Schicksalswege von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 50: Frei ---------------- „Was schreist du so laut, André, ich kann dich gut verstehen... Lass mich nur für ein paar Minuten ausruhen... Dann können wir über alles mögliche reden...“           Heftiger Wind streifte über die Wiesen und Felder, wo im lauen und heißen Sommer die Kinder barfuß Fangen gespielt hatten. Jetzt spielten und lachten sie schon lange nicht mehr. Der Wind pfiff durch die leeren, verrotteten und durch den langen Sommerregen zerstörten Landschaften. Nichts war mehr wie früher: Die Menschen vergaßen, was es bedeutete glücklich zu sein. Hungernot und Elend trieb sie dazu schreckliche Dinge zu tun. Eine Revolution brach aus und keiner war mehr vor Mord- und Totschlag sicher. Vor allen die Adligen nicht. Die Plünderungen nahmen beträchtlich zu, die Menschen wurden zu Bestien und kannten kein Erbarmen. Blut floss von beiden Seiten und nicht einmal der andauernde Regen konnte es verwischen - er ertränkte alles in Matsch und Dreck. Auch im Herbst hörte es nicht auf zu regnen – es wurde noch düsterer und grauer, die Menschen noch verzweifelter und hasserfüllter. Denn die Ernte war verdorben, die Mägen leer und der Kampf ums Überleben markerschütternder...   Der erste Frost im November setzte ein und bedeckte die Landschaften mit einer Eisschicht. Der Matsch - durchzogen mit geflossenem Blut, erfror mitten auf den Straßen, das Sterben und Leiden nahm kein Ende – es schien sogar noch schlimmer zu werden. Im folgenden Winter wurde es auch nicht besser - insbesondere nicht in Paris und in der nahen Umgebung...   Irgendwo im Süden des Landes, weit weg von Chaos und Krieg, ging das Leben jedoch noch seinen gewohntem Gang...           Es war töricht daran zu glauben, dass man die Natur überlisten konnte! Dass aus dem Mädchen, das wie ein Junge erzogen wurde, etwas anderes sein würde! Das würde doch niemals gut enden! Ein Mädchen gehörte in ein Kleid und nicht in die Uniform! So beklagte sich zumindest seine Großmutter, als sie zu Besuch kam......   André dachte an diese Worte, als er in der Kirche stand und auf das große Kreuz vor sich sah. Das alles lag aber schon Jahrzehnte zurück: Seine Eltern waren tot und nun auch seine Großmutter. Nach dem Sturm auf Bastille brach der alten Frau das Herz, als sie vom Tod ihres Schützlings erfahren musste. Ja, Oscar war gestorben - für alle ihresgleichen wurde sie für tot erklärt. Aber nicht für ihn und seinesgleichen. Die neue Zeit brach an, die Monarchie war gestürzt und alle Menschen, ob Adel oder Bürgerliche, wurden gleichgestellt...   Die Glocken der kleinen, unbedeutenden Dorfkirche läuteten zur Mittagsandacht und schreckten André auf. Eine Andacht an all die Opfer und Gefallenen, die die Revolution gekostet hatte und noch kosten würde... Denn es war noch längst nicht vorbei – die Nachrichten aus dem Norden Frankreichs waren jedes Mal erschreckender...   Die Lichtstrahlen der Mittagssonne brachen durch die großen Kirchenfenster und erhellten das Hauptschiff in farbenfrohe Muster. André hörte ein Rascheln hinter sich und drehte sich um: Jean mit seiner frisch angetrauten Frau, Alain, Bernard und Rosalie standen an seiner Seite und warteten auf etwas. Aber nicht seine Freunde erregten seine Aufmerksamkeit, sondern eine Person, die langsam auf sie zuging. Ihr blondes Haar, so hell wie die Sonne, lag ihr offen über den Schultern. Ihre himmelblaue Augen glänzten wie Saphire und ihre blutrote Lippen waren zu einem Lächeln gezogen. Das Lichtmuster tanzte bei jedem ihrer Schritte auf Kleidung und Gesicht. Sie selbst hüllte sich in einen warmen Wollmantel ein. Jedoch konnte sie damit das Kleid, das sie darunter anhatte, nicht verbergen: Es betonte kaum ihre Figur, aber verriet dennoch eine Bauchwölbung darunter. Sie strahlte eine Anmut und Schönheit aus, wie die einer Rose. Noch drei Monate würde sie die Kleider tragen müssen und dann würde sie sich wieder wie ein Mann anziehen...   André war das nicht von Bedeutung. Hauptsache sie lebte – für ihn und für ihr gemeinsames Kind, das sie schon sechs Monate unter ihrem Herzen trug. Sie blieb direkt vor ihm stehen und reichte ihm ihre Hand, die er sachte ergriff. „Du siehst schön aus, meine Liebe“, sagte er und küsste ihr den Handrücken.   Diese Komplimente machte er ihr andauernd, aber heute fühlte sie sich von ihnen noch geschmeichelter als sonst. Vielleicht, weil sie ab heute seinen Namen tragen würde. Nach dem Jawort würde sie seine rechtmäßige Ehefrau sein und konnte endlich ihr bisheriges Leben hinter sich lassen...           - - -           Ein elfjähriges Mädchen rannte barfuß und mit geschürzten Röcken über die sanft grüne Küste nicht weit vom Meer. Es war Hochsommer und die Sonne leuchtete wärmend hoch am Himmel. Der Krieg und das Elend, das er gebracht hatte waren vorbei, die Monarchie gestürzt und es herrschten schon seit zwei Jahren friedliche Zeiten. Aber warum rannte dann das Mädchen, als würde es um ihr Leben gehen?   Ein Mann verfolgte sie. „Ich kriege dich noch, du Diebin!“, rief er ihr lauthals nach und beschleunigte seinen Schritt. Das Mädchen auch. Ihr langes, blondes Haar wehte nur so vom entgegen sausenden Wind nach hinten. Wie sehr sie doch ihrer Mutter ähnelte! Er musste sie bekommen! Er durfte sie nicht entwischen lassen!   Ein Reiter preschte auf einem hübschen Pferd an ihm vorbei und überholte auch das Mädchen. Er zügelte abrupt seinen vierbeinigen Gefährten und wendete es. Er war genauso bürgerlich gekleidet, wie das Mädchen und der Mann.   Dem Mädchen blieb nichts anderes übrig, als anzuhalten – der Reiter hatte ihr den Weg abgeschnitten. Sie ließ ihren Rocksaum fallen und sah zu ihm außer Puste auf. Ihre himmelblauen Augen glänzten im Sonnenlicht und sie wusste nicht, was sie machen sollte. Es schien nun alles verloren zu sein! Der Reiter saß turmhoch im Sattel, sah ausdruckslos zu ihr herab und dann plötzlich reichte er ihr die Hand. „Steig auf!“   Ein breites Lächeln umspielte das Gesicht des Mädchens. „Danke Mama!“, jauchzte sie und griff nach der dargebotenen Hand. Sie stellte ein Fuß auf den ihrer Mutter im Steigbügel und bevor diese ihre Tochter vor sich in den Sattel ziehen konnte, wurde sie urplötzlich von Hinten gepackt und mit einem kräftigen Ruck aus ihrer Rettung gerissen. „Nein!“, schrie sie auf.   „Doch!“ Ihr Verfolger hatte sie eingeholt und wirbelte sie um die Achse. „Jetzt habe ich dich!“   Das Mädchen wehrte sich, aber wurde von dem Mann noch kräftiger gehalten. „Lass mich los, Papa! Ich ergebe mich!“, flehte sie lachend und kreischend, aber dieser tat ihr nicht den Gefallen.   „André, lass sie endlich los! Sie hat sich doch ergeben!“, rief der Reiter aus dem Sattel und sprang dann gleich behände von seinem Schimmel herunter.   André nahm die Bewegungen aus dem Augenwinkel wahr und lockerte seinen Griff. „Mit dir rede ich nicht mehr, meine Gemahlin!“, brummte er spitz: „Du spielst nicht fair!“   Das Mädchen hörte auf sich zu wehren, löste sich aus dem Griff und drehte sich um. „Was hat Mama denn getan, Papa?“   André verschränkte seine Arme vor der Brust, schielte verstohlen zu seiner Frau, die gerade bei ihnen anhielt, und klärte seiner Tochter auf. „Nun, unter einem Fangspiel verstehe ich zu Fuß zu rennen und nicht auf einem Pferd die Spielregeln zu missachten!“   „Pah!“ Oscar nahm sein Schmollen nicht einmal ernst. Sie wusste nur zu gut, dass er sich nur verstellte.   „Und zudem noch, ist deine Mutter genauso eine Diebin wie du!“, fügte André hinzu und tat so, als beachte er seine Frau gar nicht.   Seine Tochter krauste die Stirn. „Aber was haben wir denn gestohlen?!“   „Das würde ich auch gerne wissen?!“ Oscar stellte sich an der Seite ihrer Tochter und sah ihren Mann beinahe herausfordernd an. Sie eines Diebstahls zu bezichtigen, kam einer Unverfrorenheit gleich. Und das auch noch von André!   Dieser warf zu ihr doch noch einen Blick zu. „Weißt du das denn nicht mehr?“   Oscar war ratlos. Sie schob ihre Tochter etwas beiseite, trat noch näher an André heran und sah ihm von Angesicht zu Angesicht, obwohl er sie trotzdem ein Kopf überragte. Ihre Gesichtszüge wurden grimmiger und ihr Gemüt ungeduldiger. „Wie kann ich es wissen, wenn du um den heißen Brei redest?!“   André nutzte die Möglichkeit aus und packte Oscar von beiden Seiten. „Mein Herz!“, sagte er und beförderte sie nur mit einem präzisen und schwungvollen Ruck zum Boden. Kaum Oscar sich versah, lag sie schon rücklings im Gras und André stand auf seinen Vier über sie. „Du hast mir von Anfang an mein Herz gestohlen und nun macht es dir unsere Tochter nach!“ Er schmunzelte dabei neckisch und steckte seine Frau an – die Verdutzung und der Ärger wichen augenblicklich aus ihr. „Selber schuld!“, erwiderte sie keck, aber sogleich verlor sie sich in seinen grünen Augen – er in ihren blauen. Wie schön es doch war, an seiner Seite als Frau zu leben! Kein Mensch, bis auf ihre Freunde, wusste von ihrer Existenz. Sie hatte André geheiratet und führte mit ihm ein bescheidenes, aber glückliches und beständiges Leben. Und sie trug seinen Namen, was ihre Lebensweise noch mehr versteckte. Nur der Name Oscar und ihre Gewohnheiten würden für immer bleiben - das saß tief und war nicht mehr auszulöschen. Sie wurde als Mädchen geboren und wie ein Junge erzogen, nur weil ihr Vater keinen Sohn hatte. Sie wurde im Fechten unterrichtet und hatte das Reiten gelernt...   Das aber war ihr altes Leben und seit einigen Jahren begann ein Neues für sie. An der Seite von André – ihrem Freund und Gefährten seit sie ihn kennengelernt hatte. Das Grün seiner Augen und sein freundliches Wesen, hatte sie schon bei ihrer ersten Begegnung in den Bann gezogen. Auch jetzt sah er sie so an und ihr Herz schmolz. Ja, sie liebte ihn und nur an seiner Seite war sie glücklich und frei: Frei von dem goldenen Käfig, frei von dem Leben als Marionette und frei von den Fesseln einer Adligen. Und das würde sich niemals ändern. Auf Gedeih und Verderben hatten sich die Wege ihrer Schicksale gekreuzt, hatten sie zusammengeführt und das würde bis ans Ende ihrer Tage so bleiben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)