Schicksalswege von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 9: Harte Schale, weicher Kern ------------------------------------- Nein, nein und nochmals nein! Das ging doch nicht! André mochte zwar ein ehrlicher Mann sein, aber sie durfte sich nicht solche Albereien erlauben! Dennoch ließ Oscar das faszinierende Gefühl nicht los. Als sie ein Kind war, wurde ihr so etwas nicht gestattet, denn sie hätte sich ihre zarte Haut verletzen können. Oscar erinnerte sich daran, dass man ihr erklärt hatte, so ein Verhalten sei bäuerlich und ihres hohen Standes nicht angemessen. Oscar verzog säuerlich das Gesicht. Sie hatte schon früher den Standesunterschied nicht verstanden und als ungerecht empfunden, sie war doch ein Mensch wie jeder andere. Ihr Puls begann schneller zu schlagen, ihre Hände ballten sich zu Fäusten und als wollte sie der strengen Etikette trotzen, zog sie ihre Stiefel und Strümpfe aus. Sofort streifte eine erfrischende Brise über ihre Haut und bescherte ihr ein befreiendes Gefühl. „In der Tat herrlich...“ Sie schmunzelte kaum merklich und fühlte die Grashalme zwischen den Zehen. Im Gegensatz zu André, würde sie ihre Hose nicht bis zu den Knien hochrollen. Das wäre dann doch für ihren Anstand unschicklich. Denn ihrer knabenhaften Erziehung ungeachtet, blieb Oscar eine Frau und für solche ziemte sich ein derartig freizügiges Verhalten nicht. Sie stand auf und ging auf die Duellanten zu. André und Rosalie hörten mit der Fechtübung auf, als sie Oscar auf sie zukommen sahen. „Du hattest recht“, sagte sie zu André und blieb stehen. Sie sah auf ihre Füße herab und wackelte mit den Zehen. „Es schadet nicht.“ Rosalie und André folgten ihrem Blick und staunten nicht schlecht. André betrachtete Oscars nackte Füße neugierig und schmunzelte still in sich hinein. Ihre zarte Haut rief in ihm eigenartige Gefühle hervor. Er würde aufpassen müssen, um beim Fechten nicht auf ihre Füße zu treten, denn er wollte sie nicht verletzen. Rosalie riss ihn aus den Gedanken. „Lady Oscar...“, murmelte sie dabei mit großen Augen. „Mach dir keine Sorgen.“ Oscar schaute zu ihr und ihre Mundwinkel zuckten leicht. „Da ich wie ein Mann erzogen wurde, ist auch nichts schlimmes dabei. Würdest du mir deinen Degen geben?“ „Aber natürlich.“ Rosalie reichte ihr wie benommen den besagten Degen. Sie trat zur Seite und beobachtete, wie Lady Oscar mit André übte. Das Fechtmanöver ging an dem jungen Mädchen halbwegs vorbei, stattdessen machte sie eine Entdeckung in Lady Oscars Verhalten. Die Kommandantin schien in Andrés Gegenwart aufzublühen, obwohl sie es zu verbergen versuchte. André war äußerst darauf bedacht, von Oscars Füßen einen gewissen Abstand zu halten. Trotz seiner Vorsicht gab er im Kampf eine gute Figur ab. Oscar lachte auf, als sie sich bei einen ihrer Überraschungsangriffe zu nahe an ihn heranwagte und sprunghaft zurückwich. Rosalie verspürte auf einmal ein Glücksgefühl. Wie kein anderer vor ihm schaffte es André, Lady Oscar wie eine Rose aufblühen und in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Vielleicht würde sie durch ihn sogar ihren Kummer und ihre Erziehung, die sie wie in einem Käfig gefangen hielt, überwinden können. - - - Drei Wochen verstrichen wie im Flug und André versäumte keinen einzigen Tag auf dem Anwesen der de Jarjayes. Jeden Nachmittag übte er mit Oscar entweder Schießen oder Fechten und eigenartigerweise traf er kein einziges Mal auf ihre Eltern. Oscars Mutter wohnte praktisch in Versailles. Als Hofdame der Königin, musste sie sich stets in ihrer Nähe aufhalten und ihr zu Diensten sein. Und Oscars Vater war als General ständig im Auftrag seiner Majestät, dem König, unterwegs und hatte ebenso kaum Zeit sein trautes Heim aufzusuchen. Das hatte Rosalie André anvertraut, als er sie aus reiner Neugier danach gefragt hatte. Rosalie war für gewöhnlich bei fast allen seiner Besuche mit dabei und manchmal ritten sie zu dritt sogar an den See aus. Mittlerweile glaubte André Oscar und ihr Wesen schon gründlich zu kennen. Dass sie barfuß mit ihm gekämpft hatte, war einmalig und er bedauerte es beinahe. Oscar war zu diesem Zeitpunkt noch ausgelassener als gewohnt und vergaß sogar ihre elitäre Erziehung. Sie wirkte gänzlich wie ein anderer Mensch, gerade so als hätte sie mit diesem Stück Freiheit unter ihren Füßen auch ihren Schutzwall aus distanzierter Strenge abgelegt. Insgeheim hatte André sich gewünscht, Oscar würde nie mehr ihr altes Wesen annehmen. Doch sobald ihr Training vorbei war, zog Oscar wieder ihre undurchdringbare Mauer hoch. Dass dies immer so bleiben würde, hatte André an jenem schönen Tag vor drei Wochen mit Bedauern begriffen. Heute war der letzte Tag, an dem er zu ihr kam. Sie trainierten das Schießen und er verfehlte das Ziel kein einziges Mal. Der letzte Schuss donnerte durch die Luft. „Du bist viel besser geworden“, lobte ihn Oscar anerkennend und legte die Pistolen sorgsam in die dafür vorgesehene Kiste zurück. „Auch im Fechten bist du mir ein ernstzunehmender Gegner geworden.“ André schmunzelte. Ihm gefiel Oscars aufrichtiges Lächeln. Wenn sie doch immer so aufgeschlossen wäre. „Das habe ich Euch zu verdanken.“ Oscar lehnte sich gegen die Tischkante, als sie über die letzten drei Wochen nachdachte und musste sich eingestehen, dass sie André zu schätzen gelernt und sogar gern gewonnen hatte. Als Oscar daran dachte, dass er heute das letzte Mal hier war, durchzog sie ein flaues Gefühl. Wie eigenartig! Bisher hatte es noch kein Mensch geschafft, ihr Vertrauen in so kurzer Zeit zu gewinnen. Vielleicht lag es an Andrés offenem und ehrlichen Charakter, dass sie ihm vertraute. Wenn Oscar genauer überlegte, imponierte ihr dieser Wesenszug sogar sehr. Nichts hasste sie mehr als Lügen und Falschheit, davon sah sie tagtäglich am Hofe von Versailles genug! „Jetzt kannst du ein richtiger Soldat werden. Ich bedauere es fast, dass du jetzt nicht mehr zu uns kommst. Deine Großmutter wird dich vermissen.“ Dass seine Großmutter ihn vermissen würde, glaubte André im Gegensatz zu Oscar weniger, denn nichts was er tat schien ihr gut genug. Den Grund für die Unzufriedenheit der alten Dame kannte er nicht, aber das war für ihn nicht von Bedeutung. Hauptsache, er konnte in Oscars Nähe sein. „Ich kann an dienstfreien Tagen vorbeikommen, wenn es Euch nichts ausmacht.“ „Das macht mir in keinster Weise etwas aus.“ Ein geheimnisvoller Glanz spiegelte sich in Oscars Augen wider. „Das wird mich... Nein, ich meine, deine Großmutter wird sich freuen...“ Sie stieß sich vom Tisch ab und griff nach der Kiste. „Wie Ihr meint“, sagte André sanft und Oscar drehte sich wieder zu ihm um. Leicht drückte sie die Waffenkiste an sich und verlor sich erneut in seinen tief grünen Augen. Sie würde ihn vermissen, das wusste sie, aber verbannte diese Gefühle augenblicklich. Sie hatte mehr als zwanzig Jahre ohne ihn gelebt, also würde sie auch ihr weiteres Leben ohne ihn verkraften. „Soll ich für Euch die Kiste tragen?“, fragte André höflich und holte Oscar in die Gegenwart zurück. „Nein, es geht schon.“ Oscar wandte ihren Blick von ihm ab und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Du bist ein freier Mann und Niemandem verpflichtet“, fügte sie fast schwermütig hinzu: „Das wäre ich auch gerne...“ „Das kannst du auch sein...“, dachte André mitfühlend bei sich. „Was?“ Oscar sah ihn von der Seite mit hochgezogenen Augenbrauen an. Zu spät realisierte André, dass er seine Gedanken laut geäußert hatte. Das war ihm äußerst unangenehm und er versuchte verlegen seinen Fehler zu korrigieren. „Ich habe das nicht so gemeint, verzeiht...“ Oscar gab sich damit allerdings nicht zufrieden und runzelte die Stirn. „Doch, das hast du“, berichtigte sie ihn mit ungewöhnlicher Gelassenheit in der Stimme: „Ich bin nicht taub, André. Ich schätze eine aufrichtige Meinung sehr und von dir würde ich sie gerne hören. Und ich bin dir auch nicht böse, wenn du mich beim Namen nennst... Es hört sich irgendwie besser an, nicht ständig an die Hofetikette erinnert zu werden... Das heißt, du kannst daher ebenso auch „Du“ zu mir sagen.“ „Wie bitte?“ Jetzt war es André, der verdattert dreinschaute. Er blieb abrupt stehen. Oscar ging eins, zwei Schritte weiter und kam dann auch zum Stehen. Sie senkte etwas ihren Kopf und umklammerte die Kiste noch fester an sich. „Du bist ein guter Mensch, André... Wenn ich mit dir fechten oder schießen übe, dann fühle ich mich frei und beneide dich zugleich für deine tatsächliche Freiheit... Ich hätte nichts gegen einen Freund wie dich, aber ich kann dich zu nichts zwingen... Ich habe kein Recht dazu...“ „Oscar...“ André fand keinen passenden Ausdruck dafür. Er schluckte einen Kloß herunter und sammelte seinen Mut. Er bewegte sich nicht, als hätte er Wurzeln geschlagen. Aber irgendetwas musste er sagen, ihr eine Antwort geben! „Oscar“, wiederholte er selbstsicherer als ihm zumute war. Es klang tatsächlich viel besser sie beim Namen zu nennen, ohne diese Höflichkeitsfloskel „Lady“. Und wenn es sogar ihr Wunsch war, warum auch nicht?! „Es ist erstaunlich, was sich in drei Wochen alles ändern kann. Du kannst frei sein, wenn du es nur zulässt...“ Er erinnerte sie dabei bewusst an jenen sorglosen Tag am See, wo sie sich ein einziges Mal ihren verdrängten Gefühlen hingegeben hatte. Oscar verstand die versteckte Botschaft sehr gut und dachte dabei genauso an jenen Tag - immer noch mit einem wohlen Kribbeln in der Magengrube. „Das kann ich nicht...“, widersprach sie dann doch leise: „Dazu bin ich nicht erzogen worden...“ „Ich denke, das hat nichts mit deiner Erziehung zu tun. Man kann trotz alledem frei und unbeschwert sein.“ „Dann zeige es mir. Immer und immer wieder – damit ich es lernen kann.“ Oscar wirbelte herum und ihr Blick bohrte sich eindringlich in ihn. „Natürlich nur, wenn du möchtest...“ „Das kann ich selbstverständlich tun... Wie ein Freund...“ Oscars Augen glänzten im einfallenden Sonnenlicht und André glaubte ihre Erleichterung förmlich darin zu sehen. „Ich danke dir.“ Sie hielt die Kiste mit einem Arm umfasst und reichte ihm die freie Hand. „Dann sind wir ab nun Freunde.“ „Ja.“ André ergriff sachte ihre Hand und kam nicht umhin, sie verschmitzt anzulächeln. „Wollen wir noch etwas ausreiten?“, schlug Oscar unvermittelt vor: „Ich würde dich gerne nach Paris begleiten.“ André stimmte ihr mit einem verwegenen Nicken zu. „Das können wir natürlich machen. Aber was willst du in Paris?“ Das verwunderte ihn wirklich. Bisher hatte sie noch nie dorthin gewollt. Sogleich ließ er ihre Hand los und beide gingen langsam nebeneinander weiter. „Ich möchte wissen und mit eigenen Augen sehen, wie das einfache Volk lebt“, gestand sie ihm nachdenklich. „Und auch wie du lebst. Vielleicht kann ich mit meinen Beobachtungen der Königin die Augen öffnen und sie überzeugen, etwas gegen die Armut zu unternehmen...“ André war innerlich gerührt. Oscar besaß in der Tat ein gutes Herz und setzte sich für die Armen und Schwachen ein. Allerdings bezweifelte er, dass sie damit zu der Königin durchdringen würde. Dennoch tat er ihr den Gefallen und zeigte ihr während des Ausrittes die ärmsten Viertel von Paris. „Was denkst du über die Königin?“, wollte Oscar von ihm unterwegs wissen. André überlegte schnell, um nichts Falsches zu sagen. „Sage es mir...“, bat ihn Oscar etwas aufdringlicher: „Ich werde deine Worte nicht verurteilen, wirklich...“ André war dennoch unbehaglich zumute. Andererseits wollte er sie nicht belügen... Er atmete tief ein und aus. „Was soll ich über sie denken? Ich kenne sie nicht, nur das, was die Menschen über sie erzählen: Das Volk leidet und sie amüsiert sich mit ihren Höflingen auf Kosten der einfachen Bürger... Ich will nicht sagen, dass sie allein die Schuld an diesem Leiden trägt. Aber sie und der König sind die Einzigen, die daran etwas ändern können... Doch stattdessen ignorieren sie alles und leben in Versailles ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie es uns einfachen Menschen ergeht...“ Oscar sprach danach den ganzen Weg kein Wort mehr. Ihre Mimik war wie immer ausdruckslos und ihre Haltung steif. Nichts gab ihre eigentlichen Gedanken Preis. Dennoch merkte André an ihr, wie erschüttert und entsetzt sie war, als sie an den schmutzigen und übelriechenden Gassen vorbei ritten. Viele Menschen hatten nicht einmal ein Dach über dem Kopf und besaßen nichts als ihre zerlumpten Kleider. Sie lebten und bettelten mitten auf der Straße und die meisten von ihnen waren von irgendwelchen Krankheiten gezeichnet. Solche Einblicke hätte André Oscar gerne erspart, aber sie hatte darauf bestanden und trug nun das gesehene Elend mit Fassung. Letztendlich führte er sie in seine Wohnung. „Ich kann dir leider nichts anbieten“, entschuldigte er sich, nach dem er sie herein gelassen und die Tür hinter ihr geschlossen hatte. „Es tut mir leid, ich habe nicht so viel Komfort wie du...“ „Das macht nichts.“ Oscar ging langsam durch die Wohnung und sah sich flüchtig um. Sie sagte nicht, was sie darüber dachte und rümpfte auch nicht abfällig mit der Nase. Andrés ärmliche, bescheidene und kleine Wohnung schien ihr nichts auszumachen. Am Fenster blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. Ihre Stimme war leicht belegt. „Jetzt verstehe ich einiges...“ Sie lehnte mit den Händen auf dem Rücken am Fenstersims und betrachtete stumm ihren neu gewonnenen Freund. „So ist das Leben.“ André erwiderte ihr den Blick offen. „Da kann man nichts machen.“ „Wieso nicht?“ Eigentlich war das eine unnötige Frage, denn Oscar kannte die Antwort nur zu gut. Trotzdem gab sie die Hoffnung nicht auf. „Ich werde mit Ihrer Majestät reden und Ihr alles berichten, was ich gesehen habe. Sie ist ein gutherziger Mensch und wird sicherlich etwas unternehmen. Das werde ich mir zur Aufgabe machen, sobald ich wieder in Versailles bin.“ „Das ist gut.“ André stellte ihre Entscheidung nicht in Frage und versuchte sich seine Zweifel erst gar nicht anmerken zu lassen. Sie wollte sich doch wie ein freier Mensch fühlen und er würde sein Versprechen einhalten. Er würde ihr den Wunsch erfüllen und ihr helfen, aber niemals über sie bestimmen. Das war das, was sie brauchte - um zu lernen, unbeschwerter zu leben. Oscar war ihm dankbar dafür. Es war ein erleichterndes Gefühl, so einen Freund wie André gefunden zu haben. Ohne dass sie es merkte, glänzten ihre Augen leicht verzückt und André ertappte sich wieder dabei, dass sie ihm gefiel. Ein ungestümes Klopfen an der Tür zerriss die kurze Schweigsamkeit zwischen ihnen. Und kaum dass André die Tür geöffnet hatte, da platzte auch schon sein Freund herein. „Ich habe dein Pferd gesehen und wusste gleich, dass du schon hier bist! Nun, erzähl schon, wie war dein letzter Tag auf dem Anwesen?!“, forderte er gleich von der Türschwelle. Er fixierte nur André und übersah daher die weitere Person. Oscar verzog ernst ihr Gesicht und tauchte beinahe selbstgefällig neben André auf. „Das war nicht sein letzter Tag“, sagte sie kühl und warf André einen Blick von der Seite zu. „Ich gehe dann mal.“ Sie nickte dem schwarzhaarigen jungen Mann mit dem roten Halstuch autoritär zu und marschierte wie ein Soldat aus der Wohnung. André begleitete sie mit seinen Blicken, bis sie aus seinem Sichtfeld in dem langen Korridor verschwand. Dann schloss er die Tür und widmete sich wieder seinem Freund. „Schön dich zu sehen, Alain.“ Dieser blinzelte verdattert von der Tür, als hätte er ein Wunder gesehen. Im nächsten Moment verengte er seine Augen zu Schlitzen und seine buschigen Brauen schoben sich hartgesotten zusammen. „Was war DAS denn gerade?! Was wollte sie bei dir?!“ „Sie wollte wissen wie das einfache Volk lebt, um das dann der Königin zu berichten. Ich habe ihr die ärmsten Viertel gezeigt und sie dann zu mir eingeladen.“ Insgeheim amüsierte sich André über die verdutzte Miene seines Freundes. Alain tat sich immer noch schwer Oscar zu trauen, obwohl er Andrés Erzählungen über sie von Herzen glaubte. „Als würde das etwas ändern!“, murrte er verdrossen: „Die Königin interessiert sich nur für ihr eigenes Vergnügen und ihren Liebhaber!“ André gab ihm in dieser Hinsicht Recht und stellte erleichtert fest, dass es Alain offensichtlich vermied, weiter über Oscar nachzuhaken. Das war ihm mehr als recht. „Vielleicht wird sich das ändern, wenn es Oscar gelingt, ihr die Augen zu öffnen.“ „Das glaubst du doch wohl selber nicht!“ Alain lachte auf und klopfte André auf die Schulter: „Es mag sein, dass bei Oscar das Herz doch auf dem rechten Fleck sitzt, aber bei der Königin wird sie definitiv auf Granit beißen!“ - - - Oscar ritt unverzüglich nach Hause. Das Elend, das sie heute mit ansehen musste, nistete sich tief in ihr Herz ein. Sie würde ihr Versprechen halten und gleich morgen früh die Königin damit konfrontieren. Es konnte doch nicht sein, dass das Volk immer ärmer und ärmer wurde, als schon vor ein paar Jahren! Auch Andrés Wohnung hatte sie flüchtig in Augenschein genommen: Sie war klein und dürftig ausgestattet, aber auf eine andere Art behaglich. Sie fragte sich, wie André früher mit seinen Eltern in diesen grauen, kahlen vier Wänden überhaupt wohnen konnte! Oscar erinnerte sich, dass es Familien gab, die in doppelter oder dreifacher Personenzahl auf sol kleinen Flächen lebten. Sie waren froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben - das hatte ihr André offenbart, als er auf dem Weg zu seiner Wohnung über die allgemeine Lebenslage der Bürger erzählt hatte. Nur mit Mühe und dank der jahrelangen Übung in Beherrschung, hatte sich Oscar Tränen der hilflosen Wut verkneifen können. Jetzt, beim Alleinsein, ließ sie ihnen freien Lauf. Warum musste es nur so sein? Wo war die Gerechtigkeit? Waren etwa alle Adligen so kaltherzig und verkommen? Ja, auf eine gewisse Weise waren sie das. Von Intrigen, Betrug und Machtkampf hatte sie schon am Hofe genug miterlebt. Diese Nacht konnte Oscar nicht gut schlafen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie immer wieder die Elendsviertel, die schmutzigen Gassen und die armen Menschen in ihren zerlumpten Kleidern. Sie konnte keinem von ihnen helfen, auch wenn sie es gewollt hätte. Dafür waren es einfach zu viele... Obwohl sie dem Adelsstand angehörte und als Kommandant in der königlichen Garde eine hohe Position inne hatte, konnte sie ganz alleine nichts gegen die Armut ausrichten - wie bitter das für sie auch war. Es müssten mehrere von Ihresgleichen sein, die sich für mehr Gerechtigkeit stark machten, aber es gab zu wenige, die dazu bereit wären. Deswegen hatte sie sich fest vorgenommen, mit der Königin zu reden - denn Ihre Majestät, die Königin, war neben dem König der mächtigste Mensch. Und ebenso auch gutherzig. Oscar war am nächsten Tag zutiefst enttäuscht. Sie hatte mit der Königin gesprochen; die Not der einfachen Bürger und deren Elend geschildert. Ihr blutete dabei fast das Herz, als sie sich an das Gesehene während der Erzählung erinnerte. Und es schmerzte ihr noch mehr, wie Ihre Majestät nur teilnahmslos auf ihrem Thronstuhl saß und irgendwo in einer anderen Welt in ihren Gedanken verweilte. In ihrer Erscheinung sah sie wie immer anmutig und würdevoll aus, aber Oscar wurde schon bald klar, dass sie auf taube Ohren gestoßen war. „Ach, meine liebe, Oscar, Ihr macht Euch einfach unnötig zu viel Kopf“, war das einzige, was sie von Marie Antoinette zu hören bekam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)