Wasser...“, entschied er sich doch noch anders. Er verspürte in der Tat weder Hunger, noch Appetit. „Ich werde das gleich veranlassen.“ Oscar marschierte sofort hinaus. Sie konnte nicht mehr in diesem Zimmer verweilen. Seit André seine Augen geöffnet hatte, beschleunigte ihr Herz seinen Schlag und das Blut rauschte erhitzt durch ihre Adern. Sein Blick hatte sich tief in sie hineingebohrt und ihre Gefühle wieder durcheinander gebracht. Oscar lehnte sich an die Tür, um ihre Fassung wieder zu finden. Sie atmete tief ein und aus. Ihr Herz beruhigte sich nun langsam wieder. Also konnte sie ihren Weg fortsetzen, ohne dass jemand merkte, was in ihr vorging. „Ich denke, du hast bei ihr gute Chancen“, flüsterte Alain verschwörerisch, nachdem Oscar aus dem Zimmer war. André krauste unverständlich seine Stirn und Alain rückte näher zu ihm heran, um es ihm besser erklären zu können. „Du hättest sehen müssen, wie sie den Geizhals von Arzt aus deiner Wohnung verjagt hat! Mir war bisher nicht klar, was du ihr bedeutest, aber an dem Tag hat sie mir die Augen geöffnet. Ihre Sorge um dich und ihr Verhalten haben alles gesagt.“ Alain lachte wieder, als Andrés Augen immer größer wurden. Beherzt legte er ihm die Hand auf die Schulter. „Tja, Kumpel, ich kann zwar deine Gefühle zu ihr nicht teilen, aber auf gewisse Weise kann ich dich schon verstehen.“ André nickte kaum merklich. Das was Alain ihm offenbarte klang unwirklich, aber er glaubte ihm trotzdem. Alain würde ihn nie belügen, warum sollte er es ausgerechnet jetzt tun? André fühlte sich leichter, obwohl das Ziel noch kein Stückchen näher war. Oscar würde sicherlich noch mehr Zeit brauchen und die würde er ihr zugestehen. Er wollte doch, dass sie den sogenannten ersten Schritt machte und von alleine zu ihm kam. „Was macht eigentlich dein Hals?“ André wollte nicht weiter darüber grübeln, es bereitete ihm nur noch mehr Seelenleid. „Mache dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.“ Alain winkte ab und senkte auf einmal seine Stimme. „Es gibt noch etwas, das du wissen musst.“ André wurde stutzig und hellhörig. „Was?“ Alain wurde ernster und sein Ton rauer. „Es ist wegen deinem Dienst in der Kaserne...“ Er erzählte seinem Freund, was der Oberst ihm diesbezüglich aufgetragen hatte und André musste sich schnell entscheiden: Entweder würde er schon heute mit Alain in die Kaserne zurückkehren, um seinen Dienst zu behalten... Oder er würde noch bei Oscar bleiben, um vollständig zu genesen und womöglich gar ihr Herz für sich gewinnen zu können... Oscar betrat gemäßigten Schrittes die Küche. Rosalie und Sophie beluden geschäftig ein Tablett mit verschiedenen Genüssen: In einer Schale lag zugeschnittenes Brot und auf einer Platte Scheiben von Käse und geräuchertem Schinken. Oscar musste schmunzeln. Wenn es darum ging, ihr einen Gefallen zu tun, dann übertrieb Sophie es immer. Oder sollte es ihrem einstigen Kindermädchen gerade wirklich um das Wohlergehen von André gehen? Oscar glaubte, dass dem so war und sie räusperte sich in die Faust. „Ach ja, Sophie, André möchte noch ein Glas Wasser.“ „Das wird sofort erledigt, Lady Oscar.“ Für ihr Alter war es bemerkenswert, wie flink Sophie alles erledigte und dann eilig mit dem beladenen Tablett die Küche verließ. „Soll ich nicht lieber einen Tee für André zubereiten?“, empfahl Rosalie mit etwas Verspätung, offensichtlich genauso über das Verhalten von Sophie überrascht wie Oscar. „Ich denke, das wird ihm besser schmecken als ein Glas Wasser...“ „Da könntest du recht haben, Rosalie...“ Oscar nahm auf einem Stuhl Platz und beobachtete Rosalie, wie diese sogleich den Tee für André zubereitete. „Ich glaube, Sophie hat sich deshalb so beeilt, weil sie ihren Enkel nicht mit Alain alleine lassen will.“ „Denkt Ihr?“ Rosalie holte eine Tasse, einen Unterteller und einen Teelöffel und stellte alles auf ein kleines, rundes Tablett zusammen. „Hmm...“, überlegte sie bei ihrer Tätigkeit laut: „Ihr habt womöglich recht, Lady Oscar. Sophie scheint Alain wirklich nicht zu mögen.“ „Weißt du zufälligerweise warum?“ „Nein, Lady Oscar.“ Rosalie nahm den warmen Tee von der Feuerstelle und goss ihn in ein Kännchen, das sie auch auf dem Tablett plazierte. „So, der Tee für André ist auch fertig.“ Oscar erhob sich vom Stuhl und lächelte schief. „Dann lass uns schnell zu ihnen gehen, bevor sie sich womöglich noch in den Haaren liegen.“ „Ja, Lady Oscar, lasst uns lieber gehen.“ Rosalie kicherte leise bei der Vorstellung, nahm das Tablett und ging neben Oscar einher. Je näher sie dem Gästezimmer kamen, desto mehr hörten sie aufgebrachte Stimmen - vor allem von Sophie. Wissend tauschte Oscar mit Rosalie einen Blick und kam nicht umhin zu schmunzeln. Sie öffnete für Rosalie die Tür und ließ ihr den Vortritt. Das Bild, das sich ihnen bot, bewog alle beide dazu gleich an der Türschwelle stehen zu bleiben und Wurzeln zu schlagen: André lag nicht mehr in seinem Bett! Er hatte bereits seine Hose und seine Stiefel angezogen und stopfte den Saum seines Hemdes in die Hose. Der tief laufende Ausschnitt entblößte seine Brust fast bis zum Bauchnabel, aber das schien ihn nicht zu stören. Seine Großmutter stand, mit in die Seiten gestemmten Fäusten vor ihm und Alain neben ihm. Wenn nicht die heftige Diskussion wäre, die die drei gerade miteinander ausfochten, wäre Oscar vielleicht seinem Anblick verfallen. Aber so konnte sie kaum fassen, was sie mit anhören musste. Auch Rosalie stand mit einem unfassbar dreinblickenden Gesichtsausdruck völlig erstarrt neben ihr. „Das wirst du nicht tun!“ Sophie baute sich noch mehr auf, als wolle sie ihrem Enkel den Weg versperren. „Du bist noch nicht gesund!“ „Ich muss es tun, Großmutter, wenn ich meinen Sold weiterhin dort verdienen will.“ André schien zwar Ruhe zu bewahren, aber an der Hartnäckigkeit mangelte es ihm dennoch nicht. „Habt Ihr nicht gehört, was Alain gesagt hat? Wenn ich nicht schon heute mit ihm in die Kaserne zurückkehre, dann kann ich mich von meinem Dienst verabschieden.“ „Ihr tätet gut daran, Andrés Uniform zu holen“, fügte Alain grantig hinzu: „Es ist seine Entscheidung...“ „Dich hat niemand gefragt!“, unterbrach ihn Sophie zornig, aber Alain schüchterte das nicht ein. Er wurde grimmiger. „Das mag sein, Mütterchen, aber...“ „Wie wagst du es, mich zu nennen!“ Sophie hob drohend ihre kleine Fäuste und ging damit auf Alain los. André schritt dazwischen und fing sie ab. „Beruhigt Euch, Großmutter!“ „Mische dich nicht ein!“, ermahnte ihn Sophie schrill und in dem Moment krachte es. Sophie, André und Alain sahen erschrocken zur Tür. Oscar stand dort feuerrot vor Wut und Rosalie bleich wie die Wand neben ihr. Vor ihren Füßen lag das kleine Tablett mit der zerschmetternden Teekanne und der Tasse. Die Untertasse lag entzweit daneben, der Teelöffel wurde dagegen weit von den Scherben geschleudert. Auf dem Boden verbreitete sich der heiße Tee und verströmte einen aromatischen Duft im ganzen Raum. Das half aber nicht gegen die angespannten Gemüter. Anscheinend war Oscar der Kragen geplatzt. Sie hatte bestimmt das beladene Tablett aus Rosalies Händen entrissen und absichtlich auf den Boden geschleudert. Sie schnaufte ununterbrochen und hatte nicht vor, sich zu beruhigen. Ihre Arme hingen stramm an ihren Seiten und ihre Hände formten sich angespannt zu Fäusten. „Bringe ihm seine Uniform, Sophie!“, befahl sie heiser. „Aber, Lady Oscar...“ „Wenn ein Soldat, ob er nun von seinem Dienst entlassen wird oder nicht, seine Uniform bei sich behält, wird er vor Gericht gestellt...“, knurrte Oscar, als wäre sie nicht unterbrochen worden: „Das willst du doch deinem Enkel nicht antun, oder?“ „Nein...“ Sophie schlug sich die Hand vor den Mund und hastete nach einem erschrockenen Zögern hinaus. Die Vorstellung, dass André vor Gericht gestellt würde, schien sie mehr zu ängstigen, als die Sorge um seine Genesung. Oscar wartete, bis Sophie das Zimmer verlassen hatte und bewegte dann langsam ihre Füße. Die Scherben knirschten unter ihren Stiefeln, aber das nahm sie kaum wahr. „So ist das also...“, brachte sie von sich, als sie einen knappen Schritt vor André zum Stehen kam. „Ich verstehe, wenn du die Kaserne deiner Gesundheit vorziehst, aber...“ Aber was? Das konnte sie selbst nicht sagen. Sie hatte doch kein Recht, ihn dazu zu zwingen, hier zu bleiben. Dennoch wünschte ein Teil von ihr, dass er wenigstens noch ein paar Tage bei ihr bleiben würde... Und so äußerte sie das, was ihr gerade eingefallen war: „...ich kann mit Oberst Dagous sprechen und du wirst somit deinen Dienst behalten können, auch wenn du der Kaserne eines oder zwei Tage mehr fernbleibst.“ André war ihr wirklich sehr dankbar für alles, was sie für ihn getan hatte und ihr Angebot schien verlockend... Aber er wollte auch vermeiden, dass sie sich noch mehr für ihn einsetzte – das würde er nicht ertragen können. „Es tut mir leid, aber das ist meine Entscheidung, Oscar...“, meinte André halblaut. Er ahnte, dass er sie damit verletzte, aber genug war genug. Und vielleicht hatte die kleine Auseinandersetzung mit seiner Großmutter von vorhin auch zu dieser Entscheidung beigetragen. Es fiel ihm schwer, aber wenn er bis zu seiner Genesung bei Oscar bleiben würde, würde es sich zwischen ihr und ihm nichts ändern. Das hatte André ziemlich schnell begriffen, da Oscar mit ihren Gefühlen eben so unzugänglich war wie immer und vermutlich auch so bleiben würde... Deshalb wollte er Oscar auf diese Weise die Augen öffnen und so tat er das jetzt. „Es ist meine Pflicht, in die Kaserne zurückzukehren, genauso wie es deine Pflicht ist, der Königin zu dienen.“ „Was sagst du?“ Oscar weiteten sich die Augen vor Entsetzen. „Ich sagte, dass wir beide an unsere Pflichten gebunden sind...“, wiederholte André und legte Oscar damit noch mehr schwere Steine aufs Herz: „...aber im Gegensatz zu dir, tue ich das, um zu überleben...“ Das trieb Oscar zur Weißglut! Sie hätte André am liebsten geohrfeigt. Aber wofür? Nur weil er die Wahrheit gesagt hatte? Es stimmte, dass sie beide an ihre Soldatenleben gebunden waren... Und es stimmte auch, dass sich Oscar nur den Pflichten für Ihre Majestät verschrieben hatte... Noch nie hatte sie etwas für sich beansprucht... Weil ihre Erziehung das nicht zuließ und weil sie kein Anrecht auf ihr eigenes Leben hatte... Das hatte sie schon längst erkannt und tief in ihrem Innersten behalten - aber es von ihrem Freund offenkundig zu Hören zu bekommen, tat höllisch weh. „Deine Meinung kann ich dir nicht nehmen...“, war das Einzige, was sie sagte, bevor sie aus dem Zimmer stürmte. „Oscar!“ André tat sein Verhalten gegenüber ihr bereits wahnsinnig leid und so setzte er ihr unverzüglich nach. Mitten auf dem Weg schnappte er Alains Umhang vom Stuhl. „Entschuldige, ich leihe mir den nur kurz aus“, rief er ihm kurz angebunden zu und war dann auch schon aus dem Zimmer. Kapitel 22: Fehler ------------------ Oscar rannte auf den Hof des Hauses hinaus und sofort umhüllte sie die eisige Winterkälte, aber das war ihr egal. Genauso egal war es ihr, dass ihr Körper in dem dünnen Hemd und der dürftigen Hose zu zittern begann. Sie atmete pausenlos und wollte am liebsten schreien. Auch wenn André ihr die Augen geöffnet hatte, ihr Leben würde sich dadurch niemals ändern, sondern bis ans Ende ihrer Tage dem Königshaus gewidmet bleiben. Es war ihre Pflicht... Aber wollte sie das? André wollte doch bestimmt auch nicht tagein, tagaus sein Dasein als Söldner fristen! Er tat das sicherlich nur, weil er Geld brauchte... Genauso wie Alain und alle anderen seinesgleichen... Das war sein Leben, seine Einstellung und sie wollte sich nicht einmischen... Wenn er gehen wollte, dann sollte er gehen... Sie hatte kein Recht, ihn festzuhalten... Warum fühlte sie sich dann aber so miserabel, so erbärmlich? Wie vor einigen Monaten im Herbst, als sie die fremde Frau bei ihm auf dem Schoß gesehen hatte... Oscar schlang ihre Arme um ihren frierenden Körper und spürte noch mehr die schneidende Kälte, die sich erbarmungslos durch ihre Kleider bohrte. Doch dieser stechende Frost war ihr nur willkommen – betäubte er doch etwas die Qual in ihrer Brust. Sie hörte die festen Schritte auf dem weißen Erdboden in ihrem Rücken und ahnte bereits, wer das sein könnte. Sie drehte sich nicht um und verharrte reglos. „Oscar...“, sagte er leise und legte ihr etwas um die Schultern. „Hier nimm, sonst erkältest du dich noch...“ In Oscar stieg wieder ihr hitziges Temperament hoch. „Mich erkälte?“ Wie gestochen wirbelte sie herum und ließ den Mantel um ihre Schultern abfällig zu Boden fallen. Fassungslos starrte sie André an, der auch nur in Hemd und Hose vor ihr stand. „Siehe dich doch an! Du hast das Fieber kaum überstanden und riskierst schon wieder leichtsinnig, es dir erneut zu holen!“ Sie stieß ihn heftig von sich. „Geh sofort ins Haus! Ich will nicht, dass du wieder krank wirst!“ André war in der Tat noch etwas geschwächt, aber er ließ sich nicht von ihr wegdrängen. Er behielt das Gleichgewicht. Oscar stürzte erneut auf ihn zu, aber André durchschaute sie. Kaum dass sie ihn wieder nach hinten stieß, packte er auch schon ihre Handgelenke und zwang ihre Arme nach unten. Sie sträubte sich, konnte sich aber nicht aus seinem Griff befreien. „Lass mich los!“, befahl sie heiser: „Sonst...“ „Sonst was?“, ließ André sie nicht weiter sprechen und drehte ihr die Arme auf den Rücken. Dabei zog er ihren Körper nah an sich heran und ließ ihr keinen Spielraum für eine Gegenwehr. „Sonst was?“, wiederholte er stockend und atmete schneller. Was machte er da? „Wirst du mir etwa eine Ohrfeige verpassen, wie bei unserer ersten Begegnung?“ Auch Oscar atmete pausenlos ein und aus. Sein Gesicht war ziemlich nah an dem ihrem und sie spürte die Kraft seine Arme so intensiv wie noch niemals zuvor. Es könnte also sein, dass es ihm womöglich doch noch nichts mehr fehlte... Oscar schluckte. Sie war eingezwängt und konnte nichts mehr tun. „Sonst schreie ich...“, sagte sie kaum hörbar und der letzte Funke Gegenwehr in ihrem Inneren erlosch. „Als würde das etwas nützen...“, hauchte André leise und entdeckte in ihrem sonst so herausfordernden Blick etwas, das einer Panik gleichkam - oder auch Angst vor dem, was er vorhaben könnte. Sie glich einem Tier, das in die Enge getrieben wurde. Aber nicht einem wehrlosen Tier, sondern eher einem Raubtier. Wie eine wilde Katze, die ihre Krallen bis zum letzten Atemzug einsetzen würde, um sich zu verteidigen... Das alles las André in Oscars Blick. Nein, niemand durfte Oscar so behandeln, vor allem nicht er! Aber was hätte er denn sonst tun sollen, um sie zur Besinnung zu bringen? Er hatte keinen anderen Weg gesehen. Und genauso wenig hatte er über sein Handeln nachgedacht. Er wollte doch nur, dass Oscar sich beruhigte! Er spürte ihren schmalen, frierenden Körper dicht an sich und hielt für kurz inne. Es wehte kein Wind. Vereinzelte Schneeflocken fielen auf ihr Haupt und verfingen sich in ihrem weichen Haar. Auch ihr Gesicht und die dichten Wimpern wurden von kleinen, weißen Flocken benetzt – aber tauten sogleich zu Wassertropfen und blieben starr auf ihrer rosigen Haut, als hätten sie sich in Tränen verwandelt. Oscar biss die Zähne zusammen, um nicht mit ihnen vor Kälte zu klappern. „Und was nun?“, zischte sie ohne ihre Lippen zu bewegen und hielt dabei würdevoll seinem Blick stand. Sie schluckte hart und konnte aus unerklärlichen Gründen nichts tun, als reglos in seinem Griff zu verharren und auf sein selbstloses Wesen zu vertrauen... André fror, aber er gab nicht nach. „Ich weiß es nicht... Sag du es mir...“, brachte er leicht belegt hervor. „Ich sagte doch, du sollst mich loslassen...“ Ihre Stimme zitterte nicht weniger als ihr Körper. „...ich verspreche, ich werde dich nicht schlagen“, fügte sie hinzu, als er keine Anstalten machte, ihrer Bitte Folge zu leisten. - - - Alain pfiff beeindruckt durch die Zähne, als er aus dem Fenster beobachtete, wie sein Freund Oscar packte und sie fest in seinem Griff hielt. Außer ihm befand sich keiner mehr im Gästezimmer. Andrés Großmutter war noch immer unterwegs, die Uniform ihres Enkels zu holen und Rosalie entsorgte die aufgekehrten Scherben. Nun kam Rosalie in das Zimmer zurück und ertappte Alain beim Pfeifen. Gut, dass Sophie das nicht hörte, ging ihr augenblicklich durch den Kopf. Alain bemerkte sie und winkte sie zu sich. Neugierig gesellte sich Rosalie zu ihm. Was sie da aus dem Fenster miterleben musste, erschreckte sie zutiefst. Die erste Frage, die ihr fassungslos über die Lippen kam, war: „Was macht er mit Lady Oscar?!“ Besser gesagt: Wie konnte André nur?! Sie hatte ihm doch vertraut! Er hatte ihr doch versprochen, Lady Oscar zum Lachen zu bringen, aber stattdessen... „Wonach sieht es denn aus?“, merkte Alain an. Rosalie sammelte all ihren Mut zusammen. „Wie kannst du hier tatenlos stehen und nichts unternehmen?“ Das war für sie unbegreiflich. Arme Lady Oscar! Sie musste ihr helfen! Rosalie schürzte ihre Röcke und rannte los. Jedoch kam sie nicht weit: Alain packte sie am Ellbogen und wirbelte sie zu sich. Rosalie hätte vor Schreck fast aufgeschrien, aber dafür war sie zu überrascht. „Warum tust du das, Alain? Lass mich los!“ „Du wirst dich nicht einmischen!“, zischte Alain und ließ sie los. Im Grunde genommen war er doch kein Unmensch – vor allem nicht zu solch einem ängstlichen Rehkitz wie Rosalie. Dennoch versperrte er ihr mit seinem massigen Körper den Weg. „Das ist eine Sache zwischen den beiden!“ „Aber...“ Rosalie traten Tränen in die Augen: „...aber André bedrängt Lady Oscar! Wir müssen ihr helfen!“ „Traust du ihm das etwa zu?“ Alain lachte auf: „Das würde er doch niemals über sich bringen... Sieh lieber hinaus: Er hat sie schon losgelassen...“ In der Tat... André erwachte aus seiner Starre. Er wollte Oscar nicht bedrängen oder gar unter Druck setzen. Langsam aber sicher lockerte er seinen Griff und obwohl ihre Glieder völlig versteift waren, machte Oscar einen geordneten Schritt von ihm weg. Mechanisch rieb sie ihre Handgelenke und blieb vor ihm stehen, als erwarte sie etwas von ihm. Doch André bückte sich lediglich nach dem Umhang, der noch immer neben ihr im Schnee lag, und legte ihn sich gefaltet über den Arm. Er wagte kein einziges Mal seine Freundin anzusehen. Wenn sie überhaupt noch Freunde waren... „Es tut mir aufrichtig leid, Oscar. Das wird nie wieder vorkommen...“, entschuldigte er sich geknickt. Oscar glaubte ihm, denn diese grobe Seite an ihm kannte sie nicht. André sah nun verzweifelt, verloren und in sich gekehrt aus. Sie würde nicht mehr über sich bringen, ihn jetzt schroff anzufahren oder gar ihn zur Rechenschaft ziehen. „Gehen wir lieber wieder ins Haus...“, murmelte sie ausdruckslos und stampfte schon durch den dichten Schnee davon. André folgte ihr mit einem gebürtigen Abstand zwischen sie. An der Treppe, die vom Empfangssaal ins obere Stockwerke führte, blieb Oscar unvermittelt stehen und hielt ihren Kopf etwas gesenkt. „André... ich bin dir nicht böse...“ War sie das wirklich, oder wollte sie ihn damit nur beruhigen? „Aber, ich muss nachdenken...“ Besser gesagt, über sie beide nachdenken und sich entscheiden, wie es weiter zwischen ihnen gehen sollte. Das brachte sie aber nicht mehr über die Lippen. André merkte, wie ihre Sehnen und Armmuskeln sich dabei anspannten. Es war also alles aus! Durch sein eigenes Verschulden hatte er alles zunichte gemacht... „Ich werde es akzeptieren, wenn du mich verbannst und nie mehr sehen willst... Ich werde gehen und dich nie mehr aufsuchen...“ Oscar fuhr schlagartig herum. „Nein, André!“ Sie vergaß sofort den Vorfall. Sie wollte nicht mehr allein sein, nicht mehr ohne ihn sein – das war sie schon ihr Leben lang... Die Vorstellung, dass sie André nie mehr sehen würde war genauso unerträglich wie noch vor paar Tagen die Angst, ihn durch das Fieber zu verlieren. „Ich möchte die Freundschaft zwischen uns nicht aufgeben...“, sagte sie deshalb halblaut. „Danke, Oscar...“ In André glomm ein Funke Hoffnung neu auf. „Dann kann ich dich also wieder an meinen dienstfreien Tagen besuchen?“ „Ja, André, du kannst wieder hierher kommen und dann werden wir wie früher Fechten oder Schießen üben...“ „Abgemacht.“ André reichte ihr seine Hand. Oscar ergriff sie zögerlich. „Dann sehen wir uns an deinem nächsten dienstfrei.“ Nur kurz gestattete sie die Berührung mit ihm, dann entriss sie sich und lief auf ihr Zimmer. André blieb nichts anderes übrig, als in sein Gästezimmer zurückzukehren. - - - Rosalie stand noch immer am Fenster und atmete erleichtert auf. „Arme Lady Oscar...“, wiederholte sie noch immer außer sich. „Nein...“, berichtigte Alain sie: „...wenn du schon jemanden bemitleiden willst, dann André.“ „Aber wieso?“ „Mach die Augen mehr auf! Siehst du denn nicht, dass er Gefühle für sie hat?!“ „Oh...“ Rosalie schien Einiges einzuleuchten. Und zugegeben: Sie fand schon immer, dass Lady Oscar und André sich gut ergänzten. Draußen bewegten sich André und Oscar in Richtung Eingang des Herrenhauses. „Ich hole einen Mantel für Lady Oscar“, meinte Rosalie schnell, als befürchte sie, dass Alain sie abermals festhalten würde. Auf dem Weg durch den Flur traf sie auf André. „Wo ist...“ „Auf ihrem Zimmer...“, sagte dieser nur knapp und ging an ihr vorbei, ohne sie weiter anzusehen. - - - Oscar stürmte durch ihren Salon, öffnete den Deckel ihres Klaviers und donnerte wuchtig auf die Tasten. Ihr war nicht nach Musizieren, aber sie musste das Chaos in sich besänftigen. Obwohl André sie sehr verletzt hatte, konnte sie ihn trotzdem nicht mit Verachtung strafen oder ihn aus ihrem Leben verbannen. Er war Teil ihres Lebens – das hatte sie an seinem Krankenlager festgestellt. Und da war noch etwas, was sie mit aller Kraft bekämpfte und das sie nicht in ihrem mannhaften Lebensstil zulassen wollte... Das, was alle Menschen als das schönste Gefühl empfanden – bis auf sie, Oscar Francois de Jarjayes... Für sie war es ein Gefühl des Leidens und der Qual – das hatte sie schon zu oft an Marie Antoinette mitangesehen... Deswegen focht sie ständig ein unerbittliches Duell mit sich selbst aus, um eben dieses Gefühl der Liebe und Zuneigung in sich erst gar nicht zuzulassen... Und ausgerechnet deswegen brauchte sie so einen treuen Freund und Gefährten wie André, der ihr stets dabei half, all die Sorgen zu vergessen... Ein zaghaftes Klopfen an der Tür zu ihrem Salon, riss sie in die Gegenwart zurück. Oscar schrak auf und straffte sofort instinktiv ihre Schultern. „Herein!“, erwiderte sie, die Stimme überraschend gefasst. Rosalie betrat vorsichtig den Salon. „Lady Oscar?“ „Was ist, Rosalie?“ Oscar versuchte freundlicher zu wirken, als ihr zumute war – doch es gelang ihr nicht. „Kann ich etwas für Euch tun?“, fragte die junge Frau besorgt. „Nein...“ Oscar wollte sie schon aus dem Zimmer bitten, als ihr doch noch ein Verlangen kam: „Oder warte! Sag den Stallburschen Bescheid, dass sie auch mein Pferd satteln sollen! Ich werde André bis nach Paris begleiten!“ „Wie Ihr wünscht, Lady Oscar...“ Rosalie entdeckte kein Anzeichen, wie sich Oscar in Wirklichkeit fühlte. Und auch wenn es ihr Unbehagen bereitete, so war sie doch einigermaßen erleichtert, für sie etwas tun zu können. - - - André betrat das Gästezimmer ohne Alain zu beachten. Er setzte sich auf das Bett und vergrub seinen Kopf in den Händen. Alain kam auf ihn zu. „Ich habe deinen Auftritt vom Fenster aus beobachtet und ich muss sagen, das war...“ „Das war mein Fehler...“ André seufzte trübsinnig. Er kam seinem Freund absichtlich zuvor, denn er wollte seine Einschätzung lieber nicht hören. „Das wird schon, Kumpel.“ Alain besaß natürlich kein so feines Gespür für derartige, tiefe Gefühle. „Was?“ André hob schlagartig den Kopf. „Ich habe sie verletzt! Das hätte nicht passieren dürfen! Ich weiß nicht, was über mich kam?!“ „Das denkst du?“ Alain betrachtete ihn halb belustigt, halb mitleidig. „Die Frauen, mein Freund, sind alle gleich und stehen auf starke Männer, die mit ihnen umzugehen wissen. Oder hat sie dir etwa den Kopf abgerissen?“ „Nein, sie ist mir nicht böse. Aber sie wird das ganz bestimmt nicht vergessen können und das ist das Problem!“ André spürte, dass er jemanden brauchte, dem er sich anvertrauen konnte – sonst würde ihm das Wasser bis zum Hals reichen und er würde wie ein Stein darin versinken. Und wenn Alain schon alles beobachtet hatte, dann konnte er ihn auch gleich für ein Gespräch heranziehen. „Mit der Zeit wird das schon, Kumpel.“ Alains unerschütterter Optimismus half André nicht viel. Dennoch verschaffte er ihm eine gewisse Hoffnung auf einen Neuanfang. Vielleicht würde es wirklich bald wieder besser aussehen, wenn Gras über die Sache gewachsen war... „Hoffen wir es...“ André seufzte tief und in dem Moment ging die Zimmertür auf. Sophie kam aufgebracht herein und warf ihm seine Uniform auf das Bett. „Danke, Großmutter.“ André begann sogleich sich umzuziehen. „Danke nicht mir, sondern Lady Oscar! Wenn es nach mir ginge, hätte ich die Uniform verbrannt!“, giftete sie verstimmt. André sagte nichts dazu, sein Denken galt Oscar. Alain dagegen sprang für ihn ein: „Dann wäre Euer Enkel seinen Kopf los! Der Verlust der Uniform ist ein schwerwiegendes Verbrechen und wird mit Tod bestraft.“ „Dich hat niemand gefragt!“ „Aber er hat recht, Sophie“, erneut stand Oscar unverhofft in der Tür, doch diesmal ohne Rosalie und sie wirkte viel gefasster. Sie hatte bereits ihre Ausgehkleidung an. „Aber, wo wollt Ihr denn hin, Lady Oscar?!“ Sophie weiteten sich wieder fassungslos die Augen. „Keine Sorge, ich begleite nur André bis nach Paris.“ Sie versuchte ein Lächeln um Sophie milde zu stimmen - es schien ihr zu gelingen. „Aber vorerst soll er etwas essen. Sonst fällt er aus dem Sattel, noch bevor wir Paris erreicht haben.“ - - - Der weiße Schnee knarzte unter den Hufen der drei Pferde und der Atem der Tiere verwandelte sich in Dunstwolken, als sie ihn durch ihre Nüstern ausstießen. Die Reiter saßen, gut in ihre Mäntel und warmen Wollumhänge bepackt, im Sattel. Niemand von ihnen sprach. Nur Alain pfiff eine seiner anzüglichen Melodien und die anderen schienen ihm zuzuhören. In Paris zügelten sie ihre Pferde und nahmen Abschied. „Wann habt ihr dienstfrei?“, fragte Oscar dann doch noch. André zuckte mit seinen Schultern. „Das hängt davon ab, wann unser Oberst uns nicht mehr braucht.“ „Dann besuche mich, wenn der Winter vorbei ist und der Sommer kurz vor der Tür steht.“ Oscar schaute zu André und ihre Blicke trafen sich. Ein unsichtbares Lächeln stahl sich auf Oscars Gesicht - aber wahrscheinlich bildete er sich das nur ein. Vielleicht würde Oscar nie mehr lächeln und das war zum größten Teil seine Schuld. „Ich brauche Zeit...“ Oscar schien in seinem Blick etwas gelesen zu haben, was ihm immer noch zu Schaffen machte und so verstärkte sie ihr Lächeln. „Es wird wieder alles in Ordnung sein, André, das verspreche ich dir. Du musst mir nur etwas Zeit geben.“ André war sich nun sicher, dass es keine Einbildung gewesen war und lächelte ihr verwegen zurück. Oscar nickte zufrieden, wendete ihr Pferd und ritt zum Anwesen zurück. André sah ihr eine Weile nach, bis Alain ihn anstupste. „Komm, wir müssen in die Kaserne zurück.“ André ließ ihn nicht lange auf sich warten. Bis zum Frühling oder Sommer war noch Zeit und diese Zeit würde Oscar sicherlich zum Nachdenken brauchen. Und dann würde er schon sehen, wie es zwischen ihnen weitergehen würde... Kapitel 23: Rosenstrauß ----------------------- André trat wieder seinen gewohnten Dienst in der Kaserne an. Und wieder begannen die langen Tage, ohne Aussicht auf baldigen dienstfrei. Der harte Winter ging jedoch vorbei und wich dem milden Frühling. Erste Blumen sprießen aus der Erde und die Bäume zogen ihre grünen Kleider an. Die Vögel kehrten aus dem Süden zurück und die Natur erwachte aus dem Winterschlaf. Der Frühling wich dem Sommer und erst da traute sich André, Oscar zu besuchen – so wie sie es ihm empfohlen hatte. Ob Oscar ihm grämte und ob sie den Vorfall im Winter nicht vergessen konnte, wusste er nicht. Auf dem Heimweg mit Alain überlegte er, was er tun könnte. Ein Geschenk für sie wäre vielleicht praktisch, aber was könnte man denn Oscar schenken?! Sie nahm doch keine Geschenke an! Je näher André an das Wohnhaus kam, desto verzweifelter wurde er. Er hatte nicht mehr viel Zeit zum überlegen. „Mache dir keinen Kopf, Kumpel“, versuchte Alain ihn aufzumuntern, aber von André kam nur ein schwerer Seufzer. Alain hatte gut reden, er besaß doch keine bestimmte Freundin, sondern mehrere und würde sich nie nur für eine einzige entscheiden. Er passte irgendwie nicht in das Muster eines Mannes, der sich nur für eine Frau sein Leben lang interessierte, geschweige von liebte. „Schaue lieber hin, die Heckrosen blühen schon in ihrer Pracht! Da wird mein Schwesterherz sich aber freuen!“, wies Alain André hin, als sie schon das Haus erreichten und von den Pferden abstiegen. Im Hinterhof des Wohnhauses schmückte eine wachsende Dornenhecke die Wände und die ersten Rosen sprießen in der Tat in ihrer Pracht. Diane liebte diese Blumen mit ihrem süßlichen Geruch und stellte sie immer in einem Krug am Fenster oder auch in der Küche auf dem Speisetisch. Andrés Gesicht erhellte sich mit einem Schlag. Ein sehr passendes Geschenk für Oscar, dachte er bei sich und eilte kurz in seine Wohnung, um sich umzuziehen. Alain schüttelte ihm nur mit seinem Kopf nach, als André so überstürzt in dem Haus verschwand. Aber was soll´s! Soll er machen, was er wollte, wenn er schon dieser Frau in Uniform rettungslos verfallen war! Alain grinste bei der Erinnerung an den Vorfall im Winter und begann sein Pferd abzusatteln. André entledigte sich nur seiner Uniform, zog schnell seine Alltagskleidung und rannte wieder zu seinem Pferd. Alain war schon nirgends mehr zu sehen, was André in seiner Eile kaum beachtete. Er schnitt einen kleinen Strauß aus der Hecke mit seinem Messer – vorsichtig und behutsam, um sich nicht an den Dornen zu verletzen und war dann auf und davon. - - - Auf dem Anwesen de Jarjayes ging André wie immer zuerst in die Küche, um seine Anwesenheit kund zu tun. Und wie immer traf er dort auf seine Großmutter, die nach knappen Begrüßung sofort wissen wollte, was es mit den Blumen auf sich hatte. „Ich wollte mich bei Oscar bedanken, dass sie mich im Winter vor Fieber gerettet hat.“ „Gib sie mir!“ Sophie beäugte den Strauß misstrauisch und streckte schon ihre faltige Hand danach aus. „Ich werde Lady Oscar es später geben.“ André wich etwas zurück. „Nein, ich möchte ihn ihr selbst überreichen.“ Sophie sah ihn nun wieder verärgert an. „Was glaubst du, wo du hier bist! Du kannst nicht einfach so auf der Straße irgendwelche Blumen pflücken und sie Lady Oscar geben! Man weißt nie, ob sie gefährlich sind und Lady Oscar schaden können!“ André war baff. „Diese hier sind aber ungefährlich!“ Er brachte noch mehr Abstand zu seiner Großmutter. Diese machte auf ihn einen Schritt und André wich ihr wieder aus. Er wünschte, es möge jetzt jemand reinkommen und ihn erlösen. Und als wäre heute das Glück auf seiner Seite, kam in Kürze schon Rosalie in die Küche. André flüchtete zu ihr, als wolle er sie begrüßen. „Rosalie!“ „André!“ Diese lächelte nach der Begrüßung. „Für wem sind die Blumen?“ „Für Oscar!“ „Sie wird sich bestimmt freuen.“ Rosalie war sich über ihre eigene Worte nicht ganz sicher, aber sie verstand auch Andrés Absicht. Eine Entschuldigung seinerseits wäre ihm auch geraten. „Ich werde ihr Bescheid sagen, dass du schon hier bist. Und du kannst derweilen auf dem Hof warten.“ „Mit vergnügen.“ André schmunzelte zufrieden in sich. Er war von weiteren Tiraden seiner Großmutter gerettet. „Dieses Unkraut bleibt aber hier!“, rief ihm seine Großmutter und schüttelte mit einem Nudelholz ihm nach, aber André tat als hätte er sie überhört. Leider konnte sie ihm nicht nachrennen, da Lady Oscar ihren Nachmittagstee mit Croissants erwartete und sie wollte sie nicht noch länger damit hinhalten. - - - „Rosen?“ Oscar war sichtlich überrascht, als André ihr einen kleinen Strauß reichte. Noch nie hatte ihr jemand irgendwelche Blumen geschenkt. Eigentlich wollte sie mit ihm im Fechten üben und danach über den Vorfall im Winter mit ihm reden. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und das wollte sie ihm mitteilen. Aber seine Geste mit dem Rosenstrauß brachte ihr Vorhaben ein wenig durcheinander. Rosalie hatte ihr von den weißen Blumen auch kein Wort verloren und nur ihren Auftrag wie gewöhnlich ausgeführt. Nun stand Oscar mit zwei Übungsdegen in der Hand vor André und starrte überrascht auf das, was er ihr gerade reichte. „Ich wollte mich nur bei dir aus tiefstem Herzen bedanken. Dafür dass du mich im Winter von dem Fieber gerettet hast“, erklärte André mit seinem typischen, freundlichen Lächeln, das allerdings ihm gleich schuldbewusst entglitt. „...und als Entschuldigung für den Vorfall. Es tut mir aufrichtig leid, was ich getan habe und ich würde das gerne wieder gut machen.“ Seine Stimme brachte Oscar die Fassung zurück. „Nichts zu danken...“ Das war nicht direkt das, was sie ihm sagen wollte, aber mehr fiel ihr im Moment auch nicht ein. Ihr war es so, als hätte sie plötzlich alles was sie sagen wollte vergessen. Sie ließ die Degen auf die grasbewachsene Erde fallen und nahm den Rosenstrauß vorsichtig, beinahe unschlüssig entgegen. „Danke für die Blumen. Sie sind schön“, sagte sie dabei und sah zu ihm auf. Ein kurzer Augenblick der Stille legte sich zwischen sie und beiden stieg eine feine Röte auf den Wangenknochen, ohne dass es ihnen bewusst war. Oscar hätte gerne gewusst, was André jetzt über sie dachte. Ob ihn sein schlechtes Gewissen noch plagte? Was sollte sie ihm für seine nette Geste antworten? Wie könnte sie am besten darauf reagieren? Jedoch würde sie ihn nie danach fragen. Das war nicht ihre Art und sie durfte diese weiche Seite in ihr überhaupt nicht zulassen. Aber André war etwas anderes. Bei ihm bräuchte sie sich nicht verstellen, das hatte sie schon lange erkannt und akzeptiert. Oscar senkte ihren Blick wieder auf die Rosen, um nicht noch länger in diese fesselnden, sanftgrünen Augen hineinzusehen – ihr Herz flatterte schon genug schnell und sie befürchtete, er könnte es hören. „Ich werde Rosalie bitten, dass sie die Rosen in die Vase auf meinem Zimmer stellt, sonst verdorren sie schnell...“ Sie setzte sogleich ihre Füße in Bewegung und ließ André am Brunnen einfach stehen. Es kam alles ganz anders, als erwartet. Oscar hatte die Blumen von ihm nicht erwartet. Und vielleicht war es eben diese Überraschung von ihm, die alles änderte und ihre bisherige Gedanken in Frage stellte. Den restlichen Winter nach dem Vorfall und den ganzen Frühling hatte sie über ihn und sich oft nachgedacht. Sie war zu dem Endschluss gekommen, dass jeder von ihnen getrennte Wege gehen sollten, aber die Freundschaft zwischen ihnen dennoch weiterhin bestehen blieb. So halt, wie es all die Jahre zwischen ihren gewesen war. Aber das konnte sie nicht. Nicht mehr, nachdem er ihr diese Blumen gebracht hatte. Sie würde ihre Entscheidung wohl noch einmal überdenken müssen... André sah ihr sehnsuchtsvoll nach. Er hatte sich in ihren kurzen Blicken genauso verloren und gefesselt gefühlt, wie sie in den seinen. Er hätte gerne gewusst, was sie dabei gedacht hatte. Womöglich an den Vorfall im Winter? Oder an etwas anderes? Aber fragen würde er sie nie danach. Oscar würde das sicherlich missverstehen und er wollte nicht, dass dies ihre Freundschaft in Gefahr brächte. So ähnlich wie es im Winter beinahe geschehen war. André seufzte schwer. Es war aussichtslos, bei ihr auf mehr zu hoffen und doch tat er das jeden Tag. Er beugte sich vor und hob die zwei Degen von dem Erdboden. Er würde weiter hierher kommen und mit ihr im Fechten oder Schießen üben. Daran würde sich nie etwas ändern. - - - Während Rosalie die Rosen in einer Vase im Oscars Salon dekorierte, stand Oscar am Fenster und sah zum Hof hinaus. André schien auch alleine zurechtzukommen. An dem großen, mondförmigen Brunnen übte er sich mit zwei Degen. Schwungvoll griff er einen unsichtbaren Gegner an, machte eine Drehung und parierte mit dem zweiten Degen. Dabei schlugen ihm seine lang gewordenen Haare ins Gesicht. Er blieb abrupt stehen, nahm einen Degen in die andere Hand und schob die störende Haarsträhne hinters Ohr. Oscar verharrte ganz still am Fenster und wagte bei diesem Anblick kaum zu atmen. André ging an den Brunnen, schöpfte mit der Hand das kristallklare Wasser und trank. Sein Haar fiel ihm wieder nach vorn und verdeckte sein Gesicht. „Wollt Ihr nicht mit ihm im Fechten üben?“, ertönte Rosalies Stimme am Tisch hinter Oscar. „Ich habe mir anders überlegt, Rosalie.“ Oscar schmunzelte geheimnisvoll. „Nachdem du mit Rosen fertig bist, lade ihn auf eine Tasse Tee in mein Salon ein. Und wenn er ablehnt, sag ihm, dass ich es ihm nicht verzeihen werde.“ „Ihr wollt Euch also für die Rosen revanchieren?!“, stellte Rosalie bemerkenswert fest. „Sozusagen ja...“ Oscar kehrte dem Fenster den Rücken, ignorierte die emporsteigende Hitze in ihrem Körper und sah die junge Frau an. „Ich kann doch schlechthin André nicht ohne Dankesgeschenk gehen lassen...“ Aber was genau das sein sollte, würde es ihr schon einfallen. „Das ist wunderbar.“ Die Augen von Rosalie glänzten vorfreudig und in wenigen Augenblicken verließ sie schon Oscars Gemächer. Oscar durchsuchte derweilen ihre Sachen in ihrer Kommode im Schlafzimmer. Dort lagen meistens Dinge, welche ihr Sophie hineinlegte, obwohl sie es nicht haben wollte. Sie stieß beim Suchen auf Haarschleifen, die sie nie benutzte und beschloss eines davon André zu schenken. Sie wählte ein sattgrünes Band, das hervorragend zu seiner Augenfarbe passen könnte. Zufrieden mit sich selbst, legte Oscar das Band auf dem Tisch im Salon neben der Vase mit Rosen und klimperte gleich danach auf ihrem Klavier, bis André mit Rosalie kam. Sie hörte mit ihrem Musikspiel sofort auf, als er ihren Salon betrat. „Entschuldige, dass du so lange warten musstest.“ „Schon gut.“ André zuckte beiläufig mit seinen Schultern. „Ich habe beim Fechten nicht einmal bemerkt, wie viel Zeit verging.“ „Das ist gut.“ Oscar betrachtete ihn ausdruckslos, obwohl ihr seine Anwesenheit einen Kribbeln im Magen verursachte. „Ich habe etwas für dich.“ „Für mich?“, überraschte es André. „Ja, für dich.“ Oscar wies bewegend mit ihrem Kinn auf den Tisch hin. „Es liegt dort.“ André kam vorsichtig näher heran. „Ein Haarband?“ „Deine Haare sind länger geworden, André. Ich dachte mir, dass es dich zwischen zeitlich stört und möchte dir damit einen Gefallen tun.“ Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. „Wieso probierst du es nicht?“ „Und ich kann es zusammenbinden“, erbot sich sogleich Rosalie. André ließ es mit leichten Zögern zu. Das war eben wieder ein Geschenk von Oscar und er wollte nicht unhöflich sein. Zumal er sich noch immer etwas schuldig fühlte. Rosalie ging nicht gerade sanft mit seinen Haaren um, als wolle sie sich damit für sein Verhalten im Winter rächen. Sie zog und zerrte an ihnen erbarmungslos, dass André dabei leises Zischen entfuhr. Aber er ertrug es auch mit Fassung – für Oscar. Oscar heiterte sein leicht gequälten Gesichtsausdruck insgeheim auf, obwohl seine zum Ausdruck gebrachte Leidensmiene schon etwas leid tat. Als Rosalie mit ihrem Werk fertig wurde, sah André mit einem Zopf gar nicht mal so übel aus. Das Band stand ihm hervorragend. „Nun können wir fechten gehen, bis der Tee fertig ist.“ Oscar schmunzelte zufrieden und André kam nicht umhin, ihr verschmilzt zuzulächeln. Zwischen ihnen schien es wieder alles in Ordnung zu sein, wie in alten, guten Zeiten. So, als wäre der Vorfall im Winter nie stattgefunden, als hätte André Oscar nie bedrängt und als hätte Oscar André nie ohrfeigt – das alles verschwand wie ein Alptraum an einem neuen Morgen. Beide taten sorglos, obwohl ihre Gefühle einer anderer Meinung waren. In dem Hof am Brunnen übten sie miteinander im Fechten und hatten ihren Spaß. Sie vergaßen die Zeit und alles um sich herum. Bis Rosalie zu ihnen kam und mitteilte, dass der Tee eingerichtet sei. „Danke, Rosalie, wir kommen.“ Oscar fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn und schaute zu André. „Kommst du mit?“ „Ausnahmsweise ja.“ „Ausnahmsweise?“ „Nun, ich möchte diesmal deine Einladung ungern abschlagen.“ - - -  Oscar dachte an André den ganzen Abend, als er schon längst fort war und sie wieder an ihrem Klavier spielte. Sie musste sich zugeben, dass sein Besuch ihr die Freude bereitet hatte. Sie freute sich, dass es ihm wieder gut ging und da war noch etwas unerklärliches: Ihr Herz ließ sie nicht in Ruhe und ihre Gefühle spielten wieder einmal verrückt. Die Rosen, die er für sie mitgebracht hatte, standen in der Vase auf dem Tisch ihres Salons und ließen sie noch mehr an ihn denken. Normalerweise wäre sie schon von immer denselben Gedanken in Rage geraten, aber nicht bei André. Er verübte eine ruhige Wirkung auf sie und nun taten es die Rosen. In ihrem Garten wuchsen unzählige Sträucher von solchen Blumen, aber diese besaßen für sie etwas Besonderes. Vielleicht, weil sie von André waren und er bedeutete ihr mehr als jeder andere Mensch. Zu sehr war sie schon an ihn und die Zeit mit ihm gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr missen wollte. Aber was sollte sie denn tun, um ihr aufregendes Herz zu beruhigen? Was konnte sie machen, um diese weiblichen Gefühle in ihr zu besänftigen? Wenn sie das nur wüsste, hätte sie sich schon längst wohler gefühlt! Und heute half ihr nicht einmal das Klavierspiel, ihre Gedanken zu ordnen und ihren Gemüt zu beruhigen... Kapitel 24: Die Richtige ------------------------ Am nächsten Tag ging es Oscar auch nicht besser. Was könnte sie aber dagegen tun? So konnte das doch nicht weiter gehen! Sie versuchte sich abzulenken und auf die andere Gedanken zu kommen, aber es half nichts. Nicht einmal in Versailles, wo es doch genug zu tun gäbe – wie die Höflinge in den Schranken zu weisen, für Ordnung zu sorgen oder ihre Soldaten im Trab zu halten. Nicht einmal bis Mittag hielt Oscar dort aus. Genug war genug! Vielleicht würde ein Besuch bei der Königin sie ablenken können? Und nebenbei, würde sie Ihre Majestät bitten, ihr kleines Lustschlösschen Trianon zu verlassen, nach Versailles zurückzukehren und die Audienzen wieder aufzunehmen, sonst würde das Grab zwischen ihr und dem Adel tiefer und das könnte böse Folgen haben... Leider trat das Gegenteil ein... Die Königin freute sich über Oscars Besuch und spielte nebenbei mit ihrer kleinen Tochter. Bei dieser Betrachtung und wie glücklich Ihre Majestät dabei aussah, beschloss Oscar ihr ihr Anliegen erst später mitzuteilen. Sie wollte ihr einfach den Glück mit den Kindern gönnen. Marie Antoinette übergab ihre Tochter an der Kinderfrau, ordnete die Dienerschaft, ein Tisch zu decken und lud Oscar ein. Diese konnte dies aus reiner Höflichkeit nicht ablehnen. Bei dem gemütlichen Tee und Kränzchen, überging Marie Antoinette zu einem vertraulichen Ton, denn hier auf dem abgelegenen Schloss bräuchte sie sich nicht verstellen. „Ihr habt mich schon lange nicht mehr besucht, Oscar. Ist etwas vorgefallen? Ihr wisst doch, dass Ihr immer bei mir willkommen seid und mir Eure Sorgen anvertrauen könnt.“ Oscar ihrerseits konnte sich nicht richtig konzentrieren, was die Königin ihr gerade erzählte. Das war bestimmt ein Fehler, hierher zu kommen und brachte ihr sowieso keine richtige Lösung für ihr plagendes Gemüt ein. „Geht es Euch nicht gut, Oscar?“, drang die besorgte Stimme von Marie Antoinette doch noch in ihr Gehör und brachte sie wenigstens für einen Augenblick in die Wirklichkeit zurück. „Ihr seht so abwesend aus...“, fügte Ihre Majestät noch hinzu, als von Oscar weiterhin kein Wort kam. „Mit geht es gut“, rechtfertigte sich Oscar mit gefasster Stimme und nicht ganz bei der Wahrheit. Marie Antoinette kam eine Vorahnung, weshalb Oscar leicht abwesend wirkte. Sie rührte mit einem goldverzierten Löffel in dem Tee und zog dabei ein melancholisches Gesicht. „Ihr denkt bestimmt auch an ihn, oder? Schließlich seid ihr gut befreundet...“ Oscar starrte die Königin beinahe entgeistert an. Aber sie schaffte es dennoch, ihre Empfindungen nicht preiszugeben und schaute fraglich drein. Woher wusste bitteschön Marie Antoinette von André?! Sie kannte ihn doch nicht einmal Ansatzweise! „Der Krieg in Amerika ist bereits beendet und es gibt immer noch keine Nachricht von ihm...“, lehrte die Königin sie eines besseres: „Ob es ihm gut geht? Denkt Ihr, wenn er nach Paris kommt, würde er mich dann besuchen wollen? Denn die ersten französischen Soldaten sind bereits nach Frankreich zurückgekehrt...“ Oscar ging ein Licht auf und sie atmete innerlich tief durch. Natürlich! Wie konnte sie das nur vergessen! Ihrer Majestät ging es nur um Graf von Fersen! Eigenartig, wie kam sie aber auf André?! Und warum war sie nicht auf von Fersen gekommen?! Sie hatte doch für ihn Gefühle! Oder etwa nicht mehr? Schon lange hatte sie nicht mehr an den Grafen gedacht. Um ehrlich zu sein, seit dem Vorfall bei der Feierlichkeiten des geborenen Prinzen und Thronfolgers. Dieser Prinz zählte jedoch schon fast vier Jahre und von Fersen befand sich seit sechs Jahren in Amerika. Wie schnell doch die Zeit verging! Oscar schob ihre Gedanken vorerst beiseite, um Ihrer Majestät eine Antwort zu geben. „Wenn Ihr es wünscht, würde ich mich darüber genauer erkundigen.“ „Das ist sehr nett von Euch, Oscar.“ Marie Antoinette lächelte trotz alledem freudlos. Auf Oscar konnte sie sich immer verlassen. Sie vertraute ihr vom ganzen Herzen. - - - Es herrschte ein früherer Nachmittag und André war gerade dabei, zum Anwesen de Jarjayes aufzubrechen, als es an seiner Wohnungstür klopfte. Was wollte denn Alain schon wieder?! Oder war das dessen Schwester? Beinahe entnervt machte er die Tür auf und musste verdattert blinzeln. Weder Alain, noch Diane standen in dem langen Korridor vor seiner Wohnung. Eine blondgelockte Person in roter Uniform eines Kommandanten stand direkt vor ihm und sah ihn mit ihren himmelblauen Augen musternd an. „Kann ich reinkommen? Oder ist es dir gerade unpassend?“ Sie war gleich nach dem Besuch bei der Königin direkt zu ihm geritten. André schluckte seine Verblüffung herunter und gewährte ihr den Zutritt wie selbstverständlich. „Trete ruhig ein, Oscar. Ich wollte mich gerade auf den Weg zu dir machen.“ „Nun bin ich diesmal dir zuvorgekommen...“ Oscar ging kerzengerade an ihm vorbei und blieb mitten in seiner Wohnung stehen. Sie wollte endlich Klarheiten ans Licht bringen und dass sie ihn noch in seiner Wohnung vorfand, verschaffte ihr zusätzlich den günstigen Moment. André schloss die Tür hinter ihr zu. „Möchtest du einen Tee?“ „Nein, danke.“ Oscar drehte sich langsam zu ihm um und sah ihn nichtssagend an. „Ich möchte etwas von dir wissen.“ „Und was genau?“ André bekam ein merkwürdiges Gefühl. Das sah Oscar nicht ähnlich. Irgendwie kam sie ihm ein wenig verzweifelt oder ratlos vor. Er schob ein Stuhl für sie von dem Tisch. „Möchtest du lieber hinsetzen?“ „Nein, ich bleibe lieber stehen.“ Oscar rang mit sich. Sie wollte unbedingt wissen, wie er zu ihr stand und deswegen war sie zu ihm gekommen. Aber wie sollte sie ihn über so etwas persönliches fragen? Das konnte sie nicht, weil sie sich nicht in sein Privatleben einmischen wollte. Aber erneut davon wegzulaufen, wäre jetzt feige. Oscar biss sich auf die Unterlippe. Plötzlich bekam sie Angst vor seiner Antwort und wollte sie lieber nicht mehr erfahren. Sehr eigenartig! Ausgerechnet die furchtlose und selbstgerechte Oscar bekam fast die kalte Füße, wegen so einer harmlosen Frage! Warum nur konnte sie das nicht über sich bringen, sie scheute doch sonst keinen Herausforderungen! André merkte, dass in ihr etwas seltsames vorging und ihm wurde dabei mulmig zumute. Was hatte Oscar auf einmal? André kam auf sie näher zu, aber blieb einen Schritt vor ihr stehen – er würde nicht denselben Fehler machen, wie im Winter. „Ist etwas passiert?“ „Nein.“ Oscar schüttelte kaum merklich den Kopf. „Ich sagte doch, ich möchte etwas von dir wissen und da kann es schwerlich mit mir etwas passiert sein...“ „Wenn du meinst.“ Andrés Brustkorb zog sich zusammen. Er glaubte ihr, aber dennoch beschlich ihn gleichzeitig der Verdacht, dass es um sie selbst ging. „Also was möchtest du von mir wissen?“ Oscar schluckte und senkte ihren Blick zur Seite, um passenden Worte zu finden. Die Finger ihrer Linken Hand strichen kaum berührend an der raue Kante des Tisches und die rechte Hand ballte sie zur Faust an dem Kreuz ihrer Uniformjacke. Sie wusste nicht mit so etwas umzugehen, aber das musste raus, wenn sie ihr Ziel erreichen wollte. „Vor einer Zeit, noch bevor du in mein Leben kamst, war ich nichts weiter als ein hartherziger Soldat, ein Mannsweib. Ich habe ohne diese Frauengefühle schon immer gelebt und es war alles in Ordnung. Bis ich von Fersen kennenlernte. Und dann dich. Ihr zwei seid meine Freunde geworden und dabei meine Gefühle durcheinander gebracht. An von Fersen habe ich schon lange nicht mehr gedacht und daher erkannt, dass er nur ein guter Freund ist und bleibt. Aber du bist mir immer gegenwärtig. Obwohl wir uns nicht so oft sehen, denke ich immer an dich und wünsche mir, dass du bei mir bist. Bitte sage mir, was du darüber denkst. Das ist das einzige, was ich von dir wissen möchte... Bitte sag mir die Wahrheit. Ich kann alles ertragen, aber keine Lügen.“ „Oscar...“ André war baff, aber gleichzeitig fühlte er sich leicht beschwingt. Endlich, war das passiert, worauf er schon seit Jahren erhoffte! Sie hatte ihm gerade ihren Herz geöffnet und indirekt ihre Liebe gestanden! Wie lange ging das schon in ihr vor?! Seine Füße bewegten sich von alleine und überwanden die kleine Distanz zwischen sie. Wenn Oscar schon ihm ihre Gefühle öffnete, dann würde auch er ihr die Wahrheit sagen. „Oscar“, wiederholte er ihren Namen und sein Geständnis kam viel leichter von den Lippen. „Ich werde dich niemals anlügen, das solltest du wissen. Vor einiger Zeit sagte ich dir, dass ich auf eine richtige Frau warte und deshalb bin noch ledig. Und nun möchte ich dir offenbaren, dass ich sie gefunden habe. Die richtige Frau, die ich liebe und für die ich sogar mein Leben opfern werde...“ „Was sagst du?“ Oscar hob schlagartig ihren Blick. Ihre Augen schimmerten ungewollt und Entsetzen zeichnete sich auf ihrem Antlitz. Sie kam zu spät! Ihr Herz blutete und zerbrach qualvoll in tausende Stücke. Warum entwickelte sie ihre Gefühle ausgerechnet zu den Männern, dessen Herz schon einer anderen gehörte?! Na gut, bei von Fersen war das nicht weiter als eine Schwärmerei und Mitleid für seine Liebesqual. Mehr nicht. Das hatte sie dann begriffen, als sie am Andrés Krankenlager gesessen und ihre wahre Gefühle eingestanden hatte! André! Warum hatte sie nicht schon früher ihm ihr Herz geöffnet, noch bevor er die sogenannte Richtige gefunden hatte?! Aber seit wann hatte er sie denn gefunden? Und wer war sie? Ein Bild drängte sich Oscar in innerem Auge vor: Sie sah das lebhafte und fröhliche Mädchen, mit dem sie einstmals getanzt hatte. Diane! Alains jüngere Schwester! Aber natürlich! Sie musste jetzt zu einer jungen und schönen Frau herangereift sein! Und André kannte sie schon seit klein auf - da konnte es selbstverständlich passieren, dass die zwei früher oder später ein Paar sein werden! Das war völlig normal und nicht auszuschließen, aber Oscar glaubte zu sterben, so unerträglich war der Schmerz, der sich immer tiefer in sie hinein schnitt und ihr wie ein kaltes Metall über die Venen durchfuhr. Sie schluckte mehrmals, versuchte ihre Fassung zu finden, aber erfolglos. Sie musste hier weg! „Ich wünsche dir Glück mit ihr...“, faselte sie erstickt und setzte sich aufgebracht an ihm vorbei in Bewegung. „Oscar, warte!“ André verstand zwar nicht ihr Verhalten, aber sie einfach so gehen zu lassen würde er nicht noch einmal tun. Er fasste ihren Arm, als sie ihn passieren wollte und versperrte ihr den Weg. „Lass mich los!“ Oscar fing an, sich zu sträuben. Der Vorfall im Winter kam wieder hoch und sie glaubte schon seine Kraft zu spüren. Er hatte sich zwar entschuldigt und geschworen, solches nie wieder zu tun, aber in dem Moment schien es ihr, als würde er sein Wort brechen. Auch André kam dieser Vorfall in Erinnerung. Nein, so wie damals würde er Oscar nicht behandeln! Er fasste sie daher von beiden Seiten am Armen und bewahrte den Abstand zwischen sie. „Was ist mit dir?! Ich habe doch gar nicht zu Ende gesprochen!“ „Nein?“ Wie erstarrt sah sie ihn an und zu ihrem Entsetzen spürte sie, wie ihr die Augen von anlaufenden Tränen brannten. Das hier war ganz anders als im Winter, hier ließ er ihr wenigstens den Freiraum und jagte keine Angst ein. Es war mehr, als würde er nicht wollen, dass sie ging und versuchte sie deshalb aufzuhalten, ohne ihr nahe zu treten oder gar zu verletzen. „Warum tust du das?!“ Ihre Stimme wurde heiser. „Warum hältst du mich auf?! Was bin ich denn für dich?!“, platzte es aus ihr unbedacht heraus: „Du hast ja deine Richtige gefunden!“ Langsam verstand André ihren Ausbruch: Sie hatte diese Richtige nicht mit sich selbst in Verbindung gebracht und dachte mit Sicherheit, dass er von einer anderen Frau sprach. Er lockerte seinen Griff und schmunzelte unwillkürlich. „Oscar, beruhige dich doch. Willst du denn gar nicht erfahren wer sie ist?“ „Wozu?!“, warf sie ihm verzweifelt und versteift vor, da sie bereits im Geiste glaubte zu wissen, wer das war: „Was würde mir das nützen?!“ „Weil du dann alles verstehen wirst!“ André ließ ganz von ihr ab. Er wollte sie ja nicht bedrängen - nicht wie im Winter. Und er wollte ihr die freie Entscheidung überlassen. „Lebe wohl!“ Oscar nahm sogleich Reißaus. „Wenn du gehst, dann wirst du nie erfahren, dass du es bist, Oscar!“, rief André ihr schnell nach, kaum sie die Tür erreichte. Oscar blieb sogleich wie angewurzelt stehen. Seine Worte drangen wie ein geißelndes Blitz in ihr Gehör ein und brachten noch mehr Durcheinander in ihrem schon genug strapazierten Gemüt. Unsicher wandte sie sich zu ihm zurück. „Ich verstehe nicht...“ André kam wieder auf Oscar zu. Sie tat ihm noch mehr leid und er wollte sie nicht noch mehr länger quälen. „Oscar, du bist meine Richtige und ich werde niemals eine andere Frau lieben können. Seit ich dich kenne, war ich immer fasziniert von dir. Und jedes Mal, wenn ich mit dir Zeit verbringe, vergeht mein Herz vor Kummer. Ich liebe dich, Oscar, mehr als alles andere auf der Welt.“ „André...“Oscar war noch mehr den Tränen nahe als gerade eben. Diesmal jedoch aus Erleichterung und Gewissensbissen. Sie kam sich närrisch vor. Unverhofft drückte sie sich an ihn, als ersuche sie einen Halt. Vielleicht stimmte das ja auch. Eine Schwäche nahm von ihr Besitz und ermattete ihren Körper. So, als wäre sie ausgemergelt, ausgezehrt. „Vergib mir...“, murmelte sie in seine Kleider beinahe verstockt: „Vergib mir mein Starrsinn, André... Ich weiß doch gar nicht, wie man mit solchen Gefühlen umgeht... Ich hatte noch nie so stark geliebt...“ André schloss sie sachte in seine Arme. Wie zierlich und zerbrechlich sie sich doch anfühlte! Kaum zu glauben, dass ausgerechnet sie ein starker und stolzer Kommandant der königlichen Garde war! Er hörte ihren verhallenden Schluchzen und spürte wie ihre Schulter erbebten. „Dann haben wir etwas gemeinsam“, meinte er sanft, um sie aufzumuntern. „Ich hatte noch nie eine Frau geliebt. Du bist die erste, die mein Herz eroberte, ohne etwas getan zu haben.“ „André...“ Oscar hob wieder ihren tränennassen Blick. Seine Worte hörten sich tröstend an und eine wohlige Wärme breitete sich in ihr aus, die alles was zwischen ihnen im Winter vorgefallen war, bedeutungslos machte. Ihr Herz pochte wieder stürmisch und ihr Atem wurde flacher. „Und du bist der erster, der mich um Verstand bringt... Ich liebe dich, mein Herz gehört dir... Bewahre es gut und breche es niemals... sonst werde ich sterben...“ „Ich werde niemals dein Herz brechen, Oscar...“, schwor André aufrichtig und neigte sein Gesicht langsam zu ihr: „...dafür liebe ich dich einfach zu sehr...“ Oscar reckte ihren Hals ihm entgegen, ohne sich selbst darüber bewusst zu sein. Ihre Lippen trafen sich vorsichtig aufeinander. Ihr und sein erster Kuss. Wie weich und süß waren doch ihre Lippen! Wie sanft und zart waren doch seine Lippen! Oscar öffnete leicht ihren Mund und ließ es zu, dass seine Zunge die ihre liebkosend umspielte und spielte selbst mit. Sie senkte ihre langen Wimpern und ließ sich von diesem innigen Moment berauschen. Der Kuss war einfach zu betörend, um sich davon zu entreißen. Auch André verfiel der Wonne mit jedem Atemzug und wurde mutiger. Seine Zunge umspielte die ihre immer fordernder, leidenschaftlicher und seine Arme umschlossen noch fester ihren Körper an sich. Das er so etwas konnte, wusste er selbst nicht. Er ließ sich von seinen Gefühlen leiten – wie auch Oscar. Sie vergaß sich selbst und ihre Hüften pressten sich wie von alleine zu ihm. Und da spürte sie eine harte Wölbung in seinem Schritt. War das etwa sein... Oscar unterbrach überrascht den Kuss und schob sich etwas von ihm. „André...“ Ihre Augen weiteten sich, als sie einen flüchtigen Blick auf seinen Hosenbund warf. André folgte nicht ihrem Blick. Er ahnte bereits, was sie schon gespürt und gesehen haben mochte. Das machte ihn etwas verlegen und peinlich berührt. „Entschuldige... Dafür kann ich nichts, es kommt von alleine...“ „Schon gut...“ Oscar war ja nicht weltfremd aufgewachsen, um nicht zu wissen, was das zu bedeuten könnte. Am Hoffe gab es zu genügend Fälle, zu genügend Affären und Intrigen, um zu verheimlichen, was zwischen Mann und Frau so alles ablief. Aber wollte sie das auch? Wollte sie sich auch einem Mann geben, zu dem sie gerade erst ihre Liebe gestanden hatte? Wäre sie denn so leichtfertig? Nein, leichtfertig war sie nicht. Sie vertraute André nur zu sehr und war unsterblich in ihn verliebt. Oscar drückte sich wieder an ihn. „Halte mich bitte fest, ich möchte deine sein...“ André schloss sie wieder in seine Arme und musste schlucken. „Oscar...“, brachte er bedächtig von sich. Er wollte sie, das konnte er nicht verleugnen, aber da gab es noch eine wichtige Tatsache: „Bist du dir sicher? Hast du keine Angst? Immerhin geht es um deine Ehre...“ „Solange du mich in deinen Armen hältst, habe ich keine Angst und meine Ehre ist mir nicht von Bedeutung... Zumindest jetzt nicht...“, unterbrach ihn Oscar und sah zu ihm auf. Ein kokettes Lächeln stahl sich auf ihren Lippen. „Liebe mich, André, ich bin deine und niemand wird mir das nehmen können...“ „Ach, Oscar...“ André war hingerissen und senkte wieder seinen Mund über ihre weichen Lippen. Zu wissen, dass sie ihn derart liebte und bereit war, sich ihm gleich hinzugeben, rührte ihn zu tiefst. Er würde sie festhalten, so wie sie sich das wünschte und er würde behutsam mit ihr umgehen. Er würde ihr keinen Anlass für irgendeine Zweifel geben und ihr seine bedingungslose Liebe schenken... Das war seine Abmachung mit sich selbst und daran würde er sich halten. Kapitel 25: Mit Leib und Seele ------------------------------ „Oscar...“ „André...“ Im Rausch der steigenden Liebe erklangen ihre Namen nicht lauter als der Hauch eines Windes. Ihre Lippen versiegelten sich zu einem zärtlichen Kuss, ihre Herzen schmolzen und ihr Pulsschlag beschleunigte sich. „Oscar, meine Oscar...“ „André, mein André...“ Wieder erklangen ihre Namen und erneut trafen sich ihre Lippen zu einem innigen Kuss. Die Zungen umspielten sich gegenseitig spielerisch, fordernd und gleichermaßen leidenschaftlich. André strich Oscar über den Rücken, erreichte die Enden ihrer Uniformjacke und schlüpfte mit seinen Fingern darunter. Er spürte den Stoff ihres dünnen Hemdes und je näher er sich an ihr Becken herantastete, desto mehr wollte er von ihr. Oscars Hüften pressten sich ganz von allein an ihn und ihre Hände verweilten auf seiner breiten Brust. Ihr Körper hatte sich ganz instinktiv auf seine Berührungen reagiert und entfachte ein Begehren nach ihm. Das überraschte sie. Dies war eine völlig neue Seite an ihr, die sie selbst nicht kannte.  Oscar unterbrach den Kuss und schob sich etwas von André. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, in ihren Augen loderte das Feuer der Leidenschaft und dem Hunger nach mehr... Gleichzeitig machte sich aber auch eine gewisse Unsicherheit in ihr breit: Würde er nur sie lieben können? Er hatte zwar gesagt, sie sei seine Richtige und sie glaubte ihm, aber würde er wirklich, nachdem sie ihm sich und ihre Liebe geschenkt hatte, nur bei ihr bleiben? Könnte sie ihm vertrauen, dass er nach ihr nicht zu einer anderen Frau gehen würde? André schien etwas in ihrem Blick zu bemerken, denn sie verharrte reglos und sagte nichts. „Oscar...“, versicherte er ihr aufrichtig: „...ich schwöre bei meinem Leben, dass du die einzige Frau auf der Welt bist, die ich aus tiefstem Herzen liebe und jemals lieben werde...“ „André...“ Seine Worte machten Oscar kurz sprachlos, denn er schien sie zu durchschauen und nebenbei durchströmte eine Woge der Sicherheit in ihr. Nein, er meinte es ehrlich mit ihr und würde sie niemals gegen einer anderen Frau ersetzen – das las sie in dem liebevollen Blick seiner sanftgrünen Augen. Oscar fühlte sich jetzt schon bei ihm geborgen und so würde es für immer bleiben – darüber war sie sich nun mehr als sicher. „...und du bist der einzige Mann in meinem Leben, den ich aus tiefstem Herzen liebe und dem ich gehöre. Ich bin deine, mit Leib und Seele...“ Oscar entfernte sich leicht von ihm und begann ihre rote Uniformjacke auszuziehen. Langsam, Knopf für Knopf und mit festen Blick auf ihren Geliebten gerichtet, entledigte sie sich dem schweren Kleidungsstück und ließ es zu Boden fallen. Ein kribbelnder Schauer überzog ihre Haut, machte sie etwas unsicher vor dem was sie vorhatte und gleichzeitig durchströmte sie ein Verlangen, das sie noch nicht kannte, aber sich dennoch angenehm warm anfühlte und sich in ihrer Leistengegend ausbreitete. Auch ihre Brustwarzen reagierten auf die sich steigende Lust und traten spitz, begierig und hart unter ihrem Hemd hervor. André entging keine ihrer Bewegungen und vor allem nicht die kleinen Knospen ihrer Oberweite, die sich immer deutlicher durch den dünnen Stoff abzeichneten. Vorsichtig streifte er mit seinen Finger sanft über eine von ihnen, spürte die kleine Härte und seine Erregung wuchs ins Unermessliche. Oscars Wangen glühten, sie schloss die Augen und öffnete leicht ihre Lippen. Seine Berührungen gefielen ihr, sie wollte seine Hände auf ihrer Haut spüren und begann zaghaft an ihrem Hemd zu zehren. André umschloss auf einmal ihre Finger. „Warte“, sagte er, als er ihr Vorhaben durchschaute. Oscar schlug ihre Augen auf und ihr so begehrlicher Blick verwandelte sich augenblicklich in Verwunderung. „Was ist?“ „Keine Angst, Liebste, es ist nichts...“ André nahm ihre Hände zärtlich in die seinen. „Ich habe von nichts Angst!“, widersprach Oscar keck und André musste schmunzeln. Natürlich, so etwas wie Angst passte nicht zu so jemanden wie Oscar. „Also, was ist passiert, Geliebter?“ Andrés Schmunzeln wurde breiter. „Es ist nichts passiert, wirklich...“ Er küsste ihr die Finger und strich ihr dann die blonden Locken an der Schläfe. „...lass uns nur zu Bett gehen …und ich würde dir gerne beim Entkleiden behilflich sein, wenn du erlaubst?!“, sagte er mit einem Augenzwicker und zog seine Geliebte in Richtung Schlafzimmer. - - - Weiß. Ihre Haut war Schneeweiß - seine dagegen leicht von der Sonne gebräunt. Nur kurz fragte sich André, ob ihre Haut überhaupt jemals die Sonne gesehen hatte, während Oscar, so wie Gott sie erschuf, in sein Bett stieg und ihn beim Entkleiden seines letzten Kleiderstückes beobachtete. André hatte sich schon oft vorgestellt, wie Oscar unter ihrer Uniform aussehen könnte, aber die Wirklichkeit übertraf alle seine Erwartungen. Auf ihre Art war sie schön – für ihn war sie schön. So zartgliedrig und zierlich. Sie erschien ihm noch zerbrechlicher, als er es zuvor unter ihrer Uniform erahnt hatte. Er betrachtete sie verzückt, während er sich seines Hemdes entledigte und vollkommen Nackt zu ihr unter die Decke schlüpfte. Sein Bett war für zwei Personen zu schmal, aber das störte weder ihn noch Oscar. Sie drehten sich zu einander auf die Seite und schmiegten sich an einander. André strich ihr langes Haar von der Schulter nach hinten und legte seinen Arm um sie. Mit dem Feingefühl seiner Fingerspitzen tastete er ihr hauchzart über die Wirbelsäule. Ihr Körper war abgekühlt, in ihrem Herzen loderte jedoch das Feuer der Leidenschaft, das sah er in ihren verlangenden Blicken und das erinnerte ihn an jenen Tag, als er über sie einstmals ungeschickt gestolpert war. Er zog sie sachte an sich, um sie zu wärmen. „Du bist so wunderschön...“, murmelte er sanft und sah ihr tief in die Augen. Oscar lächelte mit rötlichen Wangen und küsste ihn auf den Mund. Auch sie hatte seinen Körper zuvor beim Entkleiden begutachtet und dabei ein Verlangen verspürt, das sie sich nicht erklären konnte, das aber ihren gesamten Körper durchströmte. Alles was sie wusste war, dass sie ihn wollte und dass sie ihm alles geben würde. „Für immer dein...“, hauchte sie in den Kuss hinein und drehte sich auf den Rücken, dabei zog sie ihn langsam mit sich. Aufgrund der Schmale des Bettes blieb André nichts anderes übrig, als mit seinem halben Körper auf ihr zu liegen, da er sonst aus dem Bett gefallen wäre. Er stützte sich auf einen Ellbogen ab, um sie nicht zu zerdrücken und mit der freien Hand erforschte er weiter ihren Körper. Ihre Haut war straff und fein, beinahe makellos. Wenn nicht da gewisse Narben und kaum sichtbare Abschürfungen gewesen wären. Darüber würde er sie später ausfragen, jetzt gab es wichtigeres. Seine Finger erreichten ihr kleines, aber wohlgeformtes Körbchen und streiften ihr um die aufgerichtete Knospe. Oscars Kehle entrann dabei ein leises Stöhnen. André gab ihre Lippen sofort frei und sah ihr verunsichert ins Gesicht. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja...“ Oscar lächelte ihn an und zog sein Gesicht wieder zu sich. „Es ist alles gut...“ Dann war dieses Stöhnen also ihrem Gefallen geschuldet, begriff André sogleich und küsste sie weiter innig. Ihre Bereitschaft, ihm ganz zu gehören, ermutigte ihn noch mehr. Seine Finger umschlossen fester ihre Brust und massierten sie vorsichtig. Wieder entrann Oscar ein Stöhnen, aber diesmal unterbrach André den Kuss nicht. Ihre Hände fuhren durch sein Haar und hielten sich dann an seinem Nacken fest. Sie verlor die Kontrolle über ihren Körper und ließ ihrem Begehren freien Lauf. Andrés Hand verließ ihren Körbchen und strich hauchzart an ihrem flachen Bauch herab. Er war neugierig und gleichzeitig fasziniert. Das war eine völlig neue Erfahrung für ihn zu wissen, was bei einer Frau da unten war und wie sich das anfühlte. Nein, nicht bei irgendeiner Frau, sondern nur bei Oscar. Er hatte schon davon geträumt, aber wieder einmal übertraf es seine kühnsten Erwartungen. Ihr zarter Flaum war etwas drahtig, aber weich und betörend. Er wagte mit seinen Fingern tiefer zu gehen – in ihre warme und feuchte Höhle. Hitze breitete sich in ihm aus und er konnte sich kaum noch beherrschen, so verführerisch und begehrenswert war sie. Oscars Oberkörper bäumte sich auf, ihre Hände rutschten dabei von seinem Nacken auf seine Schulter und ihre Finger krallten sich in seine Haut. André ließ ihre Lippen erneut frei und sie keuchte vor Wollust und Wonne. Sie wollte mehr und auch er wollte sie vollends besitzen. Er entfernte seine Hand von ihrer sensiblen Stelle, verlagerte sein Gewicht über sie und stützte sich auf seine beiden Arme ab. „Ich bin für immer dein...“, flüsterte er ihr atemlos zu und schob sich damit zwischen ihre Schenkel. Vorsichtig drang er in sie ein – darauf bedacht, ihr nicht weh zu tun. Ein leicht ziehender Schmerz durchdrang Oscar, doch sie bemerkte es kaum. Dennoch hielte sie kurz inne und stieß ein lautes Stöhnen aus. Ihre Hüfte hob sich ihm entgegen, ihre Hände schlüpften unter seine Arme und umklammerten fest seinen Rücken. André drang immer tiefer in sie ein – auf und ab, immer im gleichen Rhythmus setzte er seine Hüfte in Bewegung. Dass Oscar ihre Finger in sein Fleisch bohrte, nahm er kaum wahr. Er konzentrierte sich mehr auf ihr Stöhnen, auf ihr sich Winden unter ihm und auf sein Begehren. So etwas herrliches hatte er noch nie erlebt. Er wurde immer schneller. Auch Oscar passte sich unter ihm seinen rhythmischen Bewegungen an und verlor sich immer mehr in dieser unbeschreiblichen Wonne. Dann sammelten sich alle ihre Sinne zusammen, stiegen stürmisch in die Höhe und zerstreuten sich in alle Richtungen. Im gleichen Moment spannten sich auch bei André alle seine Sehnen an, er hielt inne und ergoss sich in ihr. Es war vollbracht, es war erfüllt – ein Ereignis, das sie beide zum ersten Mal miteinander verlebten und das überglücklich machte. Sie gehörten nun zusammen wie Mann und Frau. Das Keuchen wurde leiser und ging in gleichmäßiges atmen über. Nur ihre Herzen hämmerten noch wild von der nachlassenden Hitze der Leidenschaft. André musterte wohlwollend seine Oscar und wagte sich nicht zu bewegen. Er stützte sich auf seinen Armen ab, um zwischen ihren beiden Körpern etwas Freiraum entstehen zu lassen und ihren zierliche Körper nicht mit seinem Gewicht zu erdrücken. „Wie fühlst du dich?“, wollte er fragen, aber das brauchte er nicht. Oscar strahlte eine Glückseligkeit aus, die all seine Fragen beantwortete. Sie biss sich sanft auf die Unterlippe und lächelte ihn an. Ihre himmelblauen Augen glänzten verzückt, ihre Finger strichen ihm eine zugefallene Haarsträhne hinters Ohr und verweilten dort verträumt. „An was denkst du gerade?“, wollte sie von ihm wissen, als eine kurze Weile verstrich, in der er nichts sagte. „An den Sommer, als wir barfuß an dem See gefochten haben...“ André verlagerte sein Gewicht auf seine Ellbogen, um ihrem Gesicht nahe zu sein und fuhr leicht mit seinen Fingern darüber. „Du sahst so fröhlich und schön aus... Ich denke, es wurde mir damals zum ersten Mal bewusst, wie sehr ich dich liebe...“ „Auch mir bleibt dieser Tag unvergesslich...“ Oscar regte sich etwas unter ihm und wickelte seine Haarsträhne um ihren Finger. Sie wirkte etwas verträumt. „Wenn mir schon früher bewusst gewesen wäre, dass ich dich liebe und ich meine Gefühle nicht bekämpft hätte, dann wären wir schon seit jenem Tag zusammen...“ „Tief im meinem Herzen habe ich schon immer von deiner Liebe zu mir geahnt...“ André hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Wange. „...ich habe dir nur Zeit gegeben, damit du selbst über deine Gefühle entscheiden kannst und weil ich nie über dich bestimmen wollte.“ Oscar war gerührt. „Ich danke dir... für alles...“ „Für dich werde ich alles tun, meine liebste Oscar...“ André fuhr mit seinen Lippen an ihrem Ohrläppchen und dann über ihren Hals. Oscar senkte ihre langen Wimpern, reckte ihm ihr Kinn empor und genoss den Moment. Mit ihren Fingern fuhr sie durch sein dichtes Haar und ihr Becken bewegte sich kaum merklich. „André... nur einmal noch... lass mich nur noch einmal deine Frau sein... lass mich vergessen, wer ich bin...“ „Gern Oscar, meine geliebte Oscar...“ André setzte langsam seine Hüfte in Bewegung. Neue Wärme der Geborgenheit und Wonne stieg in beiden empor. Einfühlsam, zärtlich und liebkosend vollendeten sie ihre erste gemeinsame Liebesnacht. Kapitel 26: Pläne ----------------- Lange lagen sie an einander gekuschelt unter der Decke und versuchten ihre rasenden Herzen, ihren schnellen Atem zu beruhigen. Oscar schmiegte sich voller Vertrauen an ihrem Geliebten und strich ihm dabei mit dem Handrücken liebevoll über die Wange. André stützte sich auf einen Ellbogen und bettete seinen Kopf seitlich auf seiner Hand. Den anderen Arm legte er um Oscar und seine Finger umwickelten spielerisch einer ihrer blonden Locken. Ihre Haut war von gestillten Gelüsten mit einer feinen Röte überzogen. Ihre Beine waren miteinander verflochten und jeder spürte die warme Haut des anderen. Es war eng in diesem Bett, aber das störte sie nicht, denn auf anderer Seite war es auch gemütlich. Die Enge brachte sie noch näher zusammen und ließ sie sich nicht von einander trennen. Sie erkundeten gespannt die Gesichtszüge des anderen und lächelten sich gegenseitig geschafft, aber zufrieden und glücklich an. „Oscar...“ André unterbrach als erster die angenehm knisternde Stille: „...lass uns heiraten. Lass uns Mann und Frau werden. Natürlich nur, wenn es auch dein Wunsch ist...“ „Wie stellst du dir das vor?“ Oscar schmunzelte angetan. Die Vorstellung, ihn zu heiraten und mit ihm zu leben, war zu schön um wahr zu sein. Sie würde zwar dadurch einiges aufgeben müssen: Ihren Adelstitel, ihren Posten als Kommandant der königlichen Garde und ihren Rang, aber André war das alles Wert. Für sie war es nicht wichtig, dass sie unterschiedlichen Ständen angehörten. Alles was zählte, war die Liebe zwischen ihnen. Dennoch gab es Gesetze, die so eine Heirat nicht zuließen und ihnen Steine in den Weg legten. „Um heiraten zu dürfen, brauchen wir die Zustimmung des Königs und das würde er nie erlauben, denn eine Heirat zwischen Adligen und Bürgerlichen ist gesetzlich verboten.“ André musste das mit Bedauern einsehen. Warum müsste es nur solch ein absurdes Gesetz geben? Die Menschen waren doch vor Gott alle gleich! Ein Gesetz sollte nicht über die Liebe zweier Menschen entscheiden! Diese Entscheidung sollte den beiden Liebenden vorbehalten bleiben! Diese Gedanken machten André wütend und hilflos zu gleich, aber er wollte nicht so schnell aufgeben. „Dann heiraten wir heimlich!“, schlug er vor und missverstand ihren leicht irritierenden Blick. „Oder möchtest du nicht meine Frau werden?“ „Doch, André!“, protestierte Oscar fast erschrocken. Sie strich ihm die gefallene Haarsträhne zaghaft mit ihren Fingern vom Gesicht und verweilte dann wieder auf seiner Wange. „Ich möchte von ganzem Herzen deine Frau werden und so gesehen, bin schon deine Frau – mit Leib und Seele... Ich will nur nicht, dass dir etwas zustößt...“ „Wie kommst du darauf, dass mir etwas zustoßen könnte?“ „Du kennst den Hofadel nicht, André... Sie lieben Intrigen und spielen gerne jeden übel mit, der ihnen im Wege ist... Sie scheuen sich nicht vor Mordattentaten und gehen über die Leichen, wenn sie das für nötig halten... Ich kann mich behaupten, denn ich habe Ansehen und die Königin vertraut mir... Aber du wirst ihnen ausgeliefert sein, sobald sie von unserer Beziehung erfahren... Ein Bürgerlicher ist unter ihren Würden und deswegen, mein André, möchte ich unsere Liebe vorerst geheim halten...“ Auch diese Tatsache musste André einsehen. „Du hast recht... Dann bleiben wir vorläufig ein heimliches Liebespaar...“ Er zog sie an sich und schenkte ihr einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Nicht seinetwegen hatte er ihr zugestimmt, sondern ihretwillen. Ihm war es egal, wenn sein Leben in Gefahr sein würde, aber ihr nicht. Er wollte ihr keine Unannehmlichkeiten bereiten und erst recht nicht, wenn es um ihr Wohlergehen ging. Seine Hand strich ihr den Rücken hinauf, zu dem Schulter und Oberarm. Seine Finger ertasteten wieder die kleine Narbe und er erinnerte sich, worüber er sie eigentlich später ausfragen wollte. Er löste den Kuss und nahm die weiß glänzende Narbe auf ihrer Haut in Augenschein. „Wo hast du die her?“ „Das ist schon lange her...“, erwiderte Oscar schulterzuckend und beinahe gleichgültig: „Damals war ich etwa achtzehn Jahre... Ich habe Marie Antoinette von einem durchgegangenen Pferd gerettet und wurde dadurch von einem Ast verletzt... Stört dich die Narbe?“ Ganz schwach erinnerte sich André an eine Erzählung seiner Großmutter vor etlichen Jahren. Sie hatte von so einer ähnlichen Verletzung ihres Schützlings mit seiner Mutter gesprochen. Aber das lag ein knappes Jahrzehnt zurück. Seine Mutter gab es nicht mehr und auch sein Vater war schon lange tot. Andrés Brustkorb zog sich leicht bedrückend zusammen, als er an seine Eltern dachte und sich dabei an einen Schwur erinnerte... Er sah Oscar an und versuchte die letzte Worte seines Vaters zu verbannen. So gesehen, hatte er seinen Schwur nicht gebrochen. Er diente ja keinem Adligen und vor allem nicht Oscar. Er liebte sie nur vom ganzen Herzen und das war ein gewaltiger Unterschied. Und Oscar liebte ihn... André schüttelte kaum merklich sein Kopf, um ihr eine Antwort zu geben. „Nein. Ich finde es nur ungerecht, dass du dich so sehr für die Menschen aufopferst und dir dabei Schaden zufügst...“ Mit anderen Worten: Er fand es ungerecht, dass sie sich für die Personen opferte, die das eigentlich nicht verdient hatten. Das sagte er aber nicht. Er wusste wie Oscar zu Marie Antoinette stand und wollte sie daher nicht verstimmen. „Das ist aber schon längst verheilt...“, beruhigte Oscar und lächelte ihn verwegen an. Sie hatte noch andere Narben, aber damit würde sie ihn jetzt nicht belasten. Nicht jetzt, wo sie gerade erst frisch ihre gemeinsame Liebe Ausdruck verliehen hatten und sie diesen glücklichen Moment auskosten wollten. Doch schon tasteten sich Andrés Finger ihren Oberarm hinauf, schlüpften an ihrer Schulter unter ihrer Haarpracht und verharrten dann unter dem linken Schulterblatt. Er spürte die schmale, wulstige Wölbung und ihm wurde wieder mulmig. „Und diese Narbe hier?“, fragte er, als hätte er ihre Gedanken erahnt und wollte ihr deshalb widersprechen. Oscar seufzte genervt und verdrehte die Augen. Ihrem Geliebten schien nichts zu entgehen. „Weißt du noch, als ich mein Arm in der Schlinge getragen habe?“ André bejahte mit einem Laut und Oscar fuhr fort: „Ich hatte eine Nachricht erhalten, dass mich die Königin angeblich am späten Abend zu sich bestellt hatte. Aber dem war nicht so. Es war eine Falle und meine Kutsche wurde überfallen...“ „Ein Attentat...“ André ließ sie nicht weiter sprechen und seufzte schwer. „Ich erinnere mich, dass Großmutter so etwas erwähnt hatte... Das war die Zeit, als meine Mutter...“ Er verstummte abrupt und sprach nicht mehr weiter. Oscar erinnerte sich sofort an jenen Tag, als sie ihr einstiges Kindermädchen zur Beerdigung ihrer Tochter begleitet hatte und fühlte sich auf einmal schuldig. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht...“ „Schon gut, Liebes.“ André zog Oscar etwas enger an sich und lächelte matt. „Es ist schon lange her. Ich vermisse sie zwar noch immer, aber die Zeit hat längst die Wunden des Verlustes geheilt.“ „Aber es war bestimmt trotzdem schwer für dich... Immerhin warst du alleine...“ Oscar schmiegte sich an ihm. „Ich weiß noch, wie du damals das Angebot deiner Großmutter abgelehnt hast, bei mir auf dem Anwesen zu leben und zu arbeiten... Das hat mich tief bewogen und seit dem warst du immer ein Teil meiner Gedanken... Ich glaube, ich habe dich bereits an diesem Tag in mein Herz geschlossen... Ich wollte es nur nicht wahr haben... Vergibst du mir?“ Sie hob den Kopf und sah ihn erwartungsvoll an. André schmunzelte. Diese naive, unschuldige Oscar kannte er nicht, aber sie gefiel ihm genauso gut wie die temperamentvolle und selbstgerechte Oscar. Zwei Charakterzüge, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die nur zu Oscar passten. „Natürlich vergebe ich dir.“ André vergrub seine Finger in ihrem Haar, zog sachte ihren Kopf zu sich und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Dich trifft keine Schuld. Ich denke, wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen und uns mit hier und jetzt beschäftigen... Ich meine, wir lieben uns und das ist für mich im Moment das wichtigste...“ „Für mich auch.“ Oscar musste ebenfalls schmunzeln, als hätte er sie angesteckt. Aber er hatte Recht. Was nützte es jetzt an vergangene Fehltritte oder nicht gerade erfreuliche Ereignisse zu denken, wenn ihnen gerade das Schicksal das größte Liebesglück beschert hatte?! Daran sollten sie jetzt festhalten und ihre Zweisamkeit genießen, solange es noch ging. Draußen begann es derweilen langsam zu dämmern. Gelbbräunliche, schwache Lichtschatten an den grauen Wänden deuteten darauf hin, dass der Tag sich dem Abend neigte und dass die Sonne schon am Horizont runterging. „Ich muss dann wieder los...“, meinte Oscar mit einem leisen Seufzer. André seufzte daraufhin auch schwer. „Ich würde sagen, bleib noch hier... am besten für immer... aber ich habe nicht das Recht, dich aufzuhalten...“ „Ich will auch noch nicht gehen, aber wir müssen den Schein wahren...“ Oscar verlor sich noch ein letztes Mal in seinen grünen Augen, ließ sich noch einmal von ihm innig küssen und dann stieg sie aus seinem Bett. Ohne jeglichen Schamgefühl, umrundete sie sein Bett und suchte ihre Sachen auf, als wäre sie ganz alleine im Raum. Zuerst kam das Hemd und André war kurz davor, sie aufzuhalten. Aber er beherrschte sich krampfhaft. Es würden sicherlich noch mehrere solcher Momente geben, wo er Oscar wieder ganz alleine für sich haben würde... Die Frage war nur: wann? Es war selbstsüchtig, das wusste er, aber wenn man eine verbotene Frucht, die süß und betörend schmeckte, gekostet hatte, dann wollte man bekanntlich mehr davon... Aber so einfach war das leider nicht... Oscar richtete den Kragen und die Manschetten ihres Hemdes, setzte sich dann auf die Bettkante und zog ihre Hose an. Danach kamen die Stiefel und Uniformjacke. André betrachtete seine Oscar beim Anziehen ihrer Kleider und prägte sich jede ihrer Bewegungen ein. Sie hatte wieder einmal recht: Der Schein musste gewahrt werden. Wie lange das allerdings gut gehen würde, wusste er nicht zu sagen. Die Heimlichkeit hatte auch einen gewissen Reiz an sich. Im Verborgenen die Liebe auszukosten und sie vor allen Augen der Welt geheim zu halten, verursachte ihm ein Prickeln in der Magengrube. Die Gefahren jedoch, die dahinter lauerten, waren erschreckender. André wollte sich nicht vorstellen, was Oscar blühen würde, wenn ihre Liaison mit einem einfachen Mann aus dem Volk ans Tageslicht käme. Er schwor sich insgeheim, dass niemand je davon erfahren würde! Auch nicht seine Großmutter, denn sie lebte und arbeitete auf dem Anwesen de Jarjayes. Das war die einzige Möglichkeit, Oscar zu schützen, wenn er schon selbst nicht bei ihr sein konnte. Oscar hatte sich derweilen völlig angekleidet und ordnete den Orden an ihrer Uniform. Nun glich sie wieder dem kühlen und beherrschten Kommandanten. Nichts an ihr verriet, dass sie gerade eben eine leidenschaftliches Liebesabenteuer verlebt hatte. Sie ging gemäßigten Schrittes an sein Bett zurück und setzte sich auf die Kante. „Kommst du morgen zur Fechtübung?“, fragte sie ihn im sachlichen Ton. „Bedauerlicher Weise nicht, denn morgen beginnt wieder mein Dienst in der Kaserne.“ André setzte sich auf und griff nach ihrer Hand, als wolle er sie nicht gehen lassen. Einerseits stimmte das ja auch, er wollte sie nicht gehen lassen. Allerdings hatten sie sich etwas vorgenommen und daran wollte er sich halten. Er führte ihre Hand an seine Lippen und hauchte einen Abschiedskuss auf ihren Handrücken. „Aber du kannst mich dort besuchen, wenn du Zeit hast. Du könntest vorgeben, mir eine Nachricht von meiner Großmutter übermitteln zu wollen oder so ähnlich. Sie ist ja nicht mehr die Jüngste und ein Weg nach Paris könnte sehr anstrengend für ihre alten Konchen sein.“ „Das ist klug gedacht von dir, André.“ Oscar lächelte für einen Wimpernschlag verschwörerisch und wurde gleich wieder ernst. „...und ich hätte mich vielleicht dazu wirklich hinreißen lassen, aber ich bin eine schlechte Lügnerin.“ „Du belügst doch niemanden. Vielleicht fragst du meine Großmutter wirklich, ob sie für mich etwas kochen oder backen kann und du bringst es dann zu mir, aus Rücksicht auf ihren hohen Alter, so zu sagen.“ „Die Idee ist gar nicht so übel.“ Oscars Mundwinkel zogen sich verstohlen nach oben und sie fuhr ihm mit ihrer freien Hand durch sein braunes Haar. „Aber würde dadurch nicht jemand Verdacht schöpfen?“ „Darüber mache dir keinen Kopf. In der Kaserne sind alle bürgerlich wie ich. Außer unserem Oberst, aber dieser ist meistens Unterwegs. Die Söldner sind nicht nur meine Kameraden, sondern auch meine Freunde und sie wissen eigentlich schon seit langem über meine Gefühle zu dir. Wir vertrauen uns und zählen aufeinander.“ „Nun gut, ich werde schauen, was sich machen lässt“, versprach ihm Oscar listig und schenkte ihm noch einen allerletzten Kuss, bevor sie seine Wohnung verließ. - - - Draußen versteckte sich die rotglühende Sonne bereits zur Hälfte hinter dem Horizont und verfärbte die Umgebung in ein rötliches Licht. Die Menschen schlossen ihre Läden, kehrten Heim oder gingen in eine billige Spelunke, um ihren Leid zu ertränken. Es war das erste Mal, dass Oscar ihr Pferd vor Glückseligkeit und Herzrasen antrieb. Sie verließ die große Stadt und lachte aus voller Inbrunst, bis ihr die Freudentränen die Sicht verschwammen. Sie spürte noch seine Hände an ihrem Körper, seine sanfte und gleichzeitig leidenschaftliche Küsse überall auf ihrer Haut und ihn selbst in ihr... Es war, als wäre sie neu erschaffen und durfte ein anderes Leben führen... Auf einer Hinsicht stimmte das ja auch. Ab heute würde sie ein Doppelleben führen müssen. Oscar dämpfte im schnellen Galopp ihre flatternde Gefühle, fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und wurde wieder ernst. Niemand, kein Mensch durfte etwas von ihrem André und ihrer Liebe zueinander wissen! Nur so konnte sie ihn vor den Machthungrigen und verschlagenen Aristokraten schützen! Und auch Rosalie und Sophie durften nichts von ihrer gemeinsamen Liebe erfahren. Obwohl die beiden sehr vertrauenswürdig waren, trotzdem wäre es für ihre eigene Sicherheit besser, wenn sie von nichts wissen würden. Oscar würde alles daran setzen, um ihren Liebsten zu beschützen! Kapitel 27: Sorge ----------------- Nachdem seine geliebte Oscar fort war, stieg auch André aus seinem Bett und zog sich an. Immer wieder schweiften seine Gedanken an die erfüllte Liebe zwischen ihr und ihm. Das war ein schöner und unvergleichlicher Erlebnis. Er hatte das Eis in ihr zum Schmelzen gebracht und ein loderndes Feuer entfacht, das weder gekünstelt noch verstellt war. In ebendiesem Feuer der Leidenschaft, hatten sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen und sich ihrer Liebe hingegeben. In seinen Ohren hallte ihr begehrliches Stöhnen und der Hunger nach mehr. Sie konnten sich noch formen und mehr von sich geben, wenn sich ihre Liebe im weiteren Verlauf noch mehr entfalten würde. André schmunzelte breit, zog sein letztes Kleidungsstück an und ordnete noch die Manschetten an seiner Ausgehjacke. Bevor er seine Wohnung verließ, wollte er noch sein Bett richten. Er nahm die Decke und schüttelte sie kräftig, dabei fiel sein Blick beiläufig auf das Laken und er erstarrte. Ein kleiner, etwas verschmierte Blutfleck, war darauf zu sehen. Woher der stammte, darüber musste er nicht einmal nachdenken. In seinem Leben hatte er schon genug von Entjungferungen gehört und dass es meistens Blut von der Frau gab, wenn eine gewisse Sperre durchbrochen war. In den früheren Jahrhunderten und auch noch in diesem gab es sogenannte Hochzeitsbettzeremonien, in denen man das frischvermählte Paar vor allen Augen entkleidete, unter den Segnungen der Kirchmänner ins Bett geleitete und am nächsten Morgen die blutbefleckte Laken an einer Wand in großer Speisehalle aufhing, um die Jungfräulichkeit der Frau zu bestätigen. Meistens geschah das in Adelskreisen, aber auch unter dem Volk gab es jene Gebräuche. Auch in ihrer Zeit hielt man an derlei Gebräuchen fest, wenn auch eher um den Wunsch des Mannes oder der Eltern des jungen Paares zu entsprechen. André war froh, dass sie nicht mehr im Mittelalter lebten und er seiner Geliebten das ersparen konnte. „Oscar...“, sein schlechtes Gewissen keimte in ihm auf. Er wollte ihr doch nicht weh tun und fragte sich insgeheim, ob er das nicht doch unbeabsichtigt getan hatte. Soweit er sich erinnerte, hatte Oscar kein verräterisches Schmerzenslaut von sich gegeben. Sie war leidenschaftlich und feurig. Also hatte sie vielleicht keine Schmerzen gespürt. Oder doch und wollte es nur nicht zugeben? Ihr unergründliches Wesen war ihm ein Rätsel. André atmete tief ein und aus. Was soll´s. Ihr hatte es gefallen, das war nicht zu Übersehen und das beruhigte sein plagendes Gewissen etwas. André zog die Laken ab, faltete sie zusammen und brachte sie zu Madame de Soisson zum Waschen. Das war nichts ungewöhnliches. Sie wusch für ihn die Sachen ebenso, wie für sich und ihre eigenen Kinder. Zusätzlich wollte er ohnehin bei ihr seine Uniform abholen. Und zum Abendbrot bei ihnen war er ebenfalls schon eingeladen, wie meistens - also ging er, sich nichts dabei denkend, hin. Alain öffnete ihm die Tür. „Wir dachten schon, du kommst nicht mehr!“, grinste er und ließ ihn herein. „Mich wirst du nicht so schnell los!“, witzelte André und grüßte die beiden Frauen mit einem freundlichen Nicken. Diane kam ihm entgegen und nahm ihm die Laken ab. „Ich lege das gleich zu uns in die Wäsche und du setze dich schon mal an den Tisch, das Abendbrot ist gleich fertig. Ich bringe dir dann gleich deine Uniform.“ „Danke.“, André tat wie ihm geheißen und schon im nächsten Augenblick saß er Alain gegenüber. „Wie war die Fechtübung?!“, wollte Alain sogleich neugierig von ihm wissen und fügte grinsend hinzu: „Hat die eiskalte Schönheit etwa schon wieder gewonnen oder hast du es ihr diesmal gezeigt?“ Bei diesem Vergleich musste André breit schmunzeln. „Sie ist nicht eiskalt“, entfuhr es ihm. Alain machte sich nichts daraus. Es war nichts Neues, dass André diese Frau in Männerkleidern verteidigte. Zumal sein Freund in sie ohnehin unsterblich verliebt war. „Also, wie war nun die Fechtübung?“ „Sie hat nicht stattgefunden.“ Andrés Augen glänzten dabei eigenartig, geheimnisvoll. „Oscar war heute bei mir zu Besuch.“ Mehr sagte er nicht, als erkläre er damit alles. Madame de Soisson stellte einen Topf mit Kartoffelsuppe und kleinen Fleischstücken darin auf den Tisch. Sie verteilte sie auf die Teller, die auf einem kleinen Stapel daneben standen. Erst für André, dann für ihre Kinder und anschließend für sich selbst. „Diane! Komm, das Essen steht schon auf dem Tisch!“, rief sie dabei laut ihrer Tochter zu und hörte gleich die Antwort: „Ich bin gleich da, Mutter!“ Das junge Mädchen erschien gleich darauf und setzte sich zu ihrem Bruder. „Du bist heute irgendwie anders, so glücklich“, bemerkte sie zu André. Dieser winkte ab. „Ich bin so wie immer.“ „Wenn du meinst.“ Diane lächelte, was bedeutete, dass sie ihm zwar nicht richtig glaubte, aber nachhaken würde sie auch nicht. Es war nicht ihre Art und sie war nicht so hartnäckig beim Ausfragen wie ihr Bruder. Nach einem kurzen Dankesgebet begannen sie zu essen. „Nun, sag schon, was wollte sie denn von dir?!“, forderte Alain von seinem Freund zwischen zwei Bissen. „Nichts. Wir haben uns nur gut unterhalten.“ André biss in die halbtrockene Brotscheibe und schob sich ein Löffel Suppe in den Mund, um nicht weiter reden zu müssen. Obwohl Alain und seine Familie sehr vertrauenswürdig waren, wollte er die Wahrheit lieber doch noch für sich behalten. Zumindest vorerst. Die Liebe zwischen ihm und Oscar hatte doch erst begonnen! „André?“, Diane unterbrach ihn gleich als nächstes. Ihr fiel etwas ein, was sie doch noch neugierig machte und sie daher unbedingt wissen wollte. Sie musterte ihn ausgiebig, als suche sie etwas. „Hast du dich irgendwo verletzt oder so? Da war ein Blutfleck auf deinen Laken.“ André suchte schnell nach einer passenden Antwort. „Ein Blutfleck? Nein... das kann nicht sein... Ich weiß von nichts.“ Madame de Soisson sah ihn skeptisch von der Seite an, Diane verstand sein leicht verlegenes Stottern nicht und hatte das Gefühl, dass er etwas zu Verbergen versuchte. „Geht es dir gut, André?“ „Mir geht es bestens.“ André verfluchte sich innerlich für seine Aufregung, die ihn nicht nur mit kleinen Schweißperlen auf der Stirn verriet, sondern ihn auch als einen Lügner vor den Menschen darstellte, die für ihn wie eine Familie waren. Alain starrte ihn die ganze Zeit entgeistert an, während sein Löffel ihm immer mehr aus der Hand und mit einem lauten Scheppern in den Teller zurück fiel. „Sag nicht, dass es das ist, was ich jetzt gerade denke...“, formten seine Lippen im halblauten Ton. „Und was denkst du?“, fragte Diane neugierig, aber ihr Bruder hatte nur André im Visier. Dieser schaute abwechselnd zwischen beiden Frauen und dann zu seinem Freund. In seinen Blicken herrschte Verwirrung, als fühle er sich ertappt und versuchte sich nun herauszureden oder sich erfolglos zu verstellen. Alain klappte den Mund wieder zu und zog eine Braue in die Höhe. „Also doch! Du hast sie...“ „Und wenn?!“, konterte André direkt und entrüstet. Er konnte nicht mehr all diesen bohrenden, vorahnenden und erwartenden Blicken standhalten. Es kam jetzt nicht mehr darauf an, dass sein Geheimnis kein Geheimnis mehr war. „Wir lieben uns! Sie hat mir ihre Liebe gestanden und dann ist es passiert! Oder denkst du von mir, dass ich über sie hergefallen bin?!“ „Nein, mein Freund, du nicht.“ Alain schüttelte fassungslos den Kopf. Er hatte sofort das Bild vom letzten Winter im Geiste. „Du bist zu so etwas nicht fähig. Ich frage mich nur, ob du dir gerade nicht selbst ein Grab schaufelst... Immerhin ist sie adlig und hoch angesehen, im Gegensatz zu dir...“ „Na und?!“ André verstand schon, was Alain damit meinte, aber er würde seine Liebe deswegen nicht aufgeben. Er würde für sie mit allen Mitteln kämpfen, auch wenn es sein Leben fordern würde. „Wir werden auf uns schon gegenseitig aufpassen!“ „Dann solltet ihr als erstes aufpassen, dass sie nicht guter Hoffnung wird und dir in neun Monaten ein Kind schenkt, André“, mischte sich Madame de Soisson mit Bedacht ein. Ein Kind? Ihre Worte trafen André mehr als die von Alain. Nun war er entgeistert. Ruckartig richtete er sein Augenmerk auf Madame de Soisson und brachte kein Wort mehr heraus. Daran hatte er nicht gedacht. Wie den auch?! Die Leidenschaft war einfach zu verführerisch und reizvoll, um über so etwas gleich beim ersten Mal nachzudenken. Er schluckte. Wenn Madame de Soissone recht haben und Oscar außerhalb der Ehe schwanger sein würde, dann würde man ihr etwas Schlimmes antun. Die Adligen waren da doch alle gleich und pochten auf die Familienehre mehr als auf die Gefühle ihrer Kinder. Besonders Töchter züchteten und hüteten sie streng, damit sie brav und gehorsam waren. Oscar wurde zwar wie ein Mann erzogen und konnte sich behaupten, aber sie war eine Frau und André bekam auf einmal Angst um sie. Madame de Soisson musste ebendiese Angst von seinem Gesicht abgelesen haben und schenkte ihm daher ein sanftes Lächeln. „Das muss aber nicht heißen, dass sie gleich beim ersten Mal schwanger wird, André“, versuchte sie ihn zu beruhigen: „Wenn ihr Bauch spätestens ab den vierten oder fünften Monat nicht gewachsen ist, dann ist es nichts passiert. Und zuvor muss ihr Monatsfluss ausfallen, aber das besprichst du lieber mit ihr selbst.“ André nickte kaum merklich und fühlte sich etwas leichter. Er würde beim nächsten Treffen mit Oscar darüber reden, das nahm er sich fest vor. Aber zuerst brauchte er etwas zu Trinken, um das Gehörte besser zu verdauen. „Hast du Lust auf ein kühles Bier?“, fragte er Alain und schielte zu ihm. „Aber klar doch!“ Alain grinste wieder breit und zwinkerte ihm mit einem Auge zu: „Immerhin müssen wir deinen Erfolg abfeiern!“ Und nicht nur das! Auf dem Weg zum Gasthof gab Alain seinem Freund noch gewisse Ratschläge auf Bezug des Beischlafes und wie man es verhindern könnte, dass die Geliebte danach kein Kind in sich trug. „...oder man geht eher raus, wenn du weißt was ich meine, und erledigt sein Geschäft außerhalb. Oder sie trinkt regelmäßig einen Petersilienwurzel oder benutzt Essig...“ Alain zählte noch mehr solche Methoden auf, wie die Frauen verhinderten, das sogenannten Saatgut eines Mannes zu empfangen. Nun ja, die Sorte von Frauen, von denen Alain sprach, bedienten ihre Freier in herkömmlichen Gasthäusern, billigen Spelunken oder auch vornehmen Freudenhäusern und mussten natürlich sich damit auskennen. Aber nicht doch eine vornehme, edle Dame aus adligem Hause! André schreckten manche Methoden ab, manche widerten ihn an und bescherten ihm ein flaues Gefühl im Magen, aber er sagte nichts dazu und prägte sich einige davon. Alain war eben erfahrener und gewandter mit Frauen als er. Allerdings woher Alain so viel Wissen hatte, was Frauen benutzen mussten, um kein Kind zu empfangen, blieb ihm ein Rätsel. Haben sie ihm das etwa bei seinem Geschäft ins Ohr geflüstert? André schüttelte sich - er würde Oscar niemals zwingen etwas zu trinken oder zu machen, was sie nicht wollte. Die unangenehme Dinge würde er selbstverständlich auf seine Kappe nehmen und niemals zulassen, dass seiner Geliebten etwas zustoßen würde! Kapitel 28: Neue Bekanntschaft ------------------------------ Der Gasthof, in den André und Alain einkehrten, war gerammelt voll mit durstigen und lauten Gästen. Es erinnerte André fast an diese Stube, wo er mit einer vulgären Brünette mit grauen Augen konfrontiert wurde... „Vielleicht sollen wir lieber woanders hingehen?“, schlug er mit ungutem Gefühl seinem Freund vor und schaute sich achtsam um. Die Männer widmeten sich lieber dem Bier und ihrem leutseligen Gelage, als zwei Neuankömmlinge zu beachten. Wenigstens tanzten hier keine Frauen auf den Tischen – im allgemeinen sah man hier keine Frau. Auch nicht solche, die Bier austrugen und die Gäste mit ihrer zur Schau gestellten Oberweite bezirzten. „Denkst du, in andren Gasthöfen sieht es anders aus?“ Alain lachte derb und schob seinen Freund über die Türschwelle. „Da drüben ist noch frei!“ Er wies ihm mit seinem Kinn in einer Ecke, wo in der Tat ein einigermaßen freier Tisch war. Allerdings saßen dort bereits zwei Männer. „Wenn wir nett fragen, dann können wir vielleicht mit ihnen ein Bierchen trinken. Immerhin sieht es besser aus, als das ganze Getümmel hier und eine gute Gesellschaft würde dich vielleicht von deinen Sorgen noch mehr befreien.“ „Wenn du meinst...“ André verdrehte die Augen und stimmte ihm schlussendlich zu. Sie schoben sich zwischen Bänke, Stühle und vorlauten Trunkenbolden; bekamen von einem oder anderen ein Schimpfwort zum Hören, aber je näher sie an den besagten Tisch ankamen, desto mehr öffnete sich die Sicht auf die beiden Männer. Alle beide waren bürgerlich, aber vornehm wie Studenten oder Juristen angekleidet. André blieb mitten auf dem Weg wie angewurzelt stehen und bewog Alain dazu das gleiche zu tun. „Was hast du jetzt schon wieder?!“, neckte ihn Alain missmutig, als er sich zu ihm umsah. André beachtete ihn nicht weiter und wies ihm erstaunt auf einen der Männern mit seinem Blick hin. „Kommt dir dieser nicht bekannt vor?“ „Hmpf.“ Alain betrachtete den Mann nun genauer auch und verengte seine Augen zu Schlitzen. „Du hast recht. Ich habe ihn schon mal gesehen. Und er sieht dir ähnlich...“ André fiel der Vorfall ein und er half seinem Freund auf die Sprünge. „Als Rosalies Mutter von der Kutsche einer Adligen überfahren wurde, war er auch dabei gewesen. Er hat sich für Rosalie eingesetzt und wollte ihr helfen. Und dann war er auch bei Beerdigung dabei. Seit dem hatten wir von ihm auch nichts mehr gehört.“ „Jetzt wo du es sagst, fällt es mir wieder ein.“ Alain setzte seine Füße in Bewegung. „Um so leichter wird es uns fallen, mit ihnen Bekanntschaft zu machen!“ Erneut verdrehte André die Augen: Alain war unverbesserlich! Gemeinsam erreichten sie den Tisch und Alain kam sogleich ins Gespräch: „Guten Abend die Herren! Mein Name ist Alain de Soisson und das ist mein bester Freund André Grandier. Können wir uns zu euch setzen? Wir sind gerade auf der Suche nach einem freien Plätzchen...“ „Danach könnt ihr lange suchen. Setzt euch ruhig zu uns.“ Der ältere Mann mit Perücke lächelte und stellte sich gleich vor: „Mein Name ist Maximilien de Robespierre und das ist mein Schüler Bernard Châtelet. Er ist ein angehender Journalist und ich bin ein Anwalt für das Volk.“ „Ein Anwalt für das Volk?“ André tauschte mit Alain einen fragenden Blick und nahm mit ihm Platz gegenüber den beiden Männern. „Ja, ein Anwalt für das Volk.“ Robespierre verstand ohne weiteres, dass dieser Begriff für die beide ganz neu war und erklärte es ihnen bereitwillig genauer: „Ich helfe den armen Menschen auf die Beine zu kommen. Der Adel presst durch Erhöhung der Steuer aus ihnen das letzte Blut heraus und ich kämpfe dagegen an. Bisher habe ich noch nicht viel erreichten können, aber irgendwann werde ich das gewiss! Das Volk explodiert doch schon, wenn es das Wort Adel nur hört. Das heißt, es wird nicht mehr lange still halten und die Unterdrückung erdulden, sondern handeln!“ Die Worte von Robespierre beeindruckten die beide Freunde, aber der Mann selbst war weder André noch Alain geheuer. Etwas düsteres lag in seinen Blicken, etwas das sie nicht direkt beschreiben konnten. André musste dabei an Oscar denken. „...aber es sind doch nicht alle Adligen gleich“, entfuhr es ihm unbeabsichtigt. Alain stieß ihm unter dem Tisch mit seinem Fuß an der Wade, aber es war schon zu spät. Die beiden Männer hatten André deutlich gehört und zogen missmutig ihre Augenbrauen zusammen. „Dann nennt einen Beispiel!“, verlangte Bernard sogleich. Die zwei Männer kamen ihm bekannt vor, aber er konnte sie zu seinem Leidwesen nirgends mehr zuordnen. Daher verlegte er es auf später und konzentrierte sich auf das eigentliche Thema. „Habt Ihr etwa schon einen Aristokraten gesehen, der sich für das einfache Volk einsetzt?“ „Eine tut es mit Sicherheit.“ André sah Bernard offen ins Gesicht. Im Gegensatz zu Robespierre, verursachte dieser Mann ihm kein Unbehagen. „Und ihr Name ist Oscar Francios de Jarjayes.“ „Was für ein komischer Name für eine Frau!“ Bernard glaubte ihm nicht. Robespierre dagegen verzog sein Gesicht. „Die kenne ich schon. Wir sind uns vor vielen Jahren in Arras begegnet. Sie ist Kommandant in der königlichen Leibgarde. Anfangs schien sie mir aufrichtig zu sein, aber im Grunde genommen denkt sie wie alle ihresgleichen und hat keine Ahnung, das das Land hungert und stirbt. Sie war entsetzt, als ich ihr von der Habgier und der Verschwendungssucht der Königin erzählt habe. Das hat mir dann die Augen geöffnet, dass sie nichts weiter ist, als eine Marionette Ihrer Majestät und wird daher genauso wenig einen Finger krumm machen, um dem einfachen Volk zu helfen.“ André kam es vor, als hätte er einen Stoß ins Zwerchfell bekommen. Widerwillig musste er Robespierre in einem Punkt zustimmen: Oscar war eine Marionette der Königin und diese hatte über sie die volle Macht. In dem anderem Punkt aber, widersprach er: „Oscar Francois de Jarjayes ist der gütigste Mensch, den ich kenne!“ Ihm passte es auch nicht, wie Robespierre und Bernard über Oscar redeten. Alain stieß ihn erneut mit seinem Fuß unter dem Tisch – diesmal noch kräftiger, aber André reagierte nicht darauf. Robespierres Gesichtszüge wurden noch härter. „Wie interessant. Wieso seid Ihr Euch denn so sicher?“ „Meine Großmutter arbeitet als Haushälterin auf dem Anwesen und ich besuche sie öfters.“ André richtete seinen Augenmerk von Robespierre auf Bernard. „Ich weiß nicht, ob Ihr Euch an mich und meinen Freund erinnert, aber an das Mädchen, dessen Mutter von einer Kutsche der Adligen überfahren wurde, ganz bestimmt. Oder?“ André sah förmlich, wie bei Bernard sich Augen weiteten und wusste, dass er ins schwarze getroffen hatte. „Ich habe seither nichts mehr von ihr gehört...“, murmelte Bernard überrascht. „Ich schon.“ André schmunzelte hinterlistig. „Ihr Name ist Rosalie und sie wohnt schon seit Jahren im Hause de Jarjayes. Kommandant Oscar hat sie bei sich aufgenommen und sogar die Mörderin ihrer Mutter gefunden. Leider haben sie keine Beweise, um sie zu überführen...“ „Na seht Ihr?“, mischte sich Robespierre unbeeindruckt ein: „Für die Adligen braucht man Beweise, um sie für ihren Verbrechen zu bestrafen, aber ein einfacher Bürgerlicher würde an dieser Stelle sofort und ohne gerichtlichen Prozess hingerichtet. Deswegen sagt mir nicht, dass nicht alle Adligen gleich sind!“ Robespierre erhob sich. „Ich wünsche euch beiden einen schönen Abend. Bernard, kommt Ihr?“ „Ja.“ Bernard nickte, aber bevor er seinem Mentor folgte, umrundete er den Tisch und beugte sich zu André etwas vor. „Wenn Ihr einen Augenblick warten würdet, dann komme ich gleich wieder. Ich möchte, dass Ihr mir mehr über Rosalie erzählt.“ Er lächelte matt, dann folgte er seinem Lehrer nach. André sah verdattert dem Journalist nach, während Alain aufstand und an der Theke zwei Bier bestellte. Als er zurück kam, hatte André sich schon gefangen. „Ein merkwürdiger Mann dieser Robespierre.“ Alain stellte einen Krug vor seinem Freund und setzte sich neben ihm. „Aber wo er recht hat, hatte er recht.“ „Wie meinst du das jetzt?“ André nahm einen Schluck Bier und stellte den Krug wieder ab. „Ich meine, zum Glück war dein schöner Kommandant nicht dabei. Wenn dieser Robespierre sagt, dass das Volk schon beim Wort Adel explodiert, dann wärst du nicht der Einziger, der sie heute gehabt hätte.“ „Ich weiß immer noch nicht, was du willst.“ André verzog sein Gesicht, aber insgeheim gab er ihm recht. Und dennoch rechtfertigte er sie. „Oscar würde niemals in so eine Spelunke kommen.“ „Weil sie zu fein dafür ist?“ Alain grinste unglaublich und erinnerte ihn gleich an ein Vorfall. „Nun, einmal hatte sie es doch gewagt...“ „Hör auf, Alain! Dieser Vorfall ist Schnee von gestern! Ich werde es nicht zulassen, dass ihr etwas geschieht!“, widersprach André und Alain wechselte das Thema, um nicht auf dessen getroffene Ehrgefühl einzugehen. „Was hältst du eigentlich von diesem Bernard? Wirst du auf ihn warten?“ „Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll.“ André war froh und seinem Freund über das Themawechsel dankbar. „Er scheint mir aber besser zu sein, als dieser Anwalt für das Volk.“ „So sehe ich das auch.“ Alain nahm sich ein kräftigen Schluck. „Da ist unser Jean viel Frommer im Gegensatz zu ihm.“ „Da könntest du recht haben – Jean betreibt zwar eine kleine Organisation im Untergrund, aber öffentlich wirst du nie von ihm etwas hören.“ André tat es ihm gleich und prostete ihm zu. - - - Bernard kam etwas später in den Gasthof zurück, um mehr von Rosalie zu erfahren. André erzählte ihm, wie gut es ihr bei Lady Oscar ging und verbarg gar nicht, wie freundschaftlich verbunden er zu dieser Frau in Männerkleider stand, oder wie gutherzig sie war. Er wollte damit nur erreichen, dass man über Oscar nicht so schlecht dachte. Bernard zweifelte - das sahen die beide Freunde ihm an. „Ich werde es vielleicht erst dann glauben, wenn ich es mir eigenen Augen sehe“, war seine Aussage. „Nur zu“, erwiderte André. „Ihr wisst ja sicherlich, wo sich das Anwesen de Jarjayes befindet.“ „Ich werde es schon finden.“ Im Gegensatz zu Abneigung gegenüber Oscar, empfand er zu André eine Sympathie. „Aber erzählt mir erst über euch. Ihr scheint anständige und nette Männer zu sein.“ „Wir sind einfache Söldner, im Gegensatz zu königlichen Garde – dort sind sie alle adlig.“ Alain schielte zu seinem Freund und grinste breit. „André kenne ich von Kindesbeinen an – wir sind in der Nachbarschaft zusammen aufgewachsen.“ „Das muss ziemlich aufregend gewesen zu sein.“ Bernard war von Natur aus ein ernster Mensch, was ihn von den beiden unterschied. Dennoch fühlte er sich wohl in deren Gesellschaft und taute auf. Er zeigte sogar hin und wieder ein Schmunzeln, wenn einer der beiden über all möglichen Schabernack, welches sie in ihrer Kindheit und Jugend betrieben hatten, ausschweifend erzählten. Nicht lange und die drei Männer schlossen eine gute Bekanntschaft miteinander. Bernard erfuhr noch zusätzlich, wie André und Alain ihr Brot verdienten und versprach sie irgendwann in der Kaserne zu besuchen, um sich ein Bild von den einfachen Soldaten zu machen. Als angehender Journalist wollte er eine gute Geschichte darüber zu schreiben – im Vergleich zum königlichen Garderegiment und wie diese im verschwenderischen Überfluss in Versailles lebten, während die Söldner in der Kaserne bei Paris nur eine magere Kost bekamen. Kapitel 29: Majestätsbeleidigung -------------------------------- Seit einem Monat befand sich André wieder in der Kaserne, aber die Aussicht auf freie Tage waren vergebens. Oscar kam nicht zu Besuch. Es gab da ein Gerücht über Majestätsbeleidigung und André konnte sich schon denken, dass sie daher alle Hände voll zu tun hatte. Es ging um eine sehr kostspielige Kette, die die Königin gekauft hatte, aber nicht zahlen wollte. Das erwies sich als Schwindel und es wurden die Übeltäter verhaftet. Darunter eine gewisse Jeanne de Valois. Der Name sagte niemanden etwas, aber ihre Standhaftigkeit vor Gericht und die Behauptungen gegen die Königin, imponierte den Bürger größtenteils. Und auch manchen Adligen. Der Prozess zog sich in die Länge und in der Stadt kursierte immer mehr Gerede über diese, zu unrecht verurteilte Frau. In den Augen der einfachen Menschen, war die Königin die Schuldige und nicht Jeanne. André seufzte auf seinem Posten. Wann würde es endlich freie Tage geben?! Der Herbst brach schon langsam an und er hatte Oscar kein einziges Mal mehr gesehen. Immer wieder dachte er an die Worte von Alains Mutter und machte sich  Sorgen um sie. Ob ihr Bauch schon zu wachsen begann? Oder hatten sie beim ersten Mal Glück gehabt und Oscar war nicht schwanger geworden? Das alles hätte er gerne gewusst, aber leider war er in der Kaserne verpflichtet und sie in Versailles. „Wie lange müssen wir noch hier die Wache schieben?“, fragte er seinen Freund, um von den Gedanken abzukommen. „Bis zum Morgengrauen“, brummte dieser verstimmt. André konnte seine miese Laune verstehen, denn es war kurz nach Mitternacht und zum allen Überdruss, regnete es noch in Strömen. Obwohl sie wasserfeste Umhänge an hatten und der Regen ihnen in der kleinen Bude vor dem Eingangstor so gut wie nichts anhaben konnte, trotzdem war die Nachtwache nicht gerade erheiternd. Sie Patrouillierten am geschlossenen Tor und vernahmen urplötzlich gedämpfte Hufschläge eines Pferdes. Jemand musste entweder nicht bei Sinnen sein, oder war genauso bei diesem miserablen Wetter arm dran wie sie. Die Hufschläge wurden Lauter und es hörte sich danach an, als würde das Pferd auf die Kaserne zu reiten. „Bestimmt irgendein Bote für unseren Oberst aus Versailles“, vermutete André und spitzte seine Ohren noch mehr auf. Er spähte mit Alain aufmerksam durch die verregnete Finsternis der Nacht. Gut, dass am Torpfosten zwei Laternen befestigt waren. Zwar half das nicht für die Ferne, aber für die nähere Sicht immerhin. Das Pferd kam immer näher und schon bald zeichnete sich dessen grauer Umriss ab. Es müsste bestimmt ein weißes Schimmel sein. Auch ebenfalls eine in einen Regenumhang gehülte Gestalt wurde deutlicher. Das Pferd wurde langsamer und blieb direkt vor dem Tor stehen. „Lasst mich passieren! Ich bin Kommandant der Königlichen Garde!“, verlautete die Gestalt mit hohen Stimme und versuchte das tänzelte Tier unter sich zu beruhigen. „Oscar?“ André war baff. Aber eigentlich sollte er nicht überrascht sein. Das war nicht das erste Mal, dass sie mitten im Regen irgendwo hin ritt. „André?“ Auch sie erkannte ihn an der Stimme und stieg behände aus dem Sattel. „Das ist aber ein Zufall. Ich wollte dich gerade besuchen.“ „Mitten im Regen?“ André öffnete einen Torflügel und kam zu ihr hinaus. „Ist etwas passiert?“ „Nein, es ist nichts passiert. Rosalie hat mich gebeten, ein Ring von ihrer Verstorbenen Mutter in Gefängnis zu ihrer Schwester zu bringen.“ Oscars Augen glänzten etwas, zumindest glaubte André das gesehen zu haben, ihre Haarpracht war unter einer Kapuze versteckt und nur ihre langen Strähnen lugten vorne heraus. „Das habe ich auch getan und auf dem Rückweg dachte ich mir, ich schaue hier vorbei.“ „Ein Ring für Rosalies Schwester im Gefängnis?“ Das war Alains Frage hinter Andrés Rücken, auf der anderen Seite des Tores. Oscar bemerkte erst jetzt seine Anwesenheit hinter André und biss sich zu spät auf der Zunge. Solche diskreten Sachen vertraute sie nur André an. Aber es war nun raus und nebenbei erinnerte sie sich, dass Alain ebenfalls Rosalies Freund war, wie André. „Ja“, erwiderte Oscar ganz kühl. „Jeanne Valois ist Rosalies ältere Schwester. Das hat sie mir heute erst offenbart, als sie von der Majestätsbeleidigung gehört hatte.“ Das verblüffte André und Alain gleichermaßen. „Jeanne Valois ist Rosalies Schwester? Im Ernst?“, fragte der letztere mit geweiteten Augen. „Ja, im Ernst“, bestätigte Oscar und warf einen messerscharfen Blick auf Alain, der sich schon zu André stellte. „Aber das bleibt unter uns! Ich will nicht, dass Rosalie deswegen in Schwierigkeiten gerät!“ „Von mir wird niemand etwas erfahren!“ Alain tippte an seiner Mütze und grinste verschwörerisch. Als würde er jemals seinesgleichen verraten! „Von mir auch nicht“, versprach André gleich nach ihm. Oscar sah wieder zu ihm. „Das weiß ich.“ Ihr Ton wurde weicher. „Ich vertraue dir doch voll und ganz.“ „Ach, Oscar...“ André lächelte sie an und dann sah er sich über die Schulter zu Alain. „Könntest du kurz auf ihr Pferd aufpassen? Ich muss mit ihr etwas besprechen.“ „Aber macht nicht so lange.“ Alain zwinkerte ihm zu und kam auch aus dem Tor, um Oscars Pferd an den Zügel zu nehmen. Er ahnte bereits, was André mit ihr so besprechen wollte. Oscar wusste zwar nicht, was André ihr sagen wollte, aber sie war auch einverstanden. Sie gingen etwas an der Mauer entlang, nicht so weit weg vom Tor, aber auch aus der Sicht und Hörweite von Alain. Ein paar Meter davon entfernt, blieben sie stehen und sahen sich nur an. Der Regen ließ langsam nach und ihre Gesichter bewegten sich zu einander. Langsam und Hauchzart berührten sich ihre Lippen. Oscar schälte ihre Hände aus dem Umhang und legte sie André um den Nacken. Die Zungen kamen in Einsatz und der Kuss wurde leidenschaftlicher. André schob seine Hände ihr unter den Umhang und umfasste ihre Hüfte. Sie Trug ihre Uniform, das fühlte er schon an dem dichten Stoff. Seine Finger schlüpften darunter und betasteten ihren Bauch. Es war flach! Etwas Erleichterung breitete sich in André aus, aber besorgt war er noch trotzdem. Oscar spürte seine Hände an ihrem Bauch unter der Uniform und unterbrach abrupt den Kuss. „André...“, hauchte sie atemlos. „Du willst doch nicht etwa hier...“ „Nein, keine Sorge. Ich habe nur etwas nachgeschaut.“ „Nachgeschaut?“ Oscar klang leicht verwirrt. André atmete tief ein und aus. „Oscar... Ich möchte etwas von dir wissen, aber bitte verstehe das nicht falsch...“ „Keine Sorge, das werde ich nicht. Also was hast du aufm Herzen?“ „Ich hatte Bedenken, dass du vielleicht nach unserem ersten Mal guter Hoffnung sein könntest...“ Er wurde dabei immer verlegener. „Nicht, das ich gegen Kinder etwas habe, mit dir würde ich liebend gerne eine Familie gründen, aber gerade jetzt wäre das bestimmt unpassend...“ Oscar staunte sichtlich. Soviel Fürsorge und Nachsicht hätte sie nie von einem Mann erwartet. Aber André war ein besonderer Mann und das machte schon für sie einiges aus. Sie überlegte kurz und schüttelte gleich verneinend den Kopf. „Ich denke nicht, dass ich guter Hoffnung bin.“ „Bist du dir sicher?“ André war nicht ganz überzeugt. „Wann hattest du deinen letzten Monatsfluss?“, fragte er noch verlegener – so etwas zu fragen war ihm irgendwie nicht geheuer. Seine Fragen bescherten Oscar ein unwohles Gefühl und machten sie zum Teil reizbar, aber ihm zu liebe beherrschte sie sich und rechnete schnell zurück. Immerhin hatten sie sich schon eine Weile nicht gesehen. „Vor ein paar Wochen.“ „Dann ist alles gut...“ André atmete jetzt ganz erleichtert auf. Auch Oscar atmete auf. Einerseits weil sie für sich selbst eine Gewissheit verschafft hatte und andererseits weil André nun von seinen Fragen abließ. „Beim nächsten Mal werden wir besser aufpassen.“ „Ja, das werden wir.“ André zog sie noch näher an sich und schenkte ihr einen langen, innigen und langersehnten Kuss mitten im nachlassenden Regen. Woche für Woche zog sich der Prozess im Pariser Gerichtshof. Im Mai des nächsten Jahres wurden nun die Angeklagten verurteilt. André war kein einziges Mal in dem Gerichtsaal anwesend, aber dafür Oscar. Sie erzählte ihm den Ablauf, wenn sie ihn ab und zu bei seiner Nachtwache besuchte. Auch so kursierten immer mehr Gerüchte darüber in der Umgebung und immer mehr Menschen stellten sich auf die Seite von Jeanne Vallois. Sogar einige Adligen. Leider half ihr das nicht. Das Gericht verurteilte sie zu einer lebenslangen Zwangsarbeit und ließ ihr ein V-Förmiges Hufeisen auf die Schulter brennen. Man hörte fast in jeder Ecke, welch ein tiefempfundenes Mitgefühl die Menschen zu ihr empfanden und mit welchem Hass sie die Königin dafür verantwortlich machten. Dann passierte plötzlich etwas Unerwartetes: Jeanne brach aus dem Gefängnis aus! Bestimmt hatte sie das nicht ohne fremde Hilfe geschafft - allerdings war die Frage nach einem Komplizen, ein Rätsel. Außer Vermutungen und Spekulationen aufzustellen, konnte man nichts machen. Jeanne war wie vom Erdboden verschluckt, was die meisten Bürger freute. Und als wäre das nicht schon genug, tauchten schon bald von ihr Bücher auf. Nach dem ersten Band kam der zweite und nach diesem folgten drei weitere. Jeanne berichtete in ihren Büchern über alle Affären und Fehltritten der Königin – ob das jedoch der Wahrheit entsprach, interessierte die Mehrheit der Menschen kaum. Sie verspotteten Marie Antoinette mehr den je und glaubten den Memoiren von Jeanne Vallois mit Begeisterung. In der Kaserne bei Paris schwärmten die meisten der Söldner auch nur so von diesen Büchern und manche von ihnen hatten schon einen Blick in sie geworfen. André war das alles nicht wirklich wichtig. Er fragte sich ständig, was Oscar dagegen unternahm oder unternehmen musste, wie es ihre Pflicht von ihr verlangte. Er hatte schon davon gehört, dass das königliche Garderegiment für die Fahndung von Jeanne eingesetzt wurde. Es hieß, dass die königliche Soldaten mit ihrem Kommandanten kreuz und quer nach ihr suchten, um sie dingfest zu machen und falls nötig zu töten. André bezweifelte, dass Oscar das tun würde – immerhin war Jeanne Rosalies Schwester. Er hätte gerne gewusst, was dort genau ablief, aber hier in der Kaserne musste er vorerst mit den Gerüchten sich zufrieden geben. Bald würde es dienstfreie Tage geben und er würde dann mehr erfahren können. Oscar hatte ihn schon lange nicht mehr besucht, was bedeutete, dass sie anderweitig im Einsatz war und keine Zeit für Besuche fand. Das konnte André verstehen und doch vermisste er sie sehr. Einer seiner Kameraden platzte unverhofft in sein Quartier ein, als er sein Gewehr überprüfte. „Hey, André! Du hast Besuch!“ „Wer ist das?!“, verlangte er überrascht zu wissen und stand von seiner Schlafstätte auf. War das etwa Oscar? Aber sie würde ihn doch niemals am Tage besuchen! Oder doch? „Es ist nicht deine eiskalte Schönheit.“ Sein Kamerad grinste, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Oscar ist nicht eiskalt!“, stellte André klar und ging auf seinen Kameraden zu. Es war nichts neues, dass seine Kameraden ihn damit ständig aufzogen. Mittlerweile hatten sie Oscar durch ihn schätzen gelernt, ohne sie jedoch persönlich zu kennen. Bis auf Alain und die Brüder Jérôme und Léon. „Aber klar doch, André...“, neckte ihn der Kamerad und erntete von ihm scherzhaft einen Kopfnuss. Er rieb sich die Stelle und beendete den Satz anders als gedacht: „...das ist ein Journalist, Bernard Châtelet...“ Diesen Mann hatte André erst recht nicht erwartet zu sehen. „Bist du dir sicher?“ „So hat er sich zumindest vorgestellt.“ André verließ die Baracke und ging nach draußen zum Haupttor, denn heute war eigentlich kein Besuchstag. Bernard reichte ihm zum Gruß freundlich die Hand und André schüttelte sie. Er hatte ihn und Alain schon ein paar Male besucht und mittlerweile hatten die drei sich angefreundet. Bernard hatte ein Buch mitgebracht und zeigte es ihm. Das war einer der Bänder, die Jeanne Vallouis verfasst hatte. „Hast du das schon gelesen?“ „Nein, habe ich nicht.“ André beachtete das Buch nicht einmal. „Und um ehrlich zu sein, interessiert es mich auch nicht.“ „Das sollte es aber.“ Bernard schlug das Buch auf und blätterte einige Seiten vor. „Hier, ich habe es die Stelle gefunden.“ Er drehte das Buch um und hielt es André hin. Mit einem Finger zeigte er auf eine markierte Stelle. „Es sind alle Affären der Königin und dein Kommandant der königlichen Garde steht auch mittendrin.“ „Oscar soll auch eine Affäre mit der Königin gehabt haben?“ Das wollte André keineswegs glauben und warf doch noch einen Blick auf die aufgeschlagene Seite. Genau dort wo Bernards Zeigefinger war, stand ihr Name geschrieben: „Oscar Francois de Jarjayes, Kommandant des Königlichen Garderegiments war eine der ersten Liebschaften ihrer Majestät. Die Königin liebt Frauen in Männerkleidern....“ Weiter las André nicht. Er rümpfte seine Nase abwertend und richtete seinen Blick wieder auf Bernard. „...das ist eine bodenlose Unverschämtheit und eine grenzenlose Lüge!“ „Ich habe auch nie behauptet, dass es der Wahrheit entspricht.“ Bernard schlug das Buch wieder zu und steckte es unter seine Achsel. „Ich fand es nur richtig, dass du darüber auch Bescheid weißt. Denn die Menschen glauben, was darin steht und werden somit auch über sie nicht gerade nett reden. Verstehst du was ich meine?“ „Nicht ganz, aber dass ist mir auch gleich.“ André verschränkte seine Arme vor der Brust. „Ich kenne Oscar besser als jeder anderer und weiß, dass sie so etwas nie machen würde!“ „Dann solltest du auf sie mehr Acht geben.“ Bernard schmunzelte flüchtig, aber blieb wie immer ernst. „Was denkst du, wer als erster ins Gerede kommt? Das Volk wird erst die verpönen und verhöhnen, die die Königin beschützen. Dein Kommandant jagt Jeanne nach und die Menschen stehen auf der Seite von Jeanne. Wenn sie sie findet und verhaftet, dann werden die Menschen noch wütender sein. Sowohl auf die Königin, wie auch auf Oscar. Und ich glaube nicht, dass sie etwas ausrichten würde können, wenn das Volk die Unterdrückung nicht mehr aushält und sich erhebt. Wenn Oscar so ein herzensguter Mensch ist, wie du immer behauptest, dann sollte sie sich schon bald entscheiden, auf wessen Seite sie wirklich stehen will. Ich möchte dich nur vorwarnen, André.“ „Und deswegen bist du zu mir gekommen?“ Insgeheim gab André Bernard allerdings recht. In allen Punkten. Er gab das nur nicht zu. „Ja“, sagte Bernard schlicht und fügte noch hinzu: „Ich wollte heute endlich Rosalie auf dem Anwesen de Jarjayes besuchen und erfahren, ob es ihr wirklich gut geht. Aber sie war nicht mehr anzutreffen. Eine alte Haushälterin sagte mir, dass sie das Anwesen schon längst verlassen hatte und ich frage mich, was dort wirklich vorgefallen ist.“ „Rosalie wohnt nicht mehr bei Oscar?“ Das überraschte André sehr und ihn beschlich eine mulmige Vorahnung. Rosalie würde niemals Oscar aus heiterem Himmel verlassen, da musste in der Tat etwas vorgefallen sein! Aber was genau? Es hatte ganz bestimmt mit ihrer Schwester zu tun! „Nein, schon seit Wochen nicht mehr“, meinte Bernard und holte ihn in die Wirklichkeit zurück. „Ich dachte, du weißt etwas darüber. Aber wie ich sehe, erfährst du es auch gerade zum ersten mal.“ „Ich habe in wenigen Tagen dienstfrei und werde mich darüber erkundigen“, versprach ihm André und verabschiedete sich dann von ihm. An seinem sogenannten, dienstfreien Tag, ritt er gleich geschwind aus der Kaserne zu dem Anwesen de Jarjayes. Seine Großmutter empfing ihn schniefend und in einer Hand hielte sie einen zerknüllten Brief. Anscheinend hatte sie es eben noch gelesen. Sie war äußerst besorgt und niedergeschlagen, das sah André ihr an. „Was ist passiert?“ Eigentlich wollte er fragen, wo Oscar sich zu dem Zeitpunkt befand, aber das wäre dann sein Kommen umso auffälliger. „Erst verlässt uns Rosalie, weil sie angeblich zu ihrer leiblichen Mutter muss und dann hinterlässt sie Lady Oscar diesen Brief!“ Sophie tupfte mit einem Taschentuch die Augen unter der Brille und mit der anderen Hand reichte sie den Brief ihrem Enkel. Eigentlich wollte sie es ihm nicht geben, aber vielleicht würde er doch noch irgendwie nützlich sein. „Lady Oscar hat heute ein Befehl vom Orden bekommen und ist jetzt mit ihren Soldaten zu Jeannes Versteck geritten...“ André las flüchtig die wenigen Zeilen und drückte den Brief zurück in die Hand seiner Großmutter. „Ich ahne nichts gutes...“, murmelte er und eilte zurück zu seinem Pferd. In dem Brief stand Jeannes wahres Versteck, von Jeanne selbst geschrieben. André ritt dorthin unverzüglich. Jetzt leuchtete ihm so einiges ein: Jeanne hatte ihrer Schwester geschrieben, aber nicht Rosalie hatte ihr Versteck verraten. Denn sonst wäre Oscar nicht mit ihren Soldaten hin geritten. Rosalie bedeutete ihr viel und sie würde ihr niemals Unannehmlichkeiten bereiten wollen. Jemand mächtigeres, einflussreicheres musste dahinter stecken! André fiel ein, was seine Großmutter noch gesagt hatte: Oscar hatte vom Orden den Befehl bekommen, Jeanne in ihrem Versteck zu verhaften. Also wusste der Orden schon vorher darüber Bescheid und Oscar hatte keine andre Wahl, als dem Befehl Folge zu leisten! André trieb noch schneller sein Pferd in Richtung der Kirche an und bekam immer mehr das ungute Gefühl, dass etwas unheilvolles passieren würde. Die Kirche war mit den Soldaten aus der königlichen Garde umzingelt, dass sah er schon aus der Ferne. Jedoch deren blondgelockter Kommandant in roten Uniform befand sich nicht darunter. War etwa Oscar schon in der Kirche? Etwa ganz alleine? War sie denn so leichtsinnig? Oder hatte sie doch ein paar Soldaten mitgenommen? Das wusste André nicht, aber er spürte ganz genau, dass es dort etwas faul im Gange war. Er umrundete die Reihen von Soldaten, fand am Rande eine Lücke und preschte auf seinem Pferd hindurch. Er hörte die ungläubige Stimmen der Männer und Beschimpfungen in seine Richtung, aber hielt nicht an. Ganz beiläufig fragte er sich, warum sie kein Feuer auf ihn eröffneten und schollt sich sogleich zusammen, dass ihn das überhaupt interessierte. Seine Hauptsorge galt Oscar und er hoffte, er käme nicht zu spät. Er erreichte in Hast die Kirche und bemerkte eine Gestalt an der Pforte. Sie konnte kaum stehen und schleppte sich an die Wand gestützt zu ihrer Kompanie zurück. Eine Hand hielt sie an ihrem Hals, als wäre sie gewürgt worden und hüstelte mit Abständen verhallend. „Oscar!“ Sie hob schlagartig den Kopf. „Andre...“ Ihre Augen glitzerten für einen Wimpernschlag erfreut und gleich darauf wurden sie eisig. „Wir müssen hier weg... Sie wollen sich in die Luft sprengen...“ André verstand halb so viel von ihren Worten, aber reichte ihr schon seine Hand. Er hievte sie hinter sich auf den Rücken des Pferdes und trieb es im schnellen Galopp an. Gerade rechtzeitig erreichten sie die königlichen Soldaten und dann hörten sie eine ohrenbetäubende Explosion hinter sich. Die Kirche flog in die Luft und das war nun das Ende von Jeanne. Kapitel 30: Unerwartete Rückkehr -------------------------------- Oscar hatte sich von der Explosion in der Kirche erholt. Nur kurzzeitig kursierten Fragen, wer der unbekannte Mann war, der sie gerettet hatte. Oscar hatte nur ganz knapp gemeint, er sei ihr verborgener Leibgardist und André war dann schnell vergessen. Ebenso wie der Fall mit Rosalies Schwester. Für die Königin war das Kapitel Jeanne Valois abgeschlossen. Jedoch nicht für das Volk, aber Marie Antoinette nahm das nicht sonderlich zu Kenntnis. Oder besser gesagt, wollte das nicht zur Kenntnis nehmen. Sie verweilte weiterhin mit ihren Kindern auf abgelegenem Schloss Trianon und beabsichtigte nach wie vor nicht nach Versailles zurückzukehren. Das Volk versank derweile immer weiter im Elend und wurde stetig ärmer. Langsam begannen sich die ärmsten und Verzweifeltesten zu wehren. Sie veranstalteten Übergriffe auf Adelshäuser und fügten ihnen damit kleine Nadelstiche zu. - - - Ein Pistolenschuss donnerte durch die Luft und hallte ohrenbetäubend in der Umgebung wieder. Die Kugel schoss unaufhaltsam aus dem Lauf und traf ihr Ziel genau: Die Flasche zersprang in mehrere Teile und die Glassplitter flogen umher. Oscar senkte ihren Arm und reichte die abgefeuerte Pistole André. „Ein guter Schuss“, lobte er sie: „Du hast alle Flaschen getroffen.“ Er nahm ihr die Pistole ab und legte sie sorgsam in die Waffenkiste zurück. Das war eine gewöhnliche Schießübung außerhalb des Anwesens und trotzdem wahrten sie eine standesgemäße Distanz zueinander. „Ich würde sagen, genug für heute.“ Oscar sah ihn direkt an und konnte ihr verschmitztes Lächeln kaum verkneifen. „Wir haben noch bis zum Abend Zeit. Lass uns nach Paris reiten und den Sonnenuntergang von Notre Dame aus zu beobachten“, schlug sie daher vor. André erhob sich mit der Kiste. Der Gedanke gefiel ihm sehr, aber da gab es einen kleinen Störfaktor und das sagte er auch seiner Geliebten: „Diesen Wunsch würde ich dir gerne erfüllen, aber leider geht es nicht mehr...“ „Wieso nicht?“ Oscar verstand nicht und ihr verwunderter Gesichtsausdruck verlangte nach einer Antwort. Sie setzten ihre Füße in Bewegung und gingen nebeneinander zu den Pferden. „Nun...“, André versuchte erst gar nicht von ihr etwas zu verheimlichen. „Die Zeiten haben sich geändert, wie du schon selbst mitbekommen hast...“ Oscar nickte ihm einvernehmlich zu, sie wusste wovon er sprach und André fuhr mit seiner Rede fort: „Der Notre Dame ist jetzt ein Versammlungsort für Robespierre. Er spricht dort mit seinen Anhängern über menschliche Ideale und entwickelt seine Ideen, wie er als Anwalt dem armen Volk helfen kann während er sich damit auseinander setzt. Deswegen ist der Notre Dame für solche Ausflüge nicht mehr zu empfehlen.“ „Also ist er dort...“ Oscar krauste die Stirn. Sie wusste mittlerweile schon von der Begegnung zwischen André und Robespierre. Sie verstand daher seine Sorge um ihre Wenigkeit und nahm es hin, denn im Tiefsten Winkel ihres Verstandes war sie von Robespierre beeindruckt und fragte sich auch, was er gegen Unterdrückung des Volkes durch Adel zu unternehmen wollte. „Gehst du auch zu ihm, wenn du deine freie Zeit hast?“ „Nein, das habe ich nicht nötig.“ André schüttelte kategorisch mit Kopf und sah Oscar von der Seite an. „Ich verbringe meine freie Zeit lieber mit dir.“ Der letzte Satz entlockte Oscar wieder ein Lächeln. „Und was ist mit deinen Freunden? Lässt du die etwa auch wegen mir im Stich?“ „Meine Freunde kommen meistens nach dir dran, weil ich sie schon oft genug in der Kaserne sehe. Im Gegensatz zu dir.“ „Verstehe...“ Oscar war gerührt. Sie sah ihn auch von der Seite an. Sein Schulterlanges Haar war mit dem sattgrünen Haarband lässig zu einem Zopf gebunden. Wie gerne hätte sie die herausgefallene Strähnen ihm aus dem Gesicht gestrichen, aber sie beherrschte sich. So wie er sich beherrschte, sie nicht in seine starken Armen zu schließen und sie zu küssen. Es war am hellen Tag und nicht ratsam. Allen beiden war das bewusst und sie achteten in der Öffentlichkeit penibel darauf, dass kein Mensch etwas von ihren Gefühlen zu einander bemerkte. Sie erreichten die Pferde und Oscar stieg gleich in den Sattel. André reichte ihr die Kiste und ihre Finger berührten sich für einen Wimpernschlag. Ein wohliger Schauer entstand auf der Haut der beiden und sie rührten sich nicht von der Stelle. Aber nur für kurz. Mit bedauern senkte André den Blick von Oscar und stieg dann auf sein Pferd. Wie lange würde diese Heimlichkeit überhaupt halten?! Langsam verlor das seinen Reiz. Aber sie mussten durchhalten, ob sie wollten oder nicht, denn das hatten sie sich beidseitig vorgenommen. „Es wird schon, wir stehen das schon durch...“, munterte André seine Oscar und sich selbst auf. „Ja, du hast Recht.“ Oscar fühlte sich sogleich etwas besser und trabte mit ihrem Schimmel an. „Lass uns aber trotzdem nach Paris ausreiten, wenn wir die Waffenkiste weggeschafft haben. Zu dir... nur für ein paar Minuten...“, schlug sie errötet und schelmisch vor. André verstand den verborgenen Hintergrund auf Anhieb und bejahte mit einem anzüglichen Grinsen. „Das können wir natürlich machen.“ So ein Angebot von ihr zu hören war sehr ungewöhnlich. Aber da musste sie bestimmt sehr viel Sehnsucht und Hunger nach ihm zu haben, wenn sie sogar über ihren eigenen Schatten sprang. Das freute André umso mehr. Noch eine Seite von Oscar, die er gerade bei ihr entdeckte und die ihm gefiel. Wenn er überlegte, ihm gefiel eigentlich alles an ihr. Auch wenn sie gereizt oder wütend war. Ihr hitziges Temperament kühlte sich schnell ab und bisher waren ihre schlechten Launen niemals gegen ihn gerichtet. Mit den Jahren ihrer Freundschaft wusste er mit ihr umzugehen. Und seit er mit ihr die Liebe genoss, offenbarten sich ihm eine Vielfalt an Eigenschaften von ihr, die er auch sogleich ins Herz schloss. Jeder ihrer Charakterzüge machte Oscar zu der aus, die sie war, ob nun verdrängt oder versteckt und André liebte sie mit jedem Augenblick mehr. „Wollen wir bis zu dem Anwesen um die Wette reiten?“, schlug er vor. Oscar lachte auf. „Du kannst es wohl nicht abwarten, oder?!“ „Du doch auch nicht“, neckte er sie und grinste. „Also gut!“ Oscar fasste ihren Schimmel fester an den Zügel, aber anstatt ihn anzutreiben, zügelte sie ihn unerwartet und ihr so seliges Lächeln erstarb augenblicklich auf ihren Lippen. Wie versteinert starrte sie gerade aus und André folgte ihrem Blick verwundert. Ein Reiter auf einem grauen Pferd steuerte auf sie zu und rief schon lachend aus dem Sattel: „Entschuldigt für die Störung, Oscar... Graf Hans Axel von Fersen meldet sich gesund und munter aus Amerika zurück!“ André schaute blitzschnell zu Oscar hinüber. Diese saß ganz versteift im Sattel, die Fingerknöchel traten weiß hervor, als sie krampfhaft die Zügel festhielt und auf ihrem Gesicht zauberte sie ein kühles, kaum sichtbares Lächeln. „Wie schön. Ihr seid wieder zurückgekehrt. Seid mir willkommen.“ Von Fersen bewegte sein Pferd direkt auf sie zu und brachte es vor ihr zum Stehen. Er nahm seinen Dreizackhut zum Gruß vom Kopf. „Die Freude ist ganz meinerseits. Ihr habt Euch kaum verändert, Oscar.“ Er bemerkte gar nicht, dass noch jemand an ihrer Seite war. Vielleicht war es besser so. Womöglich hätte er André noch erkannt und unangenehme Fragen gestellt, was er an der Seite von Oscar mache und so weiter. „Ich reite dann mal zu mir“, flüsterte André halblaut, dass nur Oscar ihn verstand und wendete sein Pferd. „Tue das“, war das einzige, was Oscar antwortete, ohne in seine Richtung zu sehen. Von Fersen verstand zwar ihren kurzen Wortaustausch nicht, warf aber einen überraschten Blick zu dem wegreitenden jungen Mann. „Ihr gebt Euch mit Bürgerlichen ab, Oscar?“ Es war kein Hohn in seiner Stimme zu hören, eher eine Toleranz. „In sieben Jahren hat sich vieles geändert, Graf.“ Oscar zuckte beiläufig mit den Schultern und gab ihrem Schimmel leicht die Sporen. „Ihr seid bei mir willkommen, Graf und könnt bleiben, so lange Ihr wollt.“ „Ich danke Euch herzlich für Eure Gastfreundschaft, Oscar.“ Von Fersen trieb neben ihr nun auch seinen Grauen zu einem gemächlichen Gang an. „Aber was hat sich denn noch so verändert?“ „Ganz Frankreich ist in einem anderen Zustand als damals, wo Ihr es verlassen habt.“ Oscar erzählte ihm von der Halskettenaffäre und von den kleinen Übergriffe der Bürger aus Paris auf Adelshäuser, was von Fersen sichtlich erschütterte, entsetzte und zu denken gab. - - - „Die Menschen werden immer mutiger und es wird bestimmt nicht mehr lange dauern, bis sie sich endlich erheben“, prophezeite Bernard bei einem seiner Besuche in der Kaserne. „Ich muss zugeben, das geschieht einigen der Adligen Recht. Aber solange sie Oscar aus dem Spiel lassen...“ André zog streng seine Augenbrauen zusammen, was die Ernsthaftigkeit seiner Worte unterstrich. „Das kann ich dir nicht versprechen“, unterbrach ihn Bernard und schmunzelte listig. „Aber wenn sich die Verhältnisse in unserem Land nicht ändern, dann werde ich höchstpersönlich nachhelfen.“ „Was hast du denn vor?“ Andrés Neugier war erweckt und gleichzeitig beschlich ihn ein mulmiges Gefühl. Bernard verstärkte sein Schmunzeln. „Ich weiß es noch nicht, aber ich habe eine Idee, wie ich den Ärmsten der Armen helfen könnte und bin schon am überlegen, es in die Tat umzusetzen.“ „Was ist das für eine Idee?“, hackte André ungeduldig nach. Ihm gefiel nicht sonderlich, wie sein Freund um den heißen Brei redete. „Das kann ich dir nicht verraten. Noch nicht. Aber vielleicht kommst du selbst darauf, falls ich es umsetze“, beendete Bernard knapp und wechselte gleich das Thema, um nicht weiter darauf einzugehen. „Hast du eigentlich schon gehört, dass der Liebhaber der Königin aus Amerika zurückgekehrt ist?“ „Ja, das habe ich.“ Er hatte seine Rückkehr ja praktisch mit eigenen Augen gesehen. Und nicht nur das. Im Umland ging wenige Tage später die Kunde umher, dass von Fersen die Königin überredet hatte, nach Versailles zurückzukommen. Der Graf trat sogar in ihre Dienste ein und hatte seinem Vaterland Schweden für sie abgeschworen. Sie hatte auf ihn gehört und weilte nun schon seit einigen Tagen wieder in Versailles, wie es sein sollte. Allerdings ihren Pflichten als Königin blieb sie weiterhin fern. Später am Tag der Rückkehr des Grafes, war Oscar zu André geritten und mit ihm leidenschaftliche Stunden verbracht. Sie hatte sich an ihn geklammert, wollte ihn gar nicht loslassen und im Sturm der Liebe seinen Namen geflüstert: „André, mein André, ich liebe dich aus tiefsten Herzen, nur dich... nur dir gehöre ich... du bist mein Mann...“ „Liebste Oscar, meine Oscar... niemand wird uns jemals trennen können, das schwöre ich dir... ich liebe dich mein Leben lang...“, hatte er ihr im Rausch der Wonne und Lust zurück geantwortet. André hatte darauf geachtet, dass sie nicht später Schwanger wurde. Er hatte sich dazu an einige Ratschläge von Alain erinnert, denn dieser war ein erfahrener Frauenheld und kannte sich damit nur zu genüge aus. Das gehörte jetzt aber nicht hierher und André kehrte wieder in die Wirklichkeit zurück. Von der Rückkehr der Königin nach Versailles und dass von Fersen in ihre Dienste getreten war, wusste auch Bernard. Er wollte nur seinen Freund auf die Probe stellen. „Und was sagst du dazu? Meinst du, ob sich deswegen wirklich etwas ändert? Oder werden die zwei wieder eine Affäre beginnen? Die Menschen werden erneut über sie reden.“ „Das ist mir gleich, Bernard“, unterbrach ihn diesmal André. „So lange sie über Oscar keine Lügengeschichten verbreiten, dann können sie reden über wen sie wollen.“ Solche Aussagen fielen Bernard nicht zum ersten Mal auf und das machte ihn umso neugieriger. „Du hängst sehr an ihr. Was ist denn an ihr so besonderes, außer dass sie ein herzensguter Mensch ist?“ „Sie setzt sich für die Schwächeren ein und liebt die Gerechtigkeit. Sie kann Lügen und Falschheit nicht ausstehen.“ André stellte sich Oscar vor und seine Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. „Sie ist der wunderbarste und gütigste Mensch den ich kenne.“ „Hmpf...“ Bernard überlegte. Er wollte André glauben. Wenn diese eine Adlige in Männerkleidern wirklich so war, wie André es ihm immer vorschwärmte, dann könnte man sie für eine gerechte Sache sicher sehr gut gebrauchen. „Meinst du sie würde Seiten wechseln können?“ „Ich denke schon... Sie ist zwar adlig, aber ihr Herz schlägt mehr für das einfache Volk...“ André gefiel ganz und gar nicht, wie Bernard seine Frage betont hatte. Das klang, als wolle sein neuer Freund sie für etwas ausnutzen. „...und für dich, deiner Meinung nach zu urteilen“, meinte Bernard und verstärkte sein wissendes Schmunzeln. „So wie mein Herz für sie schlägt, so schlägt auch ihres für mich“, stellte André klar und fest. „Und Oscar hat das Anrecht selbst zu entscheiden, was sie macht“, fügte er hinzu und gab Bernard somit zu verstehen, auf wessen Seite er stand. „Das kann ich ihr nicht nehmen.“ Bernard legte ihm beruhigend seine Hand auf die Schulter, klopfte leicht darauf und ließ sogleich von ihm ab. „Wenn wir schon über deinen Kommandanten sprechen, hast du eigentlich etwas über Rosalie von ihr herausfinden können?“ „Nein.“ André atmete tief ein und aus. „Außer, dass Rosalie jetzt bei den Polignacs wohnt.“ Bernard belehrte ihm dagegen eines Besseres. „Ich habe mich vor kurzem erkundigt. Rosalie wohnt nicht mehr dort.“ André zuckte die Achseln. „Dann weiß ich nicht, wo sie ist.“ „Schade. Ich werde mich wohl bei der Suche anstrengen müssen“, seufzte Bernard schwermütig. Dessen trübe Gemütsverfassung entging André keineswegs. „Du scheinst Rosalie sehr zu mögen, obwohl du sie nur ein einziges Mal gesehen hast.“ „Ich will nicht leugnen, dass sie mir gefällt und ich sie seit dieser einzigen Begegnung nicht mehr vergessen kann.“ „Verstehe...“ André ging ein Licht auf: „Kann das sein, dass du dich in Rosalie verliebt hast?“ „Wäre möglich...“, gab Bernard vorsichtig zu. Er war nicht der Mensch, seine Gefühle offen zu schau zu tragen. Nun war es André, der ihm seine Hand auf die Schulter legte und ihm darauf beherzt klopfte. „Sag das doch gleich. Ich finde, ihr würdet gut zusammen passen. Und ich versichere dir, ich werde dir behilflich sein, deine liebe Rosalie zu finden.“ „Ich danke dir, André.“ Bernard reichte ihm im Gegenzug seine Hand und nach einem kräftigen Handdruck, verabschiedete er sich von ihm. Es war Zeit zu gehen und die Besuchszeit in der Kaserne war auch gleich vorüber. Kapitel 31: Maskierter Dieb --------------------------- André erinnerte sich an Bernards Worte, als Monate später im nahenden Herbst merkwürdige Dinge in Paris und Umgebung geschahen: Ein außergewöhnlicher Dieb begann sein Unwesen zu treiben. Er bestahl nur die Adlige und verteilte seine Beute unter den Ärmsten der Armen. Diejenige, die ihn flüchtig gesehen hatten, berichteten von einem maskierten Mann in einem schwarzen Kostüm und gaben ihm daher den Namen: Schwarzer Ritter. Immer mehr gewann er die Sympathie des einfachen Volkes und immer mehr Adligen setzten ein Kopfgeld auf ihn, um ihn dingfest zu machen. Das nützte aber nichts. Schon bald jagte auch Oscar ihm nach. Aber nicht wegen des Kopfgeldes, sondern gerechtigkeitshalber. In ihren Augen war ein Dieb ein Dieb und musste bestraft werden! André wusste zwar von dem Einsatz des königlichen Garderegiments, aber verbieten konnte er es ihr nicht, denn Oscar war regelrecht darauf versessen, den schwarzen Ritter zu schnappen. „Eines Tages werde ich ihm begegnen!“, schwor sie immer wieder, als sie ihren Geliebten an einem seiner dienstfreien Tage besuchte und nach einem berauschenden Liebesspiel in seinen Armen über wesentliche Dinge, die zurzeit die Welt bewegten, sprach. In seinem engen Bett lagen sie wieder aneinander geschmiegt und sahen sich von Angesicht zu Angesicht. „Beruhige dich, Liebes.“ André strich ihr sachte die feuchten Haarlocken von der Stirn. Ihre Haut war von der Leidenschaft noch erhitzt und rosig. „Wieso willst du ihn überhaupt fangen? Das ist doch die Sache der Polizei.“ „Man sieht, was dabei herauskommt!“ Oscar hätte jetzt sich gerne auf Rücken gedreht, an die Decke gestarrt und ihrem Ärger Luft gemacht. Die Umsorge von André fand sie im Moment übertrieben und das reizte ihr Gemüt etwas. Dieser jedoch spürte, dass ihr hitziges Temperament kurz davor stand, wieder einmal mit ihr durchzugehen und gab nach. „Hast du schon eine Idee, wie du ihm eine Falle stellen willst?“ Diese Frage schien Oscar milde zustimmen. Sie wirkte im nächsten Augenblick nachdenklich. „Nein, noch nicht...“, gab sie zu und erfand gleich eine Möglichkeit, diesen schwarzen Ritter vielleicht doch noch stellen zu können: „Aber ich hole mir eine Liste aller Bälle und werde auf jeden von ihnen anwesend sein!“ „Ach, Oscar, du bist unmöglich...“ André drehte sich langsam auf den Rücken und zog Oscar mit sich, so dass sie mit ihrem halben Körper auf seiner Brust zum Liegen kam. Gleich stampfte er sich sein Kissen im Nacken auf, um sie sehen zu können und schob sich ein Arm hinter dem Kopf. Mit den Fingern seiner freien Hand spielte er mit Ansätzen von Oscars blonden Haarsträhnen. „Ist es denn wirklich so wichtig, diesen schwarzen Ritter zu fangen? Er tut doch niemandem etwas zu Leide. Und seine Beute soll er unter den Ärmsten der Armen verteilen...“ Das war eine falsche Äußerung von ihm. Oscars so feiner Gesichtsausdruck verfinsterte sich schlagartig. Sie ließ ihn nicht weiter sprechen. „Aber was er tut ist Unrecht!“, murrte sie und schlug aufgebracht die Decke hoch. Sie rollte sich auf die andere Seite von seinem Körper ab, saß auf und ließ ihre Füße von der Bettkante runter. „Dieb ist Dieb und man muss ihn bestrafen!“ Sie beugte sich vor und schnappte sich ihr Hemd vom Boden. Plötzlich spürte sie seine kräftige Arme um ihren Körper und die Wärme, die seine Haut ausstrahlte, dicht hinter sich. „Nein, warte, geh noch nicht... Es tut mir Leid... Du hast ja recht...“ „Und warum sagst du dann so etwas?“ Sie drehte ihren Kopf und sah sich über die Schulter direkt in sein Gesicht. Seine grüne Augen flehten sie regelrecht an, noch bei ihm zu bleiben. Sie versuchte diesem Blick mit aller Kraft zu widerstehen. „Du bist doch derjenige, der meine Entscheidung niemals in Frage stellen wollte.“ „Das tue ich auch nicht...“, rechtfertigte sich André und schloss sie fester in seinen Armen. „Es tut mir leid, falls du anders gedacht hast, aber ich mache mir nur Sorgen um dich...“ „Ach, André...“ Sein herzerweichender Blick ging ihr bis ins Mark und sie konnte dem nicht mehr länger standhalten. Ihr Hemd fiel ihr aus der Hand und sie selbst drehte sich zu ihm so um, wie es gerade möglich war. „Mache dir meinetwegen keine Gedanken. Vertraue mir und es wird alles gut...“ „Das tue ich... ich vertraue dir...“ André atmete erleichtert auf und lächelte verwegen. „Ich will keineswegs mit dir Streiten, Oscar... Ich möchte die kostbare Zeit, die wir haben, nur in Liebe und Harmonie mit dir verbringen...“ Sein Lächeln steckte auch Oscar an und wieder entstand ein Ziehen in ihrer Leistengegend. Sie schob ihre Beine zurück auf das Bett und legte ihre Arme André um den Nacken. „Dann lass uns lieber die kostbare Zeit für uns und nur für uns nutzen.“ „Liebend gerne, Oscar, meine Oscar...“ André ließ sich mit ihr in die Kissen zurückfallen, überzog über sie beide die Decke und verglühte mit ihr wieder in der Leidenschaft. - - - Eines späten Abends war Oscar das Glück hold. Ihr Plan ging auf und sie begegnete dem schwarzen Ritter in der Tat auf einem der Bälle. „Diesmal kriege ich ihn!“, war ihr einziger, fest entschlossener Gedanke. Sie versuchte ihn zu stellen, aber dieser flüchtete und sie jagte ihm bis Paris nach. Gasse für Gasse, Straße für Straße durch die ganze Stadt und im Schutz der Dunkelheit der Nacht, versuchte der schwarze Ritter den Kommandant der königlichen Garde mit allen Mitteln abzuschütteln. Oscar jedoch blieb ihm hartnäckig auf den Fersen. So leicht würde sie sich doch nicht geschlagen geben! Das Ziel war so nahe und sie würde es bis zum letzten Moment verfolgen. Unwillkürlich musste Oscar dabei an André denken. Der Arme wäre bestimmt jetzt vor Sorge um sie umgefallen, wenn er hiervon wüsste! Oder er hätte sich bestimmt eingemischt und sich ihr in den Weg gestellt - für ihre eigene Sicherheit und damit der schwarze Ritter ihr nichts antun können würde! Wie lächerlich! Was könnte schon passieren?! Der schwarze Ritter und sie schienen im Moment die einzigen zu sein, die in diesen mitternächtlichen Stunden unterwegs waren! Das war die beste Möglichkeit, sich diesen Dieb zu schnappen und Oscar würde sie sich nicht entgehen lassen! Da konnte André sagen was er wollte! Immer wieder gab sie ihrem Schimmel die Sporen und versuchte den Mann vor ihr nicht aus den Augen zu verlieren. Es war erstaunlich, dass um diese kühlere Jahreszeit der Sternenhimmel klar und hell leuchtete. Aber umso besser für Oscar. So konnte sie wenigstens die schattenhaften Umrisse des schwarzen Ritters ausmachen und ihm nachjagen! Der schwarze Ritter wendete unerwartet sein Pferd und zielte etwas auf sie. Bis Oscar realisieren konnte, was das war, donnerte schon ein Pistolenschuss. Ihr Pferd scheute aufgeschreckt und warf sie im vollen Galopp aus dem Sattel. Als eine ausgezeichnete Reiterin, ließ sich Oscar davon jedoch nicht beeindrucken. Kaum sie auf den Boden landete, zog sie ihre Pistole und erschoss das Pferd des schwarzen Ritters. Auch dieser reagierte systematisch und während sein Pferd mit lautem Wiehern zu Boden ging, sprang er behände aus dem Sattel, rappelte sich wieder auf die Beine und rannte zu Fuß weiter. Oscar setzte ihm sogleich nach und der Wettlauf begann vom neuen. Gezielt führte er sie in eine Falle, in die Oscar blindlings tappte. Sie dachte, sie hatte ihn in einer Ecke getrieben, aber das war ein Irrtum. Unzählige Männer umzingelten sie und einer schlug ihr aus Hinterhalt auf den Kopf mit seinem Schwertknauf. Mit einem überraschten Schmerzenslaut ging Oscar in die Knie. „Tötet sie nicht. Sie ist der Kommandant der königlichen Garde. Ihr Tod würde nur unnötiges Aufsehen verursachen. Nehmt sie lieber Gefangen“, hörte Oscar durch die mächtigen Kopfschmerzen die Stimme des schwarzen Ritters und sammelte ihre verfügbare Kräfte zusammen. Sie erspähte eine Lücke und nutzte die kleine Ablenkung der Männer aus. Oscar war benommen, aber schaffte es dennoch zu fliehen. Niemand durfte sie gefangennehmen! Es schien, als hätte André diesen Ausgang vorausgeahnt! Vielleicht hätte sie ihn lieber miteinbeziehen sollen? Aber da wäre er auch nicht sicher und womöglich von den Schurken an ihrer Stelle gefangen genommen. Oder gar getötet, weil er als einfacher Soldat nicht so viel Wert war, wie sie mit ihrem hohen Rang und Titel? Nein! Es war schon gut so, dass sie sich alleine auf der Jagd nach dem schwarzen Ritter gemacht hatte... Oscar rannte so schnell sie konnte und hielt sich die Wunde am Kopf mit ihrer Hand. Sie wusste nicht, wo sie sich befand und das war ihr im Moment nicht einmal wichtig. Sie musste den Verfolgern entkommen und bog um die Ecke eines Hauses ein, um ihre Häscher zu verwirren. Ihr Kopf schmerzte höllisch wie noch nie in ihrem Leben. Ihr Denken lahmte, die Stelle unter ihrer Hand war feucht und blutete. Sie würde bestimmt nicht mehr lange durchhalten und schon bald umfallen, denn die schwärzliche Pünktchen, die vor ihren Augen tanzten, das merkwürdige Rauschen in ihren Schläfen und die schwindende Sicht, prophezeiten ihr eine Ohnmacht. Aber bevor das passieren würde, sollte sie sich wenigstens in einen sicheren Unterschlupf flüchten, anstelle der offene Gasse, wo jeder Mensch sie entdecken konnte! An jeder Tür stieß Oscar beim Laufen mit ihrer Schulter, bis eine nachgab und sie buchstäblich in das Innere hinein fiel. Sie suchte in diesem Haus Zuflucht und brach dort zusammen. Das rettete sie vor ihren Verfolgern und vor der Gefangennahme. Sie träumte von André und dem schwarzen Ritter. Wie ähnlich sie sich doch sahen! Wie zwei Wassertropfen! „Wer seid Ihr?“, wollte Oscar in ihrer Traumphase wissen, aber bekam nur schadenfrohes Gelächter als Antwort. Nein, das konnte nicht wahr sein! Auch dessen Stimme hörte sich wie die von André an! Aber warum sollte er so etwas tun? Und dann träumte sie von ihrem letzten Beisammen und wie er sie angefleht hatte, den schwarzen Ritter nicht zu verfolgen. „Aber André...“ Dann löste er sich in der Luft auf und ließ sie in völliger Dunkelheit alleine. „André, nein!“ Oscar war der Verzweiflung nahe, das musste ein Irrtum sein! Das war bestimmt nicht ihr André! „André komm zurück!“, schrie sie in die Finsternis, aber niemand antwortete ihr. Sie fiel auf ihre Knie und vergrub ihren schon genug blutenden Kopf in den Händen. „André...“ murmelte sie entzwei gerissen und dann sah sie nichts mehr vor sich. - - - Oscar erwachte in einer ärmlichen Wohnung und einem fremden Bett. Das erinnerte sie etwas an Andrés Zimmer und doch war das etwas anderes. Es war ihr alles fremd und unbekannt. Wie kam sie hier her?! Was war passiert?! Ihr Kopf dröhnte und sie ertastete ein großes Verband darauf. Sie erinnerte sich an die Ereignisse von gestern Abend und ihr wurde dabei unwohl zumute. Der Dieb, den sie verfolgt hatte, sah André zum Verwechseln ähnlich aus. Sie wollte auf keinen Fall ihren Geliebten unter Verdacht stellen, aber die Ähnlichkeit zwischen den beiden ließ ihr gewisse Zweifel auftreten. „Guten Morgen, Oscar. Wie geht es dir? Was ist passiert?“, hörte sie eine allzu bekannte und vertraute Stimme nicht weit von ihr entfernt. „André?“ Oscar war überrascht und allen Kopfschmerzen zum Trotz, saß sie schlagartig auf und sah direkt in seine so vertraute grüne Augen. In der Tat, das war er wirklich! Er saß bei ihr auf Bettkante und war äußerst besorgt. „Guten Morgen“, hörte sie als nächste eine weiche Frauenstimme und drehte ihren Kopf. Nicht weit von dem Bett stand eine ihr unbekannte Frau mittleren Alters, bestimmt die Besitzerin der Wohnung, und lächelte sie freundlich an. „Erinnert Ihr Euch, was letzte Nacht passiert ist? Ich hatte Geräusche gehört und als ich nachsah, habe ich Euch am Boden liegen gesehen. Ich war ganz schön erschrocken, aber als die Kleine mir sagte, dass sie Euch kennt, habe ich Euch bei mir aufgenommen.“ In dem Moment ging knarzend die Tür im Zimmer auf und eine junge Frau kam mit einem Krug Wasser herein. „Rosalie...“ Oscar war verblüfft. „Ja, ja, die Welt ist klein.“ Die ältere Frau ging auf Rosalie zu und nahm ihr den Krug ab. „Ich lasse euch jetzt allein und mache etwas Warmes zu Essen.“ „Oh, Lady Oscar...“ Rosalies Wimpern glänzten gleich feucht und sie eilte unverzüglich auf das Bett zu. André konnte gerade noch rechtzeitig aufstehen, um ihr Platz zu machen. Rosalie warf sich in Oscars Arme und schluchzte in die Bettdecke. Oscar hob ihre Hand und strich ihr beruhigend durch den Kopf. „Schon gut, Rosalie... Mir ist nichts passiert. Ich habe nur etwas Kopfschmerzen.“ Sie sah von ihr auf André und wieder überkam sie das zweifelhafte Gefühl. War das möglich, dass er wirklich dieser gemeine Dieb war? Würde er wirklich soweit gehen? „...aber was macht ihr zwei eigentlich hier?“, fragte sie, um von ihren düsteren Gedanken abzukommen. Darüber würde sie André persönlich und unter vier Augen ausfragen. Rosalie hob ihren Kopf, setzte sich gänzlich auf und wischte sich die Tränen mit ihrer Schürze fort. „Ich habe es bei den Polignacs nicht mehr ausgehalten und bin weggelaufen. Sie wollten mich nur zu ihrem Werkzeug machen und mit einem ungeliebten Mann verheiraten. Die Frau, bei der ich wohne ist eine frühere Nachbarin und eine sehr nette Bekannte. Ich arbeite bei einer Blumenverkäuferin und mir gefällt es hier viel besser. Und André habe ich geholt, nach dem ich Euren Kopf verbunden habe.“ „Zum Glück war ich noch zuhause anzutreffen und habe Dienstfrei. Was machst du nur für Sachen, Oscar?! Ich habe mir mächtige Sorgen um dich gemacht.“ André verriet nicht einmal ansatzweise an seinem Äußeren, was ihren Verdacht bestätigen könnte. Aber vielleicht verstellte er sich nur so unheimlich perfekt? „Das, was ich machen muss.“ Oscar geriet innerlich immer mehr in den Zwiespalt und konnte kaum noch aushalten, ihn auszufragen. „Nämlich Verbrecher zu jagen.“ Seine Augen weiteten sich für kurz. Seine Kiefer mahlten und Oscar spürte gleich seine Anspannung, obwohl er wenige Schritte vom Bett entfernt stand. „Wie konntest du so leichtsinnig sein?!“, drückte seine Gesichtszüge aus und trieben Oscar noch mehr in die Zwiespalt. Die Frau kam herein und brachte ein dampfendes Teller. „Das Essen ist fertig.“ Rosalie nahm es ihr ab und brachte es zu Oscar. „Das ist bestimmt nicht das, was Ihr gewohnt seid, aber zumindest ist es warm.“ Oscar starrte entsetzt in den Teller hinein – das war nur heißes Wasser. Sie hatte schon genug von Armut gesehen, aber das schien alles Bisherige zu übertreffen und in den Schatten zu stellen! Dennoch nahm sie den Löffel und aß, als wäre nichts geschehen. „Es ist alles in Ordnung, Rosalie. Die Suppe ist vorzüglich.“ André kehrte ihr den Rücken und sah aus dem Fenster. Er hatte Oscar ihre Erschütterung angesehen, auch wenn sie sich, dem äußeren Schein zum trotze, an nichts anmerken ließ. Aber er kannte sie schon mittlerweile zu genüge. Und da gab es noch etwas: Der schwarze Ritter! Ob es der Mann war, an den er gerade dachte oder nicht, würde dieser von ihm einiges zu hören bekommen! Was fiel ihm ein, Oscar so zu behandeln?! Und was fiel Oscar ein, diesem ganz alleine nachzujagen?! Auch sie würde sich seine Vorwürfe anhören müssen! Aber nicht hier, wo andere Zuhörer dabei waren. Sie hätte ihm wenigstens Bescheid sagen können, als sie auf die Bälle losziehen zu beabsichtigte! Aber Oscar war schon immer ihrem eigenen Starrsinn gefolgt und hörte auf niemanden. Wie konnte man so stur sein? Oscar hatte die Suppe mittlerweile aufgegessen. „Ich danke euch von ganzen Herzen für eure Gastfreundschaft“, sagte sie höflich zu den beiden Frauen und schaute wieder den Rücken von André an. Dieser stierte aus dem Fenster und Oscar hätte gerne gewusst, was gerade in ihm gerade vorging. Fühlte er sich schuldig? Plagte ihn das schlechte Gewissen? Oder warum wollte er sie nicht ansehen?! Es ging ganz bestimmt um den schwarzen Ritter, das spürte sie ganz deutlich und nahm sich fest vor, ihm dies zu entlocken! Aber nicht in dieser Wohnung! Vielleicht in seiner, oder unterwegs zu ihrem Anwesen, aber sie musste sich die Gewissheit verschaffen! Kapitel 32: Es gibt immer ein erstes Mal ---------------------------------------- André hätte nie gedacht, dass es jemals zu so etwas kommen würde! Er kannte ihr hitziges Temperament zu genüge und sie konnte schnell launisch werden, aber er wusste stets damit umzugehen. Diesmal wusste er nicht, was er getan hatte und war zu tiefst gekränkt, dass sie ihm etwas unterstellte, was gar nicht stimmte! Als er sie von Rosalie zu den Pferden geleitete, bat sie ihn mitten auf dem Weg anzuhalten. „Ich muss mit dir reden. Aber nicht hier“, sagte sie trocken und ging weiter. „Ich mit dir auch.“ André ahnte noch nichts davon, was auf ihn zukommen würde und folgte ihr. Draußen vor der Tür blieben sie erneut stehen. Erstaunt starrte Oscar ihren Schimmel an. Wie kam er hierher?! Sie hatte ihn doch in der Nacht verloren! „Wie hast du ihn gefunden?“, fragte sie ihren Geliebten, ohne ihn anzusehen. Sie ging auf ihr Pferd zu, band ihn vom Pfosten los und nahm es kürzer bei den Zügeln. Dieser rieb sein maßigen Kopf an ihr und schnaubte leise, als wolle er sie auf diese Art begrüßen. Oscar strich ihm daraufhin über die Nüstern. „Ist ja gut, ich freue mich auch dich zu sehen...“ Dann richtete sie ihren strengen Blick auf André, der bereits seinen Braunen auch abband und sie betrachtete. „Und was nun? Du hast meine Frage noch immer nicht beantwortet.“ Die leichte Schroffheit in ihrer Stimme versetzte André einen kleinen Stich im Brustkorb und verursachte ihm ein mulmiges Gefühl. Was war denn schon wieder los mit ihr?! Normalerweise sollte er in diesem Ton von ihr eine Antwort auf seine Frage verlangen! Aber nein, er war doch der Vernünftigere von beiden und so antwortete er ganz normal: „Als Rosalie mich heute früh holte, habe ich deinen Schimmel im Hinterhof meines Hauses entdeckt, grasend. Anscheinend ist er zu seinem Gefährden gegangen, nach dem du ihn bei der Jagd aus welchen Gründen auch immer zurückgelassen hast.“ „Ich habe ihn nicht zurückgelassen“, erwiderte Oscar spitz und schob ein Fuß in den Steigbügel. „Der schwarze Ritter hat in seine Richtung geschossen und ihn aufgeschreckt. Er hat mich abgeworfen und ist weggelaufen.“ Galant stieg sie in den Sattel und hielt die Zügel fester. „Es blieb mir nichts anderes übrig, als sein Pferd abzuschießen und ihn zu Fuß zu verfolgen.“ André machte ihr gleich und stieg in den Sattel seines Braunen. „Das war leichtsinnig“, meinte er dabei vorwurfsvoll. „Wie konntest du nur ohne mich auf die Jagd gehen?!“ „Was sagst du?“ Oscar war empört! Ihr Pferd spürte die Aufregung und begann unter ihr zu tänzeln. Oscar klopfte ihm beiläufig an dem kräftigen Hals, um ihn zu beruhigen und ließ dabei André nicht aus den Augen. Wie konnte er ihr Vorwürfe machen, wo er womöglich der Verantwortliche war?! Ihr Blut kochte, die Weißglut stieg in ihr hoch, die sie nicht mehr zügeln konnte. „Und was ist mir dir?!“, warf sie ihm erbost vor: „Was treibst du Nachts, wenn du dein Dienstfrei hast?!“ Das stieß André vor den Kopf. „Wovon sprichst du?!“ „Das weißt du nicht?“ Oscar merkte nicht, wie sie mehr und mehr in Rage geriet. Die Kopfschmerzen und die Platzwunde unter dem Verband, trieben sie zusätzlich noch mehr dazu. Oscar konnte es nicht mehr aushalten. „Ich will wissen, ob du der schwarze Ritter bist! Sag mir bitte die Wahrheit! Ich kann alles ertragen, aber keine Lügen und das weißt du! Das ist unseren Freundschaft und Liebe nicht würdig!“ Vorerst konnte André nichts sagen und starrte sie nur perplex an. Er musste ihre Worte verdauen. „Glaubst du wirklich, ich würde das sein?“, brachte er empört von sich heraus. Nun platzte auch ihm der Kragen. „Denkst du, ich würde es zulassen, dass man dich schlägt und dann um dich umsorgt sein? Für wie niederträchtig hältst du mich denn?!“ Oscar wollte ihm glauben, vom ganzen Herzen, aber der drückende Zweifel stand im Vordergrund. „Ich weiß nicht, was ich glauben soll! Er sah dir ähnlich!“ An dieser Stelle ging bei André ein Licht auf: Bernard! Er hatte es ja geahnt und nun bekam er die Bestätigung. „Ich kenne nur einen Mann, der mir ähnelt und der ist Journalist.“ „Wer ist das?!“ verlangte Oscar auf der Stelle zu wissen und machte schon den Eindruck, als wollte sie diesen Mann sofort aufsuchen und verhaften. Und vielleicht stimmte das ja auch. André merkte es schon an ihrem aufgebrachten Verhalten und vereitelte ihr den Vorhaben. Er bewog seinen Braunen näher an sie heran und griff an den Zügeln ihres Schimmels. „Bitte, Oscar, lass das sein...“ „Lass mein Pferd sofort los, André!“ Oscar zog an den Zügeln, aber ihr Geliebter ließ nicht los. Das machte sie noch reizbarer! „André!“, ermahnte sie ihn. „Nein, Oscar! Solange du dich nicht beruhigt hast, werde ich nicht loslassen!“ „Ich werde mich erst dann beruhigen, wenn du mir sagst, wer dieser Mann ist!“ „Tut mir leid, aber ich kann dir nicht verraten, wer er ist...“ André lockerte seinen Griff von den Zügeln ihres Schimmels und sah förmlich wie sich Oscars Gesicht mehr und mehr verfinsterte. „Du verteidigst das Verbrechen?“, schnaufte sie zornig und hätte ihn am liebsten geohrfeigt. Wie sie sich noch beherrschen konnte, wusste sie selbst nicht. „Das weniger.“ André ließ ihren Ausbruch auch nicht mehr auf sich sitzen und erhöhte seine Stimme: „Er ist aber auf der Seite des Volkes. Wir können nichts gegen die Armut unternehmen, aber er dagegen schon! Er hilft den Ärmsten der Armen im ihrer Not und deswegen soll er nicht verhaftet werden!“ „André...“ Oscar war wie versteinert. Sie versuchte zu begreifen, aber konnte nicht. Zu aufgewühlt war ihr Gemüt in diesem Moment, dass es beinahe schmerzte. Sie wendete abrupt ihr Pferd, stieß ihm heftig in die Seiten und preschte davon. Fort von ihm! Wie konnte er?! Das schmerzte zutiefst und überdeckte sogar die Kopfschmerzen ihrer Platzwunde. Wie konnte es nur zu diesem Streit kommen?! Nur wegen diesem schwarzen Ritter? Das war absurd! Aber dennoch war es geschehen. War jetzt etwa alles zwischen ihnen für immer und ewig vorbei? Warum nur? Oscar entstand ein erdrückender Kloß im Hals wie schon seit langem nicht mehr. Natürlich, André war selbst aus dem Volk und deswegen war er auf der Seite des schwarzen Ritters! Aber war ihm der Dieb und dessen Verbrechen mehr Wert als die Liebe zu ihr? Nein, das wollte und konnte Oscar nicht begreifen! Aber eins stand für sie fest: Sie würde den schwarzen Ritter schnappen, koste es was es wolle! Er würde nicht nur für sein Verbrechen bezahlen, sondern auch für ihre zerbrochene Liebe! - - - Auf dem Anwesen suchte Oscar sofort ihr einstiges Kindermädchen in der Küche auf. „Sophie!“ Diese eilte sogleich erschrocken und umsorgt zu ihrem Schützling, als sie den Verband entdeckte. „Was ist mit Euch geschehen, Lady Oscar!“ Oscar überhörte sie und zog eine schiefe Grimasse. André hatte die gleiche fürsorgliche Art wie seine Großmutter und gerade an ihn wollte sie nicht denken. Kaum dass Sophie sie erreichte, trug sie ihr schon eine Aufgabe auf: „Besorge mir ein schwarzes Kostüm und eine Maske!“ „Aber was habt ihr vor?!“ Sophie blieb vor ihr mit weit aufgerissenen Augen stehen und schlug sich die Hand vor den Mund. Ihr Schützling sollte sich lieber verarzten lassen! „Nun...“ Oscar grinste hämisch: „Wenn man einen Verbrecher fangen will, muss man selbst einen spielen können...“ Dann wandte sie sich ab und marschierte auf ihr Zimmer. - - - André stand da und sah dem wehenden Schweif des Schimmels und Oscars blonden Mähne ungläubig nach. Sie hatten sich gestritten und Oscar war wie ein Wüterich davon geritten! Weg von ihm! Sie war gekränkt, weil er nicht auf ihre Seite stand! Aber warum konnte sie nicht verstehen, was er eigentlich meinte? Ihr Herz schlug doch mehr für das Volk, als für ihresgleichen! Das war ihm unbegreiflich. Vielleicht würde sie das einsehen, wenn ihr hitziges Gemüt sich wieder legen würde? Ja, vielleicht... Wer das glaubt, wird selig... André wusste nicht, was er machen sollte. Er befürchtete, dass Oscar etwas Unüberlegtes tun würde - aber da sie sich gestritten hatten, würde sie höchstwahrscheinlich nicht mehr so schnell zu ihm zurückkommen. Dafür war sie zu Dickköpfig und zu stolz. Er musste sich etwas einfallen lassen solange er noch dienstfreie Tage hatte! Aber was genau sollte er tun, ohne dabei weder Bernard noch Oscar zu schaden? Seinen Freund Alain wollte er nicht miteinbeziehen, das stand schon mal fest. Es blieb nur eine Möglichkeit übrig: die beiden im Auge zu behalten. Und das auch noch gleichzeitig! Wie er das allerdings anstellen sollte, vor allem wenn er in wenigen Tagen wieder in der Kaserne sein würde, wusste er auch noch nicht. Da würde er sich noch etwas einfallen lassen müssen. Aber zuerst wollte er Bernard aufsuchen und von ihm eine Erklärung verlangen! So gesehen, trug er auch einen kleines Anteil zu dem Streit zwischen ihm und Oscar bei. Bernard war von seinem Besuch überrascht, aber ließ ihn erfreut in seine Wohnung herein. Er merkte nichts vom aufgewühlten Gemüt seines Freundes. „Nimm schon mal Platz. Ich mache für uns einen Tee.“ „Das ist nicht nötig“, brummte André missmutig. Er blieb gleich an der geschlossenen Tür stehen und gab Bernard somit zu verstehen, dass er gleich wieder zu Gehen beabsichtigte. „Ist etwas passiert?“ Erst jetzt bemerkte Bernard, dass etwas mit André nicht stimmte und kehrte zu ihm zurück. André musterte seine entspannte Gesichtszüge und dachte immer wieder daran, was ihm Oscar seinetwegen vorgeworfen hatte. „Du bist also der schwarzer Ritter!“, kam er seinem Freund sogleich auf die Schliche. „Ich habe es geahnt!“ „Und?“ Bernard zuckte unbeeindruckt die Schulter. „Ich habe dir doch schon mal gesagt, dass dem Volk geholfen werden muss!“ „Aber doch nicht mit stehlen!“ André war empört. Der Streit mit Oscar war der Ansporn für seinen Missmut. „Weißt du eigentlich, dass das königliche Garderegiment auf der Suche nach dir ist?“ „Aber klar doch...“ André ließ ihn nicht weitersprechen. „Und warum musstest du Oscar gestern schlagen?!“ „Ach daher weht also der Wind...“ Bernard ging ein Licht auf, aber das brachte ihn keineswegs aus der Fassung. „Das war ich nicht. Das war einer meiner Männer. Ich habe deinen Kommandanten gerettet, denn sonst hätte einer von ihnen sie getötet. Ich habe ihr die Möglichkeit zu Flucht gegeben und das hat sie ausgenutzt.“ „Dafür soll ich dir auch noch dankbar sein? Sie ist bewusstlos in einer Wohnung zusammengefallen und trug eine Platzwunde am Kopf!“ André wurde immer grimmiger und seine Stimme rau: „Zum Glück hat Rosalie sie zufällig gefunden, sie versorgt und mich dann geholt!“ „Rosalie?“ Bernard war sofort hellhörig. „Du weißt wo sie wohnt?“ André verstummte prompt. Ihm fiel sogleich ein, dass er sich verraten hatte. „Ja, seit heute Nacht weiß ich es“, gab er zu und gleichzeitig schwebte ihm eine hinterlistige Gedanke. „Aber ich werde dir nichts davon verraten!“ „Warum denn das nicht?!“ „Weil du nicht mit dem schwarzen Ritter aufhören willst, weil meine Oscar dir nachjagt und weil...“ Und weil sie sich deswegen gestritten hatten. André biss sich auf der Zunge. Ihm wurde klar, dass Oscar womöglich nicht mehr die seine war. Nach diesem Streit würde sie höchstwahrscheinlich einen Bogen um ihn machen und ihn nicht mehr sehen wollen. Bedeutete das etwa das Ende ihrer Liebe? Oder war das eher eine vorübergehende Laune ihrerseits, bis der Ärger sich gelegt hatte? „Verstehe...“, Bernard seufzte schwer, aber auch er ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. „Dann werde ich es selbst herausfinden müssen.“ „Dann viel Glück dabei“, murrte André und verließ seine Wohnung auf der Stelle. Das gab es doch nicht! Wozu war er bei Bernard, wenn das sowieso nichts gebracht hatte?! André war frustrierend und hätte am liebsten laut geschrien! Aber hätte das etwas geändert? Nein. Das Problem wäre dadurch nicht gelöst. Und Oscar würde ihm weiterhin fern bleiben! Verdammt! Er musste unbedingt eine Lösung finden, sonst würde er sich noch lange mit diesem Zwist herumschlagen können! Und dann traf ihn ein Geistesblitz. Natürlich! Warum kam er nicht gleich darauf! Es gab doch noch einen Freund, der nicht in allzu langer Zeit versprochen hatte, durch seine Anhänger in Versailles auf Oscar unauffällig acht zu geben... André, beseelt mit einer neuen Hoffnung, gab seinem Braunen die Sporen und ritt geschwind bis ans andere Ende der Stadt. Kapitel 33: Die Jagd -------------------- Jean war genauso überrascht ihn zu sehen, wie Bernard zuvor. „Hast du wohl noch deine freien Tage?“, grüßte er seinen Freund und ließ ihn herzlich in die leere Wirtsstube eintreten. Sie gehörte seiner Familie und mit ihrer Unterstützung veranstaltete er hier häufig geheime Versammlungen mit den Bürgern, um die neue Ideen auszudiskutieren und die Machtverhältnisse des Landes zu durchschauen. Heute war anscheinend nichts los. „Such dir ein Platz aus und ich bringe dir ein Bier“, lud er ihn ein und verschwand schon hinter der Theke. „Danke.“ André musste daraufhin schmunzeln – ungewollt, versteht sich. Jean war in jeder Hinsicht anders als alle seine Freunde und er konnte auf eine gewisse Art die Menschen durchschauen. So ähnlich wie er das bei Oscar vor etlichen Jahren bei einer öffentlichen Feier gemacht hatte. Vielleicht war es genau diese philosophische Art, die André heute zu ihm brachte. Er zog seinen Umhang aus, warf ihn über einen der Stühle und suchte sich gleich an der Theke ein Platz aus. „Hast du heute geschlossen?“ Jean stach nicht weit von ihm ein Fass an, schob einen leeren Krug unter dem Hahn und redete mit André ohne zu ihm hinzuschauen: „Der Geschäft läuft sowieso nicht mehr so gut wie früher. Heutzutage haben die Menschen kaum noch Geld, um ihre Zechen zu bezahlen oder sich ein Bier zu gönnen. Daher ist es praktischer, wenn sie wegen neuen Bewegungen hierher kommen und sich während der Diskussion sich doch noch ein Bier leisten.“ André musste breit grinsen. „Ich wusste nicht, dass du so gerissen bist und deine eigene Leute ausbeutest.“ „Das tue ich ganz und gar nicht.“ Jean tat den vollen Krug beiseite und schob unter den Hahn wieder einen Leeren. „Ich biete ja mein Bier nicht zu horrenden Preisen an, wie manche andere. Jeder, der mein Bier trinkt, zahlt so viel wie er aufbringen kann.“ „Hmmm...“ André war beeindruckt. „Und trotzdem läuft das Geschäft nicht gerade gut?“ „Das weniger, aber wir leben halt mit dem was wir haben und müssen uns damit zufrieden geben, ob wir wollen oder nicht.“ Jean drehte den Hahn zu und klemmte ihn ein, damit es nicht mehr tropfte. Dann nahm er die zwei volle Krüge und stellte einen vor André. „Aber bei dir geht´s aufs Haus.“ Er hob sein Krug zum Prosten in die Höhe. „Auf unser Wiedersehen und mögen wir irgendwann bessere Zeiten haben!“ „Auf unser Wohl!“ André hob sein Krug auch, stieß mit Jean an und trank einen kräftigen Schluck. Die herbe Flüssigkeit tat seiner Kehle gut und löste nebenbei auch seine Anspannung auf. „Und nun erzähl, was gibt´s Neues?“, befragte ihn Jean neugierig, nach dem er sein Bier abstellte und den Schaum von seiner Oberlippe wegwischte. „Was macht Alain und die Brüder? Schlagen sie sich immer noch bei jeder Kleinigkeit?“ „Nein, nicht mehr.“ André tat ihm gleich mit seinem Bier. „Mit den Jahren sind sie alle vernünftiger geworden. Es gibt genug anderen Problemen, als die Rangeleien aus unserer Jugendzeit.“ „Da hast du wohl Recht. Und die Zeiten werden immer härter“, prophezeite ihm Jean und senkte seine Stimme. „Immer mehr Bürger versammelten sich in Gruppen und besprechen, was sie gegen die Adligen und deren Unterdrückung unternehmen können. Du weißt, ich habe überall meine Anhänger und fast jeden Tag bringen sie mir nicht gerade erfreuliche Nachrichten.“ André spitzte seine Ohren auf. Nun kam langsam der Zeitpunkt an, wo er das Thema auf Oscar lenken könnte. „Auch aus Versailles?“ Jean durchschaute den wahren Grund dahinter und schmunzelte. „Auch aus Versailles. Aber eher die Klatschgeschichten von der Königin. Obwohl einige auch der Wahrheit entsprechen – wie zum Beispiel die Rückkehr Ihrer Majestät an den Hof, über Graf von Fersen, das merkwürdige Treiben vom schwarzen Ritter und dass der schöne Kommandant der königlichen Garde ihm nachjagt.“ „Er hat gestern Oscar geschlagen und wegen ihm sind wir nun zerstritten...“ Ohne dass André es merkte, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck und seine Finger krallten sich fester um den Bierkrug. „Was sagst du?“ Jean zog eine Braune in die Höhe. „Es scheint mir, du kennst die beide mehr als ich angenommen hatte...“ Er beugte sich zu ihm vor. „Was ist vorgefallen?“ „Wenn ich es dir erzähle, versprichst du mir, dies für dich zu behalten? Und mir danach einen Gefallen zu tun?“, betonte André und schaute ihm geradewegs in die Augen. Jean nickte ohne zu zögern. „Hoch und heilig! Du kennst mich doch!“ „Also gut.“ André nahm noch ein Schluck Bier und begann zu erzählen: „Oscar und ich sind nicht vor allzu langer Zeit ein Paar geworden, aber seit heute sind wir ganz bestimmt keines mehr... Dank dem schwarzen Ritter... Ich kenne den Mann, aber ich kann ihn nicht verraten und das hat Oscar nicht verstanden... Sie will den schwarzen Ritter fangen, koste es was es wolle und ich habe sie versucht davon abzubringen... Wir haben uns deswegen zerstritten und ich befürchte sie wird etwas Unüberlegtes machen, etwas das ihr schadet...“ André erzählte noch von ihrer Kopfverletzung und dass sie es dem schwarzen Ritter, beziehungsweise seinen Männern zu verdanken hatte. Jeans Augen wurden immer größer. Aber sein Kopf durchdachte gleichzeitig neue Ideen. Es beeindruckte ihn, dass sein Freund André den berüchtigten Kommandanten des königlichen Garderegiments auf seine Seite gewinnen konnte, aber zum Gratulieren war gerade nicht der passender Moment. Als André mit seiner Erzählung fertig war, umfasste Jean nachdenklich sein Kinn. „Ganz schön vertrackte Sache... Und ich muss zugeben, kurz bevor du hierher kamst, war einer meiner Spitzen hier gewesen und über gestrige Jagd erzählt...“ „Was?“ Jetzt weiteten sich bei André die Augen. „Dann war er vielleicht...“ „Nein, er hat nicht deinen schönen Kommandanten geschlagen...“, unterbrach ihn Jean kopfschüttelnd. „Das war einer seiner Kumpane. Er meinte, er war froh, dass sie ihnen entwischt ist, denn sonst müssten wir dich mit einer traurigen Nachricht konfrontieren.“ „Das bin ich auch, sonst würden sie alle von mir etwas erleben!“, murrte André verstimmt und trank noch ein Schluck Bier. Dann fiel ihm etwas anderes auf und er sah Jean besorgt an. „Aber nicht, dass der Mann als dein Spion entlarvt wird...“ „So läuft das hier nicht, André...“ versuchte Jean ihn aufzuklären: „Der schwarzer Ritter weiß, dass der Mann zu mir gehört und er würde ihm nichts antun, weil er ein Bürgerlicher ist. Wir alle arbeiten so gesehen für niemanden, außer für eine gerechte Sache und die bessere Zukunft ohne die Unterdrückung von Aristokraten und Monarchie. Und wir halten uns gegenseitig auf dem Laufenden. Das tun wir, um irgendwann gegen den Adel vorgehen zu können und unsere Rechte zu behaupten. Deine Kleine, sage ich mal so, ist gerade zur falschen Zeit am falschen Ort... Deine Sorgen um sie sind daher nicht unbegründet und sie läuft auf einer Messerschneide, wenn sie nicht aufhört.“ „Deswegen bin ich hier. Ich möchte, dass du mir hilfst, sie aufzuhalten.“ André verstand alles, was Jean meinte und nebenbei fühlte er sich etwas leichter, sich ihm anvertraut zu haben. „Da ich bald wieder in der Kaserne bin und zum allen Überdruss auch noch mit Oscar zerstritten, kann ich nicht mehr auf sie Acht geben.“ „Ich verstehe, was du meinst.“ Jean ließ ihn nicht weiter sprechen und reichte ihm verschwörerisch seine Hand: „Du kannst auf mich zählen. Ich werde höchstpersönlich ein Auge auf sie haben.“ „Ich danke dir von Herzen!“ André schlug ein und seine Laune besserte sich noch mehr, als er mit Jean ihre Vorgehensweisen bis ins kleinste Detail planten. - - -  Dicke Schneeflocken glitten geräuschlos durch die Luft und legten sich leise auf den harten Erdboden nieder. Es war ganz sicher der letzte Schnee, denn der Winter war bereits so gut wie vorüber. André weilte schon längst wieder in der Kaserne und wartete sehnsüchtig auf seine dienstfreien Tage im ersten Monat des Frühlings. Den ganzen Winter über hatte er weder etwas von Oscar noch vom schwarzen Ritter gehört. So, als hätten die beide einen Waffenstillstand für die kalte Jahreszeit abgeschlossen. Und keiner der beiden hatte ihn aufgesucht. Nur Jean kam ab und zu an Besuchstagen vorbei und brachte André gewisse Neuigkeiten. Wie auch heute, an diesem schneereichen Tag kurz vor Ende des Winters. Nach der leutseligen Unterhaltung mit Alain und den Brüdern Jérôme und Léon, geleitete André seinen Freund bis zu den Haupttoren der Kaserne. Das war der beste Vorwand, die geheimen und vertrauliche Neuigkeiten zu erfahren, ohne dass es jemand ihrer andere Freunde mitbekam. „...der schwarzer Ritter hat vor, im März wieder auf Raubzüge zu gehen“, flüsterte Jean mitten auf dem Weg und hüllte sich mehr in seinen Mantel ein. André war es in seiner Uniform hier draußen auch Kalt, aber noch mehr wuchs in ihm sogleich ein unbehagliches Gefühl und eine schlimme Vorahnung. „Dann wird ihm Oscar wieder nachjagen...“, schlussfolgerte er trüb. „Ja, das denke ich auch. Und sie heckt etwas aus“, fügte Jean mit Bedacht hinzu. Das gefiel André ganz und gar nicht. „Was genau heckt sie aus? Konntest du etwas darüber herausfinden?“ „Tut mir leid, aber ich weiß es nicht“, offenbarte ihm Jean bedauerlich. „Ich weiß nur, dass deine Großmutter hatte bei einem Schneider in Paris, Unmenge schwarzen Stoff bestellen lassen. Und das auch noch im Auftrag ihres Schützlings...“ André blieb wie angewurzelt stehen und fasste sich an die Stirn. „Ich ahne nichts Gutes...“ „Die Sache gefällt mir auch nicht.“ Jean blieb direkt neben ihm stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Aber ich kriege das schon raus, keine Sorge und dann kannst du deine Kleine noch rechtzeitig von ihrer Torheit bewahren.“ „Ich hoffe, dass ich mein Dienstfrei schon bald bekomme, bevor noch ein Unheil aufkommt!“, vertraute ihm André an und dann verabschiedete er sich von ihm. In zwei Wochen brach der Frühling an und die warmen Sonnenstrahlen verjagten die restliche Winterkälte. Der Schnee schmolz, erste Blumen sprießten aus der Erde und die ersten Singvögel begannen mit ihrem Singsang. Die Natur erwachte aus dem langen Winterschlaf und eine Woche später als gedacht, bekamen André und seine Kameraden ihre langersehnte dienstfreien Tage. Es war bestimmt ein Zufall, dass ausgerechnet um diese Zeit wieder ungewöhnliche Dinge geschahen: Der schwarze Ritter tauchte wieder auf und machte seine Raubzüge. Aber diesmal bestahl er nicht nur die Adligen und verteilte seine Beute unter der Ärmsten der Armen, sondern er begann auch die königliche Transportzüge zu überfallen. André erfuhr das alles von Jean. „...und vorgestern hatte er den Tross des General de Jarjayes überfallen und 500 Gewehre erbeutet“, berichtete er ihm, als er ihn während seines Dienstfrei besuchte. „Oscar wird den schwarzen Ritter noch mehr jagen...“, vermutete André aussichtslos. „500 Gewehre... Das muss man sich mal vorstellen! Ich muss unbedingt etwas unternehmen, bevor Oscar wieder dem schwarzen Ritter im Nacken sitzt!“ „Ich glaube, das tut sie bereits...“ „Wie meinst du das jetzt, Jean?“ „Nun, erinnerst du dich, als ich dir davon erzählte, dass deine Großmutter im Auftrag ihres Schützlings Ballen vom schwarzen Stoff bei einem Pariser Schneider bestellt hatte?“ „Ja, ich erinnere mich. Das geht mir immer noch nicht aus dem Kopf“, meinte André bestätigend und Jean fuhr leise fort: „Also ich war gestern höchstpersönlich unterwegs zum Anwesen de Jarjayes, um mehr über diesem Diebstahl der Gewehre zu erkundigen und wollte erfahren, was deine Kleine oder ihr Vater dagegen unternehmen werden“, erklärte er mit bedächtig gesenkter Stimme, aber so dass sein Freund ihn Verstand. „Mit Einbruch der Dunkelheit war ich beim Anwesen und suchte mir eine schöne Stelle um unbemerkt ins Innere zu gelangen, als ein zweiter schwarzer Ritter nicht weit von mir aus dem Tor preschte. Ich dachte, mich trifft ein Schlag und ich konnte eine Weile meinen Augen nicht trauen!“ „Willst du damit sagen, dass es einen zweiten schwarzen Ritter gibt?“ André verstand nichts, aber das ungute Gefühl wuchs stetig. „Vielleicht hast du dich getäuscht und es war immer derselbe. Immerhin war es ja fast dunkel, wie du es sagst.“ „Für einen Wimpernschlag dachte ich schon, dass es unser Bernard sein könnte...“ Jean lächelte freudlos und sah André fast mitleidig an. „...aber dann fiel mir seine blonde Haarmähne auf. Und er wirkte viel zu schmal für einen Mann. Auch wenn bereits die Nacht hereinbrach.“ André schlug die Kinnlade unter. „War er auf einem weißen Pferd?“ Als wäre das wichtig! Vielleicht suchte er unbewusst doch noch nach einem Widerspruch. „Ausnahmsweise war das ein schwarzes Pferd, genauso wie Kostüm und Maske.“ Jean konnte ihm den Unglauben vom Gesicht ablesen und hätte ihm den Schlag gerne erspart, aber das konnte er nicht. Er hat den vermeintlichen schwarzen Ritter mit eigenen Augen gesehen und war sich mehr als sicher, wer in Wahrheit dahinter steckte. Denn er hatte bereits mehrmals das Vergnügen gehabt, auch den Kommandanten der königlichen Garde flüchtig zu sehen. „Es tut mir Leid André, aber deine Kleine scheint so besessen darauf zu sein, den schwarzen Ritter dingfest zu machen, das sie es ihm gleich tut und den Lockvogel spielt.“ „Das lasse ich nicht zu! Ich muss den beiden zuvorkommen! Ich muss sie aufhalten!“ André schoss aufgebracht von seinem Platz hoch und bevor er die kleine Bierstube von Jean verließ, bedankte er sich zum Abschied. „Ich danke dir für alles. Nun übernehme ich das. Ich möchte nicht, dass du mit hineingezogen wirst.“ „Das habe ich gerne getan. Und du weißt, du kannst immer zu mir kommen.“ Jean schüttelte ihm kräftig die Hand. „Und passe gut auf dich auf!“ „Das werde ich, Jean", sagte André, aber in Gedanken war er schon längst bei Oscar und Bernard. Kapitel 34: Glückgehabt ----------------------- Wie sollte er denn Oscar und Bernard aufhalten? Wenn er sie aufsuchen würde, würden sie ganz sicherlich nicht auf ihn hören. Vor allem Oscar nicht! Diese wollte höchstwahrscheinlich nichts mehr von ihm wissen, denn sonst hätte sie ihn im Winter in der Kaserne besucht. So, wie sie es ab und zu getan hatte, als sie noch zusammen waren... Aber jetzt war es höchstwahrscheinlich aus und vorbei mit ihnen... Diese Gedanke zerschnitt ihm das Herz in kleinste Stücke und ließ es elendig verbluten... Nein, lieber an etwas anderes denken! Aber an was? An die vergangene, schöne Zeit mit ihr? Oder an die Zukunft, die er sich immer nach ihrem Treffen ausgemalt hatte? Aber halt! Vielleicht war doch noch nicht alles verloren und sie würden wieder zusammenkommen? André gab jedoch diese Hoffnung nicht auf. Ob Oscar ihn noch liebte, wusste er nicht - er hatte sie ja lange nicht mehr gesehen, aber er würde sie trotzdem vor Gefahren bewahren, denn er liebte sie noch immer! Die Frage war nur, wie könnte er das verwirklichen, ohne dass sie es bemerkte? Am einfachsten wäre, sich in Bernards Nähe aufzuhalten und den günstigsten Moment abzuwarten. Das hieß, er müsste ihm auf die Schliche kommen. Wenn Bernard als schwarze Ritter fungierte, dann würde er bestimmt irgendwann auf Oscar treffen und dann wäre es besser die zwei nicht aufeinander losgehen zu lassen und das nahm sich André fest vor! - - - Nacht – kühl und dank dem grell leuchtenden Vollmond und silbernen Sternen auch nicht so finster wie die andere Male zuvor. André legte seinem vierbeinigen Gefährten die Hand auf das lange Maul und mit der andern hielt er ihn kürzer an den Zügel, als dieser ein leises Schnauben vor sich gab. Zum Glück für ihn verschwand der schwarze Ritter bereits hinter den Mauern des Anwesens eines angesehenen Grafen, dessen Namen er nicht einmal kannte und konnte ihn nicht hören. Dessen eigenes Pferd stand fluchtbereit nicht weit entfernt und André fragte sich, wie lange er diesmal warten würde, bis dieser mit seiner Beute zurück war. Vor zwei Tagen begannen Gerüchte zu kursieren, dass es angeblich zwei schwarzen Ritter geben sollte: Der eine war dunkelhaarig und der andere blond. Das war für André noch ein Grund mehr, sein Vorhaben endlich in die Tat umzusetzen! Noch mehr als sonst ließ er Bernard nicht mehr aus den Augen und folgte ihm bei seinen nächtlichen Raubzügen stets mit Abstand, so dass dieser kein einziges Mal einen Verdacht schöpfen konnte. Das war nicht das erste Mal, dass er ihm auflauerte und ihn bei seinen Machenschaften ertappte. Und jedes Mal verlief es nach dem gleichen Muster: Der schwarze Ritter suchte das Anwesen oder ein wohlhabendes Haus der Aristokraten heim, kehrte unbeschadet mit der Beute zu seinem Pferd zurück und ritt geschwind nach Paris, um sie unter den Ärmsten der Armen zu verteilen. André unterdrückte ein Gähnen und ihm wurde in seinem dünnen Mantel etwas frisch. Wo blieb nur Bernard? Oder hatte man ihn diesmal geschnappt? Seine Augen wurden schwer, sein Körper lehnte am Pferd und dessen Wärme machte ihn schläfriger. Wie schön wäre es jetzt in seinem Bett zu liegen und von Oscar zu träumen... Oscar... Was sie jetzt wohl machte? „Meinen Namen zu missbrauchen, um deine elende Habgier zu befriedigen hat ein Ende!“, verlautete jemand grollend in nicht allzu weitere Ferne und André war sofort hellwach. Was war das? Aufgeschreckt sah er sich um und hörte schon ein metallisches Geräusch – als würde eine Klinge aus der Schaft gezogen werden! In seiner Nähe war niemand zu sehen, wie auch an den hohen Mauern des Anwesens, welches er aus seinem sicheren Versteck zwischen den Bäumen und Dickicht beobachtet hatte. Und das Pferd des schwarzen Ritters fehlte auch! War er etwa eingenickt? „Ich habe nichts gegen einen fairen Kampf, aber dann seid Ihr verhaftet und werdet dem Richter übergeben!“, konterte eine energische und hohe Stimme. Oscar? André stieg rasch in den Sattel und folgte den beiden Stimmen und Geräuschen – immer tiefer in das kleine Wäldchen hinein. Bernard war anscheinend auf seinen Doppelgänger getroffen! Oder hatte dieser ihn abgepasst? Egal! Hauptsache war, dass es zwischen den beiden nicht zum Kampf kommen durfte! André ritt auf eine Lichtung hinaus und zügelte abrupt sein Pferd. Zwei schwarzen Ritter standen sich gegenüber und hatten bereits ihre Klingen gezogen! André war baff! Obwohl er es geahnt und seinem Freund Jean geglaubt hatte, hatte er sich trotzdem eingeredet, dass es vielleicht doch ein Irrtum sein könnte! Nun, wurde er eines Besseren belehrt: Einer der beiden Kontrahenten war Oscar! Er erkannte sie schon alleine an ihrer zierlichen Gestalt, ihren blonden Haaransätzen und sein Herz schlug dabei immer aufgebrachter! Schnell stieg er aus dem Sattel und bevor es noch zum Kampf kam, eilte er zu ihnen. „Nein, halt!“, rief er dabei und beschleunigte sein Schritt. Beide schwarze Ritter fuhren erschrocken mit ihren Köpfen herum und starrten ungläubig in seine Richtung. „André?“, brachten alle beide fassungslos von sich. Sie hatten definitiv nicht mit ihm gerechnet! Dieser erreichte sie und stellte sich zwischen ihnen. „Bitte hört auf, alle beide!“ „Geh mir aus dem Weg!“, fauchte Oscar aufbrausend und richtete drohend ihren Degen gegen ihn. Sie fand ihre Fassung schneller zurück als Bernard. „Ich muss das tun!“ „Nein, das musst du nicht!“, konterte André und schritt langsam auf sie zu. Er hatte vor ihr keine Angst. Er appellierte auf ihr gutes, weiches Herz, das in ihr noch definitiv schlagen müsste! Egal ob sie nun miteinander zerstritten waren oder nicht, aber so etwas Kostbares konnte nicht einfach so verschwinden. Nicht bei Oscar! André glaubte fest daran und schaute ihr eindringlich in die Augen, aus denen er sogar in der spärlichen Dunkelheit ihren Zorn funkeln sah. „Begreifst du es denn nicht?! Die Verhältnisse in unserem Land schreien zum Himmel! Der König und die Königin gewähren dem Adel alles und kümmern sich nicht um das Volk! Die Menschen sind verzweifelt, sie leiden und der schwarze Ritter ist ihre letzte Hoffnung!“ „Aber was er macht ist ein Verbrechen und das muss bestraft werden! Ich kann das nicht durchgehen lassen!“ Oscars Stimme wurde heiser. Seine Einmischung passte ihr nicht. Und woher bitteschön wusste er von ihrem Vorhaben?! Hatte er sie etwa ständig verfolgt? Aber wie hatte er das denn schaffen können, wenn er den ganzen Winter in der Kaserne war?! Oder steckte er mit dem schwarzen Ritter womöglich doch noch unter einer Decke? Was auch immer das alles zu bedeuten hatte, aber sie würde nicht nachgeben! „Ich will dir nicht widersprechen, Oscar. Und du hast Recht, aber bedenke doch, welche Auswirkungen es haben könnte, wenn du ihn verhaftest und dem Richter übergibst! Es könnte zu einem Aufstand kommen, weil das Volk auf seiner Seite ist. Willst du das?“ Aber auch André blieb standhaft und redete auf sie ein, ohne natürlich ihre Entscheidung in Frage zu stellen. Er wollte sie doch nur vor ihren eigenen Fehltritten bewahren, die sie dann ganz bestimmt bereuen würde. „Nein, das will ich nicht...“ Oscar verspürte plötzlich allzu bekanntes Sehnen in ihrem Körper: Ein Sehnen nach ihm - ihrem André und seiner Liebe. Nein! Sie durfte nicht klein beigeben und ihm verfallen! Sie verdrängte krampfhaft ihre Empfindungen und sah an ihm vorbei, zu dem schwarzen Ritter. „...er ist doch an allem schuld! Wenn er nicht wäre, dann wären wir...“ Sie biss sich heftig auf der Zunge. Das was sie sagen wollte, ging nur sie und André etwas an! Dieser merkte sofort, dass sie in Zwiespalt geriet und mit ihren Gefühlen rang. Er erfand augenblicklich eine Alternative, mit der so gesehen alle Mitbeteiligten leben können würden. „Wenn er mit dem schwarzen Ritter sein aufhört, wirst du ihn dann gehen lassen?“ Oscar warf schlagartig ihren eisigen Blick auf ihn zu. Wie konnte er?! „Ich verhandle nicht!“ André seufzte schwer. Er hatte diese Antwort von ihr vorausgesehen. Daher drehte er sich zu Bernard um. „Und was ist mit dir? Wirst du auf einen Handeln eingehen?“ Bernard war die ganze Zeit wie festgefroren. Ungläubig beobachtete er das Szenarium, das sich vor seinen Augen abspielte. Seine Gedanken überschlugen sich. Nicht nur, weil André hier unverhofft auftauchte, sondern auch, dass sein Doppelgänger der berüchtigte Kommandant Oscar Francois de Jarjayes war! Eigentlich wäre er schon längst auf und davon, aber irgendwie konnte er sich nicht von der Stelle rühren. „Es hängt davon ab, was für Handel das ist! Ohne Gegenleistung tue ich nichts!“ André kam ein glänzender Einfall. Da würde Bernard einfach anbeißen müssen! Natürlich, wenn seine Absichten ernstgemeint waren. „Und wenn ich dir verrate, wo Rosalie wohnt, wirst du mit dem schwarzen Ritter aufhören und Oscar die Rechnung für gestohlene Gewehre ihres Vaters aufbringen?“ Woher wusste er denn auch darüber?!, stand es wie bei Oscar, so auch bei Bernard im Gesicht geschrieben. „Nun...“ Bernard überlegte angestrengt und krauste seine Stirn. „Das ist ein sehr verlockendes Angebot...“ „Wie bitte?“ Oscar stürzte wie eine Furie auf André los. Es war ihr egal, dass ihre Tarnung vor dem echten schwarzen Ritter aufflog und sie sich immer mehr verriet. „Was hat denn Rosalie mit diesem gemeinen Dieb zu tun?!“ Der Degen fiel ihr aus der Hand und kaum dass André sich versah, donnerten schon ihre Fäuste gegen seinen Brustkorb. „Wieso tust du das?!“ André taumelte zurück und schnappte nach Luft. Diesen Schlag hatte er von ihr nicht erwartet. Oscar stürzte wieder auf ihn los, aber diesmal war er vorbereitet. Er packte sie an Handgelenken und vereitelte ihr den Vorhaben – das erinnerte ihn kurzzeitig an jene Vorfall in jenem Winter, aber das blendete er gleich aus – hier war eine vollkommen andere Situation! „Beruhige dich!“, schnaufte er, als wäre er gerannt. „Rosalie kennt ihn so gut wie ich, aber ihre Wege hatten sich leider vor Jahren getrennt und seit dem sucht er nach ihr, weil er sie liebt!“ Auch Oscar erinnerte sich für kurzen Moment an diese verhängnisvolle Szene aus der Vergangenheit und hielt inne. Ihre Gefühle überschlugen sich - wieder einmal! Sie starrte André mit weit aufgerissenen Augen an und brachte kein Wort mehr heraus. Dieser ließ ihre Handgelenke los und brachte etwas Abstand zwischen sie – er wollte diesen schrecklichen Fehler nicht noch einmal begehen, wie damals. Oscar schienen die gleichen Gedanken durch den Kopf zu gehen. Und da war noch das beispiellose Handeln wegen Rosalie zwischen André und diesem schwarzen Ritter. Wer war er überhaupt?! Bernard dachte dabei an Rosalie und merkte, wie dieser Kommandant Oscar in Zwiespalt geriet und  mit sich selbst haderte. Sie hatte ganz bestimmt tiefere Gefühle für André, als sie es zugab. Er räusperte sich - wenigstens André schaute fragend zu ihm. „Ich werde über dein Angebot nachdenken und eine Nacht drüber schlafen. Du weißt, wo du mich findest, mein Freund.“ André nickte einvernehmlich. „Ich werde dich morgen aufsuchen.“ „Gut.“ Bernard wandte sich ab – er war hier jetzt fehl am Platz. „Dann sehen wir uns morgen.“ „Halt!“ Oscar war sofort wie wachgerüttelt, kaum dass Bernard in den Sattel stieg. Sie stürmte los, aber wurde von André festgehalten. „Lass ihn gehen. Wir sehen ihn doch morgen“, waren seine Worte. Bernard nutzte das aus und nach einem kurzen Dankeswort an André, gab er seinem Pferd die Sporen. „Ihr seid selbstverständlich auch eingeladen, Lady Oscar!“, meinte er etwas lauter beim vorbeireiten und dann verschlang ihn die Dunkelheit der Nacht. Nur das Klappern der Hufen seines Pferdes hörte man mit immer leiser werdenden Nachhall. „Bleibt stehen!“, rief ihm Oscar außer sich nach und sträubte sich noch mehr in Andrés Armen. Dieser ließ sie erneut los und Oscar verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, die noch gewaltiger war als bei ihrer allerersten Begegnung vor einer halben Ewigkeit. „Wie kannst du mir das antun?!“ Ihre Stimme stockte. „...uns antun?!“ Sie schnappte nach Luft und drückte sich eine geballte Faust gegen den Brustkorb. „...ich habe dir vertraut! ...ich habe dir mein Herz, meine Liebe geschenkt!“ „Oscar...“ André hielt an der schmerzender Wange und bewegte sich nicht, als hätte er Wurzeln geschlagen. Seine Geliebte schien die Besinnung verloren zu haben und da war es gefährlich, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Sie war aufgelöst und wütend, es war alles zu viel für sie. „Warum tust du das?!“, wiederholte sie heiser: „Warum arbeitest du mit dem schwarzen Ritter zusammen? Ich kann dich zu nichts zwingen, das weißt du! Und deine Entscheidung kann ich dir auch nicht nehmen... aber warum kannst du mich nicht verstehen?! Ich... ich möchte nur das richtige tun... für uns... für die gerechte Sache...“ Das musste bestimmt ein einsamer, bitterer und verzweifelnder Winter für Oscar gewesen zu sein, ohne ihn, begriff André augenblicklich. Sie liebte ihn, das spürte er und sie tat ihm vom Herzen leid - weil er für ihren Zustand auf eine gewisse Art und Weise verantwortlich war. „Du hast bisher noch nichts falsches gemacht, Oscar...“, erklärte er ihr entschuldigend: „Und ich verstehe dich sehr gut... Aber Bernard ist mir auch ein Freund...“ Er hatte mit Absicht den Namen verraten, damit Oscar seine Lage besser verstehen konnte. „Bernard?“ Oscar wusste nicht, was sie von dieser Offenbarung halten sollte. „Ja.“ André wagte doch noch seine Füße in Bewegung zu setzen und sich Oscar mit kleinen Schritten zu nähern. „Er heißt Bernard Châtelet mit vollen Namen und ist oft mit Robespierre zusammen.“ Oscar leuchtete sogleich einiges ein. „Ich glaube, ich weiß wem du meinst... Ich habe von ihm und Robespierre schon genug gehört... Aber das rechtfertigt dein Handeln trotzdem nicht! Du hättest es mir früher verraten sollen, dann hätte ich vielleicht anders reagiert und wir hätten uns deswegen nicht streiten müssen...“  „Du hast Recht...“, André merkte, dass ihre Wut allmählich nachließ und gab noch mehr zu, um sie ganz milde zustimmen. „Verzeih mir, ich hätte dir von Anfang an alles sagen sollen...“ „Ja, das hättest du!“ Oscar hielt wieder inne. Aber diesmal, weil André direkt vor ihr stand und sie glaubte schon die Wärme seines Körpers zu spüren. Sie hatte ihn vermisst, dass konnte sie nicht leugnen, aber gleich in seinen Armen zu versinken, konnte sie auch nicht. „Ich schwöre dir, ich werde vor dir nichts mehr verheimlichen. Du bist doch mein Leben, mein Sein, meine Liebe...“ „André...“ Oscar schluckte einen Kloß in ihrem Hals herunter. Zaghaft berührte sie mit ihren Spinnenfingern seine angeschwollene Wange. „Auch du verzeih mir... Ich meine es ehrlich...“ „Das glaube ich dir gerne.“ André umfasste sachte ihre Hand und hauchte einen Kuss auf die Innenfläche. „Wollen wir uns nicht lieber bei mir in der Wohnung aussprechen? Ich schwöre dir, ich werde mich sittlich verhalten.“ „Wenn das so ist...“ Oscar verkniff sich gerade krampfhaft ein Grinsen. „Aber wehe, du hältst dich nicht daran!“ „Soll ich vor dir in die Knie gehen?“, schlug André vor und versuchte einen sehr ernsten Gesichtsausdruck zu ziehen, obwohl ihm wie Oscar eher nach Lachen zu Mute war. „Übertreib es nicht!“, schollt ihn diese, nahm ihren Degen vom grasbewachsenen Erdboden auf und marschierte erhobenen Hauptes zu ihrem Pferd. „Wie du wünschst...“ André tat unbeeindruckt und folgte ihr unverzüglich nach. Insgeheim jedoch triumphierte er - er hatte so gut wie gewonnen: Oscar war ihm nicht mehr böse und obwohl sie nichts davon sagte, spürte er es ganz deutlich in sich und das machte ihn glücklich. Kapitel 35: Versöhnt -------------------- Wenn zwei Menschen sich auf eine Aussprache einigten, dann tat man das ja bekannterweise auch! Aber wie sollte man sich aussprechen, wenn keiner der beiden den Anfang wagte? Den ganzen Weg bis zur seiner Wohnung schwiegen sie - das war aber noch nachvollziehbar, denn sie ritten im Galopp und daher gab es so gut wie keine passende Möglichkeit zu einem Wortaustausch. Nun kamen sie in seiner Wohnung an und verloren Trotzdem kein Wort zueinander. André ging zu der Kochstelle und machte das Feuer, um es wärmer und behaglicher zu haben. Oscar zündete derweilen die Kerze auf dem Esstisch und betrachtete ihn stumm bei seiner Tätigkeit. Er spürte ihre Blicke auf sich, aber er sagte nichts – dazu würde er noch früh genug kommen. Eine viertel Stunde später saßen sie sich stumm gegenüber an eben jenen Tisch und musterten sich gegenseitig. Die angezündete Kerze stand zwischen ihnen und warf einen schwachen Schatten auf sie. Die Feuerstelle spendete bereits genügend Wärme um sie herum. Wieder traute sich keiner, den Anfang zu machen. Sie sahen sich lange und forschend an, bis André tief Luft holte und ihn tiefsinnig durch die Nase ausstieß. „Ich glaube, so kommen wir nicht weiter...“ „Das glaube ich auch...“, musste ihm Oscar Recht geben. „Willst du ein Tee?“, schlug André gleich vor, um überhaupt etwas zu reden. „Denkst du, das würde etwas bringen?“ „Besser als hier tatenlos herumzusitzen.“ André erhob sich, ohne ihre Antwort abzuwarten und ging wieder zur Kochstelle zurück. Zu spät erinnerte er sich, dass er eigentlich kein Teevorrat mehr hatte oder besser gesagt, er hatte sich noch nicht darum gekümmert ihn wieder aufzufüllen. Er blieb mitten auf dem Weg stehen und drehte sich verlegen zu Oscar um. „Ich habe vergessen, dass ich keinen mehr habe... Verzeih...“ „Halb so schlimm...“ Oscar erhob sich auch und machte langsame Schritte auf ihn zu. „Ich denke, heute wurde schon genug gesagt und wir sollen uns verabschieden... Ich werde morgen früh bei dir vorbeischauen und dann können wir deinen Freund Bernard aufsuchen...“ Das meinte sie nicht ernst, oder? Weshalb war sie denn hier?! Hatte sie denn seine versteckte Botschaft im Wald nicht verstanden? Sie schien das doch auch zu wollen! André rieb sich den Nacken - er hatte ihr ja versprochen, sie nicht anzurühren. Also musste sie damit anfangen. Aber wie könnte man Oscar dazu bringen, ohne sie darauf anzusprechen, beziehungsweise darauf aufmerksam zu machen?! „Soll ich dich begleiten?“, bot er an. Was sollte er ihr noch sagen?! Dass er kurz davor stand, alle Anstandsregeln zu vergessen und sein Versprechen zu brechen? „Nicht nötig... Ich finde den Weg alleine...“ Auch Oscar verharrte reglos und es sah nicht danach aus, als würde sie gehen wollen. „Willst du in diesem Kostüm durch die Gegend reiten?“ André achtete nicht mehr darauf, was er fragte. Hauptsache, sie blieb vor ihm stehen und er konnte in ihren so verführerischen Blicken ein paar Augenblicken mehr versinken. „Es ist Nacht draußen...“, sagte ihr Mund, aber ihre Gedanken waren bereits woanders – sie schaute nur auf seine Lippen. „Niemand wird mich sehen können...“ „Dann kannst du so gesehen wenigstens deine Maske ablegen...“ „Ja, das kann ich...“ Ihre Arme hoben sich schon von alleine und ihre Finger streiften erst den Hut ab, dann banden sie die Maske ab. „So siehst du besser aus...“, murmelte André, als sie den schwarzen Streifen zu Boden fallen ließ. „Was sagst du?“, fragte sie, nicht mehr ganz bei der Sache. „Ich meine, deine Verkleidung gefällt mir und du siehst gut in dem Kostüm aus, aber...“ Was redete er da eigentlich? Was brachte das überhaupt für ein Sinn, für ein Zusammenhang? Er sollte sie endlich küssen! Denn es war genau das, was sie gerade wollte und worauf sie seit Minuten wartete! André entdeckte den altbekannten Hunger im dunklen Blau ihrer Augen und hielt es einfach nicht mehr aus. Vorsichtig, ohne sie mit den Händen anzufassen, berührte er hauchfein ihre Lippen mit den seinen und gleich darauf entfernte er sein Gesicht von ihrem Antlitz. Er betrachtete sie, suchte nach einer Veränderung und wartete auf ihre Reaktion, aber es geschah nichts. Oscar schien selbst wie berauscht zu sein und fragte sich, warum er nicht weiter machte. Das ermutigte André, ihr Gesicht sachte in seine Hände zu nehmen. „Ich habe dich unheimlich vermisst... deine Nähe... deine Liebe...“ Unmerklich zog er sein Gesicht wieder zu dem ihren, um ihre Lippen mit einem innigeren Kuss zu versiegeln. „Mir erging es genauso...“, gestand ihm Oscar und musste schmunzeln. Sie schlüpfte mit ihren Armen unter seinen Umhang, umarmte ihn um seine Mitte und presste sich mit ihrem ganzem Körper an ihn. „Dann passen wir gut zusammen...“ Andrés Gesicht war schon ziemlich nahe an ihrem, dass sie sogar seinen stockenden Atem auf ihrer Haut spürte. „Ja...“, hauchte Oscar und da berührten sich ihre Lippen: Zuerst hauchfein und vorsichtig, dann leidenschaftlicher und fordernder. André ließ ihren Gesicht los und während des Küssens entledigte er sich seines Mantels, woraufhin dieser gleich von seinen Schultern zu Boden fiel. Das gleiche machte er dann mit Oscars Umhang. Leider ging es nicht so schnell wie er es eigentlich wollte. Er unterbrach bedauernd den Kuss und schob sie etwas von sich. „Oscar... Ist dir nicht warm?“ Er zupfte etwas an ihrem Umhang und Oscar verstand ihn. Ein hinreißendes Lächeln umspielte ihre Lippen. Wie sehr er das vermisst hatte! André kam nicht umhin ihr das Lächeln verwegen zu erwidern und machte sich selbst an den Schnallen ihres Umhanges ran. Er versuchte dabei sich in Geduld zu üben, damit seine geliebte Oscar nichts missverstand. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann stellte es ihn ganz schön auf der Probe. Am liebsten hätte er ihr mit Hast die Kleider vom Leibe gerissen und sich ihrer sofort bemächtigt. Und ohne das dazugehörige Liebesspiel, von dem Oscar meistens profitierte – wie eine verspielte Katze. Ihr Umhang fiel auch zu Boden und sie hatte sich schon ihres Waffengurtes entledigt, wie André es nebenbei feststellte. Er zog Oscar schwungvoll an sich und versiegelte ihre weichen Lippen mit seinem Mund. Mit einem Arm hielt er sie fest um den Rücken und mit der freien Hand knöpfte er ihre Ausgehjacke auf. Oscar schlang ihre Arme um seinen Nacken und befreite sein schulterlanges Haar von der Schleife. Wie ein dunkler Fluss breiteten sich seine Haarsträhne über seine kräftige Schultern und ihre Hände. Beinahe gierig fuhr sie ihm durch das dichte Haar und spürte befriedigend dessen Weichheit zwischen ihren Fingern. Wieder musste sie sich von ihrem Geliebten trennen, als er ihr aus der Ausgehjacke half. Dann entledigte er sich schnell seines Hemdes und drückte sie gegen die am nächsten stehende Wand. Oscar lehnte sich mit Schultern dagegen, vergrub ihre Finger wieder in seinem Haar und umschlang mit einem Bein seine Hüfte. André küsste ihren schlanken Hals von ihrem Ohrläppchen bis zum Schlüsselbein und zurück, während seine Hände sich mit ihrem Hemd sich beschäftigten. Er vertiefte den Ausschnitt, erkundete begehrlich ihre Körperformen und zerrte die Enden ihres Hemdes aus der Hose. Ein Bein schob er Oscar zwischen den Schenkeln und sie ging mit ihrer Hüfte darauf auf und ab, während er ihr das Hemd vollends aufknöpfte. Wie sehr er doch ihre zarte und weiche Haut vermisst und sich jeden Tag nach ihr, ihrer Wärme und ihrem biegsamen Körper gesehnt hatte! Seine Augen leuchteten verzückt auf und er selbst labte sich kurz bei dem Anblick auf ihrem entblößten Oberkörper. Wie schön sie war! Oscar entrann ein wollüstiges Gurgeln aus der Kehle und ihr Brustkorb bäumte sich zu ihm auf. Ihr Becken bewegte sich auf seinem Oberschenkel schneller, als seine Lippen ihr eine Brustwarze umschlossen und seine Zunge drumherum spielte. Ihre zweite Brust verschwand völlig in seiner Hand und seine Finger taten das Gleiche wie seine Zunge nebenan. Und die Finger seiner freien Hand nestelten bereits ungeduldig an ihrem Hosenbund. Oscar stöhnte, ihr Keuchen wurde lauter und ihr Begehren nicht mehr auszuhalten. Sie warf ihre Arme über Kopf, stützte ihren Oberkörper mehr von der Wand ab und drängte sich an ihren Geliebten, sein Werk schneller fortzusetzen und endlich zum Punkt zu kommen! André verstand. Mittlerweile kannte er ihre Körpersprache und wusste an der Art ihrer Bewegungen die richtige Bedeutung. Er entfernte sich von ihrer Oberweite, Oscar sah ihn daraufhin lüstern an und er zog ihr gänzlich das Hemd aus. Dann hob er sie am Becken hoch, sie Schlang ihre Arme um seinen Nacken, ihre Beine um seine Hüfte und er trug sie auf sein Bett. Der schwache Feuerschein von der Kerze reichte kaum noch bis zu ihnen heran. Aber das brauchten sie auch nicht. Sie kannten sich auch ohne gut genug. In Hast zog André seiner Oscar die Stiefel und Hose aus. Noch stürmischer entledigte er sich seinen restlichen Sachen und war sofort über ihr. Oscar ließ ihn gleich zwischen ihren Schenkeln, schlang wieder ihre Beine um seine Hüfte und ihre Arme um sein Rücken. Beinahe mit Macht drang er in sie ein und hielt kurz in seiner Bewegung inne. Vielleicht war es doch noch zu heftig für sie? Nicht dass er ihr mit seiner Ungeduld und Überstürzung Schmerzen zufügte... Oscar stöhnte wohl erregt und bewegte ihr Becken unter ihm selbst auf und ab. Ihre Finger krallten sich mehr in sein Fleisch, ihr Keuchen wurde flacher und das sagte ihm schon alles über ihren Zustand aus. Er ließ ihren Begehren austoben und bewegte sich seinerseits langsam, mit kreisenden Bewegungen in ihr. Das brachte Oscar mehr in Wallung und ihren unersättlichen Begehren zum Höhepunkt. Erst dann, nachdem ihre Gelüste sich abebbten, bewegte er seine Hüften schneller und schneller... und kurz vor der Explosion, schob er sich aus ihr und erlegte sich neben sie auf das Laken des Bettes... Das war immer die gleiche Prozedur, wenn sie miteinander ihre leidenschaftliche Momente verlebten. Für André war das die sicherste Methode, um seine Oscar nicht zu schwängern - und bisher klappte das auch immer gut. André zog die Decke über sie und Oscar schmiegte sich enger an ihn. „Ich liebe dich, Oscar...“, flüsterte er ihr zu und strich ihr durch das weiche Haar: „Vergib mir meine Fehler und lass uns bitte nie mehr streiten, sonst werde ich die Trennung von dir nicht mehr ertragen können...“ „Genauso geht es mir auch...“, gestand ihm Oscar und lächelte leicht: „Ich vergehe vor Sehnsucht nach dir, wenn wir getrennt sind... Ja, mein Geliebter, lass uns nicht mehr streiten... Und ich vergebe dir, denn auch ich trage einen Teil der Schuld...“ „Für mich bist du immer unschuldig...“ André schmunzelte angetan und küsste sie auf die Stirn. „Sei nicht lächerlich!“, neckte ihn Oscar, um vom Thema des Streites abzuweichen und es damit endgültig abzuschließen. „Unschuldig bin ich schon lange nicht mehr! Dank dir bin nun eine Frau – deine Frau und ehrlich gesagt bereue ich das nicht!“ Oscars neckische Laune verwandelte sich im nächsten Augenblick in eine melancholische Stimmung. Das passierte meistens wenn sie sich schläfrig fühlte. Und zur Bestätigung ihrer Müdigkeit gähnte sie. „Du bist der einzige Mann in meinem Leben, André... mein Mann... mein André... Und nur du hast das Anrecht, mich deine Frau zu nennen... Kein anderer Mann wird mich jemals bekommen... nur du...“ Ihre Augenlider wurden immer schwerer. „Nur du, hörst du?“ „Ja, Oscar... meine überalles geliebte Oscar...“ André küsste sie auf die Schläfe und hörte schon ein leises Schnaufen von ihr. „Und du bist die einzige Frau in meinem Leben, die ich über den Tod hinaus liebe... Ich werde dich niemals verlassen... Auf Gedeih und Verderben werde ich an deiner Seite sein...“, sprach er seine Rede trotzdem zu Ende aus und Oscars Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein... Oscar schlief bereits und er würde sie nicht wecken. Das war das erste Mal, dass Oscar die ganze Nacht bei ihm übernachtete und mit einem friedfertigen Lächeln auf seinen Lippen, schlief auch er bald darauf ein. Kapitel 36: Friede ------------------ Die ersten Sonnenstrahlen zeigten sich am Horizont und verjagten die restliche Dämmerung der Nacht. Der Tau an den Ecken des Fensterglases schimmerte silbrig und verdunstete allmählich, als die Sonne höher stieg. Das Morgengrauen verbreitete sich über den gesamten Horizont und die ersten Menschen wachten auf, um ihren tagtäglichen Dingen nachzugehen. André war auch schon wach und betrachtete seine Oscar: Sie schlief noch. Er spürte ihren nackten Leib an seinem Körper und ihren gleichmäßigen Atem an seiner Brust. Das war ein wohltuendes und herzerweichendes Gefühl, sie neben sich zu haben. Und dass sie sich gestern versöhnt und den Streit endlich beigelegt hatten, erfreute ihn noch mehr. Vorsichtig stieg er aus dem Bett und suchte nach seiner Hose. Während er sie anzog, warf er noch einmal einen Blick auf seine Geliebte: Sie lag jetzt auf dem Bauch und beanspruchte die gesamte Mitte des Bettes. Ihre blonde Haarmähne verdeckte fast ganz ihren grazilen und schmalen Rücken. Das linke Schulterblatt lugte hervor und entblößte ein Stück von der wulstigen, rosigen Narbe darunter. André machte seine Hose zu und ging zum Bett zurück. Die Decke war ihr bis zum Steiß nach unten gerutscht und verriet teilweise andere Teile ihres Körpers, wie Lendenwirbel, ihre Rippen an den Seiten und ein Stück von ihrer Hüfte. Ihr musste bestimmt kalt sein. André zog ihr die Decke höher, bis zum Nacken und schmunzelte dabei die ganze Zeit. Oscar schlief weiterhin ungerührt und er wollte ihr diesen Schlaf gönnen - sie hatte ihn sich verdient. Die letzten Tagen waren bestimmt sehr anstrengend für sie und vor allem gestern war ihr sicherlich alles zu viel. Außer vielleicht der leidenschaftlichen und berauschenden Versöhnung danach. Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, verließ André seine Schlafkammer. - - - Langsam schlug Oscar ihre Augenlider auf und bildete sich ein, leise platschende Geräusche zu hören. Sie drehte sich auf die Seite und mit Hilfe ihres Ellbogens, saß sie auf. Noch etwas schlaftrunken sah sie sich um und war mit einem Schlag hellwach: Das war nicht ihr Zimmer, nicht ihr Bett und dennoch war alles so vertraut! Das Morgenlicht des neuen Tages brach durch das Fenster und die ersten Singvögel stimmten bereits ihren Singsang um die Wette an. Oscar war das alles egal, sie sah auf sich herab und erst jetzt wurde sie ihrer eigenen Nacktheit gewahr. Aber was war denn passiert? Ach ja, sie hatte sich doch gestern mit André ausgesöhnt! Oscar ließ ihre Füße vom Bett herab und hielt die Decke über ihre Blöße. Dann stand sie auf. Auf Zehenspitzen und lautlos verließ sie die Schlafkammer ihres Geliebten, aber musste an der Türschwelle gleich stehen bleiben. André stand mit dem Rücken zu ihr in dem größeren Raum und beschäftigte sich mit der Morgenwäsche an dem einzig stehenden Tisch. Er beugte sich über eine Schüssel und wusch sein Gesicht, seinen makellosen Oberkörper und seine Arme. Oscar beobachtete ihn dabei verträumt. Sie sah zwar nur den Rücken und sein zusammengebundenes Haar, mit der grünen Schleife, die sie ihm einstmals geschenkt hatte, aber dennoch ließ sie sich davon hinreißen. Sie hielt sogar ihren Atem an und ließ ihn nur sehr langsam wieder aus. Plötzlich wurde sie rüde aus diesem so harmonischen und zauberhaften Anblick gerissen: Es klopfte an der Tür und zwar heftig laut, als wäre ein Erdbeben passiert! Oscar verharrte ganz mäuschenstill auf ihrem Platz und vor leichtem Schreck, wagte sie nicht zu flüchten. Sie wollte nicht, dass André sie bemerkte, wenn sie wegrennen würde. Und sie vergaß sogar dabei, dass nur die Decke, die sie an ihrem Oberkörper festhielt, ihre weiblichen Körperformen versteckte. „Ja, ja, ich komme schon!“ André griff nach einem Tuch neben der Waschschüssel und eilte zu der Tür. Hoffentlich würde es Oscar nicht wecken! Auf dem Weg rieb er sich mit dem Tuch trocken und öffnete hastig die Tür auf. „Was gibt es, Alain?!“ „Das Frühstuck ist fertig“, sagte dieser und stierte auf einmal ganz perplex an ihm vorbei. Seine dunkelbraune Augen wurden vor Staunen immer größer, seine Lippen formten sich zu einem Rohr und er entließ einen anzügliches Pfeifen. „Wenn ich gewusst hätte, dass du nicht alleine bist, wäre ich später gekommen...“ Er vollführte gleich eine spöttische Verbeugung. „In dieser Aufwartung seht Ihr viel besser aus, Frau Kommandant.“ „Was?!“ André wirbelte verdattert herum. An der Türschwelle zu seiner Schlafkammer stand Oscar und bedeckte ihren so schönen, nackten Körper notdürftig mit einer Decke, die ihr gerade mal bis zu den Waden reichte. André reagierte sogleich blitzschnell: Er stieß seinen Freund wieder hinaus und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Alain lachte daraufhin gellend auf und entfernte sich. André lief dabei bis in die Haarwurzel rot an und wandte sich zu Oscar zurück. „Du hättest sagen sollen, dass du wach bist.“ „Und du hättest mich vorwarnen können, dass dein Freund hier jederzeit hereinplatzen könnte.“ Oscar ließ sich ihre Verlegenheit nicht anmerken. Kerzengerade und anmutig schritt sie zum Tisch. „Jetzt habe ich einen Grund mehr, ihn zu einem Duell herauszufordern.“ „Überlasse bitte mir das Duell mit ihm, denn er kämpft doch grundsätzlich nicht gegen Frauen.“ André stieß sich von der geschlossenen Tür ab und ging langsam auf seine Geliebte zu. Diese tauchte ihre Hand in die Waschschüssel und beugte sich darüber. Sofort umrahmten ihre blonden Haarlocken das Gesicht. Die Decke rutschte ihr sanft von den Seiten herab und gab von ihrem Körper noch mehr Preis. Die gesamte Rückseite und ihre langen Beine waren nun von jeglicher Bedeckung befreit. Oscar schien das alles aber nicht zu stören. Ungerührt schöpfte sie das Wasser in ihre Handfläche und wusch ihr Gesicht. André war bei ihrem sehr freizügigen Anblick heiß und kalt zugleich. Wie schamlos konnte sie noch sein? Aber es beruhigte ihn, dass sie es nur bei ihm tat, um ihn in die Falle ihres Charmes zu locken. Ansonsten verpackte sie sich in ihrer Uniform und Männerkleider so ein, dass man außer Händen und Gesicht keine enthüllte Hautstelle mehr entdeckte. André blieb dicht hinter Oscar stehen, nahm die Enden der Decke und verhüllte sie darin von neuem ein. Dabei regte sich in seiner Hose sein bestes Stück und das spürte Oscar mit ihrem kleinen Hinterteil. Sie richtete sich auf und wirbelte zu ihm herum. „André!“ „Was denn?“ Er sah sie schelmisch an und tupfte ihr mit dem Handtuch hauchfein das Gesicht trocken. „Das kann ich auch alleine.“ Oscar entriss ihm das Tuch aus der Hand und rieb sich selbst das Gesicht trocken. „Du bist schließlich nicht mein Diener! Du bist niemandem verpflichtet! Du bist ein freier Mann und kannst tun, was du willst!“ „Wirklich alles?“ André brannte sich vor allem der letzte Satz ein. Er war Feuer und Flamme. Oscar hörte auf sich abzutrocknen. Verdattert sah sie ins Gesicht ihres Geliebten, der sich immer näher zu ihr heranzog. Zu spät realisierte sie, welche Wirkung ihr letzter Satz auf ihn hatte. „Ähm... Nein... Das hast du falsch verstanden... Wir müssen langsam los...“ „Nur für ein paar Minuten...“ André zog sie schon in seine Arme und hielt sie sachte an sich. Sein athletischer Körper strahlte eine Wärme aus und vermittelte Oscar sofort ein wohltuendes Gefühl nach Geborgenheit. Seinen treuherzigen Blicken und der liebevollen Behandlung, konnte sie nicht länger widerstehen. „Nun gut...“, gab sie schnurrend und wollüstig nach: „...aber nur für paar Minuten.“ Schwungvoll hob André Oscar auf seine Arme und trug sie zurück in seine Schlafkammer... Kurz darauf folgte daraus ein begehrliches Keuchen und Stöhnen: „Oh, mein Gott, André!“ „Ja, geliebte Oscar, was ist...“ „Du bist noch gefräßiger als ich!“ „Nun... Wenn du immer so lecker aussiehst, dann kann ich dem nicht widerstehen...“ „Ach, mein geliebter André...“ „Oder möchtest du, dass ich aufhöre...“ „Nein, auf kein Fall... mach nur weiter... ich gehöre dir vom ganzen Herzen... Geliebter...“ „Ach, meine Liebste...“ - - - Bernard staunte nicht schlecht, als am früheren Nachmittag eine vollbeladene Karre vor seiner Haustür abgestellt wurde. Das hatte er André und seinem weiblichen Kommandanten zu verdanken. Oscar trug wieder ihre rote Uniform und strahlte heute eine unheimliche Zufriedenheit aus. Da müsste ganz bestimmt etwas zwischen den beiden heute Nacht vorgefallen sein! Auch André sah wohlwollend, wie ein zufriedener Kater aus. Bernard ließ seine Gäste herein und lud sie zum Tisch. „Ich kann Euch leider nichts anbieten...“, sagte er mehr zu Oscar als zu André. Eigentlich hatte er schon Tee und Gebäck anzubieten, aber nicht doch für Adlige. Was Oscar betraf, dann müsste er sie vorerst besser kennenlernen. „Wir wollen auch nichts“, meinte André beim Hinsetzen, nachdem auch seine Oscar Platz genommen hatte. „Wir sind auch nicht hier, um uns von dir verköstigen zu lassen“, fügte Oscar in dem gleichen, strengen Ton hinzu, wie gestern. Sehr eigenartig. Das passte nicht direkt zu ihrer entspannten Erscheinung. Bernard schob das erst einmal beiseite und setzte sich ihnen gegenüber. „Was ist in der Karre vor meiner Haustür?“, verlangte er gleich zu wissen. Er fragte sich, was sie für Geschäfte mit ihm abschließen wollten?! „Vorerst sagt Ihr mir Eure wahren Absichten zu Rosalie!“, verlangte dagegen Oscar von ihm zu wissen. „Und wehe, Ihr lügt mich an!“ „Wollt Ihr mir jetzt drohen?“ Bernard schmunzelte hämisch in ihre Richtung. „Oder wollt Ihr mich dann dem Richter übergeben?“ „Das weniger.“ Auch Oscar verzog eine schiefe Grimasse und übertölpelte Bernard mit ihren nächsten Worten: „Wenn ich es wollte, dann wäre ich mit meinen Soldaten hier einmarschiert. Aber dank zweier ganz besonderer Menschen, die mir sehr viel bedeuten, werde ich es nicht tun. Wenn sie sagen, dass Ihr ein gerechter und eigentlich guter Mensch seid, dann wird es auch stimmen. Ich vertraue den beiden und will deshalb ehrlich zu Euch sein. Rosalie ist ein Engel, so klar und rein, wie ein Sonnenstrahl. Sie steht unter meinem persönlichen Schutz. Und wenn ein dahergelaufener Dieb kommt und mit ihr nur spielen will, dann muss er vorerst an mir vorbei kommen. Er würde seines Lebens nicht mehr froh werden, wenn er ihr auch nur ein Haar krümmt. Wenn er danach überhaupt noch am Leben ist... So viel bedeutet mir Rosalie. Und nun seid Ihr dran.“ Bernard schluckte hart. Er war wie vor den Kopf gestoßen und musste vorerst alles verdauen, was diese Frau in Uniform gesagt hatte. Sie meinte es ernst und ehrlich, das war nicht zu überhören. Aber was hatte er eigentlich zu verbergen? Seine Absichten zu Rosalie, war reine Herzensangelegenheit. Er wollte nur niemanden darin einweihen. Und vor allem nicht diese selbstgerechte Aristokratin. „Ihr seht sprachlos aus“, stellte sie fest und holte ihn aus seinen Gedanken zurück. „Hab ich Euch verschreckt? Oder sind Eure Absichten doch nicht so rein, wie mein André es mir weisgemacht hatte?“ André glühte förmlich vor Stolz. Sie hatte gerade „mein André“ gesagt! Das hatte bestimmt einen Grund, denn sonst würde sie niemanden gegenüber so offen sein. Sie achtete dennoch penibel auf ihre Wortwahl und noch sorgsamer auf ihr Verhalten. „Sag ihr deine Absichten, Bernard...“, spornte er seinen Freund an. „Wenn du Rosalie wirklich liebst, dann wird Oscar es verstehen.“ „André...“ unterbrach ihn Oscar kurz angebunden: „Vergiss aber nicht, dass sein alleiniges Geständnis nicht ausreicht... Da muss auch Rosalie etwas für ihn empfinden...“  „Du hast recht...“ André zog sich zurück und überließ das Schlachtfeld seiner Geliebten. Oscar ließ Bernard kein einziges Mal aus den Augen. „Und?“ Bernard räusperte sich in seine Faust, um seine Stimmbänder zu ordnen. „Da Ihr Euch die Mühe gemacht habt und mir so offen getreten seid, werde ich es auch bei Euch sein. Ich kann Rosalie seit unserer ersten Begegnung nicht vergessen. Ja, ich liebe sie und wenn sie das gleiche für mich empfindet, dann würde ich sie heiraten und bis zum Tod mit ihr zusammen leben wollen.“ „Nun gut.“ Oscar schob ihren Stuhl nach hinten und erhob sich. „Ich will Euch glauben.“ „Was habt Ihr jetzt vor?“, fragte Bernard missmutig und stand ebenfalls auf. „Ja, Oscar, wo willst du jetzt hin?“ André tat es den beiden gleich, um nicht als einziger am Tisch sitzen zu bleiben. „Na was schon? Rosalie einen Besuch abstatten und mit ihr ein Frauengespräch führen“, erklärte Oscar schulterzuckend und befreite ihre Uniform etwas von den eingesessenen Fältchen. „Es wird natürlich um Euch gehen, Bernard, und Ihr könnt deswegen selbstverständlich mit uns kommen.“ Das ließ sich Bernard nicht zweimal sagen. Er war auf eine gewisse Weise von dieser Frau beeindruckt. Insgeheim entschuldigte er sich bei André, dass er ihm nicht alles, was sie betraf, geglaubt hatte. Draußen vor der Haustür fiel ihm wieder die beladene Karre ein. „Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, was darin ist und wozu das gut sein sollte“, erinnerte er sie und begutachtete die verpackten Kisten unschlüssig. „Das da ist ein guter Grund, um mit dem Strauchdieb aufzuhören“, sagte Oscar schnippisch und stieg in den Sattel ihres weißen Schimmels. Bernard verstand, dass sie mit dem Strauchdieb den schwarzen Ritter meinte, aber was hinter dem sogenannten guten Grund steckte, verstand er nicht. „Würdet Ihr es mir genauer erklären?“, bat er. Oscar wartete bis alle auf ihre Pferde aufsaßen und als sie zu dritt aufmachten um Rosalie einen Besuch abzustatten, klärte sie ihn auf: „Das sind alles meine Sachen, die ich nicht brauche oder auch nie gebraucht habe. Wie zum Beispiel meine alten Spielsachen, Kleider, die meine Kinderfrau für mich genäht hatte - mit der Hoffnung, dass ich sie irgendwann tragen werde. Aber das kann sie vergessen! Ich werde nie im Leben ein Kleid anziehen! Also können die Ärmsten der Armen damit mehr anfangen als ich. Zudem will ich mich in anderen Adelshäusern erkundigen, ob bei ihnen nicht auch alte Sachen in Kellern oder auf dem Dachboden verstauben.“ „Ich finde, das ist eine viel bessere Alternative als der schwarze Ritter“, fügte André heiter hinzu. „Da könntest du Recht haben, mein Freund. Ich muss zugeben, Ihr seid bemerkenswert, Lady Oscar...“ Bernard staunte noch mehr über sie als vor kurzem in seiner Wohnung. „Ihr seid ganz anders als Euresgleichen... So, wie André mir stets versichert hat...“ Oscar zog ihre Augenbrauen streng zusammen, aber ihre Mundwinkel zogen sich nach oben. „André übertreibt manchmal.“ „Und trotzdem liebt Ihr ihn?“, bemerkte Bernard beiläufig. Oscars Lächeln verstärkte sich, aber ihr eisiger Blick sah nur stur geradeaus. Sie gab darauf keine Antwort. Das war auch nicht nötig, denn Bernard bekam die Bestätigung schon alleine von ihrer aufrechter Haltung und dem verschmitzten Lächeln. Er warf einen Blick auf Andrè. Dieser strahlte mit der Sonne um die Wette und das rührte Bernard, was ihn ebenfalls zum Schmunzeln brachte. - - - Rosalie war für Bernard die schönste Braut, die er je gesehen hatte! Das Kleid bekam sie natürlich von Oscar spendiert und auch das Hochzeitsfest nahm diese auf ihre Kappe. Das alles war natürlich schlicht, aber gemütlich und behaglich. So, wie Rosalie es sich gewünscht hatte. Es dauerte nicht lange bis Rosalie Bernard erhörte und sie ihm ihr Jawort gab. Wenn Oscar und André so darüber nachdachten, dann geschah das schon in der ersten Woche ihrer Bekanntschaft. Oscar war anfangs unschlüssig und gegenüber Bernards wahren Absichten skeptisch, aber nachdem Rosalie mit jedem Tag mehr aufblühte und in Bernards Nähe überglücklich aussah, schwand ihr Misstrauen. „...aber wenn Ihr Rosalie irgendwann doch noch das Herz brecht, dann breche ich Euch auch ein gewisses Etwas!“, vertraute sie Bernard kurz vor der Hochzeit an und dieser schmunzelte nur daraufhin. „Das glaube ich gerne, Lady Oscar... Aber ich schwöre Euch, dass es dazu keinen Anlass geben wird.“ „Gut, dass wir uns verstehen.“ Oscar schmunzelte zurück. „Denn ich will ungern ein Blutbad anrichten.“ Ja, mit der Zeit verstanden sie sich immer besser. Auf der Hochzeit waren Oscar und André natürlich Trauzeugen. Und auch so gab es nicht viele Gäste. Nur die, die Rosalie und Bernard gut kannten. Dass Oscar als einzige Adlige unter ihnen war, schien auch niemanden zu stören. Vielleicht, weil Oscar selbst gleich nach der Trauung in der Kirche auf das Anwesen zurückkehrte und den anderen das Fest überließ. Rosalie verstand es und auch Oscar war nicht darüber traurig. Sie gehörte eben nicht in diesen Kreis, trotz dass sie mit André zusammen war. Denn es war eine Zeit gekommen, in der der Hass des einfachen Volkes gegenüber dem Adel immer mehr zunahm. Kapitel 37: Dienstwechsel ------------------------- „Ich will bei dir sein... Ich will nicht mehr länger in der königlichen Garde dienen... Ich will für immer an deiner Seite bleiben und mich nicht von dir trennen müssen....“, hatte sie ihm am letzten Tag seines Dienstfrei gesagt. Dieser Satz kreiste André danach mehrere Tage durch den Kopf. Er hatte den Hintergrund dieser Worte nicht richtig verstanden, aber er vertraute seiner Oscar und deshalb hatte er nicht nachgefragt. Sie hatten sich versöhnt, ihre Liebe zueinander wieder gefunden und die schönen Stunden in Leidenschaft verbracht. Um das nicht erneut zu zerstören und ihre Entscheidung nicht in Frage zu stellen, hatte er deshalb nicht weiter nachgehakt. Nun lag das alles eine Woche zurück und er hörte nichts mehr von Oscar. André befand sich wieder auf seinem Quartier in der Kaserne und überlegte angestrengt auf seiner Schlafstätte, was Oscar wohl vorhatte. Alain und seine Kameraden spielten Karten. „...habt ihr gehört? Unser Oberst Dagous bekommt bald eine Verstärkung“, hörte André einen von ihnen in die Runde äußern, aber mischte sich nicht ein. Die Grübeleien über Oscars rätselhaften Vorhaben waren ihm wichtiger. „Was für eine Verstärkung?“, wollte ein anderer wissen. Das war Lassalle, erkannte André. „Anscheinend kommt unser Oberst mit uns nicht mehr klar.“ Deckte Jérôme auf und lachte, weil er dem Ton zu urteilen, eine gute Karte gezogen hatte. „Und deswegen bekommt er Verstärkung?“, fragte sein Bruder Léon. „Aber wir haben ihm doch soweit ich mich erinnere, nichts getan...“ „Nun, Bruderherz, so etwas zählt nicht. Wenn die noblen Herrschaften aus dem Generalsstab beschließen, uns einen neuen Kommandanten vor die Nase zu setzen, dann muss auch unser Oberst nach ihrer Pfeife tanzen, von uns ganz zu schweigen.“ „Einen Kommandanten?“ André spitzte sogleich seine Ohren auf und saß auf. „Weißt du, wer das sein wird?“ Jérôme verneinte kopfschüttelnd, ohne sich von dem Kartenspiel ablenken zu lassen. Alain dagegen grinste über beide Ohren. „Deine aufgewärmte Schönheit wird es bestimmt nicht sein...“ „Alain!“, ermahnte ihn André stirnrunzelnd. „Pik Ass!“, rief dieser stattdessen triumphierend und knallte seine Karte auf den Tisch. „Wie es aussieht, hab ich wieder gewonnen!“ Er lachte über die enttäuschten Gesichter seiner Kameraden hinweg und klopfte gleichzeitig den Brüdern auf die Schultern. „Jetzt spielt ihr lieber ohne mich!“ Dann erst widmete er sich dem verdutzten André wieder. „Denkst du wirklich, sie kommt hier her? Die Königin braucht sie doch andauernd an ihrer Seite! Und das, mein treuer Freund, kannst du mir ruhig glauben!“, behauptete er von sich überzeugt und in diesem Augenblick wurde urplötzlich die Tür aufgerissen. Einer der Wachsoldaten stürmte aufgebracht in das Quartier ein: „Unser neuer Kommandant ist auf dem Weg hierher!“ „Ich dachte, er kommt erst morgen!“ Alain schoss in die Höhe und gab seinen Kameraden ein Zeichen, alles Verdächtige einzupacken und sich stramm in zwei Reihen aufzustellen. Gerade rechtzeitig schafften sie alles zu erledigen, ihre Uniformen zu ordnen und sich einzureihen, als erneut die Tür aufging. Deren bisheriger Oberst kam herein, warf einen flüchtigen Blick über alle Köpfe hinweg und trat zur Seite, um den genannten Kommandanten vorbeizulassen. Bei Alain und Andrè weiteten sich die Augen: Oscar! Sie musste nicht mehr bei Sinnen sein! Was hatte denn so eine zierliche Frau in Männerkleidern bei der rauen Söldnertruppe verloren! Stolz, aufrecht und erhobenen Hauptes marschierte sie bis zur Mitte des Raumes und begutachtete alle Soldaten ausgiebig, als suche sie jemanden Bestimmten. „Mein Name ist Oscar Francois de Jarjayes! Ich bin ab morgen euer neuer Befehlshaber!“ „Stramm gestanden und begrüßt unseren neuen Kommandanten, Männer!“, befahl Alain ausdruckslos und salutierte. Die Söldner folgten seinem Beispiel und da fiel Oscars umherschweifender Blick auf André. Für einen Wimpernschlag stahl sich ein übersichtliches Lächeln um ihren Mundwinkel und in ihren Augen glomm ein geheimnisvoller Glanz. André erwiderte ihren Blick flüchtig und gleich darauf waren bei allen beiden die Gesichtszüge wieder ernst und undurchschaubar. - - - „Sie ist wirklich schön...“, sagte ein Söldner anerkennend zu André, nachdem Oscar und Oberst Dagous schon längst gegangen waren. „...und so stolz. Du bist wirklich zu beneiden.“ „Danke. Oscar ist wirklich der wunderbarste Mensch, den ich kenne“, schwärmte André von sich selbst überzeugt. Alain, die Brüder Jérôme und Léon und der größte Teil der Kameraden mischten sich nicht ein, denn sie hatten Oscar schon mal auf die eine oder andere Weise gesehen. Daher überließen sie die Fragereien den Neulingen. „Du erzählst uns nichts Neues“, winkte Lassalle ab. „Aber ist sie auch nett? Oder ist sie nur bei dir so?“ „Sie wird vielleicht streng sein, aber gerecht“, prophezeite André und grinste. „Das werden wir sehen“, fügte anschließend Alain hinzu. „Wir werden sie gut behandeln, solange sie uns keine Schwierigkeiten macht.“ „Das wird sie nicht“, versprach André und machte Anstalten, zu gehen. „Ich werde schauen, ob sie noch im Offizierszimmer ist.“ „Und bleib bei der nicht so lange!“, rief ihm Alain zweideutig nach. André überhörte ihn. Bisher gab es noch keine günstige Gelegenheit ihm seine dreiste Art heimzuzahlen, aber früher oder später würde Alain schon bezahlen müssen. Nur aber wie könnte man das anstellen, ohne dass die anderen es merkten? Es sollte doch niemand mitkriegen oder Verdacht schöpfen, dass es wieder einmal um Oscar ging. Und nun, da sie der neue Kommandant war, stellte sich die Sache schwieriger dar. Alain würde ganz bestimmt noch mehr sticheln und das musste unterbunden werden! André überlegte angestrengt, wie er Alain am besten eine Lektion erteilen konnte. - - - Oscar war noch auf dem Offizierszimmer und überflog gerade ein paar Dokumente, die Oberst Dagous ihr gereicht hatte. „Das sind die Namen aller Söldner“, sagte er ihr und in dem Moment klopfte jemand an der Tür. „Herein!“ rief er und sie ging auf. Einer der Söldner trat ein. „Was gibt es?!“, wollte der Oberst wissen, aber da mischte sich schon Oscar ein: „Ich werde es überprüfen! Es wird nicht schaden, wenn ich schon jetzt damit anfange. Ihr könnt gehen.“ „Jawohl.“ Der Oberst salutierte und verließ das Zimmer. „André, wie schön.“ Kaum als die Tür zuging, verwandelte sich Oscars kühler Gesichtsausdruck in herzliche Freude. Jedoch bewegte sie sich nicht von der Stelle. Dafür ging aber André auf sie zu. Er schob vorerst sein Vorhaben wegen Alain beiseite - dazu würde er noch genügend Zeit finden. „Ich habe nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen“, meinte er stattdessen zu Oscar und betrachtete verzückt ihre blaue Uniform. „Bist du überrascht?“, fragte diese keck. „Etwas schon.“ André blieb direkt vor ihr stehen und strich ihr eine Haarlocke an der Schläfe beiseite. „Andererseits freut mich das. So können wir mehr Zeit zusammen verbringen...“ „Das habe ich mir auch gedacht und deswegen habe ich den Dienst gewechselt.“ Oscar hob eine Hand und legte sie auf seinen Brustkorb. „Ich kann nicht mehr ohne dich, André... Ich liebe dich aus tiefsten Herzen...“ Wie schön das klang! „Ich liebe dich auch, mein Leben lang...“ André neigte sein Gesicht und schenkte ihr einen zärtlichen Kuss. Die Inspektion der Söldnertruppe am frühen Morgen fand wie gewöhnlich mit den ersten Sonnenstrahlen statt. Die Söldner standen bereits in Reih und Glied auf dem Exerzierplatz, als Oscar hoch zu Pferde und in berittener Begleitung von Oberst Dagous alle passierte. Sie sah niemanden an. Mit gerader Haltung, stolzer Erscheinung und eleganter Ausstrahlung, ritt sie bis zur Mitte der Reihen, zügelte dann ihr Pferd und wendete es zu den Soldaten. „Da das heute mein erster Tag als euer Kommandant ist, würde ich gerne euer Können gleich nach der Inspektion testen!“ Ihre hohe und energische Stimme hallte über alle Köpfe hinweg. Die Soldaten salutierten stramm ohne irgendwelche Proteste und das Exerzieren begann. Unter Trommel, in einem Schritt, mit Augen nach rechts auf den Kommandanten gerichtet und in dreier Reihen aufgeteilt, marschierten sie alle ihre Runden durch. Dann standen sie wieder in Reih und Glied vor ihrem neuen Befehlshaber und ihrem alten Oberst. „Ich danke euch. Das war schon mal eine nette Begrüßung.“ Und wieder hallte Oscars helle Stimme über alle Köpfe hinweg. „Nun kommen wir zum nächsten Teil! Ich möchte eure kämpferische Fähigkeiten sehen und zwar von jedem von euch! Und der erste Kampf findet mit mir persönlich statt!“ „Was?“, murmelte einer der Soldaten fassungslos: „Kerle gegen eine Frau?“ Oscar las bei vielen in Gesichtern einen gewissen Unglauben und Zurückhaltung. Ob es wegen ihrem Geschlecht war, oder weil sie wegen André nicht vortreten wollten, wusste sie nicht. Oscar schaute flüchtig zu ihrem Geliebten, der genauso verdattert dreinschaute wie einige seiner Kameraden und dann wanderte ihr Augenmerk weiter. Erneut hob sie ihre energische und hohe Stimme. „Was denn?! Gibt es etwa keinen Freiwilligen zwischen euch, der mit mir den ersten Kampf absolvieren möchte?!“ „Wir wollen Euch nicht verletzen...“ flüsterte Léon zu niemand bestimmten. „Unser André meinte doch, dass sie Herausforderungen mag...“, munkelte sein Bruder nebenan leise und schielte zu Alain und André. „Ich frage mich, warum keiner von euch vortreten will. Ihr kennt sie doch besser als wir. Vor allem du, André...“ André öffnete sein Mund, um etwas zu sagen, aber da brummte schon Alain dazwischen: „Mit der kämpfe ich nicht, schon alleine, weil sie eine Frau ist! Und zweitens gefällt sie mir in einer Decke eingewickelt und ohne nichts darunter besser als...“, weiter kam er nicht. Bevor er sich versah, wurde er schon heftig nach vorn aus den Reihen gestoßen. „Kommandant de Jarjayes.“ „Ja, Oberst Dagous?“ „Ich denke Ihr habt einen Freiwilligen gefunden. Alain de Soisson scheint mit Euch kämpfen zu wollen.“ Oberst Dagous wies dabei mit seinem Kinn in eine bestimmte Richtung. Oscar traute ihren Ohren und Augen nicht. Ausgerechnet der Mann, mit dem sie schon seit geraumer Zeit eine gewisse Rechnung begleichen wollte und der grundsätzlich nicht gegen Frauen kämpfte, nahm ihre Herausforderung an? Woher kam denn so plötzlich der Sinneswandel? Oscar folgte überrascht den Blicken von Oberst Dagous und war sichtlich erstaunt. Das war in der Tat Alain! Dennoch merkte Oscar, dass er anscheinend nicht freiwillig aus der Reihe nach vorn purzelte und beinahe über seine eigenen Füße stolperte. Jemand musste ihn gestoßen haben! Alain war der gleichen Meinung. Er fand sein Gleichgewicht, wirbelte herum und ging auf den Verantwortlichen los. „Das wirst du mir büßen, André!“ „Alain de Soisson!“, hörte er Oscars laute Stimme, kaum dass er sich in Bewegung setzte. „Es erfreut mich, dass Ihr den Mut gefunden habt, gegen mich anzutreten. Was bevorzugt Ihr am meisten: Degen oder Pistole oder in Eurem Fall Gewehr?“ Alain verharrte wie angewurzelt, ballte seine Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen. Sein rachsüchtiger Blick bohrte sich durch André hindurch, aber dieser grinste nur unauffällig. „Das ist dafür, dass du über meine Oscar und mich Späße treibst“, besagte sein schadenfroher Gesichtsausdruck. „Ihr steckt also unter einer Decke!“, brummte Alain bissig und drehte sich um. „Na wartet! Ich werde es euch zeigen!“, dachte er bei sich hinterlistig. Wohl oder übel musste er sich nun mit ihr duellieren. Er lockerte seine angespannten Muskeln und salutierte standesgemäß. „Wenn Ihr gestattet, würde ich den Degen bevorzugen!“ „Dein Wunsch ist gestattet!“ Oscars Mundwinkel zuckten leicht zufrieden und bestätigten Alain die Vermutung, dass die zwei ein verschworenes Pärchen waren! Obwohl er nicht daran glaubte, dass sie sich schon zuvor abgesprochenen hätten... Oscar stieg aus dem Sattel und da kam Alain ein glänzender Einfall. „Ich habe aber eine Bedingung, Oberst, und hoffe, dass Ihr sie akzeptiert!“ „Was hast du vor?!“, hörte Alain André irgendwo hinter seinem Rücken knurren und rieb sich insgeheim die Hände. Oscar stand schon auf eine Armeslänge entfernt vor ihm. „Lass erst einmal die Bedingung hören.“ „Wenn Ihr gewinnt, dann könnt Ihr über mich verfügen wie Ihr wollt und ich werde Euch stets ein treuer Soldat sein“, verlautete Alain und verstummte, um die Spannung noch etwas mehr in die Länge zu ziehen. „Und wenn Ihr gewinnt?“, hackte Oscar ausdruckslos nach, obwohl ihr das hämische Grinsen von Alain ein unangenehmes Kribbeln im Nacken verursachte. „Nun...“, begann Alain und kostete bereits innerlich sein Triumph in vollen Zügen aus: „...wenn ich gewinne, dann bekomme ich einen schönen, zarten und über fünf Minuten lang andauernden Kuss von Euch...“ „Wie bitte?“ Oscar war schockiert. Nur dank ihrer jahrelangen Erziehung in Disziplin, konnte sie ihre Beherrschung bewahren. André platzte dagegen fast die Geduld. „Wenn du das tust, dann bringe ich dich um!“, murrte er und wäre am liebsten schon jetzt auf ihn losgegangen. Nur mit Mühe beherrschte er sich. Und die Brüder Jérôme und Léon stellten sich vorsichtshalber zu ihm von beiden Seiten, um jederzeit einzugreifen und ihn von unüberlegten Taten abhalten zu können. Alain spürte förmlich dessen tötenden Blick auf seinem Rücken, aber das brachte ihn nicht von seinem Vorhaben ab. Nicht dass er so versessen war, Oscar zu küssen, er war ja nicht lebensmüde und Andrés Freundschaft war ihm wichtiger als irgendwelche Weiber, aber er wollte es den Beiden auf diese Weise heimzahlen. Und nebenbei erhoffte er damit, dass Oscar das Duell deswegen absagte. Oscar wäre nie in den Sinn gekommen, einen Rückzieher zu machen. Höchstens wenn die Situation lebensgefährlich wäre und es keinen anderen Ausweg gegeben hätte. Auch ihr ging ein Geistesblitz durch. „Ich habe da einen anderen Vorschlag.“ „Lasst hören.“ Alain hatte sich geirrt. Diese Frau war unnachgiebig und unbeugsam. Das hätte er eigentlich wissen müssen. „Wenn ich gewinne, Alain de Soisson, dann bekommt jeder von Euch das Anrecht auf einen Tag in der Woche dienstfrei und Erhöhung des Soldes.“ „Nun, Euer Angebot ist verlockend...“ Alain stand stramm vor ihr und ließ sich auch nicht unterkriegen. „Und wenn ich gewinne?“ „Auf jeden Fall keinen Kuss von mir.“ Oscar schmunzelte etwas, als wolle sie sagen, dass das ganz alleinige Recht dafür nur bei einem einzigen Mann lag. Zur Bestätigung warf sie einen kurzen Blick auf André und sah dann wieder herausfordernd Alain an. „Wenn Ihr gewinnt, dann könnt Ihr von mir aus, weiterhin der Anführer Eurer Kameraden bleiben...“ „Und wenn ich auf den Kuss bestehen werde?“ „Alain de Soisson!“, empörte sich grollend Oberst Dagous im Hintergrund. „Deine beispiellose Unverschämtheit bringt dich irgendwann mal an den Galgen! Wie kannst du es wagen, so gegenüber ranghöheren Offizieren zu sprechen? Für deine lose Zunge verdienst du mindestens fünfzig Peitschenhiebe!“ „Halt, Oberst Dagous!“ Oscar hob unerwartet ihre Hand. Niemand durfte ihretwegen bestraft werden. Dagous verstummte und sie fuhr fort: „Jeder Mensch hat das Anrecht seine freie Meinung zu äußern!“ „Aber Kommandant, das sind einfache Söldner und keine Adligen...“ Mit anderen Worten gesagt, dass die Söldner nichts zu sagen hatten. Nur die Adligen hatten das Recht dazu und niemand sonst. „Dennoch sind sie dieselben Menschen, wie wir alle...“, sprach Oscar mit offenem Blick auf Alain und im gleichen Moment forderte sie ihn weiter heraus: „Was nun? Nehmt Ihr meine Bedienung an, oder besteht Ihr weiter auf die Eure?!“ Alain war für einen kurzen Augenblick baff. Auch seine Kameraden hinter ihm starrten Oscar verblüfft und bewundernswert an. Alles was André ihnen über diese Frau in Uniform vorgeschwärmt hatte, schien auch so zu sein. Sie hatten ihm nur teilweise geglaubt und dessen Schwärmereien für die Blindheit eines verliebten Mannes gehalten. Einzig André strahlte innerliche Ruhe aus. Er hatte ja seine Kameraden nicht belogen. Und wenn sie ihm keinen Glauben schenken wollten, dann konnte er auch nichts dafür. Alain schluckte einen Kloß herunter, um seine Stimme wieder zu finden. „Kommandant. Ich bin geneigt Euer Angebot anzunehmen und das auch ohne Bedingungen.“ Oscar nickte ihm einvernehmlich zu. Das Duell, das sie gleich darauf austrugen, dauerte nicht lange. Sie setzte all ihr Können ein, wie auch Allain. Er war stärker als André, das spürte sie schon alleine durch seinen kräftigeren Hiebe. Für einen kurzen Moment kam ihr die Frage, ob André bei ihren gemeinsamen Fechtübungen nicht alles gab, was in ihm steckte. Aber vielleicht bildete sie sich das auch gerade nur ein, denn hier passierte keine Fechtübung. Im richtigen Kampf würde auch André seine ganze Stärke zeigen, davon war Oscar überzeugt und setzte sich in diesem Duell mit noch mehr Elan ein. Alain war von ihren Fechtkünsten angetan. Er hätte nicht gedacht, dass sie wirklich so gut fechten konnte. André hatte es zwar immer behauptet, aber er glaubte eher, dass sein Freund auf sie Rücksicht nahm und sie gewinnen ließ. Nun wurde er eines Besseren belehrt und zollte ihr einen gewissen Respekt. Der Kampf endete unentschieden. Niemand hatte gewonnen und niemand verloren.  Aber am Ende war keiner der beiden darauf bestrebt, zu gewinnen. Nach dem Duell, zeigten auch die anderen Soldaten ihr Können. Allerdings unter sich. Oscar war zufrieden. Diese Söldnertruppe zu befehligen würde ihr Spaß machen. Sie akzeptierten sie und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Kapitel 38: Ein unverfrorener Antrag ------------------------------------ Nein, das konnte nicht wahr sein! Nicht seine Oscar! Aber wer war er schon, um davon profitieren zu können?! Er war ein einfacher Soldat, ein Bürgerlicher und sie vom hohen Adel! Deswegen würde nie ein gesetzlicher Ehebund zwischen ihnen kommen können! Die Gleichheit musste gewährt bleiben, aber alle Menschen waren doch schon gleich! Allerdings nicht für den Adel. Nein, für sie galt immer noch das Prinzip der Monarchie. Deswegen beschloss General de Jarjayes seine Tochter mit einem Grafen zu vermählen, ohne nach ihrem Wunsch zu fragen! Aber eine Frau hatte ohnehin nichts zusagen - nicht mal Oscar, die wie ein Mann erzogen wurde! Und warum hatte der General seine Tochter zu einem Mann erzogen, wenn er schlussendlich doch noch eingewilligt hatte sie einem Grafen zur Frau zu geben?! Die Antwort lag auf der Hand: Der General war nicht mehr der Jüngste und seine Tochter zählte auch schon Anfang dreißig! Er brauchte einfach einen Männlichen Erben! Aber warum nahm er dann nicht einer seiner Enkeln von seinen anderen Töchtern?! Nun, seine anderen Töchtern hatte er ja auch nicht wie einen Mann erziehen lassen... Als André von den Heiratsplänen erfuhr, brach für ihn die Welt zusammen. Seine Großmutter hatte es ihm offenbart, als sie ihn in der Kaserne zum ersten Mal nach vielen Jahren seines Dienstes besuchte. Angeblich wollte sie ihn sehen. Vielleicht stimmte das auch. Mehr oder weniger, wollte sie sich eher über das Wohl ihren Schützlings erkundigen. Diese verbrachte ja die meiste Zeit in der Kaserne und ließ sich immer seltener auf dem Anwesen blicken. Über den wahren Grund ihres Besuches, spekulierten auch Andrés Kameraden. Vor allem Alain und den Brüdern Jérôme und Léon war die alte Dame als Feuerdrache in Erinnerung geblieben und sie glaubten daher nicht daran, dass sie es um ihres Enkels Willen tat. Dieser Verdacht drängte sich jedoch schnell in den Hintergrund. Nachdem Sophie weg war, verschanzte André sich im Waffenlager und hätte vor Wut und Verzweiflung am liebsten alle Gegenstände zertrümmert! Allerdings kam er nicht dazu. Alain und seine weitere Kameraden kamen ihm nach. Sie wussten also schon über alles Bescheid. Sie hatten anscheinend die Unterhaltung zwischen ihm und seiner Großmutter mitbekommen! Und wenn nicht alle, dann zumindest ein paar von ihnen. „Es tut uns leid, André...“, sagte Jérôme mit ehrlicher Leidensmiene und bestätigte damit seine Vorahnung. „Aber wer wagte es unserem André seinen schönen Kommandanten wegzunehmen?!“, protestierte dessen jüngere Bruder Léon schwer seufzend. Im ersten Monat ihres Dienstes hatten er und große Teil seiner Kameraden den neuen Befehlshaber zu Schätzen gelernt. „Irgendein Graf de Girodel“, wusste Alain zu erzählen. „Er soll früher in der königlichen Garde, ein Untergebener unseres Kommandanten gewesen sein.“ „Ein Adliger!“, knurrte André bissig und ballte seine Hände zu Fäusten. „Deswegen passt er mehr zu ihr als ich! Was für ein Schwachsinn! Sie liebt ihn doch gar nicht!“ „Denen geht es niemals um die Liebe, mein Freund, das musstest du doch wissen“, versuchte Alain ihn etwas aufzumuntern: „Denen geht es nur darum, ihre Macht zu stärken und einen Profit auf die Kosten anderer zu machen.“ „Das lasse ich niemals zu!“, schnaufte André außer sich. „Genau! Und wir werden dir dabei helfen!“, spornte Léon, angestachelt von seinem Freund und warf gleich darauf einen aufforderten Blick in die Runde: „Hab ich nicht Recht, Männer? Wir werden doch nichts und niemanden so kampflos aufgeben!“ „Ja, so ist es!“, johlten die zustimmenden und grollenden Stimmen der Söldner. „Was geht hier vor?!“, erklang eine hohe Stimme von der Türschwelle um alle Ecken des Waffenlagers und alle Männer verstummten wie auf Befehl. „Warum seid ihr nicht auf euren Posten?!“ „Wir wollen nicht, dass Ihr heiratet, Oberst...“, erklärte Léon beinahe kleinlaut. „Wie bitte?“ Oscar war für einen Augenblick perplex. Woher wussten sie denn bitte alle von den Heiratsplänen ihres Vaters?! André schluckte seine Wut herunter und ging auf sie zu. Sachte nahm er ihre Hände in die seine und hielte sie an seiner Brust gedrückt. „Du darfst nicht heiraten, Oscar. Bitte, tue mir das nicht an...“ „André...“ Oscar wollte ihm ihre Hände entziehen, konnte es aber nicht. Seine Geste vor so vielen Augen seiner Kameraden war ihr unangenehm. Aber das ignorierte sie für einen Augenblick. Ihr Geliebter sah zu verzweifelt aus und sie wollte ihn beruhigen. „Ich will doch gar nicht heiraten... Das habe ich meinem Vater auch schon gesagt...“ „Dein Vater weiß von uns?“ Jetzt war André baff. Oscar schüttelte kaum merklich den Kopf. „Nein, das nicht. Ich bat ihn den Antrag abzulehnen.“ „Und was hat er geantwortet?“ Es wurde immer spannender für André. Auch die Söldner sahen angespannt aus. „Nichts.“ Oscar wurde der intensiver und bis in ihr tiefstes Innere durchdringende Blick von André immer unbehaglicher. Sie fühlte sich, als wäre sie vor Gericht und gleichzeitig wollte sie André nicht im dunklen tappen lassen, wenn sie eine nette Ausrede für ihn erfinden würde. „Er will einen Ball für mich veranstalten, damit ich mir einen Bräutigam aussuchen kann, wenn ich den Graf de Girodel nicht heiraten möchte...“, gestand sie ihm doch noch und redete gleich schnell weiter, als sein Gesicht sich verfinsterte und sich seine Finger fester um ihre Hände schlossen: „...aber ich gehe nicht hin. Oder doch, aber ich ziehe kein Kleid an.“ Andrés Anspannung lockerte sich, aber sie verschwand nicht. „Meinst du, ob das hilft?“ „Ich hoffe es. Wenn nicht, dann brenne ich mit dir durch, André.“ Oscar zog eine schiefe Grimasse, um ihn aufzuheitern. „Und was wird aus uns, Oberst?“, mischte sich Léon vorsichtig ein. „Dürfen wir auch mit? Wir wollen nämlich keinen anderen Kommandanten mehr.“ „Das werden wir sehen. Bisher ist mein Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt worden.“ Oscar sprach zwar in die Runde, aber sah dabei nur André tief in die Augen. „Sagt mir aber nur eines: Woher wusstet ihr so schnell von den Heiratsplänen meines Vaters?“ „Meine Großmutter war hier“, offenbarte André ohne Umschweife und erklärte damit alles. „Jetzt wird mir einiges klar. Keine Sorge, André, außer dir würde ich niemanden heiraten wollen.“ Oscar lächelte und erteilte gleich einen Befehl an alle: „Und nun geht auf eure Posten, sonst muss ich euch eine Strafe auferlegen und das will ich nicht.“ „Jawohl, Kommandant! Zu Befehl!“ Soldaten salutierten nacheinander und verließen das Waffenlager. „Du kannst meine Hände loslassen“, bat ihn Oscar. „Ich werde dir schon nicht davonlaufen, versprochen.“ „Das bezweifle ich auch nicht, Oscar, aber die Sache mit deiner Heirat und dem Ball, den dein Vater für dich veranstaltet, geht mir nicht aus dem Kopf...“ André seufzte tiefsinnig. „Ach, André... Es wird alles wieder gut, du wirst es sehen... Vertraue mir...“ Oscar zog sich auf ihren Zehnspitze zu ihm und drückte ihm ihre weichen Lippen auf den Mund. Normalerweise hätte sie sich dazu nie hinreißen lassen, aber sie waren im Moment unter sich und diese Geste war dazu gedacht, ihm alle seine Zweifel zu nehmen. André war überrascht, aber taute gleich auf und erwiderte ihr hauchzarten Kuss. „Ich vertraue dir, Liebes...“, sagte er nach dem kurzen, aber wohltuenden Kuss. „Und ich werde um dich kämpfen, bis zum letzten Atemzug.“ „Dazu wird es nicht kommen, das verspreche ich dir...“ Oscar war in ihrem Vorhaben zuversichtlich und strotzte äußerlich nur so von ihrer Überzeugungskraft, dass André Hoffnung schöpfte. „Lass uns gehen, André, sonst werden die andere noch misstrauisch...“ „Ja, gut, du hast Recht.“ André ließ ihre Hände los und überließ ihr den Vortritt hinaus. Er folgte ihr ordnungsgemäß wie ein Soldat seinem Kommandanten. Nichts an ihnen zeugte davon, dass sie eigentlich ein Paar waren. „Oberst! Oberst de Jarjayes!“ Lassalle rannte ihnen aufgeregt entgegen, kaum dass sie das Waffenlager hinter sich gelassen hatten. „Ihr habt Besuch! Er wartet vor dem Haupttor auf Euch!“ „Besuch?“ Oscar warf einen flüchtigen Blick auf André. „Geh auf dein Quartier. Wir sehen uns später.“ „In Ordnung.“ André gefiel das gar nicht, aber er widersprach ihr zu liebe nicht. Oscar atmete auf. Sie hatte mit seinen Protesten gerechnet. Gut, dass sie sich gerade zuvor kurz aussprechen konnten und er in sie so viel Vertrauen setzte. Sonst wüsste sie nicht, wie sie auf ihn noch einreden sollte. Sie ging in ihrer ganzen Würde und stolzer Haltung zum Haupttor und war nicht allzu überrascht, Graf de Girodel zu sehen. Sein Pferd hielt er an den Zügel hinter sich und Oscar befehligte einem der Torwache ihren Schimmel zu bringen, was dieser auf der Stelle tat. André sah aus dem Fenster seiner Baracke und beobachtete, was draußen vor sich ging: Oscar stand am Haupttor und unterhielt sich mit einem adligen Offizier. Ihr Schimmel wurde in Kürze gebracht und sie stieg wie immer galant in den Sattel. Der Adlige tat es ihr Gleich und sie setzten ihre Pferde gleichzeitig in Bewegung. André sah Oscar nach, solange wie es ihm möglich war, bis sie dann hinter den Steinmauern der Kaserne aus seinem Blickfeld entschwunden war. Düstere Gedanken kreisten ihm durch den Kopf. Das war ganz bestimmt dieser Girodel, den sie heiraten sollte! Denn er hatte Oscar so angesehen, als würde er ihr sein Herz zu Füßen legen wollen... Das sollte er ruhig tun, wenn ihm danach war, aber er würde nichts damit erreichen! Oscar würde ihn nicht heiraten, so wie sie es auch gesagt hatte! André glaubte ihr und hoffte, dass sie in ihrem Vorhaben Erfolg haben würde. „Zerbrich dir nicht den Kopf“, hörte er die altbekannte, raue Stimme neben ihm. André sah sich nicht um und stierte weiterhin aus dem Fenster, obwohl von Oscar und diesem möchte gern Bräutigam längst nichts mehr zusehen war. „Das tue ich auch nicht, Alain. Oscar wird schon wissen, was sie tut. Und ich werde sie unterstützen, wenn sie mich darum bittet.“ „Ist schon klar.“ Alain legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Und wir werden auch behilflich sein! Wir lassen doch unsere Leute nicht im Sticht!“ „Ihr?“ André drehte sich nun doch um und seine Augen weiteten sich leicht: Nicht nur Alain, sondern auch alle seine Kameraden standen hinter ihm und nickten bekräftigend mit ihren Köpfen. „Natürlich wir!“ Alain entblößte grinsend seine Zähne und klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Und zweitens, schuldet unser schöner Kommandant mir einen Kuss!“ „Das tut sie nicht!“ André wollte schon in offensive gehen, als Alains Grinsen noch breiter wurde und die anderen ihm nachahmten. „Ich hätte auch gern einen Kuss von ihr!“, verlautete Léon und bekam prompt eine Kopfnuss von seinem Bruder verpasst. „Das musst du dir erst einmal verdienen!“, witzelte Jérôme und da begriff André, dass sie das alles nicht ernst meinten - sondern um ihn, ihren Kameraden und Gefährten, aufzuheitern. André war sehr angetan. „Ich danke euch“, murmelte er in die Runde und ließ sich von der heiteren Laune seiner Freunde anstecken. Der nächste Tag war für André noch schlimmer als vorherige. Oscar hatte sich heute frei genommen, um sich angeblich für den Ball vorzubereiten. Die Ungewissheit, was genau sie vorhatte und ob ihr Vorhaben Erfolg haben würde, zerrte an André sehr und strapazierte sein Gemüt. Er hatte sich sogar von seinen Kameraden überreden lassen, mit ihnen Karten zu spielen. Aber diese Ablenkung half ihm nicht. Sein Geist spielte zwar konzentriert mit, aber sein Herz und sein Verstand waren bei Oscar. „Du spielst wie ein Anfänger!“, neckte Jérôme und schlug Andrés gelegte Karte mit einer höheren. André zuckte daraufhin gleichgültig mit seinen Schultern. Léon berechtigte gleich seinen Bruder, zu Gunsten von André. „Lass ihn doch! Wenn dir jemand deine Liebste wegnehmen würde, dann würdest du auch so aussehen!“ „Pah!“ Jérôme winkte ab, als verscheuche er die Fliegen. „Das bezweifle ich, Brüderchen! Ich würde dem Mistkerl höchstens zeigen, wo der Pfeffer wächst und ihm einen kräftigen Tritt in seinen wohlgeborene Hintern verpassen!“ André unterbrach unverhofft das Spiel, legte seine Karten auf Tisch und erhob sich. „Spielt ohne mich weiter. Ich gehe an die frische Luft.“ Seine Kameraden sahen ihm mitleidig nach und spielten dann weiter. Jedermann verstand ihn und was in ihm vorging, aber keiner von ihnen konnte ihm helfen, außer etwas Trost zu spenden. André verließ die Baracke und atmete die frische Aprilluft tief ein. Und genauso tiefsinnig atmete er sie durch die Nase wieder aus. Wenn es nach ihm ginge, dann hätte er liebend gerne mit diesem Grafen de Girodel das gleiche gemacht, wie Jérôme es gesagt hatte. Wenn überhaupt nicht noch schlimmer! Aber das würde er nicht wagen, weil er Oscar versprochen hatte und an sie glaubte. Was sie wohl jetzt tat? War sie jetzt auf dem Ball? Tanzte sie doch noch mit den Männern? Oder schlug sie sich mit ihnen, um zu zeigen, dass sie mehr ein Mann als Frau war? Bei dieser Vorstellung zogen sich seine Mundwinkel unwillkürlich nach oben. „So gefällst du mir schon besser, Kumpel.“ Alain kam hinter ihm an und grinste selbst über beide Ohren. Andrés Schmunzeln erstarb. „Was machst du hier?“ „Überlege doch!“ Alain lachte und steckte seine Hände in die Taschen. „Heute ist Besuchstag!“ „Stimmt ja!“ André ging ein Licht auf. Natürlich! Am Besuchstag kam ja meistens Diane in die Kaserne um sie beide zu besuchen! Und deswegen kam Alain jetzt hinaus und hatte so gute Laune! André konnte es ihm nicht verdenken. Irgendwo fühlte auch er sich erfreut, wenn Diane zu ihnen kam und ihnen mit ihrer fröhlichen Natur die Gemüter erheiterte. Nicht lange und schon bald zeichnete sich ihre kleine Silhouette vor ihnen ab. Sie hüpfte auf sie zu, winkte im Laufen mit ihrer Hand und in den anderen trug sie ein großes Bündel mit sich. „Ich habe euch Wäsche mitgebracht!“ Alain nahm ihr die Last ab und reichte ihr sein Bündel. „Und ich habe schon die nächste Wäsche für dich.“ Er zwinkerte ihr zu und stupste seinen Freund mit dem Ellbogen an. „Und wo ist deines, André?“ „Ähm...“ André gaukelte sofort eine Verlegenheit vor und kratzte sich am Hinterkopf. „Ich habe diesmal keine parat...“ Er lachte freudlos auf und streckte ihr sein Geldbeutel entgegen. „Aber nimm das von mir. Wir sollten bald unseren Sold bekommen. Unser neuer Kommandant ist sehr großzügig und hat es erhöhen lassen.“ Diane nahm den kleinen Beutel an sich. Vom Gewicht her war es nicht viel drin, aber das machte ihr nichts aus. Ihre Fröhlichkeit kannte einfach keine Grenzen. „Ich hörte bereits, dass Lady Oscar jetzt bei euch ist. Das muss für dich sehr vorteilhaft sein, André. So seid ihr häufiger zusammen.“ „Ja, das stimmt“, unterbrach André sie ungewollt. Er wollte nicht mehr darauf eingehen, weil ihm Diane sonst seinen Trübsinn ansehen und nachfragen würde. Und das musste nicht sein. Alain schien das Unbehagen seines Freundes zu spüren und mischte sich gleich unverblümt ein. Auch er reichte Diane sein Sold. „Hier, Kleine, nimm das auch von mir.“ „Danke, Bruder.“ Diane steckte den Beutel von Alain bei sich ein. „Ich werde dann mal gehen. Ich muss noch auf den Markt einkaufen.“ „Ich begleite dich bis zum Tor“, erbot sich Alain und legte seiner Schwester schon den Arm um die Schultern. „Kommst du nicht mit?“, fragte Diane dessen Freund, als dieser keine Anstalten machte, seine Füße in Bewegung zu setzen. Zu Bestätigung schüttelte André den Kopf. „Nein. Ich warte eigentlich auf unseren Oberst. Sie muss bald kommen.“ „Ah, verstehe...“ Diane lächelte und verabschiedete sich gleich von ihm. „Sag Lady Oscar schöne Grüße. Bis bald.“ „Das mache ich, Diane. Bis bald.“ André winkte ihr noch kurz nach, bevor sie ihm zusammen mit ihrem Bruder den Rücken kehrte und Richtung Tor aufmachte. Kapitel 39: Der Soldat und sein Oberst -------------------------------------- Oscar hatte es geschafft! Was für eine schöne Nachricht, die sie zwei Tage später mitteilte! „André, ich werde nicht heiraten! Ich bin auf dem Ball in meiner Uniform erschienen und habe damit allen zu verstehen gegeben, dass ich nicht vor habe, das Leben einer Frau einzuschlagen! Natürlich gilt das nicht für dich, mein Geliebter, aber das brauchen sie ja nicht wissen.“ Sie lächelte immer zufriedener. „Und meine Entscheidung haben sie alle akzeptiert, auch mein Vater.“ Mit anderen Worten, sie hatte ihr Vorhaben durchgesetzt und ihr Vater hatte von seinen Heiratsplänen abgelassen! Das war eine Erleichterung für André und alle Söldner. Mittlerweile hatten sie ihren neuen Kommandanten lieb gewonnen. Ob das an André lag, wusste keiner zu sagen, aber nach einem Monat Dienstes, hatte sie deren Sympathie auf ihrer Seite. Die Freude über ihre gelungene Aktion dauerte jedoch nicht lange. Seit Bernard mit dem schwarzen Ritter aufgehört hatte, fanden sich immer mehr Mutigen aus dem Volk, die an seiner statt die Überfälle verübten. Nicht nur auf Adlige, sondern auch auf reiche und wohlhabendere Bürger wie sie selbst: Bäckereien, Gemüseläden, Händler aller Art, Ärzte und Geldverleiher wurden erbarmungslos bestohlen und ausgeraubt. Die Hungersnot, Armut und Elend trieben die Menschen zu immer mehr solcher Anschläge. Oscar war mit ihrer Söldnertruppe anderweitig im Einsatz und konnte nur aussichtslos mitansehen, wie das verzweifelte Volk immer tiefer in den Abgrund sank. Was konnte sie nur dagegen tun? Die Situationen eskalierten immer weiter, die Unzufriedenheit nahm stetig zu und die brave Bevölkerung verwandelte sich nach und nach in Gesetzbrecher und wurde zu blutrünstigem Gesindel. „Es werden immer mehr...“, prophezeite Alain, kaum dass sie in ihre Quartier einkehrten und ihre Sachen vom Einsatz ablegten. „Ich befürchte, es wird bald etwas Schlimmes passieren...“ Niemand antwortete ihm. Das war allen so oder so schon bewusst. Die Soldaten versammelten sich um den Tisch, holten die Karten heraus und begannen zu spielen – eine tagtägliche Vertreibung ihrer Sorgen in den freien Momenten ihres Dienstes. André war nicht dabei. Er ging mit seinem Oberst auf das Offizierszimmer – eine Selbstverständlichkeit, die er sich zu Gewohnheit machte seit Oscar in ihrer Kompanie versetzt wurde. Er beriet sich mit ihr über derzeitige Lage der Aufstände und die Vorgehensweise. „...ich hätte schon früher mich versetzen lassen müssen“, beendete Oscar mit einer Note des Vorwurfs in der Stimme. Sie stand am Fenster, die Hände hinter dem Rücken gefaltet und sah nach draußen. Es war ein sonniger Nachmittag und eigentlich ein angenehmes Maiwetter, um gute Laune zu haben, aber nicht in diesen schweren Zeiten. André befand sich neben seiner Geliebten und lehnte sich mit Hüfte an den Fenstersims. Im Gegensatz zu Oscar, war seine Haltung eher lässig, seine Arme vor der Brust verschränkt und seine Beine überkreuzt. „Denkst du das hätte etwas an den Aufständen geändert?“, wand André auf ihren Selbstvorwurf ein: „Außer, dass wir schon eher zusammen wären, glaube ich nicht, dass es dem Volk etwas anders gebracht hätte.“ „Vielleicht hast du Recht...“ Oscar seufzte schwer. Dann plötzlich zuckten ihre Mundwinkel. „Beinahe hätte ich vergessen, dass heute wieder ein Besuchstag ist...“ „Wieso?“ André warf einen verwunderten Blick von der Seite auf sie. „Diane ist gerade durchs Tor gekommen“, klärte ihn Oscar auf. „Sag Alain Bescheid, dass sie hier ist.“ „Der wird bestimmt schon draußen stehen“, vermutete André und rührte sich nicht von der Stelle. Er kannte seinen Freund ja. Dieser hatte noch nie einen Besuch seiner Schwester verpasst und wartete immer schon vor ihrem Kommen auf sie. „Willst du nicht auch zu ihr rausgehen und sie begrüßen?“ „Nein, ich bleibe bei dir.“ Diese Antwort hatte Oscar von ihm bereits erwartet und sah zu ihm. Ihre Blicke trafen sich und tauschten stumm die Liebelei miteinander aus, ohne sich auf irgendeine Weise mit ihren Körpern zu berühren. Das war normal und sicher. „Sie ist immer so fröhlich und unbeschwert“, kam Oscar auf Diane zurück zu sprechen: „Es tut gut zu wissen, dass es wenigstens auch noch glückselige Menschen gibt.“ „Das täuscht“, plapperte André unbeabsichtigt aus. Nun zog auch Oscar ihre Augenbrauen stutzig zusammen. „Was meinst du damit?“ „Madame de Soisson geht es in letzter Zeit nicht gut, aber sie wahren alle den Schein und ziehen die gute Mienen auf...“, offenbarte André und schaute doch noch trüb aus dem Fenster. „Sie ist erkrankt und es wird immer schlimmer. Die Medizin stärkt sie zwar, aber sie heilt nicht... Ich befürchte, dass mit ihr dasselbe passiert, wie mit meiner Mutter...“ Oscar´s Augen weiteten sich. Sie war bestürzt, obwohl sie das gekonnt zu verbergen versuchte. Ohne etwas zu erwidern, marschierte sie hastig los. „Wo willst du hin?!“ André holte sie gleich ein. „Wenn ich schon die Aufstände nicht verhindern kann, dann kann ich wenigstens einzelnen Menschen auf eine andere Weise helfen!“, war ihre knappe Antwort, bevor sie das Offizierszimmer verließ. Alain war in der Tat schon draußen und unterhielt sich mit seiner Schwester. „Und geht es Mutter wieder besser?“, bekamen Oscar und André gerade mit. Diane senkte traurig den Blick. „Nein.“ „Das tut mir leid“, sagte Alain und in dem Moment erreichten sie Oscar und André. Diane begrüßte den Kommandanten sogleich mit einem höflichen Knicks und André mit einem freundlichen Lächeln. „Vielleicht, kann ich euch irgendwie helfen?“, erbot sich Oscar und gab den Geschwistern zu Verstehen, dass sie die letzten Worten gehört hatte. Das war gut gemeint, das wussten alle beide und dennoch lehnten sie es ab. „Wir danken Euch, aber wir werden es schon schaffen“, meinte Diane entschuldigend. Das überraschte Oscar. „Ich verstehe nicht...“ „Es hat nichts mit Euch zu tun, Oberst“, sprang Alain ein und erklärte damit alles. Ja, es hatte nichts mit ihr zu tun und so sollte es auch bleiben. Zwar akzeptierte und respektierte sie Alain bereits als die Frau seines besten Freundes, aber es lag an deren Natur, dass sie von niemanden etwas annahmen. Das lag nicht an dem Adelsstand von Oscar und das begriff sie bedauerlicherweise in dem Moment sehr wohl. Trotzdem konnte sie nicht einfach so die Menschen in ihrer Not im Stich lassen. „Aber wenn es schlimmer wird, dann lasst es mich wissen.“ „Ja, Oberst, das werden wir“, versprach Alain, um den sturen Kommandanten milde zustimmen. Er kannte ja ihren Dickschädel mittlerweile gut. „Wir danken Euch, für Eure Güte“, meinte auch Diane aufrichtig und aus reiner Höflichkeit heraus. „Schon gut.“ Oscar ahnte, dass sie das vielleicht nie tun würden, aber wenigstens beruhigte sie, dass sie es ihr versprochen hatten. Abends regnete es in Strömen. Oscar schrieb einige Dokumente auf dem Offizierszimmer, als Alain und André unverhofft hereinplatzten. „Wir müssen dringend mit Euch sprechen!“, lautete Alains harsche Aussage, ohne jeglichen Gruß und ohne Salutieren, wie es eigentlich angeordnet war. „Was ist passiert?!“, verlangte Oscar zu wissen und erhob sich von ihrem Stuhl. „Lassalle wurde gerade von der Militärpolizei verhaftet“, erklärte André mit ernster Miene und schielte grimmig zu Alain: „Er hat sein Gewehr verkauft, um seiner Familie das Geld für Nahrung geben zu können, aber war anscheinend nicht vorsichtig genug...“ „Wir wollen wissen, wer ihn verraten hat!“, ließ Alain ihn nicht weiter sprechen. Seine markanten Gesichtszüge wurden finsterer, seine dunklen Augen verengten sich immer mehr und seine Stimme klang rauer als sonst. „Was?“ Oscar musste vorerst das Gesagte verdauen. Ihre Soldaten verkauften Gewehre? Sei es auch, um ihren Familien zu helfen? Das konnte doch nicht wahr sein! Sie erinnerte sich, dass heute Früh, kurz vor dem Einsatz, Lassalle ohne seinem Gewehr zum Appell vorgetreten war und später der oberster General sie aufsuchte, weil ein Gewehr beschlagnahmt wurde, das unerlaubt zum Verkauf stand und aus ihrer Kompanie stammte. Aber das hatte sie doch geregelt! Sie hatte Oberst Dagous beauftragt, für Lassalle ein neues Gewehr zu besorgen und dem obersten General hatte sie nichts von dem Vorfall verraten! Aber wer war es dann?! Oscar dämmerte es. Der Vorwurf von Alain, der ganz offensichtlich gegen sie gerichtet war. „Ihr wollt behaupten, dass ich es war?!“ Sie war empört und entsetzt. Beinahe Enttäuscht warf sie ihren messerscharfen Blick auf ihren Geliebten. „André! Was geht hier vor?! Was hat das alles zu bedeuten?!“ Sie hatte keine Ahnung von nichts, das sah Alain ihr an. Er geriet in Zwiespalt. Vor allen, als André ihn weiterhin von der Seite grimmig beobachtete. „Ich sagte doch, dass sie von nichts weiß!“, verteidigte er seine Geliebte. Das war wieder klar. Alain verstand ihn und wollte ihm glauben. Aber wenn nicht Oscar, wer war sonst für die Verhaftung von Lassalle verantwortlich?! Oscar ging auf die beide Männer zu – beherrscht und in ihrer ganzen Würde. „Jetzt erklärt mir alles von Anfang an. Und auch über eure unerlaubte Machenschaften! Ich gebe mein Wort, ich werde es verstehen und für mich behalten! Erst danach, kann ich eine Entscheidung bezüglich Lassalle treffen!“ Sie ließ Alain nicht aus den Augen, und diesem wurde es immer unbehaglicher. Ihr bis ins Mark stechender Blick jagte ihm eisige Kälte durch die Haut. Wie konnte André so etwas lieben? Nun gut, sie war ein geborener Anführer, guter Fechter, hervorragender Kommandant und gutherzig, aber damit hörte es auch schon auf. So eine Frau zu lieben, war bestimmt schwierig. Aber wieso interessierte ihn das? Das war Andrés Sache und er wusste anscheinend mit ihr umzugehen, wenn er es schon schaffte sie zum Schmelzen zu bringen. Alain schluckte sein Zorn und Misstrauen herunter, aber behielt vor Oscar seine eisenharte und aufrechte Haltung. „Ihr denkt, Ihr wisst alles über das Elend und die Armut, weil es André mal gezeigt hatte...“, begann er klar und deutlich weiszumachen. Oscar nickte einvernehmlich, das stimmte und gab ihm zu verstehen, fortzufahren. Das hätte Alain so oder so vorgehabt: „...aber Ihr täuscht Euch! Ihr wisst in Wahrheit nichts von den hungrigen Familien, die auf uns warten! Bevor Ihr zu uns kamt, haben wir das Brot und das Fleisch aufgehoben, um es unseren Angehörigen zu geben! Auch wenn Ihr unser Sold erhöht habt, reicht es trotzdem nicht, um sie zu ernähren! Lassalle hat aus diesem Grund sein Gewehr verkauft. Und nicht nur er! Viele von uns haben nicht nur ihre Waffen, sondern sogar ihre Uniformen verkauft! Auch ich! Aber im Gegensatz zu ihm, hatte ich mehr Glück gehabt und war nicht so unvorsichtig! Jetzt wird Lassalle dafür hingerichtet und ich frage Euch: Ist das denn so ein schlimmes Vergehen, um einen Menschen zu töten?“ Sein harscher Ton senkte sich. „Ich bitte Euch, lasst Lassalle nicht sterben... Sonst wird es verehrende Folgen haben...“ „Ich denke darüber nach...“ Auch Oscars Stimmenlage und Gesichtsausdruck änderten sich. Sie war erschüttert, das merkte Alain an ihren geweiteten Augen an, obwohl sie das zu verbergen versuchte. Sie senkte ihren Blick zur Seite, als wolle sie ihre wahres Empfinden vertuschen. „Ich danke dir für deine Offenheit, Alain, das schätze ich sehr. Und ich verspreche dir, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Lassalle zu retten. Aber jetzt lass mich bitte mit André allein.“ Alain wurde aus dieser Frau nicht schlau. Aber sein Gefühl besagte ihm, dass sie auch machen würde, so wie sie es sagte. Er salutierte vor ihr und verließ den Raum. Oscar hob ihren Blick und sah ihm nach, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte. Beiläufig bemerkte sie auch, dass da draußen im langen Gang eine Menge Söldner versammelt hatte. Ganz bestimmt hatten sie sie belauscht und warteten nun auf den Ausgang dieser Geschichte mit Lassalle. Oscar würde sich um ihn kümmern, aber nicht jetzt. Von der Tür schaute sie auf ihren Geliebten – eindringlich und vorwurfsvoll. „Warum hast du mir nie davon erzählt?!“ Ihre Sehnen spannten sich an. Er hatte ihr schon wieder etwas verschwiegen. Das war fast das gleiche wie mit dem schwarzen Ritter! Aber sie versuchte krampfhaft sich zu beherrschen, denn sie wollte nicht erneut mit ihm in Streit geraten. André fühlte sich schuldig gegenüber ihr, weil er ihr wieder einmal etwas verschwiegen hatte. Aber andererseits, wollte er sie nicht mit hineinziehen und das versuchte er ihr gelassen zu erklären. „Es tut mir leid Oscar, aber ich wollte nicht, dass du in Schwierigkeiten gerätst, wenn du alles weißt. Ich habe dir um deiner Sicherheit wegen nichts erzählt, was wir hier im Verborgenen machen.“ „Aber jetzt wird einer von Euch hingerichtet!“ Oscars Blick verschärfte sich, ihr Ton wurde höher und ihr Blut kochte. Sie stand kurz vor der Rage und ballte ihre Hände zu Fäusten, um das zu verdrängen und nicht auf André loszugehen. „Ist dir das klar?“, überschüttete sie ihn stattdessen mit heftigen Vorwürfen. „Wenn du mir schon früher alles erzählt hättest, dann wäre es gar nicht erst zu einer Verhaftung gekommen! Für keinem von euch!“ „Vielleicht...“ André wagte es nicht sich von der Stelle zu rühren. In dieser Verfassung war es nicht ratsam, sie anzufassen, ohne sich an ihrer Weißglut zu verbrennen. „Oscar...“, versuchte er stattdessen sie aus geringen Distanz zu beschwichtigen. „Ich bitte dich, lass uns nicht streiten. Ich weiß, wie es in deinem Herzen aussieht und das du dich von mir verraten fühlst...“ „Da hast du vollkommen Recht!“, unterbrach ihn Oscar schnaufend: „Ich fühle mich von dir verraten! Und das auch noch zum zweiten Mal!“ Sie sprach im Hintergrund vom schwarzen Ritter. „André, ich will auch nicht mit dir streiten. Aber was bleibt mir übrig, wenn du immer wieder etwas vor mir verheimlichst?! Sei es auch zu meiner eigenen Sicherheit!“ „Oscar, ich...“ „Lass mich bitte ausreden, André!“ Oscar holte nicht einmal tief Luft. „Ich bin deiner Fürsorge um meine Wenigkeit dankbar, aber ich kann mich auch selbst verteidigen! Ich bin anders erzogen, als andere Frauen und weiß mich vor alles und jedem zu schützen! Verstehst du, was ich meine?! Ich werde keine Schwierigkeiten bekommen, weil es mein verfluchter Adelstitel und die hohe Position als Kommandant nicht zulassen werden! Das versuche ich zu nutzen, um dich zu schützen! Um meine Soldaten, die mir unterstellt sind, vor Gefahren zu bewahren! Aber wie kann ich das tun, wenn mich niemand einweiht?! Vor allem du nicht, André! Der einziger Mensch, den ich vom ganzen Herzen liebe, für dem ich alles geben werde, sogar mein Leben und dem ich blindlings vertraue... Und was bekomme ich dafür? Außer deiner Liebe und Aufrichtigkeit, möchte ich auch ein wenig Vertrauen haben...“ „Ich vertraue dir, Oscar...“ André schluckte hart. Sein schlechtes Gewissen fraß sich tief in ihn hinein. Er fühlte sich noch schuldiger und er hätte am liebsten die Zeit zurückgedreht, um seine Fehler zu korrigieren. Aber leider war das unmöglich. „Vergib mir...“, fügte er kleinlaut hinzu: „...ich schwöre dir, ich werde von nun an nichts mehr vor dir verheimlichen. Aber bitte versuche auch du mich zu verstehen. Wenn dir etwas zustößt, dann werde ich es mir nie verzeihen können. Weil du die Liebe meines Lebens bist...“ Schon alleine sein verlorener und verzweifelnder Anblick, ließ die Weißglut und Rage in Oscar abkühlen. „André...“ Nun bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn mit ihren Vorwürfen so hart angefahren hatte. „Ich vergebe dir... Aber lass uns jetzt lieber überlegen, wie ich Lassalle vor der Hinrichtung retten kann.“ „Ich danke dir, Liebes!“ André erstrahlte und auch Oscar kam nicht umhin, ihn anzulächeln. „Schon gut, Liebster.“ Wenn es nach ihnen ginge, dann wären sie sich in dem Moment liebend gerne in die Arme gefallen. Aber nicht hier in der Kaserne! Es würde sich bestimmt noch ein günstigerer Zeitpunkt dafür finden. Kapitel 40: Trubel ------------------ Erneut bewies Oscar, wie stark und durchsetzungsfähig sie war, als eine knappe Woche später Lassalle freigelassen wurde und in die Kaserne zurückkehrte. Oscar hatte sich für ihn bei dem obersten der Generäle eingesetzt, weil dieser mehr Macht und einen höheren Rang besaß als sie. Die ganze Kompanie war überaus erfreut und zollten ihrem weiblichen Kommandanten nun noch mehr Achtung und Respekt. Aber die Freude der Männer trübte sich gleich darauf auch wieder, als am selben Tag Diane ihren Bruder besuchte. Hinter der Ecke einer Baracke beobachteten sie verzückt die kleine Schwester ihres Fürsprechers und Kameraden. Was sie ihrem großen Bruder so glückselig offenbarte, ließ die Söldner eine enttäuschte Miene aufziehen. „...sie würden Diane nämlich auch heiraten wollen.“ André lachte auf und klopfte seinem Freund beglückwünschend auf die Schulter. Nach dem Besuch von Diane, befanden sie sich gerade auf dem Weg in ihre Quartier. „Bis auf dich.“ Alain versuchte sich ein Grinsen, aber das misslang ihm. „Das stimmt. Ich wünsche ihr von Herzen alles Gute.“ André sah ihn von der Seite an und merkte, wie Alain selbst eine Schnute zog. „Hey, was ist auf einmal mit dir? Du siehst so aus, als hätte man dir deine Liebste ausgespannt!“ „So fühle ich mich auch...“, gab Alain zu und schmunzelte doch noch unwillkürlich. „Ich habe immer in ihr eine kleine Schwester gesehen und plötzlich ist sie eine junge Frau geworden. Ich weiß, das ist albern, aber...“ „Ist ja interessant!“ André versuchte ihn aufzumuntern. „Selbst der stärkste Mann in der Kompanie hat irgendwo einen schwachen Punkt, stimmt´s?“ „Kann sein.“ Alain warf ihm einen Blick zu. „Jeder Mensch hat einen Schwachpunkt, egal wie stark er ist oder aussieht.“ Er wurde neckischer. „Das merkt man doch schon bei deiner aufgewärmten Schönheit!“ „Was soll das!“ André blieb unvermittelt stehen. Alllain lachte nur darauf und marschierte breitbeinig weiter. „Tja, Kumpel, das musst du am besten wissen!“ „Hör auf so über Oscar zu reden!“ André holte ihn doch noch ein. „Immerhin riskiert sie ihren Posten, wenn sie sich für uns einsetzt! Hast du dich überhaupt für Lassalle bei ihr bedankt? Immerhin ist er seit heute früh zurück. Oder ist dir das etwa entgangen?“ Jetzt blieb Alain stehen und schielte zu ihm. Nein, er hatte sich noch nicht bedankt. Und wozu denn auch? Oscar würde es auch so verstehen. Dennoch machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte anstelle des Quartiers, in Richtung Offizierszimmers – damit André Ruhe gab. Er klopfte an der Holztür und hörte schon ihre befehlenden Ton. „Herein!“ Alain beeindruckte das keineswegs. Er kam wie selbstverständlich herein, schloss die Tür hinter sich und meldete sich nur knapp mit dem Satz. „Ich danke Euch für Lassalle.“ „Nichts zu danken.“ Oscar zeigte nicht, ob sie durch sein unverhohlenes Auftreten beeindruckt war oder nicht. Sie saß ungerührt an ihrem Schreibtisch und befasste sich mit irgendwelchen Dokumenten. „Nun dürfen wir offiziell unsere Waffen verkaufen, bei Euren Beziehungen...“, wand Alain ein und erntete sogleich ihre Aufmerksamkeit. Entsetzt starrte sie ihn an und ihr fiel gar die Schreibfeder aus der Hand. Das brachte Alain zum Lachen. „War nur ein Scherz! Ihr und André passt wirklich zusammen, wie Pech und Schwefel!“ Sollte sie das als Kompliment werten? Oscar runzelte missverständlich die Stirn. „Wenn du meinst. Aber zügle beim nächsten Mal deine Zunge, sonst gerätst du in Schwierigkeiten!“ Die versteckte Mahnung in ihrem Unterton verstand Alain sehr wohl. Aber das schüchterte ihn keineswegs ein. „Wisst Ihr, Oberst, Ihr seid schon ein bemerkenswerte Mensch, aber Ihr müsst auch lernen Spaß zu haben.“ „Du willst mir doch nicht hier Vorhaltungen machen, wie ich mein Leben führe?“ Oscar erhob sich in all ihrer Größe. „Das war nur ein Ratschlag.“ Alain grinste bis über beide Ohren und salutierte zum Abschied. „Ihr erlaubt!“ Es gefiel ihm, diese Frau zu reizen genauso gut, wie seinen Freund hin und wieder mit ihr aufzuziehen. Daran würde sich nie etwas ändern. „Alain, warte einen Moment!“, hörte er Oscar befehlen und gehorchte wie aufs Wort. Er drehte sich an der Tür um. „Ja, Oberst?“ „Ich hörte, deine Schwester heiratet?“ Oscar lehnte sich mit der Hüfte an der Tischkante, verschränkte ihre Arme vor sich und schmunzelte kaum merklich, beinahe hinterlistig. Sie musste sich doch ihm für seine Frechheit irgendwie revanchieren! Alain nickte zustimmend und bekam gleich das Gefühl, dass sie einen Gegenangriff plante. Auch das machte ihm keineswegs etwas aus. Wenn André mit ihr auf seine eigene Art umzugehen wusste, dann wusste er das auch, aber auf eine andere Weise. „Das stimmt. Diane will im Sommer heiraten. André scheint Euch schon alles berichtet zu haben, wie ich sehe. Hmm... Vielleicht nehme ich ihn mir vor? Den Schwur zu halten ist eine Sache, aber es muss doch nicht jede Kleinigkeit sein.“ „Da gebe ich dir Recht.“ Oscar verstärkte ihr Schmunzeln und führte gnadenlos ihren Schachzug aus. „Aber das habe ich nicht von ihm gehört.“ „Von wem dann?“ Jetzt war Alain neugierig. Oscar zog die Spannung etwas in die Länge, bis ihre blaue Augen triumphierend aufblitzten. „Von Diane. Ich bin ihr zufällig auf dem Weg hierher begegnet. Sie meinte, der Mann sei dir ähnlich und so schrecklich klug.“ Alain verengte seine Augen zu Schlitzen und knirschte mit den Zähnen. Er wusste, dass Diane sehr angetan von Oscar war und das konnte er ihr nicht verbieten. Aber Oscars Schachzug konnte er auch nicht auf sich sitzen lassen. „Schön für Euch, dass Ihr das wisst“, brummte er und erarbeitete einen Plan für sich. „Hör auf zu grimmen! Denkst du, ich werde etwas schlimmes tun? Aber nicht doch! Diane ist ein bezauberndes Mädchen und ich wünsche ihr von ganzem Herzen Glück!“ Oscar stieß sich von ihrem Tisch ab, ließ ihre Arme locker und kam unerwartet auf ihn zu. Sie lächelte immer noch. Aber nicht wie vorhin hinterlistig, sondern anders. Alain wusste es nicht zu definieren. Vielleicht warmherzig? Mild? Und noch mehr überraschte sie ihn, als sie ihm ihre Hand reichte. „Ich will mit dir Frieden schließen.“ Sie hatte ihn übertölpelt! Diese Geste hatte Alain nie von ihr erwartet! Er kratze sich verlegen am Hinterkopf. „Ähm... meinetwegen...“, gab er nach einigen Zögern nach und drückte kräftig ihre Hand. Am gleichen Abend, nach der Rückkehr von Lassalle und nachdem Oscar endgültigen Frieden mit Alain geschlossen hatte, wollte sich Oscar bei dem General bedanken, der für die Freilassung verantwortlich war. Sie schickte nach André, um mit ihm in einer Kutsche nach Paris zu fahren. „Ich weiß nicht, ob das klug ist“, sprach André seinen Bedenken aus, nachdem er Oscars Vorhaben angehört hatte. „Unter den Männern kursiert das Gerücht, dass sich in Paris einiges zusammen braut.“ „Was soll denn schon passieren? Du bist doch bei mir.“ Oscar sah ihn an und lächelte. Das tat sie meistens wenn sie unter sich waren. Obwohl schon ihre ganze Abteilung über ihre gemeinsame Beziehung wusste, außer dem adligen Leutnant Dagous, trotzdem wahrte sie eine gewisse Diskretion. Sicher war sicher und man sollte ja nicht gleich übertreiben. „Das stimmt.“ André erwiderte ihr verschmitzt das Lächeln und ließ sich von ihr überreden. Die Nacht brach ein. Kein einziges Wölkchen zeichnete sich am tiefblauen Himmelsgrund. Nur der Mond und die klare Sterne erleuchteten die Umgebung mit ihrem silbrigen Licht. In der Kutsche war es warm und stickig. André saß neben Oscar und legte ihr unauffällig die Hand auf den Oberschenkel. Oscar spürte das und warf ihm einen Blick von der Seite zu. „Was wird das?“ „Einfach so.“ André schmunzelte geheimnisvoll. „Es sieht doch keiner.“ „Du bist unmöglich.“ Oscar zog eine unbeeindruckte Miene, aber ließ seine Hand gewähren. Das ermutigte André zu mehr. Er rückte näher an sie heran und seine Finger tasteten sich auf der Innenseite der Oberschenkel, bis zur Mitte. „André!“ Oscar wollte ihn zur Beherrschung ermahnen, aber ihr eigener Körper machte ihr schon einen Strich durch die Rechnung. Ihre Schenkel öffneten sich etwas, ein Bein legte sich wie von alleine über sein Schoß und ihr Becken rutschte seinen Fingern entgegen. „André...“ wiederholte sie, aber diesmal atemlos und leise. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schneller. Mit einem Mal wurde ihr es zu eng in der Uniform und die Hitze breitete sich in ihr aus. Im nächsten Augenblick schlang sie schon ihre Arme um Andrés Nacken und zog ihn zu sich. André neigte seinen Oberkörper zu ihr, seine Hand umfasste fester ihren Oberschenkel und seine Finger rieben intensiver an dem Stoff ihrer Hose. „Wollen wir dann zu mir gehen?“, flüsterte er keuchend und knabberte spielerisch an ihrem Ohrläppchen. „Wie stellst du dir das denn vor?“, versuchte Oscar ihr eigenes Keuchen zu dämpfen und ihr Begehren zu zügeln. „Wir sind noch im Dienst...“ „Du bist aber unser Kommandant und das letzte Mal liegt schon ein paar Monate zurück...“ Oscar musste ihm in dieser Hinsicht unwillkürlich Recht geben. „In Ordnung... Dann lautet mein nächster Befehl, nach dem Besuch beim General ab in deine Wohnung... Du hast dein Gewehr dort vergessen und das darf nicht sein...“ „Jawohl...“ Andrés Lippen streiften von ihrem Ohrläppchen zu ihrem Mund und versiegelten sie mit einem innigen Kuss. Allerdings nicht für lange. Die Kutsche blieb unerwartet stehen und zerriss mit einem Ruck die leidenschaftliche Zweisamkeit zwischen ihnen. Sie trennten sich erschrocken und saßen wieder gerade. „Was ist passiert?! Warum stehen wir?“, wollte Oscar wissen und schaute aus dem Fenster auf ihrer Seite. „Da stimmt etwas nicht!“ André tat das gleiche auf seiner Seite und zog stutzig seine Augenbrauen zusammen. Etwas war im Gange, das spürte er deutlich. Die Hitze der Leidenschaft verblasste augenblicklich bei allen beiden. Sie sahen Umrisse von vielen Menschen und begriffen mit einem Mal, dass ihre Kutsche umzingelt war! Der Kreis schloss sich immer enger, die Menschen kamen näher und manche von ihnen trugen Eisenstangen oder Knüppel in ihren Händen. „Sie wollen uns doch nicht...“ Oscar schaffte es nicht einmal ihren Gedanken auszusprechen, als die Kutsche angegriffen wurde. „Rache! Nieder mit dem Adel!“, riefen ein paar wütende Stimmen aus der Masse und die Kutsche wackelte schon rüde hin und her. Die Tür wurde mit gewaltiger Macht aufgerissen und die Insassen wurden erbarmungslos nach draußen gezerrt. Erst André, dann Oscar. „Seit ihr des Wahnsinns?! André ist nicht vom Adel, bitte verschont ihn!“, schrie Oscar verzweifelt, aber wurde überhört. Der Mob trennte sie voneinander und verschleppte sie in verschiedene Richtungen. „Oscar!“ André wehrte sich wie er konnte. „Lasst mich sofort los! Ich gehöre doch zu euch!“ Auch er wurde in dem johlenden Getöse überhört. Man schleppte ihn weiter. Wie aus der Ferne und ganz beiläufig nahm er ein dumpfes Krachen wahr, als die Kutsche zur Seite umgekippt und angezündet wurde. Lodernde Flammen stiegen empor und es wurde ein wenig heller in der Umgebung. Dann wurde André abrupt zum Stehenbleiben gezwungen. Jemand schlug ihn in die Magengrube und er krümmte sich. Sofort wurde er von allen Seiten aufgerichtet und seine Arme wurden ihm auf den Rücken gedreht. „Fesselt ihn!“, forderte jemand aus dem Mob gehässig und lauthals: „Und dann hängt ihn auf!“ „Sofort aufhören!“, erscholl eine tiefe Stimme und gleich darauf bahnte sich ein Mann durch die eng stehende Menschenmenge. „Seit ihr verrückt geworden?! Das ist doch unser André! Oder könnt ihr zwischen Adel und den unsrigen schon nicht mehr unterscheiden?!“ „Jean!“ André erkannte seinen Freund überrascht. Dieser erreichte ihn schon und die grobe Hände ließen ihn dann gänzlich frei. Einige der Menschen erkannten ihn doch noch, die vor allem in der Nachbarschaft wohnten und sich an seine Eltern gut erinnerten. Jean überschüttete ihn mit Vorwürfen. „Bist du lebensmüde?! Was hast du in der Kutsche eines Adligen verloren?“ „Ich bin im Dienst, wie du siehst.“ André rieb sich die Handgelenke und schaute sich besorgt um. „Ich muss zu Oscar!“ „Was? Deine Kleine ist auch hier?“ Sein Kumpel war für kurzen Moment überrascht. „Sie ist zu uns in die Söldnertruppe gewechselt“, meinte André beiläufig und wollte am liebsten losmarschieren. Wenn er nur wüsste, wo Oscar sich befand! Jeans Verblüffung währte sich nicht lange. Er zeigte ihm in eine entgegengesetzte Richtung. „Komm mit, sie muss irgendwo dort sein, wenn du den Kommandanten meinst, der mit dir war!“ André nickte und folgte seinem Freund. „Führst du etwa diesen Mob an?“, fragte er auf dem Weg, um die Suchzeit zu verkürzen. „Nein.“ Jean schüttelte verneinend den Kopf. „Aber die meisten kennen mich hier und vertrauen mir. Die Menschen ließen ihnen den Weg sogar etwas frei und einige schlossen sich ihnen an. Das waren die sogenannten Anhänger von Jean. Der Rest tobte sich an der brennenden Kutsche aus. Sie wurde gelöscht, zu Kleinholz verarbeitet und in die Seine geworfen. Das Getöse und Gejohle war weiterhin grollend zu hören, aber André vernahm auch etwas anderes in den lauten Stimmen wahr: Es klang danach, als würden sie ihm helfen wollen, seine Oscar zu finden! „Der Kommandant gehört zu uns!“, verlautete Jean voraus und sein Ruf wurde von den Menschen weitergetragen - bis zur der Stelle, wo Oscar war. Man hatte sie zu Boden geschlagen, aber sie rappelte sich wieder hoch und versuchte zu fliehen. Die hasserfüllte Stimmen wurden lauter: „Lasst ihn nicht lebend entkommen! Der Adel soll für alles bezahlen!“ Oscar wurde eingeholt und wieder grob gepackt. Und dann geschah ein Wunder: „Aufhören! Kommandant Oscar gehört zu uns, ihr Idioten!“, rief jemand aus dem Volk und eine Gruppe Menschen keilte sich von der Seite dazwischen. Sie vermischten sich mit den anderen und drängten sich bis zu ihr vor. Oscar wurde abrupt losgelassen, aber nicht frei. Sie war eingekreist und da bemerkte sie zwei Männer, die sich aus dem eingekeilten Knäuel einen Weg zu ihr suchten. „André...“, brachte Oscar leicht schwankend von sich. „Oscar!“ André wurde schneller, er rannte beinahe und kaum das er sie erreichte, schloss er sie in seine Arme. „Ist dir etwas passiert? Bist du verletzt?“ „Es geht schon...“, war ihre einzige Antwort und André schob sie etwas von sich. Er musterte sie ausgiebig. „Mir geht es gut. Ich habe keine Schaden getragen.“ Auch sie unternahm eine Musterung an ihm. „Entschuldigt für die Einmischung, aber ihr beide solltet lieber weg von hier“, mischte sich ein junger Mann in Andres Alter ein. André ließ von seiner Geliebten ab und stellte ihr den jungen Mann vor: „Das ist Jean. Er ist mir genauso ein Freund wie Alain.“ Eine schwache Erinnerung keimte in Oscar empor, aber sie schob das beiseite. „Dann verdanken wir unsere Rettung Euch.“ Oscar streckte ihm ihre Hand. „Habt vielen Dank.“ „Halb so wild.“ Jean schüttelte ihr etwas verlegen die Hand und mit der anderen kratzte er sich am Hinterkopf. „Bedauerlicherweise ist Eure Kutsche zerstört worden. Ich glaube, Ihr und André müsst zu Fuß in die Kaserne zurückkehren.“ „Schon gut.“ Oscar ließ seine Hand los und ordnete beiläufig ihre Uniform. „Das Menschenleben ist wichtiger.“ „Das habt Ihr schön gesagt.“ Jean schmunzelte. Diese Frau in Uniform gefiel ihm. Obwohl er über sie schon genug gehört und einmal gesehen hatte, beneidete er seinen Freund beinahe. „Aus dem Weg! Lauft! Die königliche Armee ist auf dem Weg hierher!“, hallte eine panische Stimme unerwartet, gefolgt von mehreren anderen und gleich darauf entstand ein Trubel unter den Menschen. Manche begannen zu rennen und zerstreuten sich in verschiedene Richtungen. Und manche rührten sich nicht von der Stelle und schauten Oscar fragend an. Diese zog entschlossen ihren Degen und marschierte der Armee entgegen. „Ich erledige das!“, war das einzige was sie sagte. André folgte ihr wie selbstverständlich auf dem Fuß, Jean und seine Kameraden schlossen sich ihm an. Einerseits aus Verblüffung über den unerschrockenen Mut von Oscar und andererseits, um ihr notfalls beizustehen. Die Armee kam immer näher. Man hörte sie, bevor man sie sah. Das Hufklappern unzählige Pferde im gestreckten Galopp und die tiefe Stimme eines Mannes brüllte ihnen schon entgegen: „Schlagt den Aufstand nieder, Soldaten! Und sucht nach Kommandanten de Jarjayes! Ihr darf nichts zustoßen!“ „Graf von Fersen...“ Oscar war überrascht, aber zeitgleich nahm sie sich zusammen und rief aus vollen Kehle den preschenden Männern entgegen: „Sofort anhalten! Das ist ein Befehl!“ Von Fersen hörte ihre energische Stimme und dann sah er sie. „Lady Oscar!“ Er verlangsamte sein Pferd und die Soldaten taten es ihm gleich. Oscar stand an der Spitze einer Menschengruppe und es sah danach aus, als wollte sie sie schützen. Knapp vor ihr blieb die Armee stehen und von Fersen stieg schon von seinem Pferd. „Ist Euch etwas passiert?“ Oscar ignorierte die Frage. „Ihr seid umsonst gekommen! Kehrt zurück, ich habe schon alles unter Kontrolle!“ „Ganz alleine?“ Von Fersen starrte ungläubig drein. „Wie Ihr seht, ja! Man kann mit Menschen auch ohne unnötiges Blutvergießen reden!“ „Wenn Ihr das sagt, dann wird es auch so sein.“ Von Fersen stieg wieder auf sein Pferd, gab seinen Soldaten ein Zeichen und rückte mit ihnen ab. Oscar steckte ihren Degen wieder ein und drehte sich zu den Menschen um. „Ist jemand verletzt?“ Als Antwort bekam sie ein verneintes Kopfschütteln und anerkennende Blicke. „Gut.“ Sie verzog ein zufriedenes Lächeln und hob noch einmal ihre Stimme, damit sie jeder hören konnte: „Ich will nicht sagen, dass ihr im Unrecht seid! Ich kann eure Wut verstehen und nachvollziehen! Aber bedenkt bitte die Folgen von eurem Handeln! Ich will nicht, dass unser Blut unnötigerweise vergossen wird! Deswegen bitte ich euch, zurückzuziehen! Als Gegenzug werde ich mit dem König und mit der Königin reden! Ich werde versuchen eine friedliche Lösung zu finden, denn wir gehören zu ein und demselben Volk!“ „Das habt Ihr wieder schön gesagt!“ Jean nickte ihr beeindruckt zu und wandte sich an seine Mitbürger: „Was sagt ihr? Das ist doch ein vernünftiger Vorschlag, oder?!“ „Sie hat gar nicht so unrecht!“, rief jemand aus dem Knäuel. „Aber was ist, wenn der König oder die Königin nicht auf Euch hören will?!“, fragte ein anderer zweifelnd. „Dann bin ich bereit für eure Rechte bis zu meinem letzten Atemzug zu kämpfen!“ Oscar´s Blick schweifte über die Menschen und zu André. „Und für uns, für unsere Zukunft, damit wir alle in Frieden und glücklich miteinander leben können.“ „Oscar...“ André war überwältigt. Er glaubte sie noch mehr zu lieben als bisher. Und das bewies er ihr in voller Leidenschaft, als sie später bei ihm in der Wohnung waren. Kapitel 41: Wie eine kleine Schwester ------------------------------------- In der ersten Zeit gelang es Oscar nicht mit der Königin oder gar mit dem König zu sprechen, aber sie hielt ihr Versprechen gegenüber dem Volk und setzte sich immer Häufiger für sein Recht ein. Die einfachen Menschen gingen dennoch immer mehr auf die Straßen und demonstrierten. Wenigstens verlief das friedlicher als bei dem Kutschenüberfall vor wenigen Monaten. Und in diesen unruhigen Zeiten beabsichtigte Alains kleine Schwester zu heiraten - das war wenigstens eine kleine Glückseligkeit an den so turbulenten Tagen. Oscar stellte Alain schon frühzeitig von seinem Dienst frei. Auch André, aber dieser bevorzugte es lieber bei ihr zu bleiben, da sowieso erst einmal Vorbereitungen auf dem Plan standen. Dafür versprach er seinem Freund am Hochzeitstag zu ihm zu kommen. In etwa einer Woche war es dann soweit. André kam ins Offizierszimmer und erinnerte Oscar daran. „...heute soll seine Schwester heiraten und deswegen bitte ich um einen freien Nachmittag.“ Oscar stapelte die Dokumente auf ihrem Tisch zusammen und lächelte ihn an. „Den freien Nachmittag kannst du haben. Aber ich lasse dich nicht alleine gehen. Ich möchte mitkommen.“ „Dann komm einfach mit. Immerhin haben sie auch dich eingeladen.“ „Worauf warten wir dann noch? Lass uns gehen.“ Oscar war selig. „Ich bin gespannt, ob Diane erneut mit mir tanzen wird. Das hatte sie sich gewünscht, als sie zuletzt hier war.“ „Hast du etwa den Volkstanz heimlich geübt?“, fragte André leicht überrascht. Oscar lachte auf. „Nein, das nicht. Aber ich erinnere mich noch, wie es ging.“ Alain und seine Familie zu besuchen, hätten sie schon längst tun sollen. Vielleicht hätten sie das verhindern können, was sich ihnen offenbarte, als sie seine Wohnung betraten: Es gab keine Hochzeitsvorbereitungen mehr. Auch keine glückliche Braut, laute Musik und fröhliches Gelächter. Düsternis und ein bestialisches Gestank nach verwesendem Fleisch umfing die Ankömmlinge, sobald sie die Wohnung betraten. Alains Mutter saß auf ihrem Stuhl gleich im Essraum in voller Trauer und als wären ihr alle Lebensgeister entwichen. André wagte nicht zu fragen, was passiert war und stürmte schon von alleine durch die Wohnung, die er wie seine eigene kannte. Er schob die Vorhänge der Schlafkammer auseinander und traf auf ein entsetzliches Bild: Diane lag leblos und mit ihrem Brautkleid gekleidet auf ihrem Bett und ein Strick baumelte vom Deckenbalken. Alain kniete neben dem Bett seiner Schwester und war völlig aufgelöst. Er wünschte, er wäre tot, genauso wie sie. „Was ist hier passiert?“ „Warum hat sie das getan?“ Diese Fragen blieben sowohl Oscar, wie auch André im Halse stecken. Ein dicker Kloß sammelte sich aus Bitterkeit und Entsetzen in ihren Kehlen. Madame de Soisson vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und schluchzte heftig. „...Diane ist von ihrem Bräutigam verraten worden. Er war ein verarmter Adliger. Kurz vor Hochzeit erhielt er ein Antrag von der Tochter eines reichen Mannes und hat Diane einfach so sitzen lassen... so, als würde man eine Tasse Kaffee weg kippen, die übrig geblieben ist... Sie hat ihn geliebt und hat ihm alles gegeben... sie hat es nicht ertragen, dass er sie so schrecklich hintergangen hat und hat sich erhängt... Unser Leben ist mit ihrem zerstört worden...“ André und Oscar konnten das alles noch immer kaum glauben. Sie atmeten benommen den süßlichen Geruch des Todes ein, ohne etwas davon zu bemerken und schluckten mehrmals einen bitteren Kloß herunter. Aber zwecklos. Der Druck im Brustkorb und das Leid dieser Menschen schnürten ihnen beinahe Luft zum Atmen ab. Vor allem für André war es schwer und unbegreiflich, denn Diane war für ihn wie eine kleine Schwester. „Es tut mir leid, aber ich werde eine Weile nicht mehr zurückkommen...“, begann Alain verstockt und mit starrem Blick auf seine dahingeschiedene Schwester: „...bis ich es begriffen habe, dass es ihr Lächeln, ihren Liebreiz, das es das alles nicht mehr geben wird. Dass etwas kostbares für immer verloren ist und nichts mehr so sein kann wie es einmal war...“ Alain liefen dabei stumme Tränen über die Wangen und er öffnete seine geballte Faust. „Bis auf die Erinnerung und das hier, ist nichts mehr von ihr geblieben...“ Oscar und André merkten erst jetzt die abgetragene Lederschnur von der großen Hand herabbaumeln und begriffen, dass es der Glücksbringer war, den Diane immer so stolz und mit Freude um ihren Hals getragen hatte. Ein Livre, den sie als Kind gefunden und für den Alain sich sogar mit seinen Freunden geschlagen hatte. „Alain...“ Oscar wusste nicht, was sie sagen sollte. Außer ihrem Beileid zu bekunden, konnte sie nichts mehr ausrichten. Aber irgendetwas musste sie tun, denn schließlich war sie sein Kommandant. „Es tut mir leid...“ Ihre Stimme kippte und sie musste sich selbst zur Ordnung rufen um ihre aufrechte Haltung zu bewahren. „Ich werde dich freistellen... auf unbegrenzte Zeit...“ Alain rührte sich nicht. In dieser Verfassung konnte ihn sogar Oscar verstehen. Das würde jeder Mensch, wenn das Schicksal ihm so böse mitspielen würde. Oscar wandte sich zu ihrem Geliebten um. „Auch dich, André... bleibe bei ihm... Ich werde dann wohl gehen... Die anderen müssen darüber in Kenntnis gesetzt werden...“ André nickte nur stumm - er hatte sie verstanden und war ihr dankbar. Er würde selbstverständlich bei Alain bleiben, um ihm beizustehen. So wie sein Freund und seine Familie ihm vielmals beigestanden hatten. Oscar ging beherrscht zu Tür, obwohl sie am liebsten gerannt wäre. „Oberst!“ Alains raue Stimme ließ sie an der Türschwelle anhalten. Sie drehte sich um. Alain stand schon vor ihr. „Könnt Ihr mir ein Gefallen tun?“ Oscar nickte. „Jederzeit, Alain.“ Dieser reichte ihr den Glücksbringer von Diane. „Könnt Ihr das für mich aufbewahren? Damit ich überhaupt einen Grund habe, irgendwann in die Kaserne zurückzukehren...“ Wieder nickte Oscar ihm zu und nahm den Anhänger an sich. Als sie die Wohnung verließ, rannte sie. Erst den Gang entlang, dann die Treppen herunter und am Hinterhof sog sie die stickige Sommerluft, wie ein Fisch auf dem Trockenen, in sich auf. In ihren Augen sammelten sich die Tränen und in ihrer Faust spürte sie das warme Metall von Dianes Glücksbringer. Sie erreichte die Pferde, wollte auf ihren Schimmel steigen, aber fiel stattdessen vor ihm auf die Knie und würgte die ganze Galle heraus, die sich in ihr angestaut hatte. Diane! Sie hatte mit ihr nicht viel zu tun und dennoch traf ihr urplötzlicher Tod auch sie hart. Sie sah immer noch das Gesicht von Alain, als er ihr den Glücksbringer überreicht hatte: Nichts als teilnahmslose Leere und Bitterkeit hatte sie in seinen dunklen, verweinten Augen gesehen. Ein bärenstarker, mutiger und unerschrockener Mann, der sich immer zu behaupten wusste, der das Leben auf die leichte Schulter nahm und den nichts und niemand unterdrücken konnte, war nun gebrochen. Alles ging mit dem Tod seiner kleinen Schwester den Bach herunter. Oscar konnte das alles nachempfinden, denn auch in ihr war etwas gebrochen... Zwar nicht ihr Stolz oder ihre Würde, aber diese verfluchte Bürde - eine Adlige zu sein! Warum war sie mit André nicht schon frühzeitiger da?! Warum hatte sie nichts über diesen verarmten Adligen gewusst?! Dann hätte sie mehr über ihn herausgefunden und Dianes Tod damit verhindern können! Aber das waren nun Mal die Wege des Schicksals und sie konnte nichts mehr daran ändern, so sehr sie das auch gewollt hätte... Bis Oscar die Kaserne erreichte, hatte sie sich wieder im Griff und all ihre Gefühle in Ordnung gebracht. Aber ihren Soldaten die schlechte Kunde zu überbringen, stand ihr noch bevor. Zwar hatten sie auch nicht viel mit Diane zu tun, aber sie kannten das Mädchen und Alain war deren Kamerad, den sie schätzten und dem sie folgten. In der Zeit während sie ihre Dienste in der Kaserne zubrachten, hatte Oscar den Eindruck gewonnen, dass ihre Kompanie so eine Art Familie bildete. Mittlerweile gehörte sie auch mit dazu und somit war es das Recht der Soldaten, alles zu erfahren, was ihre Kameraden betraf. Oscar ging gleich in die Quartiere. Die Männer spielten gewohnheitsgemäß Karten oder nahmen ein Nickerchen auf ihren Schlafstätten. Sofort brachen sie alles ab, als Oscar eintrat und stellten sich stramm in die Reihen. „Ihr könnt bequem stehen“, sagte Oscar und marschierte bis ans Fenster, am anderen Ende des Raumes. Sie sah keinen der Männer an. Ihr Blick war nur gerade aus gerichtet. Manche der Männer trugen nicht einmal ihre Uniformen richtig und waren nur in Hemd und Hosen. Aber das nicht ordnungsgemäßer Aussehen ihrer Soldaten war Oscar in dem Moment egal. Am Fenster drehte sie sich um und umfasste alle mit einem Blick. „Ich bringe für euch nicht gerade erfreuliche Neuigkeiten.“ Sie machte eine Pause, atmete tief durch und fuhr fort: „Alain und André werden eine Weile nicht zurückkehren.“ Die angespannten Gesichtsausdrücke der Söldner wirkten im nächsten Moment fragend. Bis Lassalle ein Licht aufging: „Ach stimmt! Heute heiratet doch seine Schwester!“ „Ja, die kleine, süße Diane!“, stimmte jemand heiter zu und Oscar schüttelte trüb den Kopf. „Nein, das wird sie nicht.“ „Was ist passiert?“, frage ein anderer Soldat und Oscar spürte förmlich all die beunruhigten Augenpaare auf sich. Diese Frage hatte sie sich auch gestellt, als sie mit André in Alains Wohnung war. Erneut holte sie tief Luft und stieß ihn schwer durch die Nase aus. So beherrscht wie möglich und auch obwohl es ihr selbst sehr schwer fiel, erzählte sie ihren Soldaten von Diane´s Tod und wie es dazu kam. Die Stimmung im Quartier war danach erdrückend, die Gesichter entsetzt und leidvoll. Alle hielten für einen Wimpernschlag inne und versuchten das Erzählte zu verarbeiten. „Das arme Mädchen...“, ertönte Lassalle bedrückt in die vorherrschende Stille hinein. „Ja... Alain hat das bestimmt sehr schwer getroffen...“, stimmte Jérôme zu und schüttelte noch immer fassungslos den Kopf: „Er hat sie so sehr geliebt...“ „Wir haben sie alle auf die eine oder andere Weise geliebt...“, berichtigte ihn sein Bruder Léon. „Aber das Leben geht weiter“, fügte Jérôme gleich nach ihm hinzu: „Auch wenn es hart klingt, aber ich finde Diane ist jetzt dort besser aufgehoben, wo sie ist...“ Er hatte es nicht einmal zu Ende ausgesprochen, als sein jüngere Bruder empört aufbrauste: „Was sagst du?!“ Auch Oscar und die andere richteten verständnislos ihr Augenmerk auf ihn. Léon sah danach aus, als würde er auf seinen Bruder mit blanken Fäusten losgehen wollen: „Wie kannst du so etwas sagen?! Diane war so ein fröhliches und liebenswertes Mädchen! Sie hat so ein Schicksal nicht verdient! Das sagst du bestimmt nur, weil du Alain immer noch wegen dem Livre grämst, das Diane gefunden hatte!“ „Der verdammte Livre kann mir gestohlen bleiben! Das ist eine schon längst vergessene Geschichte!“ Jetzt erhöhte auch Jérôme sein Ton und baute sich turmhoch vor seinem Bruder auf. „Wenn es danach ginge, um Dianes Leben zu retten, dann hätte ich tausend Livre dafür gegeben! Und nicht nur für ihr Leben, sondern von jedem von uns! Aber wir haben andere Zeiten! Du rüttelst an der falschen Stelle, Bruder! Sieh dich um! Die Welt steht in Aufruhr! Es ist nicht mehr weit, bis ein Krieg ausbricht, das spüre ich ganz deutlich und deswegen sage ich, dass diejenige, die jetzt schon die Welt der Lebenden verlassen, besser dran sind!“ „Aber...“ ,wand Léon ein, aber da donnerte schon Oscar dazwischen: „Schluss damit!“ Sie stellte sich zwischen den zwei Brüder und sah von einem zu dem anderen. „Ich dulde keine Streitigkeiten! Diane kann nichts mehr zurückbringen, wie bedauernd und schwer es auch ist! Wir müssen das akzeptieren, wir müssen damit leben und wir müssen Alain beistehen, denn er hat es jetzt am schwierigsten! Ihr seid doch seine Kameraden, seine Waffenbrüder! Und was die andere Sache angeht, das ist ungewiss! Wenn wir zusammenhalten, dann wird es vielleicht auch keinen Krieg geben!“ „Sie hat nicht ganz so unrecht!“, rief Lassalle im Hintergrund und bekam zustimmende Laute von seinen Kameraden. Die Brüder standen sich eine Weile gegenüber und rührten sich nicht von der Stelle. Bis Léon nachgab und Jérôme die Hand reichte. „Es tut mir leid.“ „Schon gut.“ Jérôme schlug ein und die kleine Auseinandersetzung schien vergessen zu sein. Oscar atmete auf. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, die Streitschlichterin zu spielen und sie war daher einigermaßen beruhigt, dass sie das nicht tun musste und die Brüder es schnell zwischen sich beigelegt hatten. Aber insgeheim musste sie Jérôme recht geben: Die Zeiten waren schwer und die Welt schien vor einer Veränderung zu stehen. Aufstände, Raubüberfälle, Demonstrationen und Proteste des Volkes standen beinahe an der Tagesordnung und nahmen beträchtlich zu. Wenn es weiter so gehen würde und die Mächtigen zu keiner Lösung oder Einigung kommen würden, dann könnte in der Tat ein Krieg ausbrechen. Und dann würde niemand mehr sicher sein. In dieser Hinsicht wären wirklich diejenige besser dran, die schon zuvor und beizeiten die Welt der Lebenden verlassen hatten. Denn sie würden kein Leid, keine Grausamkeit und kein Elend mehr ertragen müssen, geschweige denn erleben. Kapitel 42: Dreiständekammer ---------------------------- Alains Mutter überlebte den Tod ihrer Tochter nicht. Sie starb vor Kummer um ihr Kind. André wendete sich an Jean und zusammen mit ihm half er Alain bei der Beerdigung und dem Verkauf dessen Wohnung. Jeans Familie stammte ursprünglich aus dem Süden des Landes und besaß dort noch ein bescheidenes Haus nicht weit von der Küste. Er beteiligte sich wie selbstverständlich am Begräbnis mit und organisierte alles dazu benötigte, auch den Transport. Alains Mutter und seine Schwester wurden an eben dieser Küste im Süden des Landes beerdigt, an einer Stelle von der aus man das ganze Meer überblicken konnte. Es war weit weg von Paris und zumal ein friedliches Örtchen. - - - Die erste Zeit war es für Oscar ungewöhnlich, wieder ohne André zu sein. Aber besuchen konnte sie ihn nicht. Es gab immer wieder neue Bewegungen unter dem Volk und sie war anderweitig mit ihrer Söldnertruppe unterwegs. „Nieder mit dem Adel, es lebe die Republik!“, waren die meisten Ausrufe der einfachen Menschen bei den gerade so noch friedlichen Demonstrationen. Jedoch waren die Luft und die Stimmung überall spürbar und zum Zerreißen angespannt. Oscar sorgte mit ihrer Kompanie für die Ordnung und die Sicherheit der Bürger mit ihrer Kompanie, so gut es eben möglich war. Und wenn es doch mal freie Stunden zur Verfügung gab, dann ritt sie nach Versailles und redete mit der Königin. An den König kam sie nicht heran, da dieser ständig in Besprechungen mit seinen Ministern und Ratgebern war. Bei der Königin erreichte Oscar nicht viel und hoffte inständig, dass wenigstens der König eine vernünftige Lösung für die prekäre Lage in Frankreich finden würde. Die Sitzungen zogen sich über Monate in der Länge und im Januar 1789 erließ der König einen Befehl, am ersten Mai eine Dreiständekammer einzuberufen. Der Frühling kam schon bald nach dem Winter, aber von André und Alain war immer noch nichts zu sehen oder zu hören. Oscar vertraute darauf, dass sie alle beide zurückkommen würden und vielleicht noch bevor die Dreiständekammer auf den Weg gebracht werden sollte. Und als wären die Sorgen in Frankreich nicht schon genug, erkrankte der Thronfolger, Prinz Louis Joseph, schwer. Es war traurig zu wissen, dass der Prinz nicht mehr lange zum Leben hatte und aussichtslos zu hoffen, dass er überleben würde... Ende April regnete es ohne Unterlass und genau an einem dieser grauen Tage kehrte André mit Alain in die Kaserne zurück. Alain bekam von allen seinen Kameraden ihr herzlichen Beileid ausgesprochen und ging unverzüglich in Offizierszimmer. Die Wiedersehensfreude mit Oscar dauerte nur wenige Augenblicke. Es müsste noch vieles besprochen werden, denn in den Monaten ihrer Abwesenheit war vieles geschehen. „...deswegen wart ihr also so lange weg“, ergänzte Oscar, als André ihr erzählte, wo und wie Diane mit ihrer Mutter beigesetzt wurden. „Das hätte ihnen bestimmt gefallen, mit so einem schönen Ausblick aufs Meer.“ „Ja“, bestätigte André. Oscar hatte sich an ihm gelehnt und er hielt sie sachte in seinen Armen. „Diane und Madame de Soisson wollten schon immer, dass Alain Bauer wird. Wenn das hier alles eines Tages vorbei ist, dann hat er vor ihnen diesen letzten Wunsch zu erfüllen.“ „Ich habe auch ein Haus an der Küste...“, murmelte Oscar in seine Alltagskleidung und spielte gedankenverloren mit dem Kragen seiner Ausgehjacke. „Schade, dass du noch nie mit mir in der Normandie warst... Das hätte dir bestimmt gefallen, obwohl es sicherlich nichts im Vergleich mit dem Süden Frankreichs ist...“ „Das kann ich nicht beurteilen, Oscar...“ André schob seine Geliebte sanft von sich und sah ihr tief in die Augen. „Aber eines weiß ich genau: Es wird mir überall gefallen, wo du bist.“ „Ach, André...“ Oscar war zu tiefst gerührt. Wie gerne wäre sie mit ihren Fingern ihm durch das dichte Haar gefahren, hätte ihn an sich gezogen und seine Lippen gespürt. Aber das hätte die Sehnsucht nach noch mehr hervorgerufen und das wäre hier gefährlich, unangebracht. Es würde bestimmt bald freie Tage geben und dann könnten sie in seiner Wohnung ungestört ihrer beider Leidenschaft nachgehen. Aber jetzt mussten sie sich zusammenreißen - das war sowohl ihr als auch ihm bewusst. Sie trennten sich gezwungenermaßen aus der Umarmung. Oscar ging an ihren Schreibtisch und André ans Fenster. Er wechselte sogleich das Thema: „Ich hörte von der Dreiständekammer.“ „Ja, seiner Majestät blieb keine andere Wahl als auch das Volk miteinzubeziehen.“ Oscar suchte in der Schublade nach einem Dokument und reichte es dann André. „Hier ist Abschrift des königlichen Erlasses dafür.“ André überflog die Zeilen. Das war kein Original, sondern eines von den mehrfach niedergeschriebenes Dokumenten. „Dann wollen wir hoffen, dass es auch etwas bringt.“ „Zweifelst du daran?“ Oscar zog fraglich eine Augenbraue nach oben. „Ich zweifle nicht an der Aufrichtigkeit des Dokumentes und ich zweifle nicht daran, dass das Volk im Parlament auch miteinbezogen wird, wie es hier steht. Aber ich frage mich nur, wie lange die hohen Herrschaften das alles dulden werden. Ich glaube nicht, dass sie länger bereit sein werden auf Forderungen einzugehen, die vom einfachen Volk stammen.“ „Welche Forderungen genau werden das wohl sein, was meinst du?“ Oscar hatte schon längst aufgegeben, sich darüber zu ärgern, dass sich das Volk mehr und mehr sich gegen die Monarchie auflehnte. „Nun...“ André überlegte und rollte das Dokument wieder zusammen. „So genau weiß ich es nicht.“ Er ging auf Oscar zu und legte die Rolle neben ihr auf den Schreibtisch. „Aber ich vermute, dass es die Senkung der Steuern und Gleichstellung der Bürgerlichen mit dem Adel schon einer der Forderung sein wird.“ „Verstehe...“ Oscar seufzte und verfrachtete die Dokumentrolle wieder in die Schublade. „Dann müssen wir dafür sorgen, dass es zu keinen Zwischenfälle kommt.“ „Wie meinst du das?“ „Unsere Abteilung wurde zur Sicherheit der Dreiständekammer abgeordnet. Das heißt, wir haben das Vergnügen, den ganzen Prozess im Parlament zu bewachen.“ „Dann sind Alain und ich noch rechtzeitig zurückgekehrt“, stellte André nur beiläufig fest, woraufhin ihm Oscar zustimmend nickte: „So sieht es aus. Komm, wir müssen das noch den anderen sagen. Und ich habe Alain noch gar nicht richtig begrüßt.“ - - - „...ich hatte gar nicht vor, hierher zurückzukommen. Ich dachte meine Zeit bei der Armee sei endgültig vorbei. Aber nun bin doch wieder da. Meine Mutter und meine Schwester sind an einer Stelle begraben, von wo aus man auf das Meer blicken kann. Ich war oft dort und habe mir gewünscht, ich wäre genauso tot wie sie. Aber nun bin ich darüber hinweg, wir lassen den Kopf nicht hängen, sind doch so große Zeiten...“, bekamen Oscar und André beim betreten der Quartier mit. Die Soldaten stellten sich gleich stramm, zum Gruß und dann gleich entspannten sie sich, als Oscar ihnen mit einer Geste andeutete, bequem zu stehen. „Willkommen zurück“, sagte sie zu Alain, der sich mittlerweile schon in seine Uniform geworfen hatte. Er erhob sich von seinem Stuhl und sie reichte ihm Dianes Glücksbringer. „Hier. Ich habe es mit Ehren aufbewahrt.“ „Danke, Oberst.“ Alain nahm ihn an sich und besah den Livre in seiner Hand eine kurze Weile, so als würde er für kurz eine Schweigeminute inne halten. Niemand störte ihn dabei. Dann steckte er den Glücksbringer seiner Schwester in die Innentasche der Uniformjacke und sah Oscar an. Dabei verzog er sein Gesicht zu einem Grinsen. „Ich hörte, Ihr habt hier für mich wacker die Stellung gehalten.“ „Kann schon sein.“ Oscar ging nicht auf seine Neckereien ein. „Wir werden eine spezielle Übung zum Schutz der Dreiständekammer abhalten. Also bereitet euch vor.“ „Wird gemacht, Oberst.“ Alain salutierte lässig und Oscar kam nicht umhin zu schmunzeln. Die Männer waren allesamt raue Gesellen und hielten nichts vom Adel. Aber sie wurde von ihnen schon längst akzeptiert und als ihresgleichen angesehen. Das betraf auch Alain. Die Antipathie, die zwischen ihm und Oscar über Jahre geherrscht hatte, war schließlich auch schon seit einer ganzen Weile beigelegt. Und das lag nicht daran, dass sie mit André zusammen war. Sondern, sie hatte es ganz alleine vollbracht – durch ihre Ausstrahlung und ihren unbeugsamen Willen. Sie war gerecht, gutherzig und nicht so verkommen wie alle anderen vom Adel. In zwei Tagen wurde die Dreiständekammer eröffnet. Im Parlament kam man jedoch zur keiner Einigung. Der Adel stritt verbissen mit den Volksvertretern und bestand darauf, alles so zu belassen wie es war, wohingegen sich die Volksvertreter auf neue Gesetze beriefen. Und dann trat auch noch das ein, was alle insgeheim befürchteten: Der Zustand des Thronfolgers verschlechterte sich immer mehr, so dass die Tagung des Parlaments unterbrochen werden musste. Im Juni schließlich, schied der kleine Prinz aus seinem viel zu kurzen Leben... Für die Hinterbliebenen ging das Leben dennoch weiter, so bitter und traurig es auch war. Kaum hatte man ihm die letzte Ehre erwiesen, wurde im Parlament wieder weiter hart und ohne Kompromisse gestritten. Der andauernde Regen trug auch nicht gerade zu Erheiterung der Stimmung bei. Man fürchtete um die Ernte und das steigerte noch zusätzlich die bereits erhitzte Gemüter noch zusätzlich an. Robespierre hielt seine Reden im Parlament mit Entschlossenheit, manche der Adligen stellten sich auf die Seite des Volkes und stimmten deren Rechten zu, um für sich selbst Profit daraus ziehen zu können. Da es 96% der gesamten französischen Bevölkerung aus Bauern und einfachen Menschen bestand, wollten die Vertreter des Volkes, dass die restliche 4% der Bischöfe und des Adels mit ihnen kooperierten. Das hieß, sie sollten mit ihnen zusammen arbeiten und nicht ihre Macht weiter ausüben dürfen. Das erschreckte und missfiel dem Adel. Ihrer Meinung nach, hatte der Pöbel zu arbeiten und nicht zu diskutieren. Das fehlte noch, dass das einfache Volk auf gleicher Höhe mit dem Adel oder noch besser, mit dem König stand! Aus Angst, dass die Monarchie dadurch gefährdet sein würde, sperrte man die Volksvertreter aus. Wie niederträchtig! Dank Oscar und ihrer Söldnertruppe tagten sie jedoch bereits bald wieder gemeinsam. Denn nur so konnte ein Aufstand verhindert werden. Als Verantwortliche für die Sicherheit der Menschen, war es ihre Pflicht, dafür zu sorgen dass dies auch so blieb. Aber auch so hätte sie es getan, denn ihr Herz schlug bereits für die Rechte des einfaches Volkes und durch Robespierre erhoffte sie auf neue, bessere Zeiten. Ihre Befehlsverweigerung gegenüber des obersten Generals der königlichen Armee, die Volksvertreter mit Gewalt aus dem Parlament zu verjagen, verbreitete sich wie ein Lauffeuer und man hatte sie mit ihrer gesamten Truppe nach Versailles, zu eben diesem bestellt. „Geh mit ihr. Die Sache gefällt mir nicht“, empfahl Alain seinem Freund, als Oscar ganz alleine in das Schlossgebäude, in dem der General sie erwartete, zuging. André folgte seiner Oscar, aber musste draußen vor dem Zimmer bleiben. Kaum dass die Tür sich hinter ihr schloss, hörte er die gedämpften Stimmen einer Auseinandersetzung zwischen Oscar und dem General. „...Ihr werdet unter Arrest gestellt und Euch vor dem Militärgericht zu verantworten haben!“, vernahm André die Stimme des Generals und gleich darauf folgte die Entschlossenheit von Oscar: „Ich habe keine Angst vor dem Militärgericht, General!“ Dann sprach der besagte General wieder, was André nicht verstand. Die Antwort von Oscar darauf, verstand André von seinem Posten im Gang ebenso wenig, wie auch den folgenden Wortaustausch zwischen ihr und ihm. Aber seine Besorgnis wuchs. Die Sache gefiel ihm genauso wenig wie Alain und er war stets auf der Hut. Es würde etwas geschehen, das spürte er, aber er wagte es noch nicht sich einzumischen. Noch nicht, nicht solange es hinter den Türen ruhig blieb, trotz der Anspannung, die gerade schwer in der Luft hing. Und zur Bestätigung des Unheils, vernahm er, wie die Stimmen im Raum lauter wurden, aber immer noch unverständlich für ihn waren. Der General hatte einen Befehl gegeben und Oscar weigerte sich mit empörten Ausrufen, diesen auszuführen. Es ging sicherlich um die Volksvertretern und das man notfalls auf sie schoss, wenn sie nicht bereit wären, das Parlament zu verlassen. Kein Wunder, dass Oscar nicht vor hatte diesem grausamen Befehl Folge zu leisten. André stand kurz davor, einzuschreiten, als die große Doppeltür plötzlich aufging und der General höchstpersönlich mit zwei seiner Männer herausging. André machte sich unsichtbar und duckte sich mehr in die Beschattung des Ganges, um ihnen den Weg frei zu machen. Er wurde nicht einmal beachtet. Zum Glück. Nach einer kurzen Weile kehrte der General mit seinen Männern zurück. Diesmal wurde die Tür nicht ganz geschlossen und André bekam endlich mit, was los war. „So wie der Kommandant, so auch seine Soldaten!“, spie der General verachtend. „Wohin habt Ihr meine Männer gebracht!“, verlangte Oscar in erhöhtem Ton zu wissen. André war für einen Augenblick hinter der Tür fassungslos. Hieß das etwa, man hatte seine Kameraden verhaftet? Nur wegen der Befehlsverweigerung von Oscar? War der General deshalb draußen, um ihren Soldaten das gleiche zu befehlen und war ebenso auf die Verweigerung den Befehl auszuführen gestoßen, wie sie? Etwa die ganze Söldnertruppe? Gut, dass er Oscar gefolgt war... André spitzte seine Ohren noch mehr. „...ich werde die zwölf Verräter erschießen lassen!“, hörte er den General und bekam nun die Antwort, wie viele seiner Kameraden verhaftet wurden. „Erschießen lassen?“ Oscar war entsetzt, das erkannte André schon alleine an ihrer Stimmenlage. „Ihr sorgt Euch um Eure Männer?“ Auch der General war empört. „Habt Ihr vergessen, dass Euer eigenes Leben auf dem Spiel steht? Hiermit seid Ihr Eures militärischen Ranges enthoben und werdet in das Militärgefängnis gesteckt, bis seine Majestät über Eure Bestrafung entschieden hat! Führt sie ab!“, befahl er seinen Männern und es sah danach aus, als würde er gehen wollen. André rückte gerade rechtzeitig von der Tür weg und hörte wieder Oscars trotzige Stimme: „General de Bouier! Bestraft mich, wenn Ihr wollt, aber lasst die zwölf Männer frei! Sie haben nur nach meinem Befehl gehandelt!“ „Nein!“ Der General ließ sie nicht weiter sprechen und grollte: „Ich werde an ihnen ein Exempel statuieren! Die Armee kann so einen Ungehorsam nicht dulden! Sonst ist unser gesamtes Militär in Gefahr!“ Oscar platzte der Kragen. „Bewaffnet in das Parlament einzudringen, wäre eine Schande, wie es sie in der französischen Geschichte noch nie gegeben hat!“ „Ich denke, es ist eine noch viel größere Schande, wenn diese sogenannten Volksvertreter dort bleiben!“ De Bouier stand mit dem Gesicht zu Tür und André entfernte sich lautlos noch mehr von dort, um unentdeckt zu bleiben. Aber nicht zu weit weg, um das Gesprochene deutlich verstehen zu können und im richtigen Moment einzugreifen. „Aber egal!“, hörte er den General weiter sagen: „Das königliche Garderegiment wird schon für Ordnung sorgen!“, beendete er und verließ den Raum, ohne André wahrgenommen zu haben. André wartete, bis General de Bouier außer Sichtweite war und eilte zur Tür. Gerade noch rechtzeitig! Er hörte dumpfe Schläge und Oscars Hilferuf: „André, hilf mir!“ Er stürmte sofort hinein. Oscar versuchte sich gerade von drei Soldaten zu befreien - einen abzuwehren schaffte sie. André schlug den anderen nieder und Oscar überwältigte den dritten. Gemeinsam rannten sie hinaus und dann zu den Pferden. „Wir müssen das königliche Garderegiment aufhalten!“, teilte sie ihrem Geliebten mit. Oscar war entschlossen, wie noch nie zuvor und trieb ihren Schimmel immer schneller an. Trotzdem erfuhr André, was genau zuvor passiert war, als er im Gang gewartet hatte. Alain und elf weitere Soldaten hatten sich für Oscar vor dem obersten der Generäle eingesetzt und wurden dafür verhaftet. Der Regen erschwerte die Sicht und durchtränkte die Uniformen. Aber Oscar und André war das alles egal. Nichts hielt sie auf, um ihren Vorhaben umzusetzen und wenn das geregelt sein würde, würden sie danach versuchen, ihre Kameraden zu befreien! Die königliche Garde umstellte bereits das Parlament, als Oscar mit André auf ihren Pferden vorbei preschte. Vor dessen Kommandant zügelte sie ihren Schimmel. Das war Graf de Girodel, erfuhr André beiläufig und die alte Eifersucht auf diesen Mann stieg wieder in ihm empor. Aber er mischte sich nicht ein und vertraute auf Oscar. Wie mutig und entschlossen sie doch aussah! „...und ihr Soldaten?“, rief sie energisch und klar der ganzen Garde entgegen: „Werdet Ihr es wagen mir die Kugel in die Brust zu schießen? Na los schießt schon! Bevor ihr die unbewaffnete Parlamentarier angreift, müsst ihr mich töten!“ „...und bevor ihr sie tötet, müsst ihr mich aus dem Weg räumen...“, dachte bei sich André angespannt und zum allem bereit. Es geschah vorerst nichts. Unfassbare Stille herrschte zwischen der Garde und den anderen. Nur das heftige Rauschen und Trommeln des Regens auf Pflastersteine war überall zu hören. André bereitete sich schon innerlich zu äußersten Maßnahmen vor, als dieser Kommandant de Girodel sein Blick vor Oscar senkte. „Vergibt mir, Lady Oscar. Ich wusste nicht, dass Ihr hier seid. Es wäre natürlich äußerst feige, auf die unbewaffneten zu schießen. Wir werden abwarten, bis sie zu den Waffen greifen und dann gegen sie vorgehen.“ Er befahl seinen Soldaten aufzusitzen und rückte mit ihnen ab. Die eine Sache war gut ausgegangen und nun stand eine andere bevor: Alain und die elf Kameraden zu retten! Kapitel 43: Der General ----------------------- Oscar und André ritten geschwind zum Anwesen, um dort über die Befreiung von Alain und die elf weiteren Soldaten zu beratschlagen. Auf dem Weg ließ der Regen nach und hörte sogar ganz auf. Aber die grauen Wolken hingen weiterhin bleischwer am Abendlichen Himmel und verhießen ihnen, dass es mit dem Unwetter noch nicht vorbei war. Sophie empfing ihren Enkel und ihr Schützling besorgt im großen Kaminraum, der sich im Erdgeschoss befand. Als die zwei ihre nasse Umhänge ablegten um kurz ihre Knochen wärmen zu können, teilte sie ihnen mit, dass General de Jarjayes seine Tochter auf seinem Arbeitszimmer zu sprechen wünschte. André wollte selbstverständlich mitkommen, aber Oscar winkte ab. „Es wird schon nichts passieren“, meinte sie ruhig und ging. André gefiel das ganz und gar nicht. Er achtete nicht darauf, über was ihn seine Großmutter ausfragte und sah nur stumm seiner Geliebten nach. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm hoch und sein Brustkorb zog sich schwer zusammen. Da stimmte etwas nicht! Er musste bei ihr sein! Es würde falsch sein, sie alleine zu lassen! Das miserable Gefühl war noch erdrückender, als jenes früher am Tag vor dem Zimmer des obersten Generals de Bouier beim Parlamentsgebäude. So, als würde etwas ungeheuerliches passieren! So, als würde er Oscar nie wieder sehen und sie verlieren! „André! Sag mir endlich was passiert ist?!“, wiederholte Sophie ihre Fragen, aber diesmal in erhöhten, verärgerten Tonfall, da ihr Enkel keine Anstalten machte ihr zu antworten. André überhörte sie abermals. Seine Sehnen spannten sich von Sekunde zu Sekunde immer mehr und seine Hände ballte er zu Fäusten. Es war eindeutig falsch, hier tatenlos herum zu stehen und auf Oscar zu warten! Sein Herz begann schneller zu schlagen, das dumpfe Gefühl verstärkte sich und er hielt es plötzlich nicht mehr aus. „Großmutter!“, unterbrach er ihre Fragerei. Er versuchte ruhiger zu klingen, als er in Wirklichkeit war: „Wo ist das Arbeitszimmer des Generals?“ Sophie war für einen Augenblick verdattert. „Wieso willst du das wissen? Man darf ihn nicht unbefugt stören!“ „Dann finde ich es selbst heraus!“ Entschlossen machte André einen Ruck und ging einfach aus dem großen Kaminraum in die Richtung, in die Oscar verschwunden war. „Bleib sofort hier!“ Sophie versperrte ihm im Vorsaal an der großen Treppe den Weg: „Das ist unanständig, den General und seine Tochter beim Gespräch zu stören!“ „Das ist mir gleich!“ André schob seine Großmutter rüde bei Seite und setze seinen Weg mit schnellen Schritten fort. Er hatte keine Ahnung, wo sich das besagte Zimmer befand, aber er vertraute auf seinen Instinkt und dieser ließ ihn nicht im Stich. „Bleib gefälligst stehen!“ Seine Großmutter folgte ihm und schimpfte unablässig auf ihn ein, aber einholen konnte sie ihn zu ihrem Leidwesen nicht. Ihr Enkel war einfach zu schnell für sie. André erklomm die große Treppe und hörte schon eine tiefe Stimme. Sie war gedämpft, aber laut und fordernd: „Du wirst sämtliche Auszeichnungen und deinen Dienstrang zurückgeben, hast du mich verstanden?!“ Oscars Antwort konnte André nicht definieren, aber ihr Ton klang ruhig und beherrscht. André schlug unverzüglich den Weg in die Richtung ein, aus der die Stimmen erklangen. Der Gang war lang und es gab dort viele Türen. Bei jeder von ihnen hielt André kurz an und lief gleich weiter. Jedes mal war das eine falsche Tür. Und dann hörte er wieder die tiefe Stimme irgendwo vorne im Gang hallen: „Du willst dich mir, deinem Vater widersetzen? Unglaublich!“ André glaubte zusätzlich das Klirren einer Klinge zu hören und beschleunigte sein Schritt - er rannte. Er hatte es je geahnt, dass etwas schlimmes passieren würde! Seine Oscar war in Gefahr und er würde nicht zulassen, dass der General sie tötete! Mit jedem Schritt wurde ihm immer bewusster, in welches Zimmer er musste, denn auch Oscars ruhige und beherrschte Worte verstand er deutlicher: „...wenn ich sicher wäre, dass der Tod das Leben meiner Männer retten könnte, würde ich Euch gerne mein Leben zu Verfügung stellen! Aber solange ich mein Rang behalte, habe ich vielleicht noch die Möglichkeit, das Leben meiner Männer zu retten!“ Was der General sagte, hörte André nicht mehr zu. Auch Oscars Worte danach, überhörte er gewisslich. Sein Atem ging genauso schnell, wie seine Beine ihn trugen. In seinem Kopf rauschte nur eine Gedanke: nicht zu spät zu kommen um Oscar zu retten! „...es ehrt dich, was du sagst, aber wie auch immer! Auch für mich ist das Leben zu Ende...“ Überstürzt stieß André die Türen auf und bekam gerade noch mit, wie der General sein Schwert hoch über Oscars Kopf gehoben hatte. Sie saß auf einem Stuhl und ihr Vater stand Turm hoch hinter ihr. „Haltet ein!“, schrie André und stürzte auf den Vater seiner Geliebten. Gerade noch rechtzeitig konnte er den tödlichen Hieb verhindern! Draußen zuckte ein greller Blitz vom Himmel und der aufgehörte Regen begann erneut auf den durchnässten Erdboden zu trommeln. Für einen Augenblick war der General überrascht. Der unverhoffte Störenfried packte ihn am Armgelenk der Hand, die das Schwert hielt und stieß ihn nach hinten, ohne ihn loszulassen. „Wer bist du?!“ verlangte er zu wissen. Das Überraschungsmoment war vorüber und er setzte sich zur Wehr. Anstelle seine Frage zu beantworten, schob André den General mit aller Kraft weiter nach hinten, fort von Oscar. „Ich lasse es nicht zu, dass Ihr meine Oscar tötet!“ „Wie bitte?!“ General de Jarjayes wehrte sich noch heftiger. Dieser junger Mann schien ganz offensichtlich in seine Tochter vernarrt zu sein. „Wer bist du überhaupt?!“ Er schaffte es, sich aus dem eisernen Griff zu befreien und den Soldaten von sich zu stoßen. „Geh mir sofort aus dem Weg!“ Drohend holte er erneut mit seinem Schwert aus. André behielt sein Gleichgewicht und nutzte den kleinen Abstand aus, um seine Pistole zu ziehen. Er richtete sie auf den General. „Wenn Ihr nur einen Schritt macht, drücke ich ab! Rührt Euch daher lieber nicht von der Stelle, sonst erschieße ich Euch! Oscar und ich gehören zusammen! Ich werde mit ihr dieses Haus verlassen und...“ „Du bist ein Narr!“, schnitt Reynier de Jarjayes ihm schnaubend das Wort ab, aber bewegte sich nicht. Ob wegen der Schusswaffe oder den Worten dieses Emporkömmlings, war nicht zu erkennen. „Du denkst, du kannst meine Tochter einfach so haben?! Du bist doch ein niemand ohne Rang und Titel!“ Das saß. „Ich verstehe Euch nicht ganz!“, murrte André. Die Beleidigung zur seiner Person machte ihn so wütend, dass er am liebsten auf der Stelle abgedrückt hätte. Aber das konnte er nicht. Er dachte an Oscar, denn immerhin war dieser Mann vor ihm ihr Vater. „Das ist ungerecht“, sagte er stattdessen gedämpft und bemühte sich um Beherrschung: „Warum dürfen zwei Menschen, die sich lieben nicht zusammen sein, ungeachtet ihres Standesunterschied? Alle Menschen auf dieser Erde sind doch gleich! Oder bittet etwa der König auch um Erlaubnis, wenn er jemanden liebt?“ Reynier schäumte vor Zorn und sah flüchtig an diesem unverschämten Soldaten vorbei, der offensichtlich zu Oscars Kompanie gehörte, sie wie ein Gardist begleitete und deshalb auch hier war. Seine Tochter stand hinter dem jungen Mann und ihre Augen waren leicht aufgerissen. Unglaube und Entsetzen standen ihr ins Gesicht geschrieben. Sie war unfähig, sich in das Geschehene einzumischen. „André...“, brachte sie nur tonlos von sich. Ihrem Vater ging dabei ein Licht auf: „Deswegen hast du dich also geweigert, Girodel zu heiraten!“ Oscar erwachte aus ihrer Starre und richtete ihren Blick schlagartig auf ihren Vater. Entschlossen, Ausdrucksstark und ohne jeglichen Emotionen sah sie ihren Vater direkt an. „Ich habe beschlossen, Girodel nicht zu heiraten, weil ich ihn nicht liebe! Mein Herz gehört einem anderen und wenn ich jemals heirate, dann nur ihn! Aber solange ich das Leben eines Mannes führe und es nicht aufgebe, dann werde ich niemals heiraten! Ich werde weiterhin an der Seite meiner Soldaten kämpfen und bis zu meinem Tod keine Frau sein! So, wie Ihr mich erzogen habt, Vater!“ „So wie ich dich erzogen habe...“, wiederholte der General und schaute wieder zu dem jungen Mann. Er lachte dabei grimmig auf. „Hast du das gehört?! So wie ich sie erzogen habe! Das heißt, sie würde niemals irgendjemandes Frau werden! Und sogar wenn sie behauptet, dass ihr Herz jemanden gehört, würde sie niemals ihre Erziehung ablegen können! Weil ich sie so erzogen habe! Sie ist mein Werk, ihr Herz ist aus Stein und demzufolge hat sie keine weibliche Gefühle! Sie denkt wie ein Offizier und das wird für immer so bleiben!“ „Nein, das wird es nicht...“, dachte André bei sich, er fühlte sich elend und verzweifelt. „Sie mag vielleicht Euer Werk, aber niemals Euer Werkzeug sein... Sie hat das Recht auf ein eigenes Leben...“ „Nein, das wird es nicht...“, dachte bei sich Oscar geradestehend und zerrissen. „Ich bin zwar Euer Werk, aber niemandes Werkzeug... Ich bestimme selbst über mein Leben...“ Von draußen, mitten im Regen und Sturm, hallte das Galopp und Schnauben eines Pferdes. „Öffnet das Tor! Schnell, öffnet das Tor!“, folgte gleich darauf die fordernde Stimme eines Mannes. „General de Jarjayes, ich bin ein Bote des Königs! Ich komme aus Versailles und habe eine wichtige Nachricht für Euch! Öffnet das Tor, schnell!“ General de Jarjayes ließ sein Schwert zu Boden fallen. Er musste sofort hin! Da aber dieser Unhold von Söldner die Waffe auf ihn gerichtet hielt, konnte er das nicht tun. „Du machst mir damit keine Angst! Wenn du meine Tochter wirklich so sehr liebst, dann wirst du nicht abdrücken!“, knurrte er rau und setzte seine Füße in Bewegung. André hätte so oder so nicht abgedrückt. Er senkte seine Pistole und ließ den General passieren, der sogleich das Zimmer verließ. Er drehte sich danach um und sah Oscar geradewegs ins Gesicht. Diese erwiderte ihm seinen Blick, offen und klar. „Es tut mir leid...“, sagte sie entschuldigend, aber fest: „Ich wollte dich nicht verlieren und deswegen habe ich ihm gesagt...“ „Ich weiß... Ich habe das die ganze Zeit gespürt...“ André versuchte ein mattes Lächeln, aber das misslang ihm. „Warum hast du dich eingemischt?“, wollte sie von ihm als nächstes wissen. „Aus demselben Grund: Ich wollte dich nicht verlieren...“, gestand ihr André. „Danke.“ Oscar blieb ernst, aber ihre Augen schimmerten etwas glasig. Sofort fuhr sie mit ihren Ärmel über die Wimpern und drängte gekonnt all ihre Gefühle beiseite. „Wir sollten nachschauen, was der Königsbote will.“ André nickte ihr zu und gemeinsam gingen sie los. Der Bote stand gerade im unteren Stockwerk vor dem General und diktierte aus dem aufgerollten Dokument in seinen Händen: „...auf Geheiß Ihrer Majestät der Königin, wird weder gegen den Kommandanten Oscar Francois de Jarjayes, noch gegen ihrer Familie eine Anklage wegen des Hochverrats erhoben! Dennoch wird künftig von der Familie de Jarjayes mehr Loyalität gegenüber der Königlichen Familie erwartet!“, las er zu Ende und verließ dann das Anwesen. „Unsere Königin also...“, murmelte Reynier und wandte sich um. Ganz oben, auf dem Treppenansatz, stand seine Tochter und neben ihr dieser törichter Soldat. „Hast du gehört, Oscar?! Bedanke dich bei Ihrer Majestät! Du bist gerade dem sicheren Tod entkommen...“ Er warf einen Blick auf den jungen Mann an ihrer Seite und seine Gesichtszüge verhärmten sich scharf. „Und was dich angeht... Du hast bis zum Morgengrauen Zeit, die Stadt zu verlassen!“ „Was soll das heißen, Vater?!“, empörte sich Oscar und krauste die Stirn. „Das heißt, dass er von seinem Dienst als Soldat suspendiert ist!“, erklärte der General eisig: „Da aber heute schon genug passiert ist, gebe ich ihm einen Aufschub! Morgen werde ich meine Gefolgsmänner nach ihm schicken! Und wenn er bis dahin nicht aus Paris weg ist, dann wird er getötet!“ „Das könnt Ihr nicht machen!“, protestierte Oscar empört und entsetzt: „Was gibt Euch das Recht so zu verfahren! Er hat sich nur für mich eingesetzt!“ Der General wurde zorniger als bisher. „Falls du es nicht begriffen hast, Oscar, erkläre ich es dir zum ersten und letzten Mal: Er hat es gewagt, gegen mich, einem General und treuen Untertan des Königs, eine Waffe zu richten! Es ist meine Pflicht, jeden Emporkömmling und Verräter zu bestrafen!“ „Aber nicht so! Ihr dürft nicht über sein Leben bestimmen! Er ist ein freier Mann!“ „Ab morgen ist er ein vogelfreier Mann!“ „Dann gehe ich mit ihm!“ „Nein, Oscar, tu das nicht!“, mischte sich urplötzlich André ein. „Denke an Alain... Nur du kannst ihm und den anderen helfen...“ „Aber André...“ „Mein Wort steht fest!“, betonte der General, ohne den kurzen Wortaustausch zwischen den beiden verstanden zu haben: „Ich reite jetzt nach Versailles und empfehle dir das gleiche zu tun, Oscar, wenn du keine Verräterin bist!“ Kapitel 44: Vogelfrei --------------------- Der General war nach Versailles fort und auf dem Anwesen de Jarjayes herrschte angespannte Stimmung. André saß mit Oscar in der Küche und ließ die Vorwürfe von seiner Großmutter über sich ergehen. Oscar bat Sophie, ein Tee für sie zu machen, aber das brachte die alte Frau trotzdem nicht von ihrem Tadel ab: „Warum hörst du nur niemals auf mich?! Das hast du jetzt davon!“, schimpfte sie immer wieder auf ihren Enkel während ihrer Tätigkeit und merkte nicht, dass ihre Tiraden ungehört blieben. „Wie es aussieht werde ich für eine Weile untertauchen müssen“, beschloss André, ohne seine Großmutter richtig wahrzunehmen. „Wenn ich bei dir bleibe, dann könntest du wegen mir in Schwierigkeiten geraten und das will ich nicht.“ „Aber wo willst du dich verstecken?!“ Auch Oscar nahm die Vorwürfe ihres einstigen Kindermädchen nur mit halben Ohr zur Kenntnis. „Ich gebe dir eine Adresse, wo Bernard seine geheime Versammlungen veranstaltet und seine Reden hält“, anvertraute André seiner Geliebten im gesenkten Ton an, so dass nur sie ihn verstand. Oscar atmete innerlich etwas erleichtert auf. Dort wollte sich André also verstecken! Eine gute Idee! So würde ihn niemand finden! Und da nur ihr Vater ihn zu Gesicht bekommen hatte, bräuchte André die Stadt nicht gänzlich zu verlassen. Die Soldaten ihres Vaters wussten ohnehin nicht, wie er aussah. „So machen wir das“, sagte Oscar einvernehmlich und wandte sich an seine Großmutter, die noch immer unablässlich murrte und nebenbei den Tee für ihren Schützling zubereitete. „Es wird alles gut, Sophie. Mache dir keine Sorgen“, beschwichtigte Oscar die alte Frau und Sophie hielt bei ihrer Tätigkeit inne. „Da habt Ihr Recht, Lady Oscar.“ Sophie lächelte auf einmal etwas beruhigt. Wenn ihr Schützling das sagte, dann würde es auch so sein. André erhob sich unvermittelt von seinem Platz. „Ich werde dann gehen - meine Sachen müssen noch gepackt werden.“ Wie gerne hätte er Oscar zum Abschied noch geküsst, aber doch nicht in Anwesenheit seiner Großmutter! Diese schien mit seiner Entscheidung einverstanden zu sein und spornte ihn sogar an: „Ja, je eher du aufbrichst, desto weniger läufst du Gefahr, von Soldaten des Generals gefangengenommen zu werden.“ André seufzte schwer und mit einem letzten Blick auf Oscar, verabschiedete er sich von seiner Großmutter. „Pass auf dich auf und mach keinen Unsinn!“, besagte der mahnender Blick der altklugen Haushälterin, als er sie aus der Umarmung entließ. Er verließ das Anwesen, nahm sein Pferd und ritt zu Bernard. Oscar verstand die Beweggründe und das Verhalten von André sehr wohl. Sie trug ihm nichts nach. Aber ohne sich richtig von ihm zu verabschieden, konnte und wollte sie ihn nicht gehen zu lassen. Das konnte sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Sie trank ihren Tee und spielte Klavier in ihrem Salon - so lange, bis sie sich sicher war, dass alle im Hause schliefen. Auch Sophie. Sie wollte die alte Frau nicht noch mehr bekümmern und so zog sie sich um Mitternacht ihre Zivilkleidung an, nahm ihr Pferd und verließ das Anwesen. Der Regen hatte schon aufgehört. Die Sterne und der silberne Mond lichteten sich durch die ziehende, dunkelgraue Wolken und keine Menschenseele schien um diese Zeit noch unterwegs zu sein. Wie passend, für ihr Vorhaben. Immer schneller trieb Oscar ihr Pferd in Richtung Paris - sie musste einfach zu André! Noch bevor er seine Sachen gepackt und untertaucht war, musste sie ihn sehen und sich angemessen von ihm verabschieden! Welch eine Enttäuschung, als sie eine leere Wohnung betrat. Keine Kerze brannte darin und die Feuerstelle spendete auch keine Wärme mehr: Es war dunkel und kalt. Vor nicht allzu langer Zeit, hatte André seiner Oscar ein zweites Schlüssel zu seiner Wohnung anfertigen lassen, damit sie jederzeit zu ihm kommen konnte und nicht draußen stehen bräuchte. Oscar ließ die Wohnungstür von alleine zu gehen und bewegte langsam ihre Füße - Schritt für Schritt, achtsam und als wäre sie auf der Hut. In Wirklichkeit strömten ihr Erinnerungen durch und sie verabschiedete sich von all dem in ihrem Geist... Wenn sie sich schon nicht persönlich von André verabschieden konnte, dann tat sie das mit seiner Wohnung und den Erinnerungen an ihn... Sie passierte den großen Raum, der gleichermaßen als Kochstelle und Essraum diente. Am Tisch blieb sie stehen und fuhr mit ihren Fingern sachte über die raue Oberfläche. Sie schmunzelte, als sie sich daran erinnerte, wie sie ihn an einem Morgen bei seiner Morgenwäsche beobachtet hatte. Bildlich sah sie seinen attraktiven Körper vor sich und sofort zog es ihr schmerzlich in der Leistengegend. Nein, sie durfte nicht an ihn denken, zumindest nicht in dieser intimen Version, sonst würde es nur noch schlimmer werden! Oscar schloss ihre Hand zur losen Faust und drückte sie sich an die Brust. Sie atmete tief durch, beruhigte ihr rasendes Herzklopfen und setze ihren Weg fort – zu seiner Schlafkammer. Es war ja noch das letzte Zimmer in dieser Wohnung, abgesehen von der Kammer seiner Eltern, die er praktisch nie nutzte: Er lagerte dort seine Sachen und Oscar wollte sie erst gar nicht betreten. Sie ging bis ans Ende seiner Schlafkammer und blieb am Fenster stehen. Die Wolken am nächtlichen Himmel waren so gut wie zerstreut und der Mond warf sein silbriges Licht geradewegs durch die verdreckten Fensterscheiben. In der Kammer selbst war kaum etwas zu erkennen, aber es reichte, um sich dort zurechtzufinden. André besaß ja auch kein weiteres Mobiliar, außer dem Bett und der Kommode, die gegenüber an der Wand stand. Das alles stand unberührt und vermittelte Oscar das Gefühl, dass hier schon seit längerer Zeit kein Mensch mehr anwesend war. Aber vielleicht täuschte sie sich nur und André war wirklich schon fort? Oder doch nicht und er würde vielleicht noch kommen? Das wusste Oscar nicht zu sagen und schaute weiter aus dem Fenster zu dem klaren Mond. - - - „Ich danke dir, Bernard.“ André verabschiedete sich von seinem Freund und dessen Frau. „Aber wo wirst du dich verstecken?“, fragte Rosalie unverständlich, kurz bevor er sie verließ. „Das kann ich nicht sagen.“ André verschwieg seinen zukünftigen Aufenthaltsort mit Absicht, um seine Freunde nicht in Schwierigkeiten zu bringen, wenn diese nach ihm ausgefragt werden sollten. „Aber macht euch um mich keine Sorgen, ich werde gut aufgehoben sein.“ „Dann passe auf dich auf und spaziere nicht gerade bei Tageslicht durch die Stadt, falls du überhaupt vorhast dich in Paris aufzuhalten“, gab ihm Bernard noch einen gutgemeinten Rat mit auf den Weg. André schmunzelte ungewollt. „Das werde ich, Bernard, das werde ich.“ Er drückte seinem Freund die Hand, umarmte Rosalie zum Abschied und ging. Es war gut zu wissen, dass man solche verlässliche Freunde besaß. Der Schritt, zur Errettung von Alain und seine elf Kameraden war so gut wie getan. Morgen würde Oscar das Ganze noch genauer mit Bernard besprechen und dann könnte man nur hoffen, dass der Plan aufgehen würde. Nun stand ihm nur noch seine Wohnung aufzusuchen bevor, seine Sachen zu packen und im Schutz der Dunkelheit der Nacht unterzutauchen. André wurde sofort stutzig, als seine Wohnungstür nur leicht angelehnt war. Gegen alles gewappnet und auf leisen Sohlen betrat er seine Wohnung: Es war dunkel und es stand noch alles auf seinem Platz, soweit er an den Umrissen seiner Möbel erkennen konnte. Also Einbrecher waren das nicht. Zumal es bei ihm nichts zu holen gab. Und die sogenannten Soldaten von Oscars Vater konnten es auch nicht sein. Zu einem wussten sie nicht wo er wohnte und zum anderen, hatte der General erst vor, sie nach Morgengrauen auf die Suche nach ihm einzusetzen. André vertraute auf das Wort des Generals. Langsam passierte er den Tisch. Er bekam so eine Vorahnung und seine Füße trugen ihn direkt in seine Schlafkammer. Jemand lag in seinem Bett und schnaufte beinahe geräuschlos. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen - dieser überraschender Besuch war ihm mehr als willkommen. Sie lag halb gekrümmt auf der Seite, mit dem Gesicht zu Tür gewandt und bedeckte sich mit ihrem Umhang. Schon alleine ihr blondes Haar, das auf seinem Kissen ausgebreitet lag, verriet sie. Und ihr Degen, den sie im Schlaf an sich gedrückt hielt. André machte ein Schritt und dann knarzte es grässlich unter seinem Stiefel. Die verdammte Diele! Oscar saß sofort hellwach auf und zog geschwind ihr Degen, so schnell konnte André gar nicht schauen. „Wer ist da?!“ Während sie das fragte, sprang sie vom Bett und kaum dass André sich versah, spürte er schon die Spitze ihres Degens an seinem Zwerchfell. Er blieb abrupt und erschrocken stehen. „Liebes, ich bin es!“ „André...“ Im nächsten Moment flog der Degen zu Boden und schlug dumpf auf die Holzbretter auf. André breitete seine Arme aus und Oscar drückte sich sofort an ihm. „Ich wusste, dass du noch kommst... Geliebter, ich habe auf dich gewartet... Verzeih, aber die Müdigkeit war stärker und ich habe mich deshalb hingelegt...“ „Schon gut, Liebes...“ André hielt den vertrauten Körper in seinen Armen und strich mit seinen Lippen leicht über ihren Scheitel. „Ich wäre nie gegangen, ohne mich von dir zu verabschieden.“ „Wo warst du?“ Oscar entfernte ihren Kopf von seiner Brust und schaute eindringlich zu ihm auf. „Bei Bernard.“ André schob sie gänzlich von sich und nahm sie behutsam bei den Händen. „Lass uns hinsetzen.“ Oscar nickte ihm zu - sie verstand, dass er etwas Wichtiges zu sagen hatte und setzte sich mit ihm auf sein Bett, ohne ihre Hände aus den seinen zu lösen. André atmete tief ein und aus, bevor er mit der Erzählung begann: „Er weiß Bescheid, dass du morgen Früh, beim Sonnenaufgang da sein wirst und er wird dich am vereinbarten Ort erwarten. Ich habe ihm auch von Alain und den anderen erzählt und er ist bereit mit dir über deren Befreiung zu besprechen. Ich bin hier, um meine Sachen zu nehmen, die ich benötige. Meine Wohnung wird verkauft, darum werden sich auch Bernard und Rosalie kümmern. Noch vor Morgengrauen werde ich von hier fortgehen. Und meine Soldatenuniform...“ Er machte eine Pause und sah kurz auf sich hinab. „...entweder bringe ich sie in der Kaserne vorbei oder ich verkaufe sie...“ „André!“, ermahnte ihn Oscar erschrocken und hinweisend: „Wie wäre es, wenn du deine Uniform mir gibst und ich sie dann in die Kaserne zurückschaffe?!“ „Ist ja gut, Oscar... Ich habe nur Spaß gemacht, verzeih...“ André schmunzelte und strich ihr eine ihrer Locken an der Schläfe. „So können wir es natürlich auch machen...“ „Schon gut...“ Oscars Atem wurde flacher, ihr Herz und Puls beschleunigten ihren Schlag und ihr Blick sah sehnsüchtig in sein Gesicht, in seine Augen und hefteten sich an seine Lippen. André verstand, denn er wollte das Gleiche wie sie: Sich voneinander auf diese Weise zu verabschieden und womöglich das letzte Mal ihre Liebe miteinander zu teilen. Oscar zog sich kaum merklich zu ihm. „Wir haben nicht mehr viel Zeit bis zum Morgengrauen... Die Sommernächte sind immer so kurz...“ „Ja, da hast du wohl recht, Liebes...“ André umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, seine Finger suchten sich den Weg zu ihrem Nacken und sein Mund verschloss schon ihre weichen Lippen. Ihre Hände knöpften ihm bereits die Uniformjacke auf und sie half ihm aus seinen Sachen heraus. Sie mussten den Kuss unterbrechen, um sich gegenseitig gänzlich ausziehen zu können. Anschließend sanken sie in die Matratze und Liebten sich so intensiv, wie noch nie zuvor... - - - Der Morgengrauen breitete sich aus, es wurde immer heller in Andrés Wohnung. Oscar befestigte ihren Umhang um die Schultern, stülpte sich Andrés schlichten Strohhut auf den Kopf und sah sich das letzte Mal in seiner Wohnung um: Sie war leer und ihr Geliebter war auch schon längst fort - noch vor Morgengrauen und im restlichen Schutz der Dunkelheit, wie er es gesagt hatte. Oscar hatte ihm noch geholfen, seine Sachen zu packen und nach einer tiefen, schmerzlichen Umarmung, war er gegangen. Der Abschied hatte den beiden bitter geschmeckt, aber es war besser so. Er sollte ja nicht entdeckt werden. Und nun verließ auch Oscar seine Wohnung. Sie nahm nur noch das Wäschebündel mit seiner Uniform, legte den Schlüssel auf den Tisch und ging, ohne zurückzuschauen. Sie würde ihn gleich noch einmal wiedersehen – bei Bernard. Dieser wartete bereits auf sie wie vereinbart und brachte sie dorthin, wo er sich versteckt halten würde und wo aus er seine Untergrundbewegungen koordinierte. Es war noch alles leer – und sie sah auch keinen André mehr. Oscar war verwundert und bestürzt zugleich. Deshalb hatte er sie also bereits in der Nacht verlassen! Er hatte gar nicht vor, zu Bernard zurückzukehren. Aber wo war er dann? „Nehmt bitte Platz, Lady Oscar.“ Bernard lud sie an einem der Tische Platz zu nehmen, was sie es dankend annahm, während er zwei Gläser Wasser brachte. Eins stellte er vor ihr ab und das andere vor sich selbst. Oscar nahm ihren Hut ab, legte ihn neben sich auf Tisch und Bernard setzte sich ihr gegenüber. „André hat mir gestern alles erzählt“, begann er gleich mit dem Gespräch. „Ich werde Euch natürlich helfen, so gut ich kann. Aber wie stellt Ihr Euch vor, wie wir Eure Männer aus dem Gefängnis befreien können?“ Oscar kehrte mit einem Schlag aus ihren Gedanken an André zurück in die Wirklichkeit. Um ihn würde sie später weiter nachdenken, aber jetzt galt, sich um ihre Männer zu kümmern. Sie nahm einen Schluck Wasser und sah Bernard direkt an. „Das Gefängnis ist eine wahre Festung, Ihr werdet sicherlich ein paar Leute dafür brauchen.“ Sie korrigierte sich gleich: „Nein, nicht ein paar, wahrscheinlich tausend oder gar dreitausend.“ Bernard nickte einvernehmlich, aber etwas skeptisch war er trotzdem. „Na ja, ich halte es zwar nicht für unmöglich, aber glaubt Ihr wirklich, dass wir somit Euren Männern helfen können?“ „Als Befehlshaber der Wache, bin ich für die Ruhe in der Stadt verantwortlich.“ Oscar schien für alles eine plausible Antwort parat zu hallten. „Ich könnte den König davon überzeugen, dass eine aufgebrachte Bevölkerung durchaus Anlass sein kann, die Männer zu begnadigen.“ „Ich verstehe...“ Bernard hob sein Glas auf sie, aber trank noch nicht. Er verstand nun auch seinen Freund, warum dieser sich so für diese Frau einsetzte und sie liebte. „Das ist gar nicht so dumm. Leute wie Euch können wir gut auf unsere Seite gebrauchen.“ „Ich bin doch schon auf Eure Seite...“, lag es Oscar auf der Zunge und sie musste wieder an André denken. Sie war eher auf seiner Seite und das hieß auch, mehr oder weniger, auf der Seite von Seinesgleichen. „Werdet Ihr es schaffen, Bernard?“, fragte sie ihren Gegenüber stattdessen. „Es gibt da ein Problem.“ Bernard schien auch an alles zu denken. „Was passiert, wenn die Sache eskaliert und es zum Aufruhr kommt?“ „Ich verspreche Euch, dass es in diesem Falle unter Euren Leuten und der Bevölkerung von Paris keine Verletzte oder gar Tote geben wird.“ Auch hier war Oscar ihrer Sache sicher und gab entschlossen die Antwort: „Falls ich dieses Versprechen nicht halten kann, wäre ich bereit Euch mit meinem Wissen zu dienen.“ „Nun gut.“ Bernard erhob sich. „Ich werde sehen, wie viele Menschen ich zusammen kriegen kann. Ich denke, da wird sich einiges machen lassen können.“ „Ich bin Euch wirklich dankbar.“ Auch Oscar erhob sich. Die Unterhaltung war beendet. Aber eine Sache wurmte sie dennoch: „Könnt Ihr mir noch verraten, wo André untertaucht ist?“ „Tut mir leid, Lady Oscar, aber er hat es mir auch nicht gesagt.“ Oscar hörte an seinem bedauernden Tonfall, dass er die Wahrheit sprach. „Verstehe...“ Sie verstand es wirklich. André schien niemanden über sein Versteck eingeweiht zu haben. „Dann grüßt Rosalie von mir. Ich hoffe, ihr geht es gut bei Euch?“ „Das mache ich, Lady Oscar.“ versprach ihr Bernard und reichte ihr seine Hand zum Abschied. „Und ja, ihr geht es gut bei mir. Ich habe beinahe vergessen, dass sie auch Euch schöne Grüße ausrichten lässt.“ „Danke.“ Oscar drückte ihm Fachmännisch die Hand und da kam ihr ein Einfall: „Ich glaube, ich werde sie in den nächsten Tagen doch besuchen kommen, wenn Ihr erlaubt. Über die Jahre, die ich im Dienste der königlichen Garde stand, habe ich ein kleines Vermögen angehäuft und möchte es Euch und Rosalie zur Verwahrung anvertrauen. Wenn das alles eines Tages vorbei ist und André zurückkommt, will ich mit ihm ein neues Leben beginnen.“ „Wir werden selbstverständlich Euer Vermögen aufbewahren. Das ist kein Problem für uns“, versicherte ihr Bernard aufrichtig und verabschiedete sie danach. Noch nachdem Oscar fort war, suchte er seinen Mentor Robespierre auf und überredete ihn zu einer Versammlung von tausende Menschen vor dem Gefängnis, wo zwölf Soldaten aus einfacher Herkunft ihren Todesurteil abwarteten. Robespierre war vorerst unschlüssig, aber gab trotzdem sein Einverständnis zu diesem gewagten Versuch. Denn er war sich sicher, dass der Tag kommen würde, an dem sie gegen die königlichen Armeen kämpfen werden müssen und deshalb wäre die Unterstützung von diesen zwölf befreiten Männern ihnen dabei sehr vom Vorteil. Noch am gleichen Nachmittag bewog Bernard das Volk dazu, sich um das Gefängnis zu versammeln und den König dazu zu bewegen, die gefangenen Soldaten freizulassen. Mit über fünftausend von Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, hatte Bernard das Ziel erreicht: Alain und seine Kameraden waren frei! „Diesen Erfolg habt ihr nicht dem Einfluss von Bernard, sondern meinem Einfluss zu verdanken“, teilte Oscar ihren Männern nach deren Befreiung mit. „Es war die Macht des Volkes!“ Alain verzog seine Mundwinkel nach oben. Er hatte schon mitbekommen, dass André fehlte. Aber darüber würde er später mehr in Erfahrung bringen. Er reichte Oscar seine Hand zum Dank. „Wisst Ihr was, Kommandant, allmählich fange ich an zu verstehen, worauf es im Leben wirklich ankommt.“ Oscar ergriff die dargebotene Hand und drückte sie fachmännisch. Alain bemerkte eine gewisse Bestürzung in ihren sonst so undurchschaubaren, kühlen Blick. Das machte ihn stutzig. „Und nun könnt Ihr mir verraten, was mit André passiert ist? Es ist doch nicht seine Art, bei solchen Situationen von Eure Seite zu weichen.“ „Das werdet ihr alle in der Kaserne erfahren.“ Oscar schaute die anderen Soldaten an und entzog Alain dabei die Hand. „Es sind viele Menschen hier“, fügte sie hinzu, beim Anblick der jubelnden Volksmasse hinter ihr. Alain verstand was sie meinte auch ohne eine weiteren Erklärung: Es musste wohl etwas Schreckliches vorgefallen sein. Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht - in der Kaserne erfuhr er die ganze Wahrheit. Auch andere seine Kameraden erzählten ihm, was sie bereits darüber wussten. Aber im Gegensatz zu Oscar, bekam Alain so eine Vorahnung, wo sein Freund untergetaucht sein könnte... Kapitel 45: Wie im Pulverfass ----------------------------- André saß an der Theke, trank sein Bier und beobachtete seinen Freund, der in der Gaststube mit seinen Anhängern etwas Wichtiges besprach. Es hieß, die Königin hatte aus allen Ecken des Landes bewaffnete Truppen nach Paris herbeigerufen, um gegen die Aufständischen vorzugehen und zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Die ersten Soldaten des königlichen Regiments, waren bereits Anfang Juli eingetroffen und die ersten, entdeckten Volksversammlungen, wurden bereits auseinander geschlagen. Sie wurden strengstens verboten und wer sich nicht daran hielt, wurde aufs härteste bestraft. Die Soldaten verhinderten die nächtlichen Zusammenkünfte der Bürger und kontrollierten jede Straße von Paris - es herrschte Ausnahmezustand! Und deswegen waren die Anhänger seines Freundes am heutigen Spätabend hier, um zu beratschlagen, was nun zu tun sei.   André beteiligte sich nicht. Aber er lauschte aufmerksam, um seine eigene Schlüsse daraus zuziehen. Und zweitens dachte er ständig an Oscar. Was sie jetzt wohl machte? Wie ging sie mit all dem um?   Von der Befreiung von Alain und seinen elf Kameraden hatte er noch am selben Abend erfahren – von seinem Freund, bei dem er untertaucht war und der sich unter den Versammelten vor dem Gefängnis zuvor gemischt hatte. André war ihm überaus dankbar dafür und hoffte, dass Alain ein Auge auf Oscar haben würde. Sie brauchte zwar keinen Aufpasser - so mutig und kämpferisch wie sie selbst war, aber es beruhigte André ein wenig, dass sie trotzdem nicht ganz alleine da stand.   Die Gefolgsmänner von General de Jarjayes hatten nicht lange nach ihm gesucht. Schon am zweiten Tag gaben sie auf - mit der Begründung: Der Störenfried, der den General bedroht habe, hatte in der Tat die Stadt verlassen. Oscars Vater schien damit zufrieden zu sein und ihn schon bald vergessen zu haben, denn es folgten keine weiteren Fahndungen mehr nach ihm. Das hatte André heute Früh von einem der Anhänger seines Freundes erfahren. Und nun überlegte er sich die ganze Zeit, dass er Oscar vielleicht aufsuchen konnte wenn die sogenannte Gefahr vorüber war? Er hatte sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen und in diesen turbulenten Zeiten sorgte er sich immer mehr um ihr Wohlergehen...   In der Gaststube ging unerwartet die Tür auf und ein fremder Mann in Uniform kam herein. Flüchtig beschaute er alles um sich herum, entdeckte die kleine Schar, die sich um den Tisch versammelt hatte und bellte sich lauthals über die Schulter: „Hier ist noch eine Versammlung!“ Sofort drangen hinter ihm dutzende Soldaten in die Stube vor und stürzten sich auf André, seinen Freund und dessen Anhänger.   Als geübter Kämpfer und Söldner, hielt sie sich André gekonnt vom Leib und beförderte seinen ersten Gegner gleich zu Boden. Sein Freund hatte es dagegen etwas schwerer. „Jean!“, schrie André und eilte ihm zu Hilfe - aber da stellten sich ihm weitere Soldaten in den Weg. „Ergreift ihn!“, rief jemand einigen der Kameraden zu und drei weitere griffen André mit ihren Gewehren an. „Wie ihr wollt...“, knurrte dieser bissig und ging in die Offensive. Er duckte sich unter dem gehobenen Bajonett des ersten Angreifers weg, jagte gleichzeitig dem zweiten seine Faust in die Magengrube, stieß den dritten von sich und bemächtigte sich mit dessen Gewehr. Damit konnte er sich nun besser verteidigen und zuzuschlagen! Und das machte er - mit Elan und unerschütterten Kampfesswillen! Es kamen jedoch immer mehr Gegner auf ihn zu und trotz seiner Stärke und seinen Mut, verlor er gegen die Übermacht – es waren einfach zu viele. Sie verwüsteten die Gaststube, schlugen die Anwesenden zusammen und beschlagnahmten alle Bierfässer. „Das wird euch Ungeziefer eine Lektion sein!“, kläffte der ranghöchster Offizier höhnisch und lachte die zusammengekrümmte Männer aus. „Seid froh, dass wir euch nicht gleich ins Gefängnis stecken! Da ihr uns so großzügig euer Bier überlassen habt, werden wir ein Auge zudrücken.“ Er wandte sich ab und marschierte hinter seiner Truppe aus der Gaststube.“   „Ihr Mistkerle!“ Jean glühte förmlich vor Hass und ihm dürstete nach Rache. Er sammelte seine letzten Kräfte, stand halb verkrümmt vom Boden auf und setzte ihnen hinkend nach. „Das werdet ihr mir büßen!“   „Nein!“ André versperrte ihm den Weg. Er war nicht minder zusammengeschlagen wie sein Freund. „Bist du Lebensmüde? Willst du, dass man dich tötet?“   „Lass mich durch!“, befahl Jean außer sich. Er wollte André zur Seite schieben, aber dieser packte ihn bei den Oberarmen und hielt ihn fest. Sie befanden sich nur zu zweit in der Gaststube - Jeans Anhänger hatten sich noch während des Kampfes nacheinander zerstreut, sobald die Möglichkeit dazu bestand. Jean konnte ihnen das nicht verübeln - er war sogar zum großen Teil erleichtert, sie in Sicherheit zu wissen. Nur André war noch da und sah nicht danach aus, als würde er ihn gehen lassen wollen. „Aus dem Weg!“, forderte er von ihm verbissen und versuchte sich aus seinem Griff zu entreißen. „Verschwinde! Und zwar weit weg von hier! Diese verruchten Königshunde können zurückkehren und dich festnehmen! Anscheinend hast du vergessen, dass du Vogelfrei bist!“   „Die haben andere Sorgen als mich!“, ließ André ihn nicht weiter ausreden und stieß ihn rüde zurück. „Die haben mich doch schon längst vergessen! Deswegen gehe ich nirgendwohin mehr und lasse auch niemanden mehr im Stich!“   „Du bist ein törichter Narr!“ Jean ballte seine bereits angeschlagenen Hände zu Fäusten. „Wenn du stirbst, dann war der ganze Aufwand umsonst und deine Kleine wird nichts mehr von dir haben! Oder soll ich mich um sie kümmern, wenn du tot bist?“   „Sprich nicht in diesem Ton von ihr!“ André schnaufte wütend und ballte auch seine Hände zu Fäusten. „Ich werde sie nie verlassen! Sie braucht mich! Es brechen große Zeiten an und du sagtest doch selbst, dass eine Revolution ausbrechen könnte!“   „Aber ohne dich! Du hast hier nichts mehr zu suchen! Deine Kleine wird bestimmt auch nicht wollen, dass du dein Leben riskierst!“   „Ich habe genauso ein Anrecht darauf, wie wir alle! Du kannst mich nicht davon abbringen! Wenn es dazu kommt, werde auch ich für die gerechte Sache kämpfen! Und auch für Oscar kämpfen, für unsere Zukunft, für unsere Freiheit!“   „Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als dich schon zuvor umzubringen...“, murmelte Jean, aber verharrte noch reglos auf seinem Platz.   Die Gemüter waren schon genug angeheizt – durch das Eindringen der königlichen Soldaten, durch die beispiellose Schlägerei, durch die Unterdrückung der Mächtigeren und durch vieles andere mehr... Jean sah nur rot und André war auch der Kragen geplatzt. „Nur zu, aber merke dir: Mit mir ist nicht gut Kirschen essen...“ André ging auf Jean zu und dieser stürzte sich mit blanken Fäusten auf ihn. „Das weiß ich gut zu schätzen, mein Freund...“, war noch sein Knurren, bevor er die Faust seines Freundes spürte...           - - -           Es war schon fast eine Woche vergangen, als André wie vom Erboden verschluckt war. Kein Mensch wusste, wo er sich aufhielt und auch er selbst sandte niemanden eine Nachricht - weder seinen Freunden, noch Oscar. Und in dieser Woche seines spurloses Verschwindens, war vieles passiert: In Frankreich herrschte Ausnahmezustand: Tausende Soldaten aus verschiedenen Ecken des Landes, die zum Schutz der Königsfamilie beordert wurden, schikanierten und drangsalierten die Bevölkerung.   Oscar ersuchte die Königin und bat sie, die Soldaten abziehen zu lassen. Es konnte doch nicht wahr sein, dass die königliche Familie die Waffen gegen das eigene Volk richten ließ! Aber sie stieß dabei auf taube Ohren. Die Königin hielt an ihrem Entschluss hart und eisern fest. Oscar hatte sich demzufolge von ihr verabschiedet – für immer...   Alain begleitete sie wie ein treuer Gefolgsmann überall hin. Auch die Brüder Jérôme und Léon gehörten mit dazu. Nach Alains Freilassung und nach dem die ganze Söldnertruppe erfahren hatte, was mit André passiert war, hatten die drei Freunde selbst sich dazu entschlossen - für André und dem anerkennenden Respekt zu Oscar.   „Oberst, unser Aufenthalt in Paris scheint mehr als sinnlos zu sein“, teilte Alain bei einer der Patrouillen durch die Stadt mit. „Das königliche Regiment hat an jeder Straßenecke Position bezogen. Wir sind hier nur ein Verkehrshindernis.“   Oscar gab ihm Recht. „Was ist, wenn die Lage sich zuspitzt? Was geschieht mit der Bevölkerung?“, fragte sie ihn stattdessen aus.   „Das bleibt abzuwarten“, gab Alain überlegend die Antwort: „Wenn die bewaffnete Truppen nicht endlich aus Paris abziehen, werden sie ihr blaues Wunder erleben.“   „Ihr meint also, es kommt zum Aufstand?“, vermutete Oscar mit gewisser Besorgnis.   „Aufstand?“ Alain verengte seine Augen zu Schlitzen. „Ich nenne das Revolution.“   Oscar warf auf ihn einen entsetzten Blick. „Revolution?“   Jérome und Léon nickten bestätigend mit ihren Köpfen. Oscar war noch entsetzter, aber was konnte sie schon dagegen tun? Mit der Königin erneut zu reden und sie über Rückzug der Truppen aus der sowieso schon hungernden Stadt zu bitten, würde nichts nützen. Zumal sie schon heute Morgen daran gescheitert war und sich endgültig von der Königin losgesagt hatte...       Zu viert patrouillierten sie weiter. Hier und da rannten die aufgebrachten Menschen fort von den postierten Soldaten. Oscar steuerte mit ihren Männern den Kurs in die entgegengesetzte Richtung an, bis sie auf eines dieser Regimente stießen. „Anhalten, sofort!“, befahl deren Anführer und richtete sein Gewehr gegen sie. „Dieser Platz ist für euch gesperrt, reitet woanders lang! Das ist ein Befehl!“ Hinter ihm standen seine Kameraden aufgereiht.   Die Vier zügelten ihre Pferde und Oscar versuchte vernünftig mit ihnen zu reden: „Wir sind nicht zu unserem Privatvergnügen hier! Wir reiten Patrouille! Bitte gebt den Weg frei!“   „Irrtum!“ Der Soldat beharrte auf seine Forderung: „Wir haben hier schon alles Kontrolliert! Wir brauchen eure Hilfe nicht!“   Alain ließ sowas nicht auf sich sitzen und mischte sich unverfroren ein: „Sperrt gefälligst eure Augen auf! Wir sind Soldaten der französischen Armee, genau wie ihr!“   Dem königlichen Soldaten passte seine Einmischung ganz und gar nicht. „Verflucht noch mal, wir führen hier nur unser Befehle aus, also verschwindet endlich!“   Alain geriet in Rage. Gereizt stieg er von seinem Pferd ab und marschierte auf den Sprecher los, dabei krempelte er seine Ärmel hoch. „Kommt mir nicht auf die blöde Tour!“ „Lass ihn, Alain, dann nehmen wir einen Umweg!“, hörte er Oscar hinter sich befehlen, aber sie hielt ihn nicht auf. Er packte den Soldaten und stieß ihm mit seinem Knie in die Magengrube. „Ich hoffe, du hast jetzt Bauchschmerzen!“ Er ließ von ihm ab als dieser sich krümmte.   „Das wirst du mir büßen, du eingebildeter Schurke!“, knurrten die Kameraden und marschierten auf Alain los. Dieser schien nur darauf zu warten und stürzte sich mit ihnen auf einen Faustkampf.   „Alain!“, ermahnte Oscar, aber zwecklos. „Jérôme! Léon! Holt ihn daraus!“   „Jawohl, Kommandant!“ Die Brüder ließen sich das nicht zwei Mal sagen, stiegen aus dem Sattel und eilten ihrem Freund und Kameraden zu Hilfe.   Alain aus der Schlägerei herausziehen war nicht gerade einfach. Besonders wenn die Gegner auch nicht klein beigaben. Aber mit ach und Krach, schafften sie es und unter Beschimpfungen des Regiments hinter ihren Rücken, brachten sie Alain fort.       An der Seine, weit weg von irgendwelchen königlichen Soldaten und laufenden Menschen, saß Alain am Ufer und betupfte seine Schramme im Gesicht mit einem angefeuchteten Taschentuch. „Das brennt...“, zischte er.   „Alles in Ordnung?“, fragte Léon besorgt. Er stand mit seinem Bruder hinter ihm.   Oscar saß nicht weit von ihnen auf ihrem prächtigen Schimmel. Es war genug der Patrouille! Um noch so eine Auseinandersetzung zu vermeiden, ordnete sie ihren Männer den Rückzug an: „Wir kehren zurück in die Kaserne! Es ist wie Ihr es vorhin gesagt habt: Unsere Anwesenheit ist hier sinnlos!“   Alain stand auf und drehte sich um. Er sah Oscar offen und direkt an. „Erlaubt mir, dass ich Euch noch etwas sage! Wenn eine Revolution losbricht, wird das Volk als Sieger da stehen! Seht Euch doch bloß diese verkommene Armee an. Sie sind uneinig und werden nichts gegen das Volk ausrichten können!“   „Ich verstehe, was Ihr meint...“ Wie erdrückend es auch war, aber Oscar gab Alain insgeheim Recht. Das Volk erhob sich mehr und mehr. Es fehlte nur noch ein Funke, um das Fass zum überlaufen zu bringen. Und immer häufiger dachte Oscar an André. Sie sorgte sich um ihn und hoffte, dass er in Sicherheit war und es ihm an nichts fehlte.   „Hey, Alain!“ Jérôme stupste seinen Freund an der Schulter und wies mit seinem Kinn in eine bestimmte Richtung. „Schau, da! Das ist doch...“   Nicht nur Alain, sondern auch Léon und Oscar folgten seinem verwunderten Blick. Einige Meter von ihnen entfernt, saß ein Mann am Ufer der Seine, schöpfte mit der Hand das Wasser und wusch sich das angeschwollene Gesicht. Seine bürgerliche Kleidung war an manchen Stellen gerissen, die sichtbare Haut trug frische Kampfspuren und er selbst sah ziemlich zugerichtet aus. Alain riss überrascht seine Augen auf, als er den Mann nach genauem Betrachten erkannte: „Jean!“ Er eilte unverzüglich zu ihm.   Jean schreckte hoch. „Alain!“ Was für ein Zufall! Es war lange her, dass er ihn zuletzt gesehen hatte. Beinahe krächzend und mit schmerzenden Knochen erhob er sich.   Alain erreichte ihn und beide drückten sich kräftig die Hand. Alain lachte dabei trocken. „Oh, Mann! Haben dich etwa die königlichen Soldaten so zugerichtet?“   „Zum Teil ja...“ Jean verzog sein Gesicht. „Sie sind gestern bei mir im Gasthof eingefallen, wie Heuschrecken... und haben alles verwüstet... Sie haben meine Existenz vernichtet...“   „Diese Bastarde...“, knurrte Alain und dann fiel ihm der erster Satz seines Freundes ein. „Zum Teil? Und wem verdankst du den anderen Teil?“   „Na wem schon...“, zischte Jean und sah an ihm vorbei.   „Mir!“, sagte eine altbekannte Stimme hinter Alain. Kapitel 46: Die Männer ---------------------- „André...“ Was für eine Überraschung! Oscar und die Brüder Jérôme und Léon konnten es kaum fassen, ihn zu sehen – er war doch untertaucht! Was suchte er denn hier?   Alain dagegen drehte sich um die eigene Achse und grinste, als wäre nichts passiert. „Ich habe es geahnt, dass du bei Jean untertaucht bist!“ Er hätte beinahe vor Freude losgelacht, aber stattdessen wurde er gleich ernst. „Wieso hast du dich dann aber mit Jean geprügelt?“   André sah nicht minder zugerichtet aus, wie sein Freund Jean. Er machte seinen Mund auf, um Alain die Frage zu beantwortet, als dieser rüde beiseitegeschoben wurde und Jean sich turmhoch vor ihm aufbaute. „Was hast du hier verloren! Hat es dir gestern nicht gereicht?! Musst du jetzt auch am helllichten Tag rauskommen und alle Aufmerksamkeit auf dich ziehen? Du sollst untertaucht bleiben!“   „Jean...“ André warf einen Blick auf die verblüffte Oscar und dann wieder auf seinen Freund. „...beruhige dich. Mich erkennt doch ohnehin niemand.“   „Ah, verstehe...“ Jean hatte seinem Blick gefolgt und ihm ging ein Licht auf: „Du wolltest dir nicht entgehen lassen, sie zu sehen...“ Zeitgleich spannten sich seine ohnehin schon genug strapazierte Muskel an. „Nun hast du sie gesehen, ihr fehlt nichts, wie du siehst...“ Jean sammelte erneut seine letzte Kraft und stieß André mit Wucht von sich. „...also verschwinde endlich von hier, bevor du von der königlichen Abordnung erwischt wirst!“   André schnappte heftig nach Luft, aber behielt sein Gleichgewicht. „Was soll das, Jean...“, schnaubte er gedämpft und verübte einen Gegenstoß auf seinen Freund.   „Sofort aufhören!“, schalte Oscars heisere Stimme im Hintergrund.   Alain folgte ihrem Aufruf und baute sich zwischen den beiden. „Es reicht, Männer!“   Und erneut wurde er von Jean beiseitegeschoben. „Mische dich nicht ein!“, hörte er ihn dabei murren und im nächsten Augenblick, entwickelte sich ein Kampf zwischen Jean und André.   Aber diesmal ließ sich Alain nicht zur Seite schieben! Er stürzte sich erneut zwischen die beiden und schlug sich gleich mit ihnen, um sie aufzuhalten. Die Brüder tauschten miteinander einen einvernehmlichen Blick aus und eilten Alain zu Hilfe, aber dieser war bereits zu sehr in die Schlägerei verstrickt. Jérôme war schneller im Rennen als sein Bruder und erreichte die drei tollwütige Freunde als erster. Er packte Alain, wollte ihn zurückziehen und spürte plötzlich dessen mächtige Faust in seinem Gesicht. „Was soll das?! Ich wollte dir nur helfen!“, schrie er und Alain hielt kurz inne. André und Jean nahmen nichts davon wahr und prügelten sich weiter. Jérôme schoss das Blut hoch, er hob seine Fäuste und zahlte es Alain für den Schlag heim. Alain wehrte dessen Fausthieb systematisch ab und schlug erneut zu. Léon kam angerannt und anstelle die Schlägerei auseinander zu bringen, half er seinem Bruder, Alain zu besiegen – dieser schlug sich wacker.   „Hört sofort auf!“ befahl Oscar erneut aufgebracht, aber ihre drohende Stimme zeigte keine Wirkung. Und dann traf sie eine gewisse Erinnerung aus längst vergangener Zeit wie ein harter Schlag: Sie hatte schon einmal so eine ähnliche Schlägerei gesehen – damals, als sie ihr einstiges Kindermädchen in Paris abgeholt hatte... Damals, als sie erst vierzehn Jahre war... Sie hatte in der Kutsche gesessen und fünf Knaben beobachtet, die sich wegen einem Livre schlugen... Eine normale Rangelei zwischen Halbwüchsigen, die am Ende nichts Ernstes war.... Wie gerne hätte sie mitgemacht, erinnerte sich Oscar an ihren damaligen Wunsch...   Oscar schüttelte sich. Nein! Die Zeiten hatten sich geändert, es war viel geschehen und sie alle waren erwachsen geworden! Sie musste diese sinnlose Schlägerei beenden! Aber wie? Die Männer wussten bestimmt selbst nicht mehr, wozu und wofür sie sich gegenseitig vermöbelten!   „Alain! André!“ Eine mädchenhafte Stimme drang sich unbewusst in Oscars Kopf hindurch und plötzlich bildete sie sich ein, das kleine Mädchen selbst zu sehen – nur wenige Schritte von dem Kampfgetümmel. Ihr hellbraunes Haar war zu einem Zöpfchen gebunden, ihre dunkelbraune Augen hatten glückselig geleuchtet und ihre glockenhelle Stimme heuerte die beide Genannten immer wieder an. „Ihr schafft es! Alain! André! Gut so! Zeigt es ihnen!“   Oscar war wie vom Donner gerührt. „Diane...“ Dann schloss sie ihre Augen und atmete tief durch. Diane gab es nicht mehr! Schon fast seit einem Jahr ruhte sie unter der Erde irgendwo im Süden des Landes und von wo aus man das Meer erblicken konnte... Warum dann aber diese Illusion gerade eben? Das ergab keinen Sinn, aber es führte zu einer und derselben Erinnerung aus jenem Tag. Oscar öffnete die Augen wieder und sah auf die Stelle, wo sie geglaubt hatte sich eingebildet zu haben Diane als kleines Mädchen gesehen zu haben. Das Trugbild war nicht mehr da, aber dafür glänzte dort etwas auf dem Boden.   Wie benommen stieg Oscar von ihrem Pferd ab und ging zu der Stelle - die Schlägerei nebenan vergaß sie für einen kurzen Augenblick. Auf den Pflastersteinen lag ein Livre – mit Loch durchbrochen und an einem verfranzten Lederband befestigt. „Es ist ein Glücksbringer“, ging Oscar erneut Dianes Stimme durch den Kopf, aber diesmal in Form einer jungen Frau: „Mein Bruder hat es für mich gemacht und sich sogar mit seinen Freunden dafür geschlagen. André war auch dabei und hat ihm geholfen.“   Oscar hob den Livre auf, schloss ihn fest in ihrer Faust und richtete sich in ihrer ganzer Größe auf. Ihr Blick schweifte kurz über die fünf prügelnde Freunde und ihre freie Hand zog die Pistole. Langsam streckte sie den Arm gen Himmel, richtete den Lauf der Pistole nach oben und drückte ab. Der Schuss hallte ohrenbetäubend und setzte der Schlägerei sofort ein Ende. Alle fünf Männer starrten Oscar erschrocken, ungläubig und perplex an. „Ihr benimmt euch noch schlimmer als ungezogene Knaben von einst!“, verlautete ihre eisige Stimme gleich darauf über deren Köpfe hinweg. „Ihr seid aber keine Knaben mehr! Ihr seid erwachsene Männer! Ihr seid Kameraden, Freunde und Gefährten! Vor uns liegt eine schwere Zeit und wir müssen zusammenhalten, um sie zu überstehen! Wir müssen uns gegenseitig stützen, aber stattdessen vernichtet ihr euch selbst! Ihr seid nicht besser wie diese verkommene Armee, die sich selbst uneinig ist! Alain! Wie kann bitte das Volk als Sieger hervorgehen, wenn in ihren eigenen Reihen ein Kampf herrscht? Das führt doch zu nichts!“ Oscar merkte genau, wie alle fünf hart schluckten - deren Kehlkopf und aufgerissene Augen, die Mischung aus Fassungslosigkeit und Faszination hervorbrachte, verriet sie. Oscar steckte ihre abgefeuerte Pistole wieder ein und bewegte langsam ihre Füße. Die Männer rappelten sich genauso langsam auf und verkniffen sich dabei verräterische Schmerzenslaute. Oscar blieb vor Alain stehen. Sie reichte ihm die geschlossene Hand und öffnete sie. Der Lederschnur baumelte sogleich herab und der Livre blitzte kurz auf. Oscar milderte ihren Tonfall: „Und so etwas Kostbares darf man nicht wegen so einer banalen Auseinandersetzung verlieren.“   Alain befingerte seine Uniform, überprüfte die Taschen und stellte erschrocken fest, dass der Glücksbringer seiner Schwester weg war! Beinahe verlegen und gleichzeitig erleichtert, nahm er den Livre aus Oscars Hand an sich. „Ich danke Euch, Oberst.“   „Und nun kehrt in die Kaserne zurück und lasst euch verarzten!“, wies sie Alain und die Brüder an. Ihr Blick schweifte weiter, auf André und Jean. „Und ihr geht lieber zu Rosalie und lasst euch von ihr helfen. Ihr könnt euch bei ihr für eine Weile verstecken. Ich komme später nach und dann entscheiden wir, wie es weiter geht!“   „Das ist eine gute Idee, Kommandant“, stimmte ihr Jean anerkennend zu und schielte zu seinem Freund.   „Oscar...“, flüsterte André angetan. Nur für kurz glomm ein lieblicher Glanz in ihren kühlen Blicken. Sie musste jetzt objektiv denken und das verstand er sehr wohl. In solchen Situationen standen die Liebesfloskeln an zweitrangiger Stelle, egal wie lange sie sich nicht gesehen hatten. Trotzdem wollte er etwas zusätzlich sagen, aber ergab sich gleich. „...in Ordnung.“   „Gut.“ Oscar tat ihr Geliebter leid, aber sie musste auch an die anderen denken. Bei Rosalie würde sie ihn noch einmal sehen und dann könnte sie etwas netter zu ihm sein. Jetzt galt es die Ordnung unter ihnen allen zu bewahren.   Jérôme klopfte Alain halbherzig auf die Schulter. „Oh, Mann, du siehst aber aus! Und ich habe dir ein hübsches Veilchen verpasst. Tut mir leid.“   „Ach, was!“ Alain winkte ab. „Ich habe dir sogar zwei davon verpasst!“   André, Jean und Léon sahen die zwei verdattert an. Dann brachen alle fünf in schallendes Gelächter. „Oh, Gott, wie dämlich wir damals waren!“, meinte dabei Léon und stützte sich an Andrés Schulter ab. „Es tut mir leid André, aber deine Großmutter bleibt für uns bis in alle Ewigkeit als Feuerdrache in Erinnerung.“   „Das stimmt.“ Jean hielt sich die Seiten und aber hörte als erster langsam mit Lachen auf. Er lehnte sich lässig auf Andrés Schulter von der anderen Seite an, so dass diesem unter dem Gewicht seiner Freunde beinahe die Knie einknickten. „Aber Schluss damit!“ Jean sah auf die verdutzte Oscar. „Diese Tage sind vorbei und wir haben andere Zeiten. Damals waren wir alle auf die eine oder andere Weise unbeschwert und sorglos. Wir sollten lieber nach vorn schauen, uns verbünden und nicht gegenseitig zerschlagen. So wie sie es bereits gesagt hatte.“   Oscar erwachte aus ihrer Starre, aber zum Wort kam sie nicht. Ein Pferd preschte im schnellen Galopp heran. „Oberst! Kommandant!“ Das war Lassalle und er sah alarmierend aus. Er zügelte sein Pferd rüde vor Oscar und für einen Wimpernschlag starrte er erschrocken die fünf verprügelte Männer hinter sie. Diese ließ ihn nicht länger darin verweilen. „Erzähle, was ist passiert?!“, verlangte sie von ihm in ihrem altbekannten, herrischen Ton. Ihre feine Nackenhärrchen sträubten sich, als würde jetzt etwas Unheilvolles passieren. Auch die andere stellten sich auf eine unerfreuliche Nachricht ein und spitzten aufmerksam ihre Ohren.   Lassalle entriss sich den durchbohrenden Blicken und vom angeschwollenen Antlitz seiner Kameraden. Er brachte in der Tat schlechte Neuigkeiten. Aber die musste raus! Es würde sich ohnehin bald wie ein Lauffeuer verbreiten und jeder Mensch würde betroffen sein. „Kommandant!“ Er schluckte hart, um deutlicher sprechen zu können: „Die Königin hat den Finanzminister Necker entlassen, der auf unserer Seite war! Der König hat uns den Krieg erklärt und Robespierre ruft das Volk zu den Waffen!“ Kapitel 47: Wiederkehr ---------------------- Niemand hatte damit gerechnet...   Niemand...   Es gab zwar Spekulationen, Vermutungen und Vorahnungen, aber jeder Mensch hatte noch auf eine friedliche Lösung gehofft... Das alles zerplatzte und die Revolution war nicht mehr vermeidbar... Alle gingen bewaffnet auf die Straßen – auch Frauen und Kinder... Sie wollten die Monarchie stürzen, denn nach den Worten von Robespierre hatte sie das Volk verraten und nun wollten, die schon sowieso wütenden und von Hass zerfressenen Menschen, Rache nehmen... Für die Freiheit gegen die Unterdrückung, für die Gleichheit mit den Rechten der Mächtigeren und Brüderlichkeit zwischen ihnen allen...   Oscar distanzierte sich mehr und mehr von ihrem Elternhaus und von ihresgleichen. Schon bald wechselte sie die Seiten, nachdem der Finanzminister Necker entlassen wurde, und der die Sympathie des Volkes genoss. Nach seiner Entlassung griffen die Menschen zu den Waffen. Oscar hatte ihrem Vater einen Abschiedsbrief hinterlassen, dass sie nie wiederkehren würde, dass sie auf der Seite des Volkes stehen würde und dass sie nach dem Kampf das Leben einer Frau führen würde. Sie wusste mit Sicherheit, dass ihr Vater sie dafür verstoßen würde und das bedauerte sie, aber sie sie tat es für André und um frei zu sein, so wie er.   André war erneut verschwunden - zusammen mit Jean nach dem sie sich von Rosalie verarzten ließen. Oscar wusste nicht, ob ihr Geliebter zurückkommt, aber sie hoffte sehr darauf. Er hatte sie doch nie im Stich gelassen! Ihre Hoffnung war ihr noch das einzige Trost und die Gewissheit, dass er noch lebte.       - - -       Der Tag ging zu Neige, die Kämpfe wurden für heute eingestellt und Oscar lief an den Barrikaden entlang, die für die Sicherheit des Volkes vor den königlichen Soldaten errichtet worden waren. Sie dachte an André und das, was heute geschehen war: Sie hatte sich mit ihrer Söldnertruppe auf die Seite des Volkes geschlagen, ihren Rang und Titel abgelegt. Für ihren Verrat wurden sie vom königlichen Regiment dafür durch die ganze Stadt gejagt. Nicht einmal die Hälfte ihrer Soldaten hatte es überlebt - darunter Jérôme und Lassalle. Dennoch konnten sie dann trotzdem durch die Mitte der feindlichen Linien brechen und die Tuilerien erreichen, wo Bernard und die andere auf sie warteten. Nun wiegten sie sich hier schon seit Stunden in Sicherheit, aber der Schein trog. Jeder wusste, dass ab morgen der Kampf aufs neue beginnen würde – und bestimmt noch brutaler und grausamer als heute.   Oscar passierte gedankenverloren eine kleine Kirche und blieb plötzlich vor ihr stehen. Man hatte die gefallenen Soldaten und Bürger, nach dem heutigen Kampf, dort zur letzten Ruhe gebettet. Es waren viele und morgen würde es noch mehr sein. Und übermorgen... Bis das ganze töten und kämpfen irgendwann ein Ende finden würde... Dieser Tag schien jedoch in weiter Ferne zu liegen, das verstand Oscar mit Wehmut an ihrer Seele.   Vor der Kirche, auf den Stufen saßen zwei Männer - das waren Léon und Jean. Sie betrauerten Jérôme. Für einen war er ein Bruder und für den anderen ein Freund. Oscar seufzte schwer und ging zu ihnen. Léon erhob sich schnell, als er sie kommen sah. Hastig fuhr er mit seinem Ärmel über den Augen und versuchte stramm zu stehen. „Ich werde gleich auf mein Posten zurückkehren, Kommandant!“   „Schon gut.“ Oscar deutete ihm daraufhin, bequem zu stehen. „Du kannst noch vor der Kirche sitzen bleiben. Heute soll jeder seine Pause haben.“   „Danke, Kommandant.“ Léon setzte sich wieder auf die Stufen, vergrub sein Kopf in den Händen und verfiel wieder in Trauer.   Oscar störte ihn dabei nicht. Morgen würde er sich bestimmt gefangen haben. Wenigstens halbwegs. Oscar schaute zu Jean, der dicht bei seinem Freund stand und ihm beistand. „Pass auf ihn auf, so wie du stets auf meinen André aufgepasst hast“, sagte sie mit leicht belegter Stimme zu ihm.   „Das werde ich“, erwiderte Jean genauso bedrückt. „Wenigstens seid Ihr nicht so Wortkarg wie unser alter Freund Alain...“   „Wo ist er eigentlich?“ Das hatte Oscar wirklich etwas gewundert, denn Alain war auch ein Freund von Jérôme.   „Auf seinem Posten.“ Jean zuckte beiläufig seine Achsel. „Er war schon hier und hatte eine Schweigeminute mit uns abgehalten, aber dann sagte er, dass das Leben weitergeht, das Rad des Schicksals wird nicht aufhören sich weiterzudrehen und das wir nicht die einzigen sind, dessen Herz in dieser Stadt blutet. Dann ist er auf sein Posten zurückgekehrt. Ich meine, er hat schon recht, aber musste er es gleich so hart rüberbringen?“   „Er wird bestimmt seine Gründe dafür haben“, meinte Oscar zuversichtlich, um beide Seiten zu verstehen. „Aber ich denke nicht, dass ihn das kalt lässt. Immerhin weiß er wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren.“   „Da könntet Ihr recht haben, Kommandant Oscar“, stimmte ihr Jean zu und Oscar wollte ihren Weg fortsetzen, als ihr Brustkorb sich schmerzlich zusammen zog. Sie blieb abrupt stehen und wandte sich an Jean zurück, ohne ihn anzusehen. „Kannst du mir noch einmal von André erzählen? Und wie ihr euch aus den Augen verloren habt?“   „Ja, das kann ich.“ Jean holte tief Luft. Eigentlich hatte ihr das schon erzählt, als sie mit den überlebenden Soldaten zu dem Volk zurückgestoßen war. Das war aber in Hast und oberflächlich. Jetzt wollte sie sicherlich mehr Details erfahren und darüber nachdenken. „Als das alles heute in den Tuilerien losbrach, waren wir mit einer handvollen Verstärkung hierher unterwegs. Ein feindliches Regiment hatte uns den Weg abgeschnitten und auf uns geschossen. Wir wurden von einender getrennt und das einzige was ich in dem fliehenden Trubel von André gehört habe, war dass wir uns bei den Tuilerien wieder treffen. Aber anstelle auf ihn, bin auf Bernard und Rosalie getroffen. Danach kamt Ihr mit Euren Soldaten und habt euch uns angeschlossen.“   „Ich danke dir, Jean.“ Oscar seufzte wieder schwermütig. Das war eine magere Hoffnung, zu glauben, dass André nichts zugestoßen war und dass sie ihn bald wiedersehen würde. Aber diese Ungewissheit war auch wenigstens ein kleiner Strohhalm, an den sie sich klammerte und hoffte, dass er noch lebte...       Hastende Schritte hinter ihr, rissen sie aus ihrer Schwermut und beförderten sie schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Sie drehte sich auf alles gefasst um: Das war ein Soldat aus ihrer überlebenden Kompanie. Sie blieb jedoch auf der Hut, es könnte ja etwas passiert sein. „Kommandant!“, rief er schon auf halben Weg zu ihr und kaum dass er vor ihr stehen blieb, erstattete er ihr schon Bericht: „Wir haben einen Reiter gesichtet. Alain und Bernard überprüfen ihn gerade!“   „Ein Spion?“ Oscar setzte sofort ihre Füße in Bewegung.   Der Soldat hielt locker mit ihr Schritt und schüttelte den Kopf. „Nein.“ Ein Grinsen umspielte sein Gesicht. „Es ist einer von uns. Er ist Euretwegen zurückgekehrt.“   „Wer?“ Oscar warf dem Mann vorerst einen irritierten Blick von der Seite zu und dann traf es sie wie ein Blitz: „André?“   „Ja, Oberst.“ Das Grinsen des Soldaten verstärkte sich.   Oscar begann zu rennen. Ihr Herz hüpfte und flatterte aufgeregt, als wollte es aus ihrem Brustkorb herausspringen. Sie erreichte den Platz, wo sie Alain zu Wache postiert hatte und entdeckte dort eine kleine Gruppe Menschen. Darunter einige von ihren Soldaten, Alain, Bernard und Rosalie. Im halben Kreis standen sie um ein Pferd und unterhielten sich angeregt mit einem Mann, der das Tier an den Zügeln hielt. Oscar verlangsamte ihren Schritt - der Mann sah nicht wie André aus. Er trug ein dunkelbraunes, wie sein um Länge gewachsenes Haar, einen drei Tage Bart, abgetragene, alte Kleidung und einen staubigen Umhang um seine Schultern.   Oscar wurde mit einem Mal unsicher. Ihr Herz dagegen widersprach ihrem Zweifel und sie blieb schon alleine deswegen nicht stehen. Alain sagte etwas und klopfte dem Mann beherzt auf die Schulter. Dieser sprach trüb ein Beileid aus und in Oscar stieg eine wohlige Wärme auf. Sie kannte diese Stimme nur zu gut! Sie ging beherrscht, undurchschaubar und mit festen Schritten an den versammelten Menschen vorbei. Es wurde immer stiller - die Stimmen verstummten nacheinander, sobald man sie entdeckte. Auch der Mann zu Pferd. Seine Augen glänzten auf einmal freudig und liebreizend. Der Trauer und Bitterkeit wich für kurzen Moment aus ihnen. „Oscar.“ Er ließ die Zügeln seines Braunen los und schritt ihr entgegen. Sie blieben vor einander stehen und musterten sich gegenseitig ausgiebig. „Du hast dich kaum verändert“, fügte er hinzu und strich ihr sachte eine der Locken aus der Schläfe.   Oscar glaubte dagegen in dessen grünen Augen zu versinken. Ihr Herz schmolz, ihre Wimpern wurden ungewollt feucht. Ja, das war ihr André und er war wieder da, bei ihr! „Du dich dagegen schon“, sagte sie neckend, um ihren Gefühlsausbruch zu verbergen. „Wo warst du so lange?“   „Das erkläre ich dir später.“ Seine Finger streiften ihr schon an der Wange und verharrten dann hinter dem Ohr. „Vorerst wollte ich dich sehen, danach Jean und Léon und mit ihnen in der Kirche eine Schweigeminute halten... Für alle die Gefallenen.“   Oscar nickte einvernehmlich. Er wusste also schon von dem Tod seiner Freunde und Kameraden. „Mache das...“   „Und danach wollte ich mich rasieren und mich des Staubes entledigen“, fügte André hinzu und trotz der ganzen, derzeit herrschenden Bitterkeit und Trauer, konnte er sich nicht ein kleines Lächeln verkneifen.   „Das ist gut...“ Auch Oscar konnte nicht mehr. Ihr erging es fast genauso wie ihm. Sein Blick bohrte sich in sie hindurch und entfachte in ihr das Feuer, das sie verdrängt geglaubt hatte. Seine Finger auf ihrer Haut erzeugten einen Schauer an ihrem Körper und ihre Arme legten sich wie von alleine um seinen Nacken. „André, du hast mir gefehlt...“   André schmunzelte jetzt etwas breiter und zog sie mit dem freien Arm schwungvoll an sich. „Du hast mir auch gefehlt, liebste Oscar.“   „Geliebter...“ Oscar sprach das nicht einmal aus, als er seine Lippen über ihren Mund senkte und ihr einen langen Kuss schenkte. Seine kurze Bartstoppeln kitzelten, aber das war ihr gleichgültig. So, wie auch die stehenden Menschen um sie herum.   Ein verlegenes Räuspern unterbrach ihren Kuss - das war Bernard. „Entschuldigt für die Unterbrechung, Lady Oscar.“   „Schon gut.“ Oscar fasste sich schnell und trennte sich wieder von ihrem André, aber blieb dicht bei ihm stehen. „Was gibt es?“   „Ich habe André schon meine Wohnung angeboten, damit er sich nach der langen Reise frisch machen und ausruhen kann.“   „Und ich habe sein Angebot bereits angenommen.“ André grinste verwegen und Oscar errötete, was eher unbewusst war. Den Wink mit dem Zaunspfahl hatte sie schon verstanden, aber wehrte mit einer Handgeste ab. „Dann gehe und ruhe dich aus, André. Wir sehen uns später. Ich muss hier für Sicherheit und Ordnung sorgen.“   „Wie du willst.“ André seufzte beinahe enttäuscht, ging zurück zu seinem Pferd und stieg auf. „Dann bis später.“ Er galoppierte in Richtung Kirche, um seinen Freunden sein Beileid auszusprechen.   „Ich finde, Ihr solltet ihm nachgehen, Oberst“, flüsterte Alain hinter Oscar, als André schon fort war und sie ihm unverändert noch immer nachsah.   „Gehe auf deinen Posten, Alain. Ich weiß was ich tue.“ Oscar strafte ihn mit kühlen Blick und sah André wieder nach. Dieser verschwand schon um die Ecke eines Hauses und die Menschen um sie herum gingen auch auseinander. Außer Alain, Bernard und Rosalie. „Du übernimmst für mich die Befehlsgewalt“, entschied sich Oscar urplötzlich und marschierte wie ein Soldat fort.   „Musst du sie denn unbedingt verärgern?“, fragte Bernard und schüttelte verständnislos den Kopf.   Alain verzog daraufhin ein diabolisches Grinsen. „Ich habe sie nicht verärgert. Ich habe sie nur überredet.“   Rosalie neben Bernard kicherte leise. „Denkst du, Lady Oscar lässt sich wirklich überreden?“   „Das werden wir gleich sehen.“ Alain sprach das nicht einmal zu Ende aus, als ein weißes Pferd mit Oscar im Sattel an ihnen vorbei preschte. „Ich sagte doch, ich habe sie überredet. Man muss nur den richtigen Zugang zu ihr finden.“   „Und das hast du offensichtlich gerade getan“, schloss Bernard beeindruckt.   „Das weniger. Ich weiß nur, dass sowohl André, als auch Oscar nicht ohne einander können“, lehrte ihn Alain eines besseres: „Besonders nicht, wenn sie sich lange nicht gesehen haben. Auch wenn ihre letzte Begegnung gerade erst drei Tage her ist.“   „Die beiden gehören einfach zusammen“, stimmte ihm Rosalie zu und lehnte sich an Bernard. „Wir lassen ihnen die Zeit. Wer weiß schon, ob das heute nicht die letzte Nacht sein wird. Nicht nur für sie, sondern für uns alle.“   „Da hast du Recht“, meinte Bernard zustimmend und schloss seine Frau in seinen Armen noch etwas fester an sich. Kapitel 48: Die letzte Nacht ---------------------------- André hatte seine Freunde Léon und Jean an der Kirche aufgesucht, mit ihnen gesprochen, eine Schweigeminute angehalten wie er es Oscar gesagt hatte und war dann zu Bernards Wohnung aufgebrochen. Dort entledigte er sich seiner staubigen und zum Teil verdreckten Sachen, befüllte eine große Schüssel für sich mit Wasser um sich ordentlich zu waschen. Das Wasser war kalt, aber nach dem heißen und schwülen Julitag, war es wohltuend. Und mit dem Stück Seife gingen Dreck und Schweiß auch gut ab. Nach dem Abtrocknen, holte er eine frische Hose aus seinem Reisebündel und zog sie an. Sein noch feuchtes, schulterlanges Haar band er wieder mit der sattgrünen Schleife. Danach tauschte er das Wasser aus und begann seinen zwei Tage alten Bart vor einem kleinen Spiegel abzurasieren.   Nicht lange und es klopfte zaghaft an der Tür zu Bernards Wohnung. André schmunzelte. Dieses Türklopfern kannte er gut. Er hatte insgeheim gehofft, dass sie noch zu ihm kommen würde und das schien sich nun zu erfüllen. Er verzog ein verwundertes Gesicht, ging an die Tür und öffnete sie. „Oscar, du? Ich habe nicht mehr mit dir gerechnet...“   „Tu nicht so, als wärst du überrascht.“ Oscar marschierte in die Wohnung herein. Am Tisch schob sie ein Stuhl heraus und setzte sich hin. „Du wolltest mir doch noch erzählen, wo du warst. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“   André schloss die Tür hinter ihr zu und kehrte zur seiner Waschschüssel zurück, die auf dem Tisch stand. „Jean hatte dir doch schon alles erzählt.“   „Er hat mir nur erzählt, dass ihr in dem fliehenden Getümmel voneinander getrennt wurdet.“ Oscar ließ sich davon nicht beirren. Sie wollte alles wissen. „Was geschah danach? Warst du verletzt?“ Sie fuhr ausgiebig mit ihrem Blick über seinen kräftigen Oberkörper. Es gab keine verräterischen Verletzungen an ihm - bis auf die blauen Flecken der vergangenen Schlägerei. Also war ihre Frage gleich beantwortet und sie korrigierte sich daher mit der anderen. „Ich meine, was war mit dir geschehen? Wieso konntest du nicht mit ihm zu uns in die Tuilerien stoßen?“   André seufzte. Oscar würde nicht klein beigeben, bis sie alles erfahren hatte. Aber was hatte er schon zu verbergen? „Es war mit mir nichts geschehen, sei unbesorgt. Ich habe nur ein paar Bürger aus den Schusslinien in Sicherheit gebracht, dann den anderen bei der Flucht vor den feindlichen Linien geholfen und als die Kämpfe wenig später nachließen, brach ich nach Tuilerien auf.“   „Du hast also den Helden gespielt...“, ergänzte Oscar genauer und atmete innerlich auf. Sie verstand sein Handel nur zu gut und war gleichzeitig froh, dass er heil zurückgekehrt war.   „Das machst du doch auch“, konterte er und wusste ganz genau, dass dem auch so war.   Oscar gab es nicht zu, aber widersprach auch nicht. „In der heutigen Zeit ist jeder Mensch auf seine eigene Art und Weise ein Held.“   „Wie wahr...“ André nahm sein Rsasiermesser, tauchte es ins Wasser und begann vor dem Spiegel mit der Rasur. Er wechselte nachdenklich das Thema. „Ich habe mit Jean gesprochen, was er für Pläne in Zukunft hat... Er will in seinen Heimatort, in den Süden Frankreichs gehen. In der Zeit als wir Diane und Madame de Soisson dort nicht weit vom Meer beisetzten, hat er ein Mädchen kennengelernt und ihr versprochen, sie zu heiraten, wenn er zurückkehrt. Das ist ein schöner Ort, weit weg von Paris und ich habe mir überlegt, ob du und ich dort auch hinziehen könnten.“   „Wenn der Krieg eines Tages vorbei ist, dann liebend gern.“ Die Vorstellung, mit André zu leben, gefiel Oscar sehr. Aber leider gab es bis dahin noch einiges zu erledigen. „Wo hast du dort eigentlich gelebt? Bei Jean?“   „Ja. Und Alain auch. Wie du weißt, haben Alain und ich unsere Wohnungen verkauft. Mit diesem Geld beabsichtigen wir in einem Dorf ein kleines Haus nicht weit von Küste zu kaufen. Und wenn das Geld nicht reicht, werden wir für eine Weile wieder bei Jean einziehen müssen. Madame de Soisson und Diane wollten doch früher, dass Alain Bauer wird.“   „Ich kann euch auch mein Vermögen mitgeben, welches ich Rosalie zu Aufbewahrung anvertraut habe“, schlug Oscar unvermittelt vor und stellte dann gleich fest, was er zuvor gemeint hatte: „Also beabsichtigt Alain dort hinzuziehen, sobald hier alles vorbei ist?“   „Ja, und ich werde mit ihm gehen.“ André machte noch letzten Striche an seinem Kinn und schaute dann Oscar an. „Aber solange du hier bist, kann ich das nicht tun. Ich möchte an deiner Seite bleiben, bis zum letzten Moment.“   „André...“ Oscar war überwältigt.   Ihr Geliebter sah sie entschlossen an. Ganz beiläufig legte er das Messer auf den Tisch ab, griff nach dem Tuch und reinigte damit sein Gesicht von den Rasierspuren. Er sagte nichts, denn sie hatte den versteckten Hintergrund seiner Worte schon verstanden - das sah er in ihren schimmernden Augen. Es stand ihnen allen ein harter Kampf bevor und es war ungewiss, wann es ein Ende haben würde. Aber es würde viele Opfer geben und es werden nicht mehr alle zurück kehren können. Das wussten sie beide. Oscar stand auf und bewegte sich langsam zu ihm. „Dann lass uns diese Nacht verbringen, als wäre sie unsere letzte...“   „Sag so etwas nicht... Das wird nicht unsere letzte Nacht sein...“ André fiel das Tuch aus den Händen. „Aber du hast Recht... Lass uns sie gemeinsam verbringen und an nichts anderes denken, außer unserer Liebe...“ Er zog Oscar schwungvoll an sich und küsste sie zärtlich.   Ohne Bart fühlte er sich besser an. Oscar erwiderte seinen Kuss mit solch einer Intensität, als wäre sie ausgehungert. Vielleicht stimmte das ja, sie hungerte nach der Leidenschaft, nach seiner Liebe. Das Verlangen nach ihm und die Gewissheit, dass es das letzte Mal sein könnte, verstärkte ihr loderndes Begehren umso mehr. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, er die seine um ihre Mitte. Ihre Finger knoteten ihm das Haarband flink auf, ließen es gleich zu Boden fallen und befreiten sein noch immer feuchtes Haar. Das störte Oscar keineswegs. Sie verfiel ihrem Begehren immer mehr. Ihre Hände glitten von dem Nacken, unter dem ausgebreiteten Haar auf seinen Schultern, und ruhten auf seinem unbehaarten Brustkorb. Seine Haut fühlte sich straff und vom Waschen noch feucht an - sie verströmte ein Geruch nach Seife und Frische.   Oscar verstärkte leicht den Druck ihrer Hände an seinem Brustkorb und drängte ihren Geliebten nach hinten, bewog ihn sich auf den Stuhl zu setzen und glitt rittlings auf seinen Schoß.   André wollte seine Oscar zu sich heranziehen, um sie weiter innig zu Küssen, aber diese stemmte sich dagegen und schüttelte etwas mit ihrem Kopf. Ihre Mundwinkel zog sie nach oben. In ihren Augen glänzte der Feuerschein der Kerze, die auf dem Tisch hinter ihm Stand und ihre Hände schnallten ihren Gurt ab, ohne den Blickkontakt von seinem noch etwas verunstalteten Gesicht abzuwenden. Es war nicht mehr angeschwollen und so zugerichtet, wie vor zwei Tagen, aber ein violetter Bluterguss unter seinem Augenlid erinnerte sie an die vergangene Prügelei. Das stieß Oscar aber nicht ab. Im inneren war er immer noch ihr André, den sie kannte und liebte. Nur das zählte. Die Verletzungen, Abschürfungen und blauen Flecke würden schon vergehen und heilen. Hauptsache er selbst war bei ihr und ihm war nichts zugestoßen.   Ihr Gurt flog zu Boden, mitsamt ihrer Waffen. André hatte ihr derweilen schon die Uniformjacke vom Kragen bis nach unten aufgemacht und schob sie ihr von den Schultern. Stürmisch zog er sie aus, neigte sein Oberkörper zu ihr und küsste ihren schlanken Hals, während seine Finger den Ausschnitt ihres Hemdes vergrößerten.   Oscar warf ihren Kopf in Nacken, schloss genießerisch die Augen und entließ kleine, lustvolle Laute aus ihrer Kehle. Er hielt sie nur mit einem Arm um den Rücken fest, damit sie nicht nach hinten fiel und verwöhnte sie mit seinem Vorspiel. Ihre Hände zerrten gleichzeitig den Stoff ihres Hemdes aus den Hosen.   André hatte ihr bereits den Oberkörper entblößt und erkundete ihre Rundungen mit den federleichten Bewegungen seiner Finger – von ihren Rundungen, an dem flachen Bauch entlang und bis zu ihrem Hosenbund. Oscar hielt für einen Wimpernschlag die Luft an und stieß sie gleich darauf lustvoller aus, als ihre Hose lockerer wurden und sie die Finger ihres Geliebten an ihrem Venushügel spürte. Ihr Becken bewegte sich systematisch nach vorn, deuteten ihm, tiefer zu gehen und das tat er mit einem erregten Keuchen an ihrer Halsbeuge.   Es würde nicht mehr lange dauern bis sich ihr Begehren ins Unermessliche ausbreitete und sie aller Sinne beraubte. Oscar wollte immer mehr, sie wollte ihn ganz in sich spüren. Auch André wollte mit dem Vorspiel aufhören und sich mit seiner Geliebten vollends vereinen. Er schob seine Hand aus ihrem weit geöffneten Hosenbund, entfernte sich selbst von ihr und richtete sich auf. „Oscar...“, erwiderte er trotz schnell gehenden Atem und Oscar setzte sich gerade auf.   Sie sah ihm tief in die Augen und ließ ihren Atem nur stoßweise entweichen. Sie fragte nichts, sondern neigte sich etwas zur Seite und zog sich den weißen Stiefel aus. André half ihr, soweit es ihm möglich war, und machte das Gleiche mit ihrem anderen Bein. Dann stand Oscar auf und ließ ihre Hose ganz von ihrer Hüfte rutschen. André schluckte begehrlich, bei dem Anblick ihrer weißen Schenkel, ihren behaarten Dreiecks und seine Männlichkeit schien noch mehr sich aufzurichten, als es schon bereits die ganze Zeit war.   Mit einem schwungvollen Ruck, umschlang er ihr Becken mit einem Arm, hielt sie so fest und küsste leidenschaftlich ihren Bauch, ihre Seite und den hervortretenden Beckenknochen. Oscar stöhnte wieder vor Wonne und hob leicht ihr Bein, um sich den Hosen und Strümpfen gänzlich zu entledigen. Auch da half André ihr dabei. Seine freie Hand streifte ihr hastig den störenden Stoff ab und seine Lippen küssten währenddessen liebevoll den Oberschenkel, bis zu ihrer Kniescheibe. Das gleiche passierte auch mit ihrem anderen Bein. Dann wollte er aufstehen, um Oscar auf seine Arme zu hieven und sie zu Bett zu tragen, aber diese legte ihre Hände auf seine Schultern und drückte ihn auf den Stuhl zurück.   „Oscar...“ Bevor er nachfragen konnte, was sie vorhatte, stieg sie wieder rittlings auf seinen Schoß und versiegelte sein Mund mit ihren weichen Lippen. Ihre Finger nestelten gleich darauf an seinem Hosenbund. André verstand und keuchte wohlwollend, als sein bestes Stück ins Freie kam und sich ihre Finger sachte darum umschlossen. Er hob ihr Becken und Oscar stöhnte erleichtert auf, als sie ihn in sich aufnahm. Ihre Hüfte setzte sich schnell in Bewegung, ihre Hände hielten sich an seinen kräftigen Oberarmen fest und ihre Finger bohrten sich vor Lust tiefer in sein Fleisch.   Andrés Hände schlüpften unter ihr Hemd, fuhren wild von ihren Schulterblättern über den Rücken, ihren Rippen, bis zu ihrem Hinterteil, den Schenkeln und dann zurück. Seine Lippen streiften an ihrem Hals herab, zum Schlüsselbein, bis zu ihrem Körbchen und nach dem seine Zunge ihre hart aufgerichteten Knospe ausgekostete, nahmen seine Lippen den Weg zurück nach oben, bis zu ihrem Ohrläppchen. André konnte kaum noch mehr aushalten. Er spürte: er stand kurz vor Explosion! Oscar ritt auf ihm auf und ab immer schneller. All seine Sinne spitzten sich an. „Oscar...“, keuchte er erregt ihr ins Ohr: „Lass mich das machen... Du könntest Schwanger werden...“   „Das ist mir egal...“, schnaufte sie wollüstigen Atems und hielt plötzlich inne. Sie zog ihn hastig an sich, ihre Sehnen spannten sich an und der innere Druck ihrer Leistengegend, trieb auch ihm zum Höhepunkt. Er versuchte sich noch zu zügeln, aber der Druck war stärker und nicht mehr auszuhalten. Er verkrampfte sich und erreichte fast gleichzeitig mit ihr den explosiven Höhepunkt. Das war ein herrliches Gefühl, so erleichternd und viel wohltuender, als sich aus ihr zu ziehen und sich außerhalb ihres Körpers zu ergießen.   Kurz danach, als sich alles abebbte - bis auf ihre rasenden Herzen, beschlich André ein schlechtes Gewissen. Er hielt sie fest in seinen Armen und versuchte ein Lächeln hochzuziehen. Oscar nahm sein Gesicht mit beiden Händen, strich mit Daumen an seinen Wangen und lächelte ihn beruhigend an. Sie schien seine Besorgnis in seinen Augen gelesen zu haben. „Hab um mich keine Sorgen, Geliebter... Es wird alles gut... Wir werden heiraten und glücklich miteinander leben...“   Das schien André zu besänftigen. Er drückte ihren Körper fester an sich und sein Gesicht erhellte sich. „Ja, Liebste, du hast Recht... Das werden wir ganz bestimmt...“   „Na siehst du...“ Oscar wandte ihr Gesicht zu ihm und hauchte einen zarten Kuss ihm auf den Mund.   Ohne sie aus seinen Armen loszulassen, stand André mit ihr auf, Oscar schlang ihre Beine um seine Hüfte und er trug sie aufs Bett. Er zog seine Stiefel und die Hose gänzlich aus, während Oscar sich ihres Hemdes vollends entledigte. Wie schön sie da Lag! Sofort war er bei ihr und beide widmeten sich wieder ihrer Liebe. Diesmal ausgiebiger, ohne Hast und kosteten viel intensiver die Vorzüge des anderen aus. So, als wäre es in der Tat das letzte Mal, dass sie so etwas miteinander erleben würden... Kapitel 49: Sterben um zu leben ------------------------------- André wachte am nächsten Morgen auf und stellte sofort fest, dass etwas nicht stimmte: Seine Oscar war fort! Er wollte das nicht glauben, aber der leere Platz neben ihm war bereits erkaltet. Aber wie kam es dazu, dass er ihren Weggang nicht bemerkt hatte? Und warum hatte sie ihn nicht geweckt? War sie etwa mitten in der Nacht, als er noch tief und fest schlief, wie eine Katze, still und geräuschlos davongeschlichen? Wenn sie es vor kurzem, oder wenigstens beim Morgengrauen, getan hätte, dann hätte er doch alles mitbekommen und wäre zeitiger wach geworden!   André hatte keine Erklärung dafür, aber ihn beschlich ein dumpfes Gefühl, eine Vorahnung. Er stand auf, zog hastig seine Hose an und schaute sich noch einmal in der Wohnung um, als wolle er sich noch einmal vergewissern und auf Nummer sicher gehen - aber Oscar war nirgendwo zu sehen.   Laute, grollende und auffordernde Stimmen von draußen, bewogen ihn ans Fenster zu gehen. „Wir stürmen die Bastille! Auf zu Bastille!“, riefen die Menschen auf die Straßen und marschierten zu tausenden nur in eine Richtung: Die Bastille! Auch Frauen und halbwüchsige Kinder waren mit dabei. André gefror das Blut in den Adern, er war besorgt und alarmiert zu gleich. Er dachte an Oscar und mit einem Mal begriff er, warum sie ihn hier allein gelassen hatte: Sie wollte nicht, dass er im Kampf ums Leben kam! Sie selbst jedoch würde in den vordersten Reihen stehen und kämpfen - wie es sich für einen Kommandanten gehörte!   Nein! Wie konnte sie nur ihm das nur antun?! Das durfte er auf keinen Fall zulassen! André zog schnell seine restlichen Sachen an und eilte hinaus zu seinem Pferd. Er musste die Bastille erreichen und an Oscars Seite sein! Er würde sie beschützen und nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt, wenn er schon nicht verhindern konnte, dass sie ohne ihn in den Kampf zog!       Auf seinem Pferd erreichte er die Festung schneller, trotz den strömenden Menschenmassen auf der Straßen. Er hörte den ersten Kanonendonner und trieb seinen Braunen noch heftiger an. Beißender Geruch nach Schießpulver, Blut und Schweiß vermischte sich mit lauten Stimmen und entsetzlichen Schreien, während André immer tiefer bis zur Festung vordrang. Er erreichte die hohen Mauer im Galopp und sah schon die ersten Kanonen vor sich. „Wo ist Oscar?!“, verlangte er von einem seiner Kameraden zu wissen. Dieser zeigte auf die Haupttore der Festung. Oscar stand zwischen den zentralen Kanonen und gab ihren Männern Befehle, auf die Bastille zu feuern. Alain und Léon standen ein paar Schritte von ihr entfernt und leiteten ihre Befehle weiter - von Jean war weit und breit nichts zu sehen.   André´s Blick schweifte zufällig auf eine der Türme und er erstarrte. Die gegnerische Besatzung sah danach aus, als wollten sie auf den Kommandanten schießen, aber durch den ununterbrochenes Feuer und das Donnern konnten sie es nicht. „Feuert die Kanonen auf die Besatzung!“, befahl André seinen Kameraden aufgebracht und wurde immer lauter: „Lasst nicht zu, dass sie Oscar töten!“ Er selbst gab seinem Pferd wieder die Sporen, aber der Braune scheute. Der ganze Donner und der Krach war dem Tier zu viel. Und die bis aufs Äußerste entschlossene Massen von Menschen, strömten nur so auf die Festung zu. André überlegte nicht lange, stieg aus dem Sattel und rannte zu Fuß. Er zwängte sich zwischen den Stürmer und Leiber so schnell er konnte hindurch. Wieder donnerten die Kanonen, wieder krachte es an den hohen Mauern der Festung und massive Steinblöcke purzelten nach unten.   André versuchte das Ganze nicht wahrzunehmen, obwohl ihm die Ohren dröhnten, als würde jemand darauf mit aller Macht trommeln, immer stärker wippte. Der Weg zu Oscar war nicht weit, aber ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. Er wurde unbeabsichtigt gestoßen, stolperte, aber rappelte sich gleich wieder auf und setzte seinen Weg fort. „Oscar!“, rief er dabei lauthals, bis seine Kehle schmerzte.   Diese fuhr herum. „André?“ Sie war überrascht und in dem Moment traf sie eine Kugel! Sie fasste sich an der Wunde, ihr weißer Handschuh wurde vom Blut durchtränkt und sie selbst erstarrte vor Schmerz mit weit aufgerissenen Augen.   „Oscar!“ André rannte schneller, versuchte sie zu erreichen, sich schützend vor ihr zu werfen, aber da prasselten die nächsten Schüsse und Oscars Beine gaben nach. Sie krümmte sich und in dem Moment erreichte André sie. Er warf sich über sie, verdeckte sie schützend mit seinem Körper und ging mit ihr zu Boden.   „Feuert auf die Besatzung, Männer!“, bellte Alain nicht weit von ihnen entfernt und seine Kameraden befolgten das auf der Stelle. Er übernahm für sie wie selbstverständlich das Kommando und verschaffte ihnen somit Zeit, sodass keine weiteren Gewehrschüsse der gegnerischen Besatzung kamen...           - - -             Lange Zeit saß André neben dem Bett, auf dem seiner Oscar ruhte. Er hatte sie aus den Schusslinien fortgetragen und in Bernards Wohnung gebracht. Bernard hatte sogar einen Arzt finden können, der ihr die Kugeln gezogen, ihre Wunden versorgt und einen Verband angelegt hatte. Rosalie war auch dabei und half ihm die Wunden von Oscar zu versorgen. „Wird sie es überleben?“, fragte sie vorsichtig und mit glasigen Augen. Oscar war zu dem Zeitpunkt bewusstlos und André war noch wie benommen.   „Wenn sie einen starken Willen hat, dann ja“, antwortete ihr der Arzt und packte seine Utensilien ein.   „Oscar hat den starken Willen, sie wird leben!“, hörte André mehr zu sich selbst sagen und nahm Oscars Hand in die seine. „Ich lasse es nicht zu, dass sie stirbt!“ Als würde er darüber bestimmen können! Es lag alles ganz alleine in Gottes Hand, aber dennoch klammerte sich André an das kleine bisschen Hoffnung und an ein Wunder...   Die Wohnungstür ging auf und Alain trat mit überlebenden Kameraden herein - darunter auch Jean. „Die Bastille ist gefallen!“ teilte Alain den Anwesenden klar mit, aber sein Gesichtsausdruck blieb düster. „...und Léon auch“, fügte er rau hinzu: „Nachdem du unseren Oberst weg brachtest, André, wurde noch eine Salve von der Mauer der Bastille abgefeuert und Léon warf sich mitten in die Schusslinien... Ich wollte das verhindern, aber er war bereits tot, als ich ihn erreicht hatte...“   „Und ich war nicht dabei, obwohl ich deinem schönen Kommandanten versprochen habe auf ihn achtzugeben...“, erklärte Jean mit Gewissensbissen und einem entsetzten Gesichtsausdruck. „Ich half den Mitbürgern die Bastille zu stürmen... Aber was danach geschah, habe ich nie gewollt... Die Menschen drehen durch! Nach dem Fall der Bastille, haben sie die Köpfe der Besatzung auf Picken gesteckt und tragen sie jetzt durch die ganze Stadt! Es ist die reinste Hölle, die da draußen vor sich geht! Ich rannte weg und traf dann auf Alain... Er saß bei Léon...“ Jean verstummte mit trüben Blick auf Andrés bewusstlose Geliebte, die mehr einer Toten als einem Lebenden glich... „Wie geht es ihr?“ Die Frage blieb ihm einfach im Halse stecken. Eine schwere und bedrückende Stille umfasste augenblicklich den Raum - niemand wagte etwas zu sagen.   André sah Oscar an und drückte sachte ihre Hand. „Bernard...“, brach er dann belegt die Stille ab. Ein Kloß drückte in seiner Kehle, den er nicht runter schlucken konnte. Ihm kam aber ein Einfall, den er unbedingt loswerden wollte und dafür brauchte er Bernard. „Könntest du uns einen Gefallen tun?“ Er sah seinen Freund mit glasigen Augen an. Dieser nickte zustimmend und André setzte seinen Anliegen fort: „Du bist doch ein Journalist, ein Gerichtsschreiber. Könntest du überall in der Stadt und bis nach Versailles verbreiten lassen, dass Oscar bei dem Sturm auf Bastille gestorben ist? Würdest du verbreiten können, dass ihre sterbliche Überreste mit anderen Gefallenen in einem namenlosen Gemeinschaftsgrab beigesetzt sind?“   „Was hast du vor?“, fragte sein Freund, aber nickte wieder zustimmend. Natürlich würde er das tun!   „Ich werde Oscar von Paris und Versailles fortbringen...“ Ob tot oder lebendig, niemand durfte sie bekommen! André warf einen Blick Alain und Jean. „Ihr beabsichtigt doch auch zu gehen, oder?“   „Ja...“, bestätigte Jean. „...zu mir in den Süden. Ich will nicht mehr hier bleiben, aber ich werde aus der Ferne weiter die Revolution fortführen.“   „André...“, ertönte es schwach vom Bett und André sah erschrocken hin. Er zwang sich zu einem Lächeln. „Du bist also schon zu dir gekommen, Oscar...“   „Triffst du schon Vorkehrungen?“ Oscar ließ sich nicht beirren.   „Wovon redest du, Oscar?“ André rückte näher an sie heran, damit sie ihn besser sehen konnte und versuchte ihr Fröhlichkeit an Stelle von Tränen vorzutäuschen.   „Du planst schon meine Beisetzung vor...“ Oscar runzelte die Stirn, versuchte vor Schmerzen keine tiefen Atemzüge zu machen und sah nur ihren Geliebten fragend an. „...verschweige mir nichts, ich hab alles mitangehört.“   „Nein, Oscar, du hast es falsch verstanden...“ Mit einer Hand strich André ihr über die Wange, in der anderen hielt er ihre Hand und drückte etwas fester ihre Finger. „Du wirst nicht sterben, Oscar, nicht für mich... Du wirst bei mir sein... als meine Frau...“ Seine Stimme wurde immer belegter: „Natürlich, wenn du nichts dagegen hast...“   „Wenn es so ist, dann ist es gut...“ Oscar lächelte matt und musste husten. Als Rosalie ihr sofort das Wasser reichen wollte, lehnte sie ab. „Es geht schon...“, röchelte sie, als der Husten aufhörte. „Ich will deine Frau werden, André...“, sprach sie weiter, als wären sie beide unter sich und erwiderte den Druck seiner Hand mit all ihren letzten Kräften. „Mit dir zu leben und barfuß durch die sanfte Wiesen Wettrennen... An der Küste zum Meer und dem Wind der Freiheit entgegen...“   „Das werden wir, Oscar, das verspreche ich dir...“ André mühte sich krampfhaft, seine Tränen zu unterdrücken und so ruhig wie möglich mit ihr zu sprechen. Seine Geliebte sollte glauben, dass alles in Ordnung sein würde und nichts davon merken, wie sein Herz und seine Seele in tausende Stücke zerbrachen.   Oscars Stimme wurde immer schwächer, aber ihr kaum merkliches Lächeln und glänzende Augen blieben dennoch weiter bestehen. „Wenn ich sterbe, dann werde ich Wind sein und für dich unter deinem Dach singen...“   „Wovon sprichst du?“ André drückte ihren Handrücken an seiner Wange und küsste sie. Wie konnte sie nur so etwas sagen?! „Sag nicht so etwas...“ Er hielt inne, gab es auf seine Träne zu unterdrücken und ließ ihnen freien Lauf. „Du kannst doch gar nicht singen!“, startete er den letzten Versuch, die schwindende Hoffnung bei sich zu behalten...   „Du hast Recht, ich kann nicht singen...“ Oscars Hand wurde immer feuchter von seinen Tränen und auch ihr selbst lief die verräterische Nässe die Wangen herab. „Ich möchte sterben, um nur für dich weiter zu leben...“ Sie schloss ihre Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Ihr Brustkorb hob sich und sie atmete aus. Dann lag sie still und brachte keinen Ton mehr von sich raus.   „Oscar...“   Es schien als wäre sie eingeschlafen.   „Oscar?“   Es gab keine Reaktion von ihr.   „Oscar!!!“ Kapitel 50: Frei ---------------- „Was schreist du so laut, André, ich kann dich gut verstehen... Lass mich nur für ein paar Minuten ausruhen... Dann können wir über alles mögliche reden...“           Heftiger Wind streifte über die Wiesen und Felder, wo im lauen und heißen Sommer die Kinder barfuß Fangen gespielt hatten. Jetzt spielten und lachten sie schon lange nicht mehr. Der Wind pfiff durch die leeren, verrotteten und durch den langen Sommerregen zerstörten Landschaften. Nichts war mehr wie früher: Die Menschen vergaßen, was es bedeutete glücklich zu sein. Hungernot und Elend trieb sie dazu schreckliche Dinge zu tun. Eine Revolution brach aus und keiner war mehr vor Mord- und Totschlag sicher. Vor allen die Adligen nicht. Die Plünderungen nahmen beträchtlich zu, die Menschen wurden zu Bestien und kannten kein Erbarmen. Blut floss von beiden Seiten und nicht einmal der andauernde Regen konnte es verwischen - er ertränkte alles in Matsch und Dreck. Auch im Herbst hörte es nicht auf zu regnen – es wurde noch düsterer und grauer, die Menschen noch verzweifelter und hasserfüllter. Denn die Ernte war verdorben, die Mägen leer und der Kampf ums Überleben markerschütternder...   Der erste Frost im November setzte ein und bedeckte die Landschaften mit einer Eisschicht. Der Matsch - durchzogen mit geflossenem Blut, erfror mitten auf den Straßen, das Sterben und Leiden nahm kein Ende – es schien sogar noch schlimmer zu werden. Im folgenden Winter wurde es auch nicht besser - insbesondere nicht in Paris und in der nahen Umgebung...   Irgendwo im Süden des Landes, weit weg von Chaos und Krieg, ging das Leben jedoch noch seinen gewohntem Gang...           Es war töricht daran zu glauben, dass man die Natur überlisten konnte! Dass aus dem Mädchen, das wie ein Junge erzogen wurde, etwas anderes sein würde! Das würde doch niemals gut enden! Ein Mädchen gehörte in ein Kleid und nicht in die Uniform! So beklagte sich zumindest seine Großmutter, als sie zu Besuch kam......   André dachte an diese Worte, als er in der Kirche stand und auf das große Kreuz vor sich sah. Das alles lag aber schon Jahrzehnte zurück: Seine Eltern waren tot und nun auch seine Großmutter. Nach dem Sturm auf Bastille brach der alten Frau das Herz, als sie vom Tod ihres Schützlings erfahren musste. Ja, Oscar war gestorben - für alle ihresgleichen wurde sie für tot erklärt. Aber nicht für ihn und seinesgleichen. Die neue Zeit brach an, die Monarchie war gestürzt und alle Menschen, ob Adel oder Bürgerliche, wurden gleichgestellt...   Die Glocken der kleinen, unbedeutenden Dorfkirche läuteten zur Mittagsandacht und schreckten André auf. Eine Andacht an all die Opfer und Gefallenen, die die Revolution gekostet hatte und noch kosten würde... Denn es war noch längst nicht vorbei – die Nachrichten aus dem Norden Frankreichs waren jedes Mal erschreckender...   Die Lichtstrahlen der Mittagssonne brachen durch die großen Kirchenfenster und erhellten das Hauptschiff in farbenfrohe Muster. André hörte ein Rascheln hinter sich und drehte sich um: Jean mit seiner frisch angetrauten Frau, Alain, Bernard und Rosalie standen an seiner Seite und warteten auf etwas. Aber nicht seine Freunde erregten seine Aufmerksamkeit, sondern eine Person, die langsam auf sie zuging. Ihr blondes Haar, so hell wie die Sonne, lag ihr offen über den Schultern. Ihre himmelblaue Augen glänzten wie Saphire und ihre blutrote Lippen waren zu einem Lächeln gezogen. Das Lichtmuster tanzte bei jedem ihrer Schritte auf Kleidung und Gesicht. Sie selbst hüllte sich in einen warmen Wollmantel ein. Jedoch konnte sie damit das Kleid, das sie darunter anhatte, nicht verbergen: Es betonte kaum ihre Figur, aber verriet dennoch eine Bauchwölbung darunter. Sie strahlte eine Anmut und Schönheit aus, wie die einer Rose. Noch drei Monate würde sie die Kleider tragen müssen und dann würde sie sich wieder wie ein Mann anziehen...   André war das nicht von Bedeutung. Hauptsache sie lebte – für ihn und für ihr gemeinsames Kind, das sie schon sechs Monate unter ihrem Herzen trug. Sie blieb direkt vor ihm stehen und reichte ihm ihre Hand, die er sachte ergriff. „Du siehst schön aus, meine Liebe“, sagte er und küsste ihr den Handrücken.   Diese Komplimente machte er ihr andauernd, aber heute fühlte sie sich von ihnen noch geschmeichelter als sonst. Vielleicht, weil sie ab heute seinen Namen tragen würde. Nach dem Jawort würde sie seine rechtmäßige Ehefrau sein und konnte endlich ihr bisheriges Leben hinter sich lassen...           - - -           Ein elfjähriges Mädchen rannte barfuß und mit geschürzten Röcken über die sanft grüne Küste nicht weit vom Meer. Es war Hochsommer und die Sonne leuchtete wärmend hoch am Himmel. Der Krieg und das Elend, das er gebracht hatte waren vorbei, die Monarchie gestürzt und es herrschten schon seit zwei Jahren friedliche Zeiten. Aber warum rannte dann das Mädchen, als würde es um ihr Leben gehen?   Ein Mann verfolgte sie. „Ich kriege dich noch, du Diebin!“, rief er ihr lauthals nach und beschleunigte seinen Schritt. Das Mädchen auch. Ihr langes, blondes Haar wehte nur so vom entgegen sausenden Wind nach hinten. Wie sehr sie doch ihrer Mutter ähnelte! Er musste sie bekommen! Er durfte sie nicht entwischen lassen!   Ein Reiter preschte auf einem hübschen Pferd an ihm vorbei und überholte auch das Mädchen. Er zügelte abrupt seinen vierbeinigen Gefährten und wendete es. Er war genauso bürgerlich gekleidet, wie das Mädchen und der Mann.   Dem Mädchen blieb nichts anderes übrig, als anzuhalten – der Reiter hatte ihr den Weg abgeschnitten. Sie ließ ihren Rocksaum fallen und sah zu ihm außer Puste auf. Ihre himmelblauen Augen glänzten im Sonnenlicht und sie wusste nicht, was sie machen sollte. Es schien nun alles verloren zu sein! Der Reiter saß turmhoch im Sattel, sah ausdruckslos zu ihr herab und dann plötzlich reichte er ihr die Hand. „Steig auf!“   Ein breites Lächeln umspielte das Gesicht des Mädchens. „Danke Mama!“, jauchzte sie und griff nach der dargebotenen Hand. Sie stellte ein Fuß auf den ihrer Mutter im Steigbügel und bevor diese ihre Tochter vor sich in den Sattel ziehen konnte, wurde sie urplötzlich von Hinten gepackt und mit einem kräftigen Ruck aus ihrer Rettung gerissen. „Nein!“, schrie sie auf.   „Doch!“ Ihr Verfolger hatte sie eingeholt und wirbelte sie um die Achse. „Jetzt habe ich dich!“   Das Mädchen wehrte sich, aber wurde von dem Mann noch kräftiger gehalten. „Lass mich los, Papa! Ich ergebe mich!“, flehte sie lachend und kreischend, aber dieser tat ihr nicht den Gefallen.   „André, lass sie endlich los! Sie hat sich doch ergeben!“, rief der Reiter aus dem Sattel und sprang dann gleich behände von seinem Schimmel herunter.   André nahm die Bewegungen aus dem Augenwinkel wahr und lockerte seinen Griff. „Mit dir rede ich nicht mehr, meine Gemahlin!“, brummte er spitz: „Du spielst nicht fair!“   Das Mädchen hörte auf sich zu wehren, löste sich aus dem Griff und drehte sich um. „Was hat Mama denn getan, Papa?“   André verschränkte seine Arme vor der Brust, schielte verstohlen zu seiner Frau, die gerade bei ihnen anhielt, und klärte seiner Tochter auf. „Nun, unter einem Fangspiel verstehe ich zu Fuß zu rennen und nicht auf einem Pferd die Spielregeln zu missachten!“   „Pah!“ Oscar nahm sein Schmollen nicht einmal ernst. Sie wusste nur zu gut, dass er sich nur verstellte.   „Und zudem noch, ist deine Mutter genauso eine Diebin wie du!“, fügte André hinzu und tat so, als beachte er seine Frau gar nicht.   Seine Tochter krauste die Stirn. „Aber was haben wir denn gestohlen?!“   „Das würde ich auch gerne wissen?!“ Oscar stellte sich an der Seite ihrer Tochter und sah ihren Mann beinahe herausfordernd an. Sie eines Diebstahls zu bezichtigen, kam einer Unverfrorenheit gleich. Und das auch noch von André!   Dieser warf zu ihr doch noch einen Blick zu. „Weißt du das denn nicht mehr?“   Oscar war ratlos. Sie schob ihre Tochter etwas beiseite, trat noch näher an André heran und sah ihm von Angesicht zu Angesicht, obwohl er sie trotzdem ein Kopf überragte. Ihre Gesichtszüge wurden grimmiger und ihr Gemüt ungeduldiger. „Wie kann ich es wissen, wenn du um den heißen Brei redest?!“   André nutzte die Möglichkeit aus und packte Oscar von beiden Seiten. „Mein Herz!“, sagte er und beförderte sie nur mit einem präzisen und schwungvollen Ruck zum Boden. Kaum Oscar sich versah, lag sie schon rücklings im Gras und André stand auf seinen Vier über sie. „Du hast mir von Anfang an mein Herz gestohlen und nun macht es dir unsere Tochter nach!“ Er schmunzelte dabei neckisch und steckte seine Frau an – die Verdutzung und der Ärger wichen augenblicklich aus ihr. „Selber schuld!“, erwiderte sie keck, aber sogleich verlor sie sich in seinen grünen Augen – er in ihren blauen. Wie schön es doch war, an seiner Seite als Frau zu leben! Kein Mensch, bis auf ihre Freunde, wusste von ihrer Existenz. Sie hatte André geheiratet und führte mit ihm ein bescheidenes, aber glückliches und beständiges Leben. Und sie trug seinen Namen, was ihre Lebensweise noch mehr versteckte. Nur der Name Oscar und ihre Gewohnheiten würden für immer bleiben - das saß tief und war nicht mehr auszulöschen. Sie wurde als Mädchen geboren und wie ein Junge erzogen, nur weil ihr Vater keinen Sohn hatte. Sie wurde im Fechten unterrichtet und hatte das Reiten gelernt...   Das aber war ihr altes Leben und seit einigen Jahren begann ein Neues für sie. An der Seite von André – ihrem Freund und Gefährten seit sie ihn kennengelernt hatte. Das Grün seiner Augen und sein freundliches Wesen, hatte sie schon bei ihrer ersten Begegnung in den Bann gezogen. Auch jetzt sah er sie so an und ihr Herz schmolz. Ja, sie liebte ihn und nur an seiner Seite war sie glücklich und frei: Frei von dem goldenen Käfig, frei von dem Leben als Marionette und frei von den Fesseln einer Adligen. Und das würde sich niemals ändern. Auf Gedeih und Verderben hatten sich die Wege ihrer Schicksale gekreuzt, hatten sie zusammengeführt und das würde bis ans Ende ihrer Tage so bleiben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)